I. Vorbemerkung
Die Begriffe . Pluralismus', . pluralistische Gesellschaft', . pluralistische Demokratie'kennzeichnen wohl einen der umstrittensten Tatbestände in der politologischen wie auch politischen Diskussion der Nachkriegszeit. Kritik am politischen System der Bundesrepublik impliziert in der Regel eine Kritik des „sogenannten Pluralismus" — und zwar von rechts wie auch von links, wobei beide Ansätze nicht unbedingt, wie man gelegentlich behaupten zu müssen vermeint, von einer gänzlich radikalen Warte ausgehen.
Beklagt die eine Seite die „unerträgliche Spaltung” (Roman Herzog) des Staates, die aus der „parasitären Erscheinung" (Götz Briefs) „pluralistischer Oligarchien" (Werner Weber), einer „Vielheit der Definierer und Definitionen des Gemeinwohls" (Herbert Krüger) herrührt, so demaskiert die andere Seite den Pluralismus als konservierende, „repressive Scheinideologie" (Helge Pross), die bereits „hinfällig" (Gert Schäfer) und „unterworfen" (Herbert Marcuse) ist. Ex-Bundeskanzler Ludwig Erhard spricht mit Rüdiger Altmann von einem staatsgefährdenden, „überentwickelten Pluralismus", während der Berliner Politologe und Pluralismus-Theoretiker Ernst Fraenkel diesen für noch „unterentwickelt" hält. Johannes Agnoli wiederum erblickt mit Herbert Marcuse in der pluralistischen „Zersplitterung" eine Wegmarke zum autoritären Staat, zu einem neuen Faschismus.
Hinsichtlich des Wirkens materiell interessierter Verbände befürchtet der Referent für Politische Bildung beim NPD-Vorstand, Ernst Anrich, eine zunehmende gesellschaftliche Anarchie und als deren Ergebnis eine kommunistische Diktatur. Adolf von Thadden schließlich ruft auf dem NPD-Parteitag 1967 angesichts des „Atommeilers" Interessenpluralismus den „nationalen Notstand" aus. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist von einem negativen wie auch einem entsprechenden positiven Pluralismusbegriff (Heinrich Stieglitz) die Rede
Das pluralistische Nebeneinander solcher Kritiken zwingt zu dem Versuch einer allgemeineren Bestandsaufnahme, zu einer historischen Ortung, die den Stellenwert des jeweils Kritisierten zu verdeutlichen vermag. Inhaltlich gesehen, beschwört die konservative (und gelegentlich restaurative) Pluralismuskritik von rechts den Verlust einer idealisierten staatlichen, gesellschaftlichen und geistigen Einheit von ehedem. Sie versucht, einen Monismus zu retten — den es so vermutlich nie gab —, während die „progressive", zumeist sozialistisch orientierte linke Kritik gegen die die jeweiligen Interessensphären konservierende Segmentarisierung der Gesellschaft kämpft Sie bäumt sich auf gegen das „Eherne Gesetz der Oligarchisierung" der Großorganisationen, welche durch repräsentative Strukturen ermöglicht werden, und wünscht statt dessen eine inhaltliche, plebiszitär erwirkte Demokratisierung und Kontrolle der gesellschaftlich relevanten Sektoren (Wirtschaft, Bildungswesen, Kirchen etc.). Historisch betrachtet, bekämpfen sich in der gegenwärtigen Kritik drei verschiedene Epochen — falls man mit Ludwig Erhard das „Ende der Nachkriegszeit" tatsächlich als einen Einschnitt sehen will, was aber auch gleichzeitig ein Schlaglicht auf die Verwerfungen und die Umbruchssituation unserer Zeit wirft —, nämlich eine altliberal-etatistisch-monistische (mit gelegentlich voraufklärerischen Residuen), eine neoliberal-repräsentativ-pluralistische und schließlich eine fundamentaldemokratisch-plebiszitäre Richtung, welche die Transformation der autoritären Gesellschaft mit ihrem demokratisch-politischen überbau erstrebt. Die Pluralismuskritik von rechts, so scheint es, findet sich mit der pluralistischen Demokratie noch nicht ab, die von links nicht mehr. Was meint aber denn Pluralismus, was besagt die Theorie der pluralistischen Demokratie, wie sie heute üblicherweise von den Politologen vertreten wird?
Auf diese Frage und die damit eng verbundene, ebenfalls keineswegs nichtkontroverse Konflikttheorie wird der nun folgende Teil der Abhandlung zunächst einzugehen haben. Im Anschluß daran sollen die ideologischen, sozio-ökonomischen, staatsrechtlichen und im engeren Sinne politischen Positionen der gängigen Pluralismuskritik der verschiedensten Provenienz und Couleur vorgestellt sowie ihr jeweiliger, auf Veränderung abzielender Stimulus für die gegenwärtige politische Theorie und Praxis diskutiert werden.
II. Die Theorie der Neopluralismus
Aus der Erfahrung des Totalitätsanspruchs faschistischer und stalinistischer Regime heraus bildete sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der Politologie — gleichsam als „Negation der Negation" — eine neopluralistische Schule. Ihr wohl führender Repräsentant in der Bundesrepublik ist der Berliner Politologe Ernst Fraenkel, der in mehreren Schriften eine Theorie des „Neo-Pluralismus" begründete, die im Unterschied zu Harold Laskis Altpluralismus nicht gegen die Souveränität des Staates, wohl aber die Vorstellung, daß dieser ein vorgegebenes Gemeinwohl zu realisieren habe, zu Felde zieht
Im Grunde genommen ist dies das letzte Gefecht gegen die hegelianische Trennung und einseitige Überordnung des Staates über die Gesellschaft, die die Staatstheorie bis in unser Jahrhundert und ins . Dritte Reich'hinein geleitet hatte (Carl Schmitt). Sie war bestimmt durch die Aversion gegen die konkurrierende Interessenvielfalt der „modernen Assoziationsbewegung" (O. Gierke), wie sie Tocqueville bereits in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als politologisches Novum in den USA konstatiert hatte. Im Wilhelminischen Deutschland konnte sich wegen eines restriktiven Vereinsrechtes — vor allem für Organisationen mit sozialer und politisch un-opportuner Zielsetzung — Gierkes genossenschaftlicher „Gedanke der in jeder zusammenfassenden Einheit fortbestehenden Vielheit.. ., der Gedanke der Freiheit" nicht durchsetzen. Erst den Übersetzern des Gierkesehen „Genossenschaftsrechts" ins Englische, Frederic Maitland und Ernest Barker, gelang hier eine auch theoretisch weiterführende Konzeption. In ihrem Kampf für die Autonomie öffentlich agierender Gruppen — z. B.der Kir-chen und Gewerkschaften — vertraten diese folgerichtig die Auffassung, der Staat sei nur der umfassende regulierende Rahmen, nicht jedoch eine der Gesellschaft als unabhängige Größe gegenübertretende Macht. Damit verwarfen sie radikal die Hegeische Trennung von Staat und Gesellschaft.
Als Reaktion auf „the Moloch-like demands of the state in war time", die staatliche Beherrschung aller gesellschaftlichen Kräfte während des Ersten Weltkrieges, übersteigerte der später zum Marxismus tendierende englische Staatstheoretiker Harold Laski das Prinzip der realen Verbandspersönlichkeit durch die Ablehnung der staatlichen Souveränität als solcher zu dem nicht-hierarchischen Gruppenverband des „pluralistic state" Dieses souveränitätsfeindlich-anarchistische Modell des frühen Laski beeinflußte nicht unmaßgeblich die von Carl Schmitt eingeleitete prinzipielle Kritik des sich in der Weimarer Republik erstmals entfaltenden Pluralismus. Die „Bemächtigung" des Staates durch die Gesellschaft definierte der einen nationalistischen Etatismus sodann zu seiner Peripetie vorantreibende Staatsrechtslehrer 1931 so: „Pluralismus . . . bezeichnet eine Mehrheit fest organisierter, durch den Staat, d. h. sowohl durch die verschiedenen Gebiete des staatlichen Lebens wie auch durch die territorialen Grenzen der Länder hindurchgehender, sozialer Machtkomplexe, die sich als solche der staatlichen Willensbildung bemächtigen, ohne aufzuhören, nur soziale (nicht-staatliche) Gebilde zu sein."
In damaliger Sicht betrifft diese Kritik sowohl die (verfassungsmäßig nicht sanktionierten) Parteien wie auch die Verbände. Heute jedoch, nach der grundgesetzlichen Anerkennung der politischen Parteien als legale Institute der Willensbildung, verbleiben dem wissenschaftlichen (nicht aber dem landläufigen) Interesse vor allem die Interessenverbände, da deren Einfluß auf das politische Geschehen besonders undurchsichtig und damit unkontrollierbar erscheint.
Nach dem Entstehen der Bundesrepublik nahm die organisatorische Gruppierung der wirtschaftlichen, beruflichen sowie kulturellen Interessen einen beschleunigten Verlauf Die Schmölders'sche Verbandsenquete ermittelte 1965 eine Zahl von etwa 5 000 Verbänden, die irgendwie mit der Wirtschaftspolitik des Bundes oder der Länder in Berührung kommen könnten Politologisch besonders relevant sind die Spitzenverbände und Vereinigungen auf Bundesebene — etwa 900 an der Zahl —, die gemäß § 23 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien II noch vor einer Debatte in einem Parlamentsgremium zur Gesetzesvorbereitung herangezogen werden können. Ein Änderungsantrag der Fraktionen der Großen Koalition vom 29. Mai 1968 (Drucksache V/2955) konnte diesen demokratischen Schönheitsfehler bislang allerdings noch nicht beheben.
Gemäß dem Selbstverständnis der pluralistischen Demokratie ergibt sich „Politik" erst aus dem Zusammenspiel von Parlament, Regierung, Parteien, Pressure-groups und Öffentlicher Meinung Neben den institutioneilen (Gewaltenteilung) existieren hier auch soziale Kontrollinstanzen, „a System of social checks an balances" Die neopluralistische Schule geht dabei von der Annahme aus, daß in der Gesellschaft westlichen Musters ein „antagonistisches soziales System differenzierter Gruppeninteressen" (O. Stammer) besteht, die sich kollektiv als Verbände organisieren, um an der politischen Willensbildung in irgendeiner Weise zu partizipieren Sie setzt weiter im Sinne der Konkurrenztheorie die Prämisse, daß öffentlich relevante Interessen stets durch plurale Verbandsbildung repräsentiert und somit die Voraussetzungen eines Interessenausgleichs sozusagen „automatisch" gegeben seien. Ernst Fraenkel definiert folglich die inhaltlich vage Größe . Gemeinwohl'als eine sich aus dem „Kräfteparallelogramm" gesellschaftlicher Interessen a posteriori ergebende Resultante Die Frage bleibt hier allerdings offen, wieweit und ob überhaupt alle Interessen organisierbar sind. Denn schließlich sind allgemeinere, etwa die Konsumenten (auch in bezug auf die Massenmedien), Bildung und Künste, die Außenpolitik oder gar die Zukunftsund Friedensplanung betreffende Interessen kaum repräsentiert oder in wirksamer Weise, da die Öffentlichkeit weniger bewußt tangierend, organisatorisch zu erfassen. Andere kommen in den die politische Entscheidung präformierenden Gremien erst gar nicht zu Wort.
Die Kritik hegt daher dem Fraenkelschen Modell gegenüber den Verdacht, es übertrage die liberale Harmonie-Erwartung der individuellen Konkurrenz einfach im Analogschluß in einer Art , Vektorsummen'-Theorie auf die Gruppenkonkurrenz Der Berliner Politologe scheint sich der damit verbundenen negativen Implikationen immerhin bewußt zu sein, wenn er seine Besorgnis über den noch „unterentwickelten Pluralismus" der Bundesrepublik zum Ausdruck bringt — „stets vorausgesetzt, daß man unter Pluralismus . . . das Mit-und Gegeneinander von autonomen Gruppen mit einem lebendigen Gruppeninteresse, einem ausgeprägten Gruppenbewußtsein und einem hoch entwickelten Gruppenstolz der Gruppen-mitglieder versteht"
Wenn, nach der pluralistischen Theorie die politische Willensbildung, wie es Karl Loewenstein ausdrückt, „ein offener Stromkreis der Macht (ist), in welchem die im Wettbewerb befindlichen Kräfte frei und auf gleichem Fuße zirkulieren" dann erhebt sich hier sogleich die empirische Frage, ob denn den einzelnen organisatorischen Kräfteballungen stets die entsprechenden „Veto-Gruppen" mit ihrem Gegendruck gegenüberstehen und wie macht-mäßig unausbalancierte Interessenlagen im Kampf autonomer Gruppen überhaupt ausgeglichen werden können. Das der katholischen Soziallehre entlehnte Prinzip der Subsidiarität etwa, der obrigkeitlichen Hilfe zur Selbsthilfe, vermag in dieser Fragestellung keinen erschöpfenden Ausweg zu bieten. Zwar setzt es den Staat als oberste ausgleichende und schiedsrichterliche Macht voraus. Diese , Schiedsrichter-Theorie sieht sich jedoch gezwungen, auf die unbefragte Autorität des staatlichen Machthabers sowie der sozialen Hierarchien zu rekurrieren
Die Pluralismus-Theorie in ihrer Fraenkelschen Version versucht dieses Problem normativ zu lösen. Sie basiert auf der grundlegenden Erwartung, daß die autonomen Akteure politischer Konflikte und Kontroversen die Existenz gewisser „regulativer" Ideen akzeptieren und sich an vorgegebene Spielregeln gebunden wissen. Ernst Fraenkel unterscheidet somit zwischen einem kontroversen und einem nicht-kontroversen Sektor der Politik Neben zeitlosen „naturrechtlichen", „vorgegebenen" Normen umfaßt der letztere Bereich historisch durchaus wandelbare, allgemein anerkannte Grundeinstellungen in sozialer, wirtschaftlicher und (innen-sowie außen-) politischer Hinsicht. Eine inhaltlich nähere Präzisierung des nicht-kontroversen Sektors scheint gleichwohl zum Scheitern verurteilt. Fraenkels Hinweis auf „Mindesterfordernisse der sozialen Gerechtigkeit" etwa verbleibt immer noch j in relativer Unverbindlichkeit. In der politischen Praxis dürfte sich der nicht-kontroverse Sektor allenfalls auf die grundrechtlich verankerten Rechte und Strukturen (Menschenrechte, Rechts-, Sozial-und Bundesstaatlichkeit)
sowie den demokratischen Verfahrensmodus beschränken.
Der englische Politologe Bernard Crick definiert im Gegensatz dazu das pluralistische System negativ als auf einer Gesellschaft beruhend, in der es „keinen universellen Konsensus" gibt, es sei denn, zur Durchsetzung der jeweiligen Ziele „politische", das heißt demokratische Mittel zu gebrauchen: „Der moralische Konsensus eines freien Staates ist nichts, was auf geheimnisvolle Weise vor oder oberhalb der Politik gegeben wurde, es ist die Aktivität (die zivilisierende Aktivität) der Politik selbst." Die angelsächsische Politologie scheint generell eher geneigt, den Konsensbereich auf im wesentlichen unideologische Verfahrensgemeinsamkeiten zu reduzieren. Lewis Coser beleuchtet das Problem von einer anderen Seite, wenn er feststellt, gerade durch Konflikte entstünden neue verbindliche Werte, da sie erst das „Gefühl eines gemeinsamen Zweckes" hervorriefen.
Die damit ausgesprochene Dialektik zwischen Konflikt und Konsens ist ein feststehender Topos der amerikanischen politischen Soziologie Es bedarf einerseits zumindest eines Konsens darüber, die Freiheit des anderen, vor allem des Unterprivilegierten und Schwächeren und dessen Interesse an mehr Freiheit zu respektieren. Die einzelnen politischen Akteure müssen darüber hinaus im Zeitalter umfassender Planung in ihrer Entscheidungsfällung eine gesamtgesellschaftlich orientierte, prognostische Rationalität aufweisen. Das kann keineswegs bedeuten, daß Politik heute, wie die technokratische Versuchung gern suggeriert, lediglich „fachmännisch" auszurichten und damit eindimensional und ohne Alternativen sei. Auch der empirische Trend hin zu Wissenschaftlichen Beiräten und Gutachten — bei den einzelnen Fachministerien existieren bereits etwa 70 Beiräte mit über 1000 Mitgliedern — ist dafür kein schlüssiges Indiz. Denn diese politischen Hilfsgremien sind ihrerseits in ihrer Zusammensetzung wie auch der Pluralität des jeweiligen Vorverständnisses und der Methodik ihrer Mitglieder ein mehr oder weniger getreues Spiegelbild der pluralistischen Gesellschaft und insofern kaum in der Lage, wertneutral-wissenschaftliche, politisch direkt anwendbare Lösungen anzubieten. Ihre Aussagen vermögen den Politiker nicht seiner genuin politischen (machtdistribuierenden, rechtsetzenden, gestaltenden) Entscheidung zu entheben. Nach Bertrand de Jouvenel wird das Sachwissen um so eher die Funktion einer relativ unabhängigen Beratung ausüben können, je weniger es in den politischen Entscheidungsprozeß direkt integriert ist oder, wie es ein marxistischer Theoretiker formuliert: „Je vollständiger die Autonomie der verschiedenen , sektoriellen'Organisationen ist, desto leichter kann auch die synthetische Entscheidung in der Politik gefällt werden."
Pluralistische Heterogenität ist zweifellos das unerläßliche , Gegengift'gegen den „autokratischen Massenstaat" (E. Fraenkel). Die Theorie und die Soziologie des Konflikts sehen in dem Vorhandensein geistiger Widersprüche und gesellschaftlicher Spannungslagen — infolge der Ungleichheit der Menschen und des unterschiedlichen Maßes zwischenmenschlicher Herrschaft — die konstitutive Vorbedingung jedes sozio-politischen Wandels und wissen-schaftlichen Fortschritts überhaupt Die liberale Auffassung meint dazu: „Wenn wir davon ausgehen, daß niemand die endgültige Antwort auf unser ständiges Fragen nach der guten, gerechten Gesellschaft kennt, dann müssen wir vor allem dafür Sorge tragen, daß es möglich bleibt, verschiedene Antworten auf diese Frage zu geben .. . Die freie Gesellschaft ist darum das höchste Ziel der Politik, weil wir die gerechte nicht kennen können."
Der einzige Weg, die freie Gesellschaft zu verwirklichen, ist nach dieser Auffassung die demokratische Regelung der bestehenden und stets nötigen Konflikte. Unterdrückung, wie im totalitär-autokratischen Modell, oder Schein-auflösung von Konflikten, die korporativ-autoritäre Version, scheiden als entwicklungshemmende, regressive Medien aus. Karl Mannheim hat schon längst vor der gängigen Konflikt-soziologie eine hierarchische, föderative oder (im demokratischen Sinne) koordinierende Regulierung von Gegensätzen zwischen Gruppen unterschieden Ralf Dahrendorf differenziert recht einsichtig vier verschiedene Modi der Konfliktbehandlung, nämlich: Verhandlung zwischen den Kontrahenten, Vermittlung, Schlichtung sowie Zwangsschlichtung unter Hinzuziehung Dritter. Sie bilden eine Skala von möglichster Freiheit bis hin zu autoritativem Zwang Wo Verhandlungen scheitern, bedarf es einer vermittelnden Instanz. Relativ autonom gesteuert bleibt diese Vermittlung in der fakultativen Schlichtung, autoritativ wird sie bei der Zwangsschlichtung. Angewandt auf den Fall des Lohnkampfes zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern ergeben sich danach vier eskalierende Möglichkeiten:
Verhandlung — völlige Autonomie der sozialen Kontrahenten Vermittlung — unverbindliche Gutachtergremien („Abkühlungsfrist") Schlichtung — freiwillige Schlichtungsvereinbarungen Zwangsschlichtung — gesetzlicher Zwang zu Schlichtungsvereinbarungen
Die nächste Stufe, ein gouvernemental verordneter Lohn-und Preisstopp — oder genereller, die automatische Entscheidung (Dezision) des „neutralen" Staates in allen gesellschaftlichen Situationen im Carl Schmittschen Modell —, fällt bereits, da eine Unterdrückung des Konflikts beinhaltend, aus dem Rahmen dieses Schemas einer demokratisch-pluralistischen Konfliktkanalisierung.
Ungeklärt bei diesem Ansatz bleibt allerdings die Frage, wie man den autonomen Gruppen, deren meist bilaterale Entscheidungen stets gesamtgesellschaftliche Auswirkungen zur Folge haben, diese Konsequenzen bewußt machen kann. Kann man die Gruppenwillen auf bestimmte Plangrößen orientieren oder gar fixieren, ohne damit ihren gesamtgesellschaftlichen Spielraum übermäßig einzuengen und den sozio-ökonomischen Status quo zu zementieren? Kann man schließlich dieses Problem mit dem Hinweis auf die „Sachgesetzlichkeiten der Dinge" durch staatliche Dezision lösen, ohne damit Minderheitsgruppen zu unterdrücken? Die neopluralistisch-liberale Theorie und insbesondere die Konflikttheorie stehen somit mitten in der Diskussion. Die jeweiligen Fronten'verlaufen dabei — und dies ist das Interessante — quer durch alle gängigen politischen Gruppierungen.
III. Kritik an der pluralistischen Demokratie
Die gezeichnete Theorie wie auch die Praxis der pluralistischen Demokratie stimmen — da relativ pragmatisch und ihrem Wesen nach auf Kompromisse abzielend — Vertreter ideologischer Erwartungen an die Politik unbefriedigend, zumal dann, wenn sie gesamtgesellschaftlich orientierte, systemkritische Konzeptionen verwirklicht sehen wollen. Sie stellen aber auch jene nicht zufrieden, die eine Politik aus einem Guß jenseits . fauler'Kompromisse von der Hand des Fachmannes erwarten, für die keine Alternativen in den Hauptfragen der Politik, sondern allenfalls bei Detailfragen ersichtlich sind. Im ganzen gesehen also alle jene, die bezweifeln müssen, ihren theoretischen oder praktischen, politisch-monistischen Ansatz, ihr spezifisches Interesse, wenn man so will, unter den Bedingungen einer pluralistischen Willensbildung — nach Carl Schmitt der „herrschenden politischen Doktrin" der Bundesrepublik — zur Geltung bringen zu können.
Diese Systemkritik in Gestalt eines Antipluralismus gegenüber Verbänden und Parteien ist kein spezifisch . rechter'oder . linker'Topos, sondern — unterschwellig oder dezidiert — weit verbreitet. Es ist unumgänglich, sich damit auseinanderzusetzen, da Polemik hier nicht ausreichen dürfte, sondern nach den Gründen zu fragen ist.
Auf der ideologischen Ebene steht hinter der Pluralismuskritik zunächst die Suche nach der einen, verbindlichen und einheitsstiftenden Wahrheit. Theoretische Monisten kritisieren den Pluralismus — ein Produkt der Aufklärung — bereits in seiner Qualität als gedankliche, vorpolitische Größe. Theologien und Philosopheme, wissenschaftliche Lehrmeinungen spielen hier eine beträchtliche Rolle. Ihre Bezüge zur Praxis sind deutlich und weitreichend.
In einer entschieden voraufklärerisch monistischen Position verharren so etwa die Verfechter des christlich-abendländischen Gedankens.
Im Jahre 1961 eröffnete der evangelische Alt-bischof Wilhelm Stählin eine Tagung der Abendländischen Akademie über „Pluralismus, Toleranz und Christentum" mit der Warnung: „Die Gefahr ist der Pluralismus, der von vornherein zweifelt, daß es eine gemeinsame Wahrheit gibt." Ähnlich rügte dort auch der Direktor der Evangelischen Akademie in Baden, Hans Schomerus, jene „bürgerliche Unentschiedenheit . . ., die an der Wahrheit verzweifelt", und lehnt daher „jede Art von Pluralismus" entschieden ab Der Jesuit Gustav Gundlach, Mitbegründer der traditionellen katholischen Soziallehre, erklärte 1963 vor einem Gremium von Unternehmern ähnlich apodiktisch: „Von Hause aus ist die Gesellschaft nicht pluralistisch": Der „Besitz absoluter Wahrheit" sei eine durchaus menschliche Möglichkeit die aber durch die organisierten Großverbände ursurpiert würde, welche sich „derartig in Normen einkleiden, daß sie dem einzelnen die Gewissensentscheidung nehmen". Der Besitz dieser Wahrheit ermuntert dann auch unter Umständen zu einer antidemokratischen Option, wenn etwa der damalige Vorsitzende der Abendländischen Akademie, der Völkerrechtler von der Heydte, in den Münchener . Politischen Studien'feststellt: „Nur wer sein Ordnungsbild am Maßstab einer religiös-sittlichen Überzeugung — eines echten . Glaubens'— ausrichten kann, ist berechtigt, der Mehrheitsentscheidung Grenzen zu ziehen."
Ein solches Votum wird bei den radikalen Konservativen schon deshalb nicht als antidemokratisch empfunden, da, wie Armin Mohler verkündet, es Aufgabe der Demokratie sei, „die Massen , in Form zu bringen', sie zu bestimmten Entscheidungen oder Zustimmungen zu bewegen" Denn: „Der Mensch will nicht frei sein, sondern er will in einem Sinnzusammenhang stehen." Er will „maximale Sinn-erfüllung", ansonsten sinkt er zur „Asozialität" ab Heinrich Stieglitz, Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Vechta, geht sogar so weit, in der Pluralismus-Theorie eine „ideologische" Verhüllung der sich vollziehenden individualistischen „Auflösung" zu vermuten.
Auch Eugen Gerstenmaier unterscheidet — wie nach ihm Bundeskanzler Ludwig Erhard — zwischen der „berechtigten" Vertretung legitimer Interessen aufgrund „klarer sittlicher und politischer Vorstellungen" und einem „Pluralismus rein materieller Interessen" als einem (unter Zitierung von Oswald Spengler) „Symptom des Verfalls" Auf der normativen Ebene skizziert gemäß einer traditionellei turpessimistischen Verfallstypik der ne rate ökonomische Theoretiker Götz Bri das Absinken einer an einem „objektivem tengesetz (Naturrecht)" orientierten Gei schaftsmoral zur liberal-individualistis „Grenzmoral". In der zweiten Phase des sischen Liberalismus trete nun jedoch ai Stelle der individuellen Selbstverantwo die Verantwortung eines anonymen Kc tivs, an die Stelle des Einzelwettbewerb Gruppenkonkurrenz. Es könne daher — die „Demokratie der reinen politischen un zialen Zweckmäßigkeit bar aller metap sehen Begründung und Verpflichtung ist der Pluralismus „vom katholischen naturr lich-normativen Standpunkt nur als ein gang der Auflösung der Staatsautorität Zerstörung der objektiven Ordnung des ge schaftlichen Seins, insbesondere der Hiera des Seins, angesehen werden" Er ist Ii tor der nun grassierenden „Pest des Derne, tismus, einer von den herrenlosen Hunder nach dem Rückzug des Christentums he laufen"
Auf der entgegengesetzten Seite des p sehen Spektrums, wenn auch mit einem A an die Vernunft, rekurriert Herbert Mai ebenfalls auf die „objektive Wahrheit“ Richtschnur der Politik, „die nur dadurch gedeckt und ermittelt werden kann, daß e ren und begriffen wird, was ist, sein kann zur Verbesserung des Loses der Mensel getan werden sollte. Dieses öffentliche un storische , Sollen'ist nicht unmittelbar ein tig, liegt nicht auf der Hand; es muß ent werden, indem das gegebene Material , d schnitten', aufgespalten’, . zerbrochen'(dis-cu-tio) wird — wodurch Recht und Unrecht, Gut und Schlecht, Richtig und Falsch auseinander-gehalten werden." Eine Folge dieser Erkenntnis wäre der systematische Entzug von Toleranz gegenüber den zu fixierenden Gegnern der einmal in rationaler Diskussion festgestellten Wahrheit.
Ekkehart Krippendorf wiederum leitet einen politologischen Wahrheitsbegriff hermeneutisch aus Konstanten des Geschichtsprozesses ab: „Das geschichtliche Recht und die politische Wahrheit liegen — ungeachtet momentaner gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse — bei den Individuen, Gruppen, Klassen und den ihnen zugehörigen Ideologien, die den 1789 eingeleiteten Prozeß des Abbaus sozio-ökonomischer Privilegien vorantreiben; Unrecht vor der Geschichte und eine fehlgeleitete Politik sind zu konstatieren für diejenigen Individuen, Gruppen, Klassen und die ihnen zugehörigen Ideologien, die diesen Prozeß verzögern, zum Stillstand bringen oder gar ihn rückgängig machen wollen." Krippendorff fordert also in seiner Kritik „unserer kapitalistischen — irreführenderweise , pluralistisch'genannten — Gesellschaftsordnung" die historische Wahrheit für die den „fortschreitenden Demokrati-sierungsund Selbstbestimmungsprozeß" fördernden Kräfte.
Wie sehr sich nun auch das hier angestrebte Modell der demokratisierten, selbstorganisierten Gesellschaft und ein konservativer Etatismus, die Herrschaft traditioneller Hierarchien ausschließen mögen —, praktisch bleibt die Funktion der Interpretation des Richtigen und die notwendige Sinngebung im Verständnis ideologischer Monismen dann jeweils, soziologisch gesehen, einer kleinen Schicht Wissender, der etablierten Machtelite oder auch einer Gegenelite überantwortet. Als Alternative zum pluralistischen System erwartet Herbert Marcuse „die demokratische erzieherische Diktatur freier Menschen" Der Staatsrechtslehrer Herbert Krüger andererseits erwartet (unter Zitierung von Carl Schmitt) von dem idealen Staat, er solle „Einigkeit an die Stelle von Uneinigkeit, Kraft an die Stelle von Kraftlosigkeit und vor allem Richtigkeit an die Stelle von Fehlsamkeit" eines möglicherweise „irrenden Volkes" setzen.
Richtigkeit und objektive Wahrheit implizieren jedoch die Vorstellung eines Wissens um die „gerechte Gesellschaft", des Gemeinwohls als gegebener, festumrissener Größe. Die Träger dieser Erkenntnis, die „führenden Schichten" und Gruppen, haben dann — in welchem monistischen System auch immer — das Monopol auf die Definition des Gemeinwohls und dessen Interpretation gegenüber den „Massen". Diese Sicht der Dinge, ein traditionell konservativer und essentiell undemokratischer Topos, sei im folgenden in ihren vielfältigen Ausprägungen näher analysiert.
IV. Pluralismuskritik von rechts
1. Die Legende von der Massengesellschaft Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die für die Weimarer Republik einst so verhängnisvolle Kulturkritik wieder inthronisiert. Ihr Gegenstand wird immer mehr der „Aufstand der Massen" und die dadurch hervorgerufenen „Zersetzungsprozesse" und „Verfallserscheinungen" die „Vermassung" einer Gesellschaft, die — so die Präambel zum NPD-Programm von 1967 — „auf selbständigen Gestaltungswillen verzichtet hat". Die Soziologie der „Massengesellschaft", die mit einem überkommenen Elite-und Gemeinschaftsschema an die Beurteilung der Wirklichkeit herantritt, übersieht dabei in ihrem bewußten Angriff auf die Großgruppen jene pluralistischen Strukturmerkmale unserer Gesellschaft, die gerade ein Gegengewicht gegen die atomisierenden Tendenzen der sozial mobilisierten Gesellschaft bilden. Sie wendet sich mit Wilhelm Röpke, einem Mitbegründer des Neoliberalismus, gegen die „präkollektivistische" Tätigkeit und „Rücksichtslosigkeit der Interessentenhaufen", die „die Autorität, Unparteilichkeit und Einheit des Staates" untergraben würden. Der Interessenpluralismus und der Glaube, daß sich in ihm die wichtigste gesellschaftliche Trieb-kraft zeige, gehörten „zu den Hauptsünden der Vergangenheit".
Nun hat gerade die politische Soziologie aufgezeigt,. daß die „Massengesellschaft" ohne pluralistische Bindungen dort, wo sie (als gleichgeschaltete oder klassenlose) existiert, am ehesten empfänglich für politische Irrationalismen ist. Die „Legende von der Massengesellschaft" (Theodor Geiger) war seit je eine Komplementärerscheinung soziologischer Elite-Theorien. William Kornhauser definiert: „Mass Society is a social System in which eli-tes are readily accessible to influence by non-elites and non-elites are readily available for mobilization by elites." Die Ursache der Massenbildung sieht dieser amerikanische Soziologe in der unvermittelten, das Individuum „atomisierenden" Urbanisierung und Industrialisierung, welche dieses zwar aus den traditionellen Gruppenbindungen lösen, eine sozialadäquate Gruppenbildung jedoch anfänglich erschweren. Durch vermehrte Kontakte und Erfahrungen eröffne sich jedoch dem einzelnen ein erweiterter sozialer Horizont, wodurch die Chance einer „social participation", das heißt die Überwindung der sozialen Entfremdung anwachse. Das Entstehen intermediärer Strukturen infolge gesellschaftlicher Selbstorganisation schaffe die Voraussetzung für ein System „multipler Machtzentren" in Gestalt von Massenparteien und -verbänden. Damit werde gleichzeitig die Isolierung und die politische Bedeutungslosigkeit der Klein-gruppen überwunden.
Den Kritikern der Massengesellschaft mißfällt aber gerade jene Tendenz zu pluralen Großorganisationen. Ihnen scheint die kleingruppen-hafte Intimität, das „Wir-Gefühl" der Primär-gruppen, wertvoller als die rationaleren und distanzierteren Beziehungen der organisierten Sekundärgruppen in Politik, Wirtschaft oder Beruf. Die konservative Schule der deutschen Soziologie, die sich über das . Dritte Reich'hinweg retten konnte, hat im Gefolge von Ferdinand Tönnies Trennung von . Gemeinschaft'und . Gesellschaft'ihr Augenmerk vornehmlich auf das Wirken der Primärgruppen gerichtet. In ihnen erblickt sie eine der letzten Bastionen gegen die vermassenden Einflüsse der modernen Zivilisation sowie der Politik auf die Gesellschaft. Ideologisch fundiert wird diese Ansicht durch Götz Briefs. Die Säkularisierung der das Abendland einst prägenden Erlösungstheologie habe dazu geführt, daß der Mensch sein Heil vollkommen in diesseitige gesellschaftliche Institutionen projiziere, von denen aller Fortschritt erwartet werde. Damit vernachlässige er aber auf unzulässige Weise die Pflege der als „Substrukturen" der Demokratie „wesenhaften" Gemeinschaftsgebilde — „im Familienleben, durch die Bande der Freundschaft und Nachbarschaft, der Religion, des gemeinsamen Berufes" — und setze sie der Desintegration durch dem „Kürwillen’ (Tönnies)" entsprossene „freiwillige Zweckverbände" aus Auf dem „Schwemmsand von individuellen Willen und Meinungen" könne nämlich eine dauerhafte Ordnung nicht bestehen: „Alle wirksame Demokratie setzt funktionierende Gemeinschaftsgebilde nicht-politischer Natur voraus . . . Das überwuchern gesellschaftlicher Strukturen über die Gemeinschaftsstrukturen" sei für die „wesenhafte hierarchische Ordnung der menschlichen Gesellschaft" gefährlich, da auf dem Boden freiwilliger Zusammenschlüsse, der „subsidiären Gebilde", keine politischen Tugenden erwachsen könnten und somit eine soziale „Befriedung" unmöglich sei.
Helmut Schelsky hat sich in seinen empirischen Untersuchungen u. a. gerade diesem Problem der Funktion primärer Kleingruppen gewidmet und ist in der Folge auch zu Ergebnissen von makrosoziologischer und politologi-scher Relevanz gelangt. In seiner Familienanalyse durchgeführt im Jahre 1947, vermag er als „gegenläufigen Prozeß" zu der fortschreitenden Vermassung einen „Vorgang der Entmassung“ zu skizzieren, dadurch nämlich, daß die „kleingruppenhaften Beziehungen, besonders des familiären Zusammenhalts", sich reorganisierten und stabilisierten. Faktisch sei die Intimgruppe damit ein Ersatz für die verlorene Öffentlichkeit, deren Entfaltung der „kleingruppenhafte Egoismus" ja selbst ver-eitle. Im Schelskyschen Verständnis hat die daraus resultierende Entpolitisierung der Bevölkerung aber auch positive Wirkungen. Im Sinne der neoliberalen Idee bedinge sie nämlich im Gefolge der „totalen Dynamik eines mit Schichtbegriffen nicht zu erfassenden sozialen Nivellements" die Entstehung einer „klassenlosen Gesellschaft.. . mit vorwiegend kleinbürgerlich-mittelständischen Verhaltens-mustern und Leitbildern" auf friedlich-evoluti-vem Wege. In der von Helmut Schelsky erstmals im Jahre 1953 somit deduzierten „nivellierten Mittelstandsgesellschait“ sind die intermediären Sekundärgruppen zwischen dem einzelnen und den gesellschaftlichen und politischen Führungsmächten funktionslos geworden und gelten als „restaurativ" Die nach 1945 wieder neu entstandenen Großorganisationen versteinerten, da nicht mehr den „ihnen unterliegenden Tiefenschichten sozialer Wirklichkeit" entsprechend, in einer hohlen Stabilität, unbeeinflußt von der „sozialen Mobilität der einzelnen, der Familie und sonstiger Gruppen" — wie etwa der „Berufsgemeinschaft".
Die evidente wirtschaftliche Besitz-und Machtkonzentration in der Bundesrepublik ist nach Schelsky kein seine Prämissen entkräftendes Gegenargument Im Gegenteil: „Der Staat der Interessengruppen“ auf der Basis bürgerlicher und Klassenkampftheorien sei inzwischen durch die Räson des „technischen Staates" überholt worden. In ihm herrscht als Produkt der wissenschaftlichen Zivilisation der wertneutrale und interesselose „Sachzwang der vielfachen Techniken, mit denen der Staat sich heute verwirklicht.. . Politik im Sinne der normativen Willensbildung fällt aus diesem Raum eigentlich prinzipiell aus, sie sinkt auf den Rang eines Hilfsmittels für Unvollkommenheiten des . technischen Staates'herab". Denn: „Je besser die Technik und Wissenschaft, um so geringer der Spielraum politi-scher Entscheidung"! — Eindeutiger kann die technokratisch-unpolitische Option nicht bezogen werden. 2. Integrationsversuche der sozialphilosophischen Pluralismuskritik Anfänglich nicht minder eindeutig — wenn auch schließlich mit dem Effekt einer Versöhnung mit der bundesrepublikanischen Wirklichkeit — ist die sozialphilosophische Pluralismuskritik Hans Freyers, Arnold Gehlens sowie deren Schüler. Sie beklagt den „Verlust der Mitte", der individuellen „Seele im technischen Zeitalter". „Die industrielle Entwicklung", schrieb Gehlen 1949, „hat die Welt mit einem Kosmos von Organisationen überzogen, deren Verwickelung die Grenzen der Berechenbarkeit wohl schon erreicht hat In der erweiterten Fassung der . Sozialpsychologischen Probleme'von 1957 lautet der Nachsatz pointierter: „. . .deren funktionale Verwickelung die Grenzen der Berechenbarkeit wohl schon überschritten hat". Der Kontext dieser Aussage wird deutlicher, wenn man weitere Äußerungen des Sozial-Anthropologen zum Pluralismus-Problem heranzieht. Gehlen sieht die moderne Gesellschaft als ein „Verspannungssystem" von Großorganisationen und Superstrukturen, das gegenüber der angeblich „primären Zweckfreiheit"
auf einer rein „sekundären unvoraussehbaren Zweckmäßigkeit" beruht. Diese Institutionen als Zweckverabredungen seien aber keineswegs in der Lage, dem Menschen eine Bestimmung, eine „Entlastungsfunktion" zu verleihen. Der „außerstaatliche Pluralismus" kontrahiere vielmehr in einem Machtantagonismus, dessen „wichtigste und allein legalisierte Form der Auseinandersetzung in dem Kampf um Staats-einfluß" besteht, „um das Recht, Recht zu setzen", wie Gehlen und Freyer übereinstimmend formulieren Die Konkurrenz dieser Gruppen führe gezwungenermaßen zu einem präventiven Totalitätsanspruch jeder einzelnen von ihnen, „um so mehr, als das deutsche Volk in letzten Grundsatzfragen disharmoniert, diese Gegensätze aber in drei Revolutionen eher erstickt, verdrängt, immobilisiert als bereinigt worden sind".
Es taucht hier also die Befürchtung auf, in der bundesrepublikanischen Gesellschaft fehle der notwendige Konsensbereich, die „positive Kohäsion" auf der Basis aufgelöster Konflikte, jenes „unverzichtbare Minimum an Konformitätsdruck . . ., das jede Gesellschaft braucht, und dann wird eben die Unterschiedlichkeit praktischer, theoretischer, moralischer und gesinnungsmäßiger Stellungnahmen möglich und wirklich, die eine gegenseitige Verständigung gar nicht hergibt"
Die Menschen „zerstreiten sich" sodann auch über Sitten und Gesetze. „Ist eine Gesellschaft in sich gespalten, kulturell oder traditionell, politisch usw. quergeschoben, dann werden größere Gruppen verschiedene oder entgegengesetzte Formen des Ethos vertreten und die Neigung wächst, wie bei uns, die gegenerische Gruppe moralisch zu ächten oder stumm zu machen." Die species humana sei ohnehin ein von Natur „chaotisches" Mängelwesen, dem instinktive stereotype Verhaltensformen abgingen.
Einen Halt vermögen nach Gehlen hier auch nicht die Großgruppen — zu denen ja auch die Kirchen zählen — zu vermitteln. Jede der pluralistischen Organisationen mache zwar dem einzelnen gegenüber ihre „Selbstzweckautorität" geltend, ohne daß jedoch die Vielzahl „der verselbständigten Ordnungsgefüge im strengen Sinn . letzte'Normen und Handlungsziele anweisen" könnten Aus der Institutionalisierung folge der „hohe Grad der Berechenbarkeit" des individuellen Verhaltens.
Hans Freyer spricht daher von „sekundären Systemen", in denen der Mensch „gelebt wird" Der Massen-oder „Maschinenmensch", der sich fortwährend an die Bedingungen seiner Umwelt anpaßt, empfängt sein geistiges, moralisches und gefühlsmäßiges Leben „aus zweiter Hand". Das „sekundäre System" ist ihm als „eine Art zweiter Natur" übergestülpt, welche alle Primärerfahrungen abschirmt oder verdrängt. „Gut verpaßte Ideologien" reduzierten durch den von ihnen ausgeübten Konformitätsdruck lediglich den „in irgendeiner abstrakten Qualität betroffenen" modernen Menschen. Er wird „in der saubersten Weise partiell genommen und weiß jederzeit, als was er gemeint ist. Er wird in die Hinsichten, in denen er sozial relevant ist, auseinandergelegt und jeweils in einer von ihnen angesprochen, mithin . . . reduziert."
Der bei Freyer und Gehlen zugrunde liegende, gegen die Zweckrationalität gerichtete und die Werte des Gefühls und der „Innerlichkeit" so sehr herausstellende Denkansatz, der in ihren Schriften der fünfziger Jahre so deutlich prononciert ist, zeigt sich offensichtlich verwandt mit jener zivilisationskritischen Lebensphilosophie, wie sie bereits in der Weimarer Republik die geistige Klammer der Demokratiegegner von rechts bildete Das Leben als die „höchste Aufgabe des Menschen" steht im Mittelpunkt der biologistischen Anthropologie Gehlens und — weniger dezidiert — Freyers. „Lebensdienlichkeit" und -erhaltung sind ihre zentralen Begriffe
Was besagt jedoch dieser Rekurs auf vitalistisehe Positionen für die politologische Analyse, jene betonte Notwendigkeit des „bewußtlosen" Zutrauens zu den gegebenen Ordnungen sowie des Zwanges, Situationen vom Instinktiven her (zu) , verdichten'? Was meint Gehlens Begriff der „Entfremdung", die daraus resultiere, daß sich das organisierte Gruppenmitglied gezwungen sehe, „vom direkten und unmittelbaren Nutzerfolg für die eigene Sache abzusehen"? Was bedeutet die Kritik der als „überwiegend unsinnliche Tatbestände" apostrophierten Institutionen schließlich in politologischer Konsequenz?
In einem Vortrag (vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU) vom Jahre 1964 führte Arnold Gehlen aus, es habe infolge der enttabuisierenden Aufklärung der Intelligenz „die ganz radikale Demokratie, in der wir hier leben, politische Privilegien nicht mehr übriggelassen; was noch gilt, sind natürlicherweise und wünschbarerweise Machtkämpfe von Gruppen, an denen die Intellektuellen ja aber selber teilnehmen". Der Geist als solcher nobilitiere nicht mehr. Die Gesellschaft und ihre Strukturen seien zu groß und komplex geworden, um der Initiative des Individuums noch Handhabe zu bieten. Mit dem Niedergang einer ihrem Wesen nach aristokratischen, „entlasteten" Klasse („bei der die Macht saß") fehle nun eine solche Schicht, die sich für alle grundsätzlichen Fragen der Gesellschaft verantwortlich fühle
Diese Kritik zeigt sich eingestandenermaßen als „sozialer Reflex" einer unbewältigten Entwicklung. Als Abwehrmechanismus zeigt sich hier nur noch die Möglichkeit persönli-eher Elitebildung durch das Medium der Askese. Nur dort, „wo es einer unternimmt, die anspruchsvollen Tendenzen des Geistes im Apparat" gegenüber „farblosen" Funktionären zur Geltung zu bringen, kann nach Gehlen von einer Institutionsbildung gesprochen werden: „Eine Persönlichkeit, das ist eine Institution in einem Fall."
Vor dem Hintergrund dieser Aussagen wird ein elitäres Persönlichkeitsideal, die „aristokratische Massentheorie" (W. Kornhauser), erkennbar, welche überdies den breiten Massen ihre demokratische Mündigkeit absprechen will. „Das Zeitalter der Vermassung" zeichnet sich in dieser Vorstellungswelt dadurch aus, daß in ihm „die ausschweifendste Zufälligkeit der Subjektivität Anspruch auf öffentliche Geltung und Beachtung erhebt — und das erfolgreich" Die Entschlußfähigkeit wie -Willigkeit der Massen sei jedoch in der nicht-stabilisierten Industriegesellschaft „überbeansprucht" Dem Staatsbürger werde, heißt es nicht ohne einen gewissen Zynismus, das „Gefühl unermeßbarer Verantwortung" aufgebürdet, wiewohl er nur „Durchgangspunkt fremder Interessen, fremder Meinungen, Tatsachen und Fiktionen" sei. Dies werfe den „wesenhaft im Dunkeln lebenden Menschen" zwangsweise auf sein Ich, sein Eigeninteresse zurück
Als Alternative erscheint Gehlen in dieser Situation nur die von einem Korps-Geist erfüllte Primärgruppe: „Das Zeitalter der Vermassung ist (auch) das Zeitalter der kleinen Sonder-gruppierungen, der Vertrauensbeziehungen, für die man sich einsetzt und wirklich etwas tut, der Teams, die Gleichgesonnene kooptieren." Im angelsächsischen Sprachbereich würde man dies schlicht nennen: das , establish-ment'.
Bei einem Kolloquium über „Die unternehmerische Verantwortung in unserer Gesellschaftsordnung" (Freyer und Gehlen sind Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirates der Walter-Raymond-Stiftung) zeichnete Hans Freyer andererseits das Zukunftsbild einer effektiven Planung durch eine homogenisierende „Kooperation" zwischen dem Staat und den gesellschaftlichen Gruppen. Expressis verbis akzeptiert er nun den Pluralismus als das „Aufbauprinzip der gegenwärtigen Industriegesellschaft" Die Verbände gelten nun zu Recht als die handelnden Subjekte gesellschaftlicher Konflikte und Machtkämpfe. Sie sind „unwegdenkbare Faktoren der politischen Willensbildung, wobei ihre Verschränkung mit den Parteien, aber auch ihre Möglichkeiten zu selbständiger direkter Einflußnahme immer einzurechnen sind".
Ganz im Gegensatz zu seiner früheren Perhor-reszierung der Manipulationsmöglichkeiten sieht Freyer nun in der „gleichsam versachlichten Herrschaft" der Bürokratie eine Garantie dafür, daß im Widerstreit der Interessen das „Stimmrecht der Sachen" (Gehlen) zur Geltung gelangt. Voller Genugtuung konstatiert er die Tendenz, „daß zunehmend Denkformen der Betriebswirtschaftslehre in die Verwaltungslehre eindringen". Seine Gesellschaftsdiagnose der Bundesrepublik als einer „sich nivellierenden Mittelstandsgesellschaft" mit einem „breiten mittleren Streifen", welcher klare gesellschaftliche „Scheidungen" nicht mehr zulasse, stimmt beruhigend. Der verbleibende Pluralismus ohne Klassenmerkmale kann in der Tat als integrierendes Element des Systems der modernen Industriegesellschaft akzeptiert werden. Arnold Gehlens neuere Position ist hier wesentlich differenzierter, da auch eindeutiger engagiert. Gerade weil er seine Utopie einer Gesellschaft in gleichsam familiärer Harmonie aufgeben muß, da er weiß, daß diese „bis ins letzte disharmonisch" ist, kann er nicht länger umhin, zumindest Ansätze einer Konflikttheorie zu erörtern. Es sei heute allerdings schwierig, „echte Spannungslagen, . . . wenn sie sozusagen personalatomisiert und in Sachgebiete aufgeteilt sekundär ausgetragen werden", zu erkennen
Entscheidend sind nach Gehlen die „Verlagerungsebenen des Konfliktes" durch das neutralisierende „Tertium . . . eines befriedenden Dritten" — worunter vor allem der Staat zu verstehen sei. Konflikte würden so vor allem durch das Medium des öffentlichen Rechts, insbesondere des Verwaltungsrechts, „aufgesogen", um dann „als solche aufzuhören". Es sei allerdings nicht auszuschließen, daß auf diesem Wege suspendierte Spannungen sich an einer unvorhergesehenen Stelle neu entzündeten. Als Spannungsherd par excellence gilt hier der Klassenkampf, als dessen Partisanen Gehlen „die freie linksorientierte Intelligenz" bezeichnet, die mit ihrer „dauernd zunehmenden Dynamik und Aggressivität . . . und ihrer unerbittlichen Machtgier . . . die maßgebliche gesellschaftliche Macht" an sich zu reißen versuche — dasselbe, was sie im 18. Jahrhundert schon wollte und erreichte. Das Erbübel der Intellektuellen und eine typische „Lehrerideologie" sei ihr „Aberglauben, man könne das Handeln vom Kopf her sicherstellen", anstatt gesellschaftliche Formierung, wie dies in England möglich gewesen sei, über die Prägung des Charakters „vom Körper her" zu betreiben.
In diesem Punkte trifft er sich mit Armin Mohlers Appell, „endlich auf den immer wieder unternommenen Versuch zu verzichten, das Denken mit der Wirklichkeit zu Deckung zu brin-gen" Diese sei nämlich völlig unberechenbar. Mohler spricht aber auch positiv aus, was ihm statt dessen vorschwebt: Eine neue machtbewußte Elite, die der „Entpersönlichung" der Macht Einhalt gebietet. Denn die Massen, das Volk wünschten, ohne pluralistische „Mittlerschichten" durch direkte „Kraftund Sympathieströme" mit den „überragenden Persönlichkeiten" und Einzelgängern verbunden zu sein.
Ausgehend von der Annahme, daß der Bürger der Industriegesellschaft politisch weitgehend disponibel sei („man kann den gleichen Bürger zu grundverschiedenen politischen Auffassungen bekehren"), hält es der ehemalige Privatsekretär von Edgar J. Jung und heutige Träger des Adenauer-Preises für die spezifische Aufgabe „einprägsamer" Persönlichkeiten samt der von ihnen zu kooptierenden Elite, ein direktes „Bündnis" mit den Massen herbeizuführen und sich deren jeweiligen politischen Zustimmung zu versichern. Mittels dieses Konsens sei die volonte generale stets neu zu definieren sowie „geschmeidig" zu interpretieren — eine Funktion, deren der Repräsentativstaat nicht gleichermaßen fähig sei. Für die „realistische" Sicht sei der Pluralismus eine lästige „Isolierschicht" der politischen Kommunikation und der — Akklamation. 3. Die etatistische Alternative Die Pluralismuskritik von seifen des Staats-und Verfassungsrechts bewegt sich generell vor dem Hintergrund einer theoretischen Trennung der Gesellschaft von dem Staat als souveränem „überbau", wenn sie auch, der praktischen Unhaltbarkeit dieser Position Rechnung tragend, „schließlich der geschichtlichen Entwicklung zur demokratischen Identität von Staat und Gesellschaft" auf ihre Weise Folge zu leisten bereit ist. Es war in gewisser Weise determinierend, daß die erste wissen-schaftliche Auseinandersetzung mit dem durch die angelsächsische wie auch französische Staatslehre artikulierten Phänomen des Pluralismus in Deutschland von Carl Schmitt ausging, jenem Staatsrechtslehrer, der die „Aufsplitterung“ der Souveränität des Staates „in spätzeitlicher Meisterschaft" (J. Kaiser) aufzuhalten gedachte Die kongeniale Charakterisierung der sich verbandsmäßig durchorganisierenden Gesellschaft als „eines pluralistischen und chaotischen Seins" im Vierkant-
sehen , Handwörterbuch der Soziologie'von 1931 (unveränderter Neudruck 1959) folgt gänzlich der von Carl Schmitt initiierten Begriffslogik. „Der pluralistische Staat, wie ihn Professor Schmitt nennt, das ist der korrupte Staat", meinte der Innenminister im Kabinett von Papen, Freiherr von Gayl, damals in einem Interview mit der Programmschrift Der neue Staat Die „Vervielfältigung des Staates"
mißachte dessen „Gesetz der Macht, sein Gesetz geschichtlicher Verantwortung". Ähnliche Werturteile und Begriffsassoziationen herrschen, wie im folgenden zu zeigen sein wird, in der Staatsrechtslehre noch weithin bis in un-.sere Zeit vor. a) Das Fortwirken Carl Schmitts in der Bundesrepublik Die Staatstheorie Carl Schmitts darf hier als bekannt vorausgesetzt werden. Sie soll daher nur insoweit referiert werden, als sie für die Pluralismus-Debatte relevant ist. Auffallend für den heutigen Betrachter ist, wie sich Carl Schmitts theoretische Denkkategorien parallel mit der fortschreitenden Agonie der Weimarer Republik zusehends auf gegensätzliche, polemische Begriffspaare verengten und zuspitzten, auf „zweigliedrige Antithesen", deren Entweder-Oder-Charakter als typisch für unruhige und „kriegerische" Zeiten angesehen wird Einer dieser am häufigsten wiederkehrenden „Duale" ist neben der vielzitierten Freund-Feind-Unterscheidung der dialektische Gegensatz zwischen staatlichem Monismus und gesellschaftlichem Pluralismus.
Carl Schmitt hat den großen Einfluß und die Faszination, die das Werk Thomas Hobbes'auf ihn ausübten, nie verhehlt Seit Ernst Fraenkels Erläuterungen der geistigen Ursprünge des Schmittschen Antipluralismus ist auch die offensichtliche Miturheberschaft Jean Jacques Rousseaus und älterer Theoretiker geklärt. Längst vor der begrifflichen Auseinandersetzung mit dem pluralistischen Staat Laskis formulierte Carl Schmitt bereits seine klassische, an Rousseau angelehnte Definition der Demokratie als einer Einheit, einer „Identität von Regierenden und Regierten" Zwar beschreibt er diese Identität als eine gewollte, fiktive „Identifikation" ohne „handgreifliche Wirklichkeit" in einer pluralistischen Gesellschaft, sieht aber dennoch Politik unter dem ausschließlichen Gesichtspunkt der den staatlichen Rahmen bildenden Einheit: Der Staat hat das Monopol des Politischen, das heißt der Entscheidung aller Konflikte, inne.
Konsequenterweise muß dann Schmitt die gesellschaftliche oder ethnische Homogenität als zu erstrebende Voraussetzung einer so verstandenen Demokratie postulieren (was Rousseaus Vorstellungen weit übertrifft): „Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens — nötigenfalls — die Ausschaltung oder Vernichtung (!) des Heterogenen." Die politische Aktivität des homogenen Staatsvolkes beschränkt sich im wesentlichen auf die Feststellung der volonte generale in der Form des Personalplebiszits, der Akklamation: „Alle plebiszitäre Legitimität braucht eine Regierung oder irgendeine andere autori-täre Instanz." Die parlamentarische Repräsentation wird dabei notwendigerweise als überflüssiges Zwischenstück zwischen dem homogenen Volk und der , gekürten'politischen Führung abgelehnt.
Die politische „Gemeinschaft", in der es allenfalls gesellschaftliche „Untergebilde sekundär politischen Charakters" gibt, ist die „höchste Einheit". Das Politische bezeichnet nach Schmitt nur den Intensitätsgrad einer Einheit. „Da, wo sie ist, können die sozialen Konflikte der Individuen und sozialen Gruppen entschieden werden, so daß eine Ordnung, d. h. eine normale Situation entsteht." Die autoritäre Dezision anstelle des „ewigen Gesprächs" gilt als Normalfall der Politik. Innenpolitische Konflikte sind für dieses Denken eigentlich nur insofern relevant, als sie eventuelle Freund-Feind-Dissoziationen auszulösen in der Lage sind. Die Unabhängigkeit und interesse-neutrale Sachkunde der Beamten verleihen dem Staat ein apriorisches Recht zur gouvernementalen Dezision. Politik im Innern löst sich sodann, wie postuliert, in reine Verwaltungstätigkeit auf.
Das Nachwirken dieser staats-und verfassungsrechtlichen Lehrmeinung — die sich naturgemäß ohne große innere Umbrüche zur herrschenden Lehre des dezisionistischen Führerstaates weiterbilden ließ — auch auf den Zeitraum nach 1945 ist unübersehbar. Längst bevor sich der Begriff der Carl-Schmitt-Schule bildete, hervorgerufen vor allem durch eine vielstimmige Laudatio wurden dessen wissenschaftliche Kategorien schon für die Beurteilung des neuen Staatswesens Bundesrepublik angewandt. Die allgemeine parteipolitische, -programmatische sowie auch sozio-ökonomische Entwicklung im Westteil Deutschlands erleichterte es allerdings der von Schmitt ausgehenden Schule des Staatsrechts, ihre gedankliche Anpassung im Sinne einer Entscheidung für den Status quo bzw.dessen Stabilisierung (E. Forsthoff) oder Weiterbildung (R. Altmann) vorzunehmen. Dies um so eher, als sie subjektiv von der Annahme ausgehen konnte, daß die Unterscheidung des äußeren und inneren Feindes das Bewußtsein der politischen Einheit, das heißt das Staatsbewußtsein der westdeutschen Bevölkerung zunehmend zu gewährleisten in der Lage ist.
In seiner Ansprache während der Feier der Bundesregierung zum Tage der deutschen Einheit 1966 im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zollte der Göttinger Staatsrechtslehrer Werner Weber dem „Statthalter der deutschen Staatlichkeit", der Bundesrepublik, sowie den sie repräsentierenden Politikern seine ungeteilte Hochachtung für deren Fähigkeit, den „innenpolitischen Frieden“ hergestellt und auf eine sichere Grundlage gestellt zu haben. Diese politische Leistung sei jedoch nur möglich gewesen durch „die zuchtvolle Einordnungsbereitschaft des deutschen Volkes ... und seine klare und selbstsichere politische Geschlossenheit" angesichts der örtlichen Bedrohung. Ein Schatten allerdings fällt auf die in dieser Feierstunde beschworene „zuchtvolle Staatsordnung": Der Redner sieht sich genötigt, auf das fehlende Staatsbewußtsein und die „Bekundungen der Staatsverdrossenheit" in jenen Teilen der Publizistik hinzuweisen, die mit „infiltrierten Diversionsparolen ... ein intellektuelles Spiel" betrieben.
An diesem Beispiel zeigt sich die Pluralismus-kritik der Schmitt-Schule bereits in ihrer weithin integrierten, nichantagonistischen Phase. Der Pluralismus der politischen Gruppen gilt im wesentlichen als „befriedet", latent bleibt die Gefahr des Bürgerkrieges nur insofern vorhanden, als jene von außerstaatlichen Kräften und ihren innerstaatlichen Partisanen weiterhin geschürt wird. Dem wirken aber die Geschlossenheit und „tätige Hingabe" des deutschen Volkes entgegen.
Diese schließlich positive Entwicklung erschien jedoch dem Staatsrechtler nicht von vornher-ein so eindeutig. Im Gegenteil: Die pluralistische Demokratie hatte mit der Gründung der Bundesrepublik ihre Probe in Deutschland noch keineswegs bestanden. Der Fehlschlag der Weimarer Republik überschattete als böses Omen das neue Experiment.
In seiner Schrift . Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem’ vom Jahre 1951 nimmt Weber das damals ins Gespräch kommende Schlagwort der Restauration in seiner Version auf: „Im Bonner Grundgesetz gelangt die Weimarer Verfassung zwiespältig zu neuer Wirkung" — jene „spätgeborene" Verfassung, die damals schon das „letzte Glied" einer vergehenden Ära des europäischen Konstitutionalismus darstellte. Damit seien auch jene Institutionen wieder zu neuem Leben erweckt worden, welche die staatliche Konsistenz zutiefst gefährdeten und das Volk durch ihr Monopol politischer Entscheidung mediatisierten: die demokratischen Parteien. Durch den hinzukommenden „Einbruch politischer Stände in die Demokratie", das heißt die Bemächtigung der Parteien durch die Pressionsgruppen, werde jedoch das im Grundgesetz angezeigte System der Gewaltenteilung durchlöchert: „Hinter der Legislative und der Exekutive erhebt sich nur eine Gewalt" — die der organisierten Verbände.
Das politische Gleichgewicht sei letztlich der Konkurrenz der Parteien und Gruppen anheimgestellt. Weber sieht aber in dem „jetzt sozusagen legitimen... Pluralismus (das heißt eine ungeordnete Vielzahl) oligarchischer Herrschaftsgruppen" keine Garantie einer funktionierenden Gewaltenbalance. Es bestehe nämlich keine Sicherheit, daß nicht „einer dieser Machtkomplexe so stark wird, daß er die anderen überwältigt und verdrängt" Die pluralistische Demokratie als „das aggressivste Prinzip der Demokratie" sei mit der wahren Demokratie unvereinbar. „Denn das Volk, sofern es politisch angesprochen wird, begreift sich — auch und gerade in der Massendemokratie — zu sehr als politische Einheit, als daß sein Staatsbewußtsein und sein Wille sich zugunsten einer Vielheit von Herren mit unübersehbaren und verhüllten Verantwortlichkeiten engagieren könnte." Es herrsche daher eine tiefe Kluft zwischen dem Volk und den pluralen Oligarchien, die sich zudem üblicherweise stets durch Kooptation selbst ergänzten. Das Volk habe lediglich die Wahl, welchem „Patron" es sich unterwerfen wolle. Die durch einen solchen Pluralismus zu gewinnende Freiheit trage allenfalls „chaotische Züge".
Das Problem der sozio-ökonomischen Macht-balance als einer verfassungspolitischen Frage hat auch Ernst Forsthoff schon verschiedentlich angesprochen. Der Staatsrechtslehrer, der stets die formalisierte Berechenbarkeit des auf dem sozio-ökonomischen Status quo beruhenden Rechtsstaats gegenüber der „intentional" gegenläufigen Sozialstaatlichkeit betont versucht die offengebliebene Frage des Macht-ausgleichs auf die Ebene der Steuerhoheit eines mit dezisionistischen Vollmachten ausgestatteten Staates zu verlagern und dort einzugrenzen. Sein Gedankengang läßt sich dabei von folgenden Prämissen leiten: Durch den wachsenden Umfang der Steuermasse ist der Staat der „Verteiler größten Stils" geworden. Deshalb ist „das Ringen um den Anteil an der Staatswillensbildung . . . Ringen um den Anteil an der Verteilung" Das Gesetz wird somit tendenziell zu einem'Verteilungsplan umfunktioniert, die parlamentarische Funktion zu einer Verteilerfunktion und politische Macht zur Verteilermacht In einem solchen Mechanismus des Proporzes vermag aber Forsthoff kein Ordnungsprinzip zu erkennen — was für die pluralistische Demokratie ohne Plan-rahmen in der Tat zutreffen mag. Er zieht aber generell in Zweifel, ob das Management des pluralistischen Verteilerstaates überhaupt auf demokratischem Wege zu bewerkstelligen sei. („Sind gesellschaftliche Kräfte überhaupt befugt, echte soziale Entscheidungen zu treffen?" ) Ohnehin hätten die Verbände „die der Repräsentation wesentliche Ausschließlichkeit der Vergegenwärtigung des politischen Volkes zerstört — und mehr als das" Wie wird dieser Staat in seinem Ernstfall reagieren, wenn nämlich das Sozialprodukt sich nicht mehr vermehrt oder gar absinkt, fragt sich der Jurist.
Angesichts dieses Dilemmas rekurriert die Carl-Schmitt-Schule in traditioneller Weise auf den „übergesellschaftlichen Rang" des Staates. Echte Staatlichkeit sei „interesseneutral" und „engagementfrei" — nur sie vermag eine „gerechte Abwägung der Interessen" vorzunehmen. Die Gesellschaft hingegen ist, da „klare Lösungen" ihrer inneren Konflikte historisch noch nicht realisiert wurden, in sich weder geordnet noch „gegliedert". Ihre Stabilisierung könne auch so lange nicht erwartet werden, als „wir die disparaten Kräfte einer nicht gefügten Gesellschaft frei in den Staat hineinherrschen lassen, indem wir ihnen den Verteilungsmechanismus des modernen Staates anvertrauen" Als Rezept verbleibt Forsthoff nur der Rat, mit Hilfe des Berufsbeamtentums die „Hoheit und Herrschaft im Sinne echter Entscheidungsgewalt" des Staates zu restituieren
Vor allem der Jurist erscheint hier als der Wahrer der staatlichen Neutralität und Sachlichkeit. Diese Feststellung bietet sich Forsthoff besonders deshalb an, als die „für das reibungslose Funktionieren des Ganzen wichtigen Positionen" in Staat und Gesellschaft mit Angehörigen „einer trotz aller Gegensätze weitgehend homogenen Schicht besetzt sind" Bei dem BDI-Gespräch („Der Staat und die Verbände") hatte ähnlich schon Werner Weber seine Genugtuung darüber zum Ausdruck gebracht, „daß die professionellen Sachwalter der Verbände nicht bloß Desperados und Aventuriers (!) sind, sondern Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut.. . Die Situation in den Jahren nach dem Zusammenbruch hat überdies zu einer merkwürdigen Erscheinung in unserem Sozialleben geführt, daß viele Männer, die einstmals im Staat eine verantwortliche Stelle (!) bekleidet haben, gerade in den Verbänden wieder ein Betätigungsfeld gefunden haben." Das Homogenitätserfordernis ist also trotz pluralistischer Heterogenität auf diesem Umweg wieder gewährleistet: durch den Juristenstand.
Neben der Sicherung der negativen Vereinigungsfreiheit zum Schutz des Individuums vor den Kollektivismen erscheint Weber als weitere „Abhilfe" gegen den Pluralismus die Umwandlung der autonomen Gruppen in öflent-lich-rechtliche Organisationen nach dem Muster der Industrie-und Handelskammern und damit deren Unterstellung unter staatliche Aufsicht Einen im Effekt ähnlichen Vorschlag hatte Ernst Forsthoff bereits 1951 vorgelegt, als er die Bildung eines „Koordinationsorgans der Sozialpartner mit dem Staat" forderte, in dem mittels einer „innenpolitischen Diplomatie" geklärt werden solle, „innerhalb welcher sachlichen Grenzen eine staatliche Entscheidung möglich sei" Diese Intention wiederum greift Weber in einem Vortrag vor der Geschäftsführerkonferenz der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) auf, wo er die Einführung eines subsidiär verbindlichen Schiedsspruchs des Staates bei Lohnkämpfen erwägt
In diesem Zusammenhang erkennt er nun zwar die Notwendigkeit des Pluralismus im Sozialstaat an („es liegt in der sozialstaatlichen Struktur des politischen Gemeinwesens beschlossen, daß über die Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensvorgänge der organisierte politische Wille maßgeblich bestimmt"), optiert aber gleichzeitig für eine dieser Interessengruppen, indem er — in ausdrücklicher Gegnerschaft zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts — die bestehende „Unternehmerwirtschaft" als durch die Verfassung (Art. 2, I; 9; 12; 14) intendiert hinstellt. Für ihn ist durch diese (nicht-dilatorische!) verfassungsrechtliche „Lösung" sozialer Konflikte auch das verbleibende politische Problem des Pluralismus erledigt. Durch die Formel der Unteilbarkeit der „wirtschaftlichen, sozialen, geistigen und politischen" Freiheit als positives Grundrechts-Institut ist jener Weg der Verfassungsinterpretation eröffnet, der die konfliktlose und zuchtvolle Einheit der Deutschen im Weberschen Verständnis zu gewährleisten in der Lage ist.
Ernst Forsthoffs neuere Beiträge zum Pluralismusproblem sind von dem gleichen Geist getragen, weisen andererseits auch Ansätze auf, die für die Staats-und Gesellschaftstheorie während Ludwig Erhards Kanzlerschaft bedeutsam wurden. Angesichts des , novum'der immer positiveren Durchdringung von Staat und Gesellschaft sieht sich der Staatsrechtslehrer neuerdings genötigt, bisherige „Literaturen über Parteien, Parteienstaat, Pluralismus, Staatsautorität, Elite usw. einer kritischen Überprüfung" zu unterziehen In seiner . Realanalyse'der Bundesrepublik von 1960 heißt es weiter: „Die Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik gestattet es nicht mehr, an der Superiorität des Staates gegenüber der Gesellschaft festzuhalten. Die Bundesrepublik ist zur Funktion der Gesellschaft geworden."
In Fortführung dieses Gedankenganges, daß die Ordnung des sozialen Ganzen nicht mehr durch den Staat allein, sondern auch durch die Parteien und die Verbände bewerkstelligt werde, ergibt sich nun die institutioneile Notwendigkeit einer „ständigen Kooperation zwischen dem Staat und den formierten Kräften der Gesellschaft". Diese Kooperation ist nach Forsthoff ermöglicht worden durch die umfassende Zweckrationalisierung im Gefolge des Zurücktretens der „großen grundsätzlichen Alternativen". Der eingespielte, hochkomplizierte politische Mechanismus wolle keine großen Reformen mehr, sondern allenfalls technische Verbesserungen. („Die möglichen kleinen Reformen bedürfen der Hand des Fachmannes und entziehen sich der politischen Sinnfälligkeit.") Dieser Tatbestand setze der demokratischen Aktivität des Staatsbürgers der industriebürokratischen Gesellschaft unüberschreitbare Grenzen. In der Technostruktur, wo „Staat und Industriegesellschaft im Begriffe sind... zu verschmelzen", gelte es ohnehin, Freiheit „als Reservat der Person" zu konservieren Soziale Konflikte werden hier, wo der „überwuchernde Pluralismus" domestiziert ist, nicht mehr ausgetragen, sondern eher umgangen. „Das geschieht heute vornehmlich in der Weise, daß der Staat mit der Wirtschaft kooperiert und die staatlichen Ordnungsaufgaben als fachmännisch zu lösende Sachprobleme in Angriff genommen werden." Schelskys . technischer Staat'wird hier bereits in actu geschildert.
b) Weitere Rezeptionen In einer ebenfalls Schmittschen Rezeption beleuchtet auch der Hamburger Staatsrechtler Herbert Krüger das Verhältnis von Staat und Interessenverbänden. Der Staat ist, wie dieser in seiner . Allgemeinen Staatslehre aus-führt, „das verwirklichte Prinzip der Nicht-
Identifikation" mit der Gesellschaft, „das repräsentierte Sein . . . schlechthin". Pluralismus dagegen — und dies ist wohl eher eine späte Antwort auf den Laskischen Begriff — be-i deute, die Einzigkeit der Staatsgewalt zu vervielfältigen und „den Staat in eine Linie mit anderen menschlichen Gruppen zu stellen; dies hieße, auch anderen Gruppen die Fähigkeit zur Gewaltanwendung zuzusprechen und damit den Bürgerkrieg instituieren"
Den Verbänden, denen Krüger — nach dem I Kriege selbst Syndikus des Verbandes Deut-
scher Reeder — in einer Stellungnahme des Jahres 1956 wegen ihrer staatsdienlichen Tätigkeit (die Einzelinteressen nach sachlichen und „gerechten" Gesichtspunkten im Sinne ihrer „Gemeinverträglichkeit" aufzubereiten)
noch eine staatliche „Natur . .. ein Stück I Staatlichkeit" zu attestieren geneigt war, wird nun in der , Allgemeinen Staatslehre'vorgehalten, „nicht für, sondern gegen Gesellschaft und I Staat" zu integrieren. Sie errichteten „die Herrschaft der Besonderheiten über den Staat" Krüger zwar hält den organisierten Interessen zugute, daß sie das gesellschaftliche „Chaos" ordnen würden, was auch im Interesse des Staates geschehe. Die „Elite der Verbände (hat) wahrhaft repräsentative Persönlichkeiten" vorzuweisen; die Verbände seien darüber hinaus für den Staat insofern unerläßlich, um „auch aus diesen Quellen diejenige zusätzliche Kraft für seine Wirksamkeit zu beziehen, die ihm vor allem in der Auseinandersetzung mit auswärtigen Mächten (!)
dasjenige Mehr an Leistungsfähigkeit sichert, von dem die Entscheidung abhängt"
Auch aus diesen Gründen tritt Krüger für die Errichtung eines konsultativen Wirtschaftsrates ein. Dadurch würde der Staat frei für seine notwendige „Repolitisierung" im Sinne des Schmittschen Dezisionismus Die gesellschaftlichen Kollektivitäten wie z. B. die Sozialpartner seien nämlich in hervorragender Weise geeignet, den Staat zu „entlasten". Diese Hilfsfunktion sollte nach Krüger in einer neokorporativen Reminiszenz dahin gehend ausgebaut werden, daß „eine nicht in Norm-setzung sich bewegende Zusammenarbeit der Sozialpartner, angefangen vielleicht mit der alten . Tarifgemeinschaft'und endend mit einer Arbeitsgemeinschaft im nationalen Rahmen, in Betracht kommen würde". Auf diesem Weg nur könne der notwendigen Integration und dem „Homogenitätserfordernis" der Staatsbürger Genüge geleistet werden. Von der staatlichen Entscheidung allerdings müßten „alle nichtstaatlichen Subjekte ... ferngehalten" werden. Denn das Gemeinwohl könne nicht von einer „Vielheit der Definierer und Definitionen", sondern nur von der „Allgemeinheit und ihren Repräsentanten, d. h. nur von einer Stelle mit allgemeiner Verbindlichkeit getroffen werden"
Auch im Evangelischen Staatslexikon von 1966 wird das vorliegende Problem in geradezu klassischer Weise erörtert Die Gruppen-vielfalt sei zwar an sich notwendig, schreibt dort Roman Herzog. Doch drohe dem Staat „gerade in dem Augenblick, in dem die modernen Aufgaben der Daseinsbewältigung erhöhte Geschlossenheit verlangen, vom Pluralismus her eine unerträgliche Spaltung". Jener bilde, wie der Autor bereits an früherer Stelle ausführte „die schwerste Gefährdung für die staatliche Autorität in der modernen Massen-demokratie".
Folgende Therapie schlägt der Staatsrechtslehrer im Evangelischen Staatslexikon vor: 1. Es sollte „im Volk wieder das Gefühl für das nationale Ganze im Gegensatz zum Grup-peninteresse geweckt werden. Nur wenn der Wähler sich nicht mehr in erster Linie als Gruppenmitglied, sondern als Volksglied betrachtet, sind die Voraussetzungen dieser natürlichsten Interessenintegration gegeben." 2. Die Parteien müssen sich weiterhin zu Integrationsparteien entwickeln. Die Fraktionsbildung im Bundestag bedarf der Auflockerung. Die Abgeordneten sollten sich vielmehr „als einzelne oder doch in sehr kleinen, jeweils nur wenige Mitglieder umfassenden Gruppen gegenüberstehen". 3. Die Einheit des Volkes und Staates muß sichtbaren Ausdruck gewinnen. „Integrationsherde von besonderer Wirksamkeit sind regelmäßig die vom ganzen Volk gewählten Staatsoberhäupter, sofern sie über echte Entscheidungsbefugnisse verfügen." Durch die unmittelbare Wahl bezögen sie die dazu notwendige Autorität.
Als Quintessenz dieser Betrachtung verbleibt also wieder der klassische (und neuerdings aus verschiedener Motivation wiederum vermehrt gewünschte) Rückgriff auf die dezisionistische Autorität des Staatsoberhauptes. Nicht lediglich als „neutraler Schiedsrichter" über den sozialen Einheiten einer pluralistisch verfaßten Gesellschaft vermag der Staat die Rechts-und Friedensordnung zu schützen Eine Reduzierung des Staates auf eine lediglich subsidiär wirksame Größe entwerte nachhaltig die Chance einer „geistigen Wirkung" seiner Autorität, welche erst Anerkennung und „Vertrauen" bei den Machtadressaten . zu erzeugen in der Lage ist. Die traditionelle Dialektik von Staat und Gesellschaft erfährt also über die autoritär-plebiszitäre Auflösung hinaus eine spiritualistische Aufhebung. Die „Volksglieder" vertrauen der „geistigen Macht" der Inhaber der Staatsautorität. Herrschaft soll internalisiert und damit im Bewußtsein eliminiert werden. Das klassische, konterrevolutionäre Grundschema: Vertrauen unteni und Verantwortung oben’ — „la confiance d’en bas, le pouvoir d'en haut" (Siys nach dem 18. Brumaire) — findet sich auch bei Rüdiger Altmann wieder.
Der Stellvertretende Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie-und Handelstages, RüdigerAltmann, bekennt sich in aller Offenheit als „Schüler" Carl Schmitts, von dem er „viel gelernt" habe.
So kann es auch nicht weiter verwundern, daß die wenigen Autoren, die er in seinem journalistisch gehaltenen Erstlingswerk , Das Erbe Adenauers'zitiert, sämtlich der Carl-Schmitt-Schule angehören oder ihr nahe-stehen Wie viele Kritiker (von links und von rechts) lastet auch Altmann dem „ängstlichen Funktionalismus des Grundgesetzes" Mißtrauen gegenüber dem Volk an. So seien das Referendum und die plebiszitäre Wahl des Staatsoberhauptes — die Grundpfeiler des Schmittschen Demokratieverständnisses — nicht wieder restauriert worden. Dennoch werde nun mittels des konstruktiven Mißtrauensvotums die bestehende Regierung faktisch in einem solchen Maße gestärkt, daß die in der Verfassung zwar nicht vorgesehene, aber keineswegs gegen sie verstoßende Ade-nauersche Kanzlerdemokratie praktisch den kompetenzlos gewordenen Präsidenten ersetze-sie ist „autoritär und trotzdem demokratisch" (S. 47).
Adenauers Kanzlerdemokratie habe sich nicht zuletzt als fähig erwiesen, den Interessenpluralismus im Zaum zu halten, die nötigen Kompromisse zu „erzwingen und den motorisierten Gesetzgeber zu dirigieren" Diese Leistung sei um so höher anzusetzen, als der bundesdeutsche Staat sich aufgrund seiner Entstehungsgeschichte gezwungen sah, sein an und für sich unteilbares Recht auf Repräsentation in beträchtlichem Maße an die ge-sellschaftlichen Mächte abzutreten Die Bundesrepublik habe sich, so Altmann, nach der „Tabula rasa des Zusammenbruchs" in ein „Land der Sekundärstrukturen" verwandelt (S. 15). Kraft seiner Autorität habe es der Kanzler jedoch verstanden, die zwischen den „befestigten Verbänden" (G. Briefs) auftretenden Konflikte rechtzeitig zu neutralisieren. Der unmittelbare Zugang zum Machthaber, das Immediatrecht, spiele in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. Dem somit herbeigeführten „pluralistischen Status quo" entspreche der ebenso irreversible ökonomische Status quo (S. 148). Konflikte als solche wurden nun nicht mehr ausgekämpft, sondern durch paritätische „Formalisierung und Zeremonialisierung" ihres eigentlichen Antagonismus entkleidet. Innenpolitik verwandele sich somit — man erinnere sich an die obige Deduktion Carl Schmitts — zunehmend in Verwaltung (S. 150).
Das Bild dieser pluralistischen „Verkrustung" stimmt den Betrachter allerdings unzufrieden Ihre Überwindung ist ein Teil des zu bewältigenden Erbe Adenauers': Denn „das eigentliche Problem für die Funktionsfähigkeit unserer Gesellschaft besteht nicht mehr darin, wie man günstige Kompromisse erreicht, sondern darin, wie man zu klaren Entscheidungen kommt".
Notwendige Voraussetzung einer derartigen „Weiterentwicklung des Status quo" ist nach Altmann die „Verschmelzung" des Pluralismus zu einem sogenannten „Sozialsystem" — wie es mangels eines besseren Ausdrucks 1960 . genannt wird. Dieses Ziel verlangt als erstes „eine wesentlich stärkere Disziplinierung des Pluralismus" auf der Ebene der Verteilung und des Konsums — nicht jedoch der Produktion Das ökonomisch leistungsfähige „Sozialsystem" bedarf daher einer „Vereinheitli-chung seiner verschiedenen Elemente", eines Fortschreitens „aus der verwirrenden Vielfalt der Situationen zur Einheit". Ungehinderte Prosperität und . Wohlstand für alle'sind ihre Voraussetzung, die auch ideologische Über-windung des Kommunismus ihre Folge. Dieses Modell kann aber nach Altmann nur funktionieren mittels einer gewissen Regie der Massen sowie der Interessenverbände.
Der Pluralismus, einerseits als „überzeugendste Garantie" der Freiheit ein „Narkotikum des totalen Staates", zählt auf der anderen Seite zu den transformierenden „Totalisatoren des modernen Lebens" Es gilt also, im postpluralistischen „Sozialsystem" die sozial disziplinierten, ihres Egoismus „entwöhnten" Verbände in das Konzept eines vom Staat aufgestellten, langfristigen Verteilungsplanes zu integrieren. „Dieses Modell ist nicht (mehr) der liberale Verfassungsstaat mit seinem parlamentarischen System", bestimmt der Kritiker vage ohne inhaltlich nähere Präzisierung
Rüdiger Altmanns Referat auf der 22. Tagung des Bergedorfer Gesprächskreises über das Thema „Muß unsere politische Maschinerie umkonstruiert werden?" vermag dennoch die erstrebte Fortbildung des Parlamentarismus in exemplarischer Weise zu skizzieren
Vor in-und ausländischen Wissenschaftlern wird dort die These vertreten, daß der „auffallende Mangel an Staatlichkeit" in der Verfassung der Bundesrepublik mit dem unbestreitbaren Phänomen des „überentwickelten Pluralismus" Zusammenhänge: „Der Staat scheint im Begriff, sich in seine Funktionen aufzulösen." Die Parteien würden gegenüber dem Druck der organisierten Interessen immer schwächer — und damit auch das Parlament. („In vielen Fällen hat sich der Pluralismus der Interessen der in der Verfassung verankerten parlamentarischen Demokratie als überlegen erwiesen."
Der Staat kann sich, so der Referent, angesichts dieses Verbändedrucks nicht mehr lediglich als schiedsrichterliches pouvoir neutre'gegenüber einer „sozialen Selbstverwaltung" gebärden; aus seiner vorgegebenen Aufgabe als „conservateur" ergebe sich vielmehr sein unbedingtes „Recht auf Entscheidung und darauf, Konflikte auszukämpfen — kurzum, das Recht auf Autorität". „Der organisierte Pluralismus bedarf . . .des Gegenpols in der höheren, auch geistigen Einheit des Staates" Ein vernünftiger Nationalismus etwa nach dem Beispiel de Gaulles könne dem existenziellen Bedürfnis des Volkes nach manifester Staatlichkeit gerecht werden. Die Suche nach einer „höheren Autorität", die einzige Alternative zu einer weiteren Demokratisierung des Wirtschafts-und Soziallebens — einer „Ausdehnung der Verfassung auf die Gesellschaft" also — und damit „das eigentliche Problem", führt Altmann zum Amte des Bundeskanzlers, der kraft seiner Richtlinienkompetenz staatliche Entscheidungen zu treffen habe.
Die Dezision über die Prioritäten der Politik sollte der Kanzler unter Mithilfe eines eigens zu installierenden Führungsstabes fällen „Das würde eine Stärkung der Demokratie und — systematischer als bei Adenauer — eine weitere Schwächung der Ressorts bedeuten." Rüdiger Altmann ist der Auffassung, daß das Gemeinwohl — „die vitalen Interessen von uns allen jenseits der Gruppen" — nur so nach sachlichen Ordnungsprinzipien verwirklicht werden könne. Als entscheidender Hebel zur Umkonstruktion der politischen Maschinerie erscheint ihm dabei entsprechend den Erfordernissen rationaler ökonomischer Planung die Reform der Haushalts-und Finanz-
Politik. Die politische Führung aus Kanzler und Stab sollte einen mehrjährigen Budget-plan dem Parlamentsplenum (nicht dessen Fachausschüssen!) zu Beginn jeder Legislaturperiode zur Ratifizierung vorlegen. Die wirtschaftspolitischen Verbände hätten sich den einmal gefaßten unterzuord Entscheidungen -nen und die daraus resultierenden konjunktur-politischen Leitlinien als verbindlich . zu erachten.
Das Recht des Staates auf Autorität impliziert auch dessen „ius supremae inspectionis" der Gesellschaft — nach Herbert Krüger typisches Zeichen des Absolutismus von Rüdiger Altmann jedoch als Bestandteil der staatlichen „Technik des Konflikts" erachtet. Als sozial-technisches Mittel par excellence biete sich hinsichtlich der Domestizierung der Verbände „die Möglichkeit einer demoskopischen Kontrolle der organisierten Interessen" an. Die Regierung sollte im Konfliktfalle prüfen, ob die Betroffenen die Meinung der Verbands-führung oder aber die der politischen Führung teilten. Altmann ist sich dabei wohl bewußt, daß eine solche Praxis, zum Gemeinprinzip erhoben, eine innere Aushöhlung des Repräsentationsprinzips zur Folge haben würde. Er plädiert jedoch für eine souveräne, dezionisti-sche Konfliktbehandlung: „Wenn die Regierung das. Recht auf Repräsentation bei diesen Verbänden anerkennt, ist sie praktisch entscheidungsunfähig. Sie muß selbst in der Lage sein, einen Konfliktfall auszutragen, und ihr Recht auf Autorität durchsetzen. Dazu wäre diese demoskopische Kontrolle der organisierten Interessen nötig."
Das von Altmann hier entworfene Regierungsmodell bedeutet — im ganzen gesehen — eine technische Perfektionierung des Schmittschen autoritärplebiszitären Ansatzes. Die Ersetzung des Plebiszits (Volksbegehren und Volksentscheid) als öffentliche Willensäußerung durch eine leicht manipulierbare demoskopische Individualbefragung wäre geeignet, eine demokratische Kontrolle und Beeinflussung der Staatsmacht durch Gruppen und auch Parteien weitgehend einzuschränken. Die von ihm vorgeschlagene „Umorganisation der Regierung" sowie die Reform des „überentwickelten Parlamentarismus" bedeutete andererseits praktisch die Reduktion der politischen Funktion des dann auch seines Budgetrechtes weithin entkleideten Bundestages etwa auf die Ebene des Reichstages. Wilhelminischen 4. Praktische Veränderungsversuche Das Unbehagen am politischen Pluralismus kennzeichnet viele Bestrebungen im Nachkriegsdeutschland, das System der Einflußnahme von pressure groups in den politischen Willensbildungsprozeß zu modifizieren. Hier wären einmal zu nennen alle jene zahlreichen Versuche, deren Wirken durch Registrierung oder eine entsprechende obligatorische Publizierung transparenter zu machen oder gar in der Form eines Bundeswirtschaftsrates zu institutionalisieren. Diese Bemühungen dauern — wenn auch nach wie vor ohne wenig Erfolg — bis heute an. So in dem Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU sowie der SPD vom 29. Mai 1968, der eine Registrierung der anzuhörenden Verbände beim Bundestagspräsidenten vorsieht oder in der DGB-Konzeption eines der „gesamtwirtschaftlichen Mitbestimmung" dienenden Wirtschafts-und Sozialrates mit „umfassenden Informations-, Beratungs-und Initiativrechten zur Einbringung von Gesetzen" Sie wird — wenn auch aus anderen Gründen — von Teilen der BDA (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände) verfochten, die damit ein Pendant zu ähnlichen Gremien in der EWG auch auf dem Boden der Bundesrepublik schaffen wollen Aber auch die CDU-Sozialausschüsse stehen solchen Plänen nahe, teilweise wollen sie aber auch bloß Arbeitnehmerkammern, wie im Berliner CDU-Programm (Absatz 65) vorgesehen, realisieren.
Den wohl ausgeprägtesten und im Rahmen dieser Abhandlung wohl interessantesten Versuch einer Integration des Pluralismus stellt zweifellos die Erhardsche Konzeption der Formierten Gesellschaft dar. Sie war zunächst wohl eine forcierte Reaktion auf die sich — infolge mangelnder politischer Führung — zu verselbständigen drohende pluralistische Wirklichkeit, der Versuch, den nicht zuletzt wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten mit einer praktikablen Staats-und Gesellschaftstheorie, wie sie dem Kanzler von verschiedener Seite, vor allem von Rüdiger Altmann angetragen wurde, zu begegnen. Durch sie sollte eine entsprechende Disziplinierung der kontroversen Gruppen und Verbände erfolgen. Ludwig Erhard verstand sein auf dem 13. Bundesparteitag der CDU vom März 1965 vorgetragenes Theorem als einen „Appell" an die Gruppen, das Ganze zu sehen und sich dem „Bedürfnis nach einem entsprechenden zusammenschauenden gesellschaftlichen Bewußtsein" zu öffnen. Wie sollte jedoch dieses „höhere Bewußtsein ihrer Einheit" politische Verbindlichkeit erlangen?
Der Kanzler führte dazu aus, daß in die gemeinwohlorientierte Kooperation alle diejenigen Fragen jenseits der „Sonderinteressen der einzelnen Gruppen" einbezogen werden sollten, „die die ganze Nation angehen. Nation verstehen wir in diesem Bezüge nicht im Sinne eines überholten Nationalismus; wir verstehen Nation in der Perspektive der sozialen, wirtschaftlichen und geistigen Entwicklung als eine . Formierte Gesellschaft'." Diese sei geprägt von dem „Wunsch nach einer Stabilisierung der Lebensordnung und zugleich nach einer sinnvoll gegliederten Gesellschaft, die dem einzelnen und der Gemeinschaft, wenn nicht überschaubar, so doch ein Gefühl der Geborgenheit gibt".
Gemäß einem traditionellen Topos forderte Erhard die geschlossene „Willenseinheit" des deutschen Volks, nun aber abgewandelt zum „geschlossenen Leistungswillen der gesamten Gesellschaft". In seiner Regierungserklärung vom November 1965 griff der Bundeskanzler solche Gedankengänge wieder auf: „Wirtschaftliche Kraft münzt sich um in politische Stärke . . . Nach den geschichtlichen Erfahrungen des deutschen Volkes . .. hat die deutsche Gesellschaft den Charakter einer Klassengesellschaft verloren. An ihre Stelle ist die Leistungsgemeinschaft getreten. Trotzdem dürfen wir nicht verkennen, daß diese noch von innen bedroht ist." In der „solidaren" Leistungsgemeinschaft sind, so Ludwig Erhard, die Interessengegensätze nicht mehr, wie in der Weimarer Republik, die „Elemente des Zerfalls ihrer Einheit". Mittlerweile hätten nämlich „alle Schichten und Gruppen unseres Volkes erfahren, daß die Vertretung der eigenen Interessen nicht notwendig den Konflikt mit anderen auslösen muß". Die Formierte Gesellschaft'sei infolgedessen eine ihrem Wesen nach „friedliche" Gesellschaft. Soziale Befriedung könne jedoch nicht auf „irgendeinem faden Kompromiß" beruhen, sondern setze politische Ordnungskonzeptionen voraus, die von der „Einsicht" aller getragen seien. Politische Stabilität, Vorbedingung der Leistungsfähigkeit, könne nicht „auf ein unübersehbares Gewirr von Interessenkompromissen gegründet werden". Die Gesellschaft müsse sich „auch als Ganzes und als Einheit entscheiden können"
Der Kanzler appelliert hier also sowohl an die „richtige Einsicht" der Staatsbürger wie auch deren Akklamationsbereitschaft (W. Weber). Er hat dabei die Hoffnung, mit dem Volk auch „über die Parteien hinweg zu einer Vereinbarung über die Rangordnung der Werte und Dringlichkeiten zu kommen" Auf dem CDU-Parteitag propagierte Erhard weiterhin „andere, moderne Techniken des Regierens und der politischen Willensbildung", die geeignet seien, die Gesellschaft „zielbewußt zu formieren": „Regierung und Parlament können sich nur der Vernunft zur Durchsetzung ihrer Autorität und moderner politischer Techniken (Demoskopie, Kommunikationsmittel und umfassende Informationsmöglichkeiten) bedienen." Der durch die Regierung informierte Bürger sollte also, unabhängig von den Gruppen, seine Meinung — möglicherweise auch über das Mittel der Demoskopie — zum Ausdruck bringen
Hier spätestens ist die Frage nach dem demokratischen Gehalt dieser Gesellschaftstheorie zu stellen, zumal sie geeignet scheint, die „unberechtigten" Forderungen einer gewissen Minderheit aus dem politischen Konzert auszuschalten. Der Kanzler setzte sich nämlich dezidiert gegen den Verbändedruck jener „kleinen Gruppe" zur Wehr, „die aus partikulärem Interesse glaubt, sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern zu können" Er bekämpfte jene „gemeinschaftsfeindliche" Haltung, die darauf hinausläuft, „mit Gewalt sich das zu nehmen, was man gerne haben möchte". Er appelliert an das Bewußtsein und „Gewissen des einzelnen", sich von „den kollektivistischen Bindungen und Hörigkeiten" durch die Funktionäre zu lösen Vornehmlich die gewerkschaftliche Politik gilt hier — ohne eigentliche Nennung — als das Haupthindernis der gesellschaftlichen Formierung.
Die mit der Großen Koalition einsetzende Praxis der . Konzertierten Aktion', einer turnusmäßigen Absprache des Wirtschaftsministeriums mit sämtlichen wirtschaftspolitisch relevanten Verbänden, zeigt wohl eine demokratischere und reibungslosere Möglichkeit der Fixierung der pluralen Gruppen auf bestimmte Leitlinien und Orientierungsdaten. Gleichwohl bahnt sich hier, wie die im folgenden vorzustellende Pluralismuskritik von links moniert, die Gefahr einer schleichenden, nicht-öffentlichen Institutionalisierung der autonomen, organisierten Interessen an, welche nicht zuletzt geeignet ist, unter der Maxime der „sozialen Symmetrie" die bestehenden sozialen Hierarchien und den ökonomischen Status quo zu konservieren
V. Pluralismuskritik von links
Befürchtet die konservative Kritik am politischen Pluralismus, der Staat sei in Gefahr, seine souveräne Entscheidungsfähigkeit werde auf unzulässige, lebensgefährliche Weise geschmälert, so hegt die Pluralismuskritik von links den Verdacht, gesamtgesellschaftliche Interessen, die Interessen der Mehrheit und das heißt der „abhängigen Masse" würden durch die Vorherrschaft der Machteliten entscheidend geschmälert und kämen nicht zu ihrer notwendigen demokratischen Entfaltung.
Der Pluralismus wird dabei von der moderierten, wissenschaftlichen Kritik zum Teil durchaus als eine der Voraussetzungen des demokratischen Parlamentarismus anerkannt Man wehrt sich nur, wie etwa Otto Brenner, gegen Versuche einer unpolitischen, repressiven Interessenharmonisierung durch Slogans wie dem der nivellierten Mittelstandsgesellschaft: „Wer heute von gesellschaftlichem Pluralismus oder von pluralistischer Gesellschaft spricht, muß sich jedenfalls darüber im klaren sein, daß wir es keineswegs nur mit einem Nebeneinander verschiedenartiger gesellschaftlicher Kräfte, Interessen und Einflüsse zu tun haben, sondern mit einem gleichzeitigen gesellschaftlichen Gegeneinander, mit einer Zerklüftung, die es uns nicht erlaubt, von einer Überwindung der Klassengesellschaft und einer Annäherung an gesellschaftliche Demokratie zu sprechen." Hier hat Pluralismus, entsprechend seinem antitotalitären Ursprung, durchaus einen offensiven Charakter.
Gerade die hier sehr deutlich akzentuierte Kritik der . jungen Linken’ an den Gewerkschaften betont jedoch immer wieder, wie sehr deren Praxis im Einklang mit der herrschenden „Pluralismusideologie" geeignet sei, die bestehenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Herrschaftsstrukturen zu verfestigen und zu konservieren Sie wirft ihnen ihre „subalterne Rolle" im gesellschaftlichen und politischen Willensbildungsprozeß vor, wo-es doch darum ginge, gerade das „al-gemeine Interesse", nämlich das der Selbstorganisation der Abhängigen, zu artikulieren. Helge Pross umschreibt dies in der Adorno-Festschrift folgendermaßen: „Grundsätzlich begünstigt das pluralistische System die Verbreitung konservativer Theorien, welche der Erhaltung vorhandener Institutionen dienen." Dennoch äußert sie die Hoffnung, durch die Verbände — und zumal die Gewerkschaften —-könnten die individuellen Freiheitschancen vermehrt werden Gleichwohl müsse man sich bewußt sein, daß in der pluralistischen Demokratie durch die unterschiedlichen sozialen Ausgangsbasen die Großgruppen begünstigt würden. Von den bereits etablierten Gruppen nicht anerkannte oder gar systemkritische Minderheiten hätten in ihr keine reale Entfaltungschance.
Der Pluralismus scheint somit, wie die Kritik übereinstimmend vorträgt geeignet, soziale Privilegien, den Status quo der sozialen Ungleichheit, zu zementieren. Er sei eine sich zwar demokratisch gebende, in Wirklichkeit jedoch konservative „Scheinideologie" repressiven Charakters — ein „Scheinpluralismus", der von der unreflektierten Annahme einer prästabilisierten Harmonie der Gruppen ausgehe. Infolgedessen verabschiedete die Humanistische Studentenunion in der Präambel ihres Marburger Programms vom 10. Dezember 1967 (hektographierter Druck): „Wird an pluralistischen Konzeptionen festgehalten, verstärken sie das bestehende Herrschaftsgefälle, anstatt der Repression dienende Mechanismen abzubauen. Begreift man Humanismus als Durchsetzung gesellschaftlicher Freiheit, dann ist damit Pluralismus’ unvereinbar."
Zwei fundamentale Dichotomien erblickt die marxistisch orientierte Pluralismuskritik. Die eine ist soziologischer Natur. Im Gefolge von C. Wright Mills’ Analyse der , Power Elite konstatiert sie nämlich den Wegfall einer „pluralistischen Mitte" zwischen den Machteliten (in Wirtschaft, Militär und Politik) und den abhängigen Massen. Allenfalls als formaldemokratische Drapierung der herrschenden Oligarchien auf der „mittleren" Machtebene der lediglich als „Stempelmaschine" (E. Krippendorfs) andernorts gefallener Entscheidungen fungierenden Parlamente könnten Parteien und Verbandsorganisationen operieren, ohne indessen die gegebenen Machtstrukturen auflösen zu können. David Riesmans Idee der pluralistischen Veto-Gruppen die sich gegenseitig (im Sinne von Galbraith , countervailing powers') kontrollierten, wird hier — da unzutreffend oder unzureichend — aufs schärfste negiert. Als soziologisches Problem verbleibt allerdings, wie Agnoli eingesteht, jenes der bürgerlichen „Zwischenschichten", das alte Marxsche Dilemma das durch die technologische Entwicklung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (Dienstklasse, neuer Mittelstand) eher differenzierter als eindeutiger zu werden scheint.
Die zweite, wesentliche Aporie des Pluralismus liegt nach Meinung dieser Kritik in der Wirtschaftsstruktur begründet. Hier bestehen, so Agnoli, nur im Verteilungssektor gewisse Einwirkungsmöglichkeiten pluralistischer Gruppen, während auf dem Gebiet der eigentlichen Produktion nur eine ausschließlich hierarchische Entscheidungsordnung vorliege. Die pluralistische „Zersplitterung" der Gesellschaft auf der Distributionsebene sei geeignet, die eigentliche Polarität zwischen der herrschenden und der abhängigen Klasse auf der Produktionsebene zu „verdecken" Es handele sich somit um eine genuine Verhüllungsideologie. Der „sogenannte Pluralismus“ des Wohlfahrts-und Verteilerstaates fördere zudem die durch die Wirtschaftsstruktur ohnehin begünstigte allgemeine Konsumentenhaltung. Er sei Grundlage der den politischen Konfliktaustrag ersetzenden üblichen sozialen Befriedungspolitik, bei der die Massen jedoch unverändert durch „fundamentale Trennungsschranken" — Eigentum und daraus abgeleitete Macht — von den herrschenden, „mehr oder minder geschlossenen Gruppen" getrennt blieben Eine geschickte Wirtschaftspolitik vermöge es heute dank der ihr zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen und praktischen Instrumentarien, die ökonomischen Konflikte an der gesellschaftlichen Basis prophylaktisch zu bereinigen. Dennoch hege, wie Krippendorff meint, die „liberale Weltanschauung des Pluralismus" nach wie vor die durch nichts ausweisbare „Hoffnung, daß es in der Wirklichkeit immer Gegensätze gegeben habe und auch weiter geben werde"
Das Repräsentativsystem, mißtrauisch gegenüber dem unberechenbaren , demos‘ und daher repressiv, erweist sich in dieser Sicht als unfähig, den gesellschaftlichen Herrschaftsantagonismus auf der politischen Ebene zu lösen. Die etablierten Parteien bildeten trotz äußerlicher Vielfalt nur die „plurale Fassung einer Einheitspartei" und installierten sich als „Neue Obrigkeit". Im Grunde sei das Parlament „ein Transmissionsriemen der Entscheidungen politischer Oligarchien, ein Exekutivorgan . . . von Gruppen arkan-oligokratischer, zum Teil privater Natur" Politische Repräsentation bedeute jedenfalls stets „Herrschaft über andere" und gewährleiste lediglich für die tatsächlich repräsentierten Schichten eine „Identität von Regierten und Regierenden" — eine Formel übrigens, wie sie einst Carl Schmitt zur Beschreibung der wahren Demokratie prägte Pluralistische „Zersplitterung" und „Auflösung" der Gesellschaft oder ein neuer Faschismus — eine andere Alternative sieht Johannes Agnoli im Augenblick für die Bundesrepublik nicht. Die großen Verbände als etablierte „Schutzorganisationen des Staates" würden sich einer neuerlichen korporativen Gleichsetzung kaum widersetzen, solange ihre Privilegien bei der Güterverteilung nicht einschneidend tangiert würden. Angesichts dieser Tendenzen zeiht Gert Schäfer den Neopluralismus eines „romantischen Denkens": er sei „blind für die Mechanismen bürokratisch ausgeübter Herrschaft". Man könne daher von nichts anderem als der „Hinfälligkeit des Pluralismus" reden
Nun ist es zweifellos eine der Auswirkungen und Folgeerscheinungen der repräsentativen pluralistischen Demokratie, den aus dem ökonomisch-gesellschaftlichen Antagonismus herrührenden Herrschaftskonflikt tendenziell auf einen Führungskonflikt zwischen Vertretern verschiedener Partei-und Verbandsspitzen zu reduzieren. Die Ursache dafür kann jedoch weniger in dem Prozeß einer manipulativen „Verkürzung" des Antagonismus auf einen „sogenannten" Pluralismus zu suchen sein als vielmehr in der Oligarchisierung und Bürokratisierung der bestehenden Institutionen. Partei-hierarchien und zur Verselbständigung drängende Verbandsbürokratien erblicken, wie Jürgen Habermas es ausdrückt, in ihren jeweiligen Gefolgschaften weit eher ein Instrument der „ausdrücklichen Akklamation oder stillschweigenden Toleranz" als Foren einer inhaltlichen und kritischen Diskussion Ihr allgemeiner Hang zur Meinungsforschung als einer „Art Ersatz-Plebiszit" (E. Fraenkel kann diesen Trend nur unterstreichen. Der Re-feudalisierung der bürgerlichen Öffentlichkeit (Habermas) wäre allenfalls durch eine die jeweiligen sachlichen und politischen Alternativen erhellende kritische und aufmerksame Öffentlichkeit zu steuern. Neben ein solches bewußtseinaktivierendes „Gebot der Öffentlichkeit" tritt als weitere Aufgabe das Gebot der vom Grundgesetz geforderten innerparteilichen und — vom Gesetzgeber intendierten, jedoch nicht normierten -— innerverbandlichen Demokratie.
Wenn es zutrifft, daß Demokratie als politisches Organisationsprinzip solange nicht funktionieren kann, als die poltiisch relevanten Organisationen der Staatsbürger nicht demokratischen Grundprinzipien Rechnung tragen, so muß die Zentralisierung der Verbandsmacht ohne demokratische Rückkoppelung eine große Gefahr bedeuten. Ein Blick auf einige zentrale Verbandsgruppen vermag die politische Tragweite dieser Fragestellung deutlich aufzuzeigen.
Nehmen wir z. B. die wirtschaftlichen Großverbände (BDI, BDA, DIHT): Hier überträgt sich, wie Wolfgang Abendroth zu Recht feststellt, die Mentalität des autokratisch-dezisionistischen Managements der Großunternehmen tendenziell auch auf die Mentalität der betreffenden Verbandsführungen. Auch Theodor Eschenburg warnt vor den Gefahren der Vormachtstellung der Konzerne in den Industrieverbänden. Der hiermit getroffene Vorwurf undemokratischen Verhaltens, der durch tatsächliche Interessendivergenzen (etwa zwischen den Zulieferer-und Abnehmerbranchen, automatisierten Groß-und mittelständischen Kleinbetrieben) seinen realen politischen Hintergrund erfährt, findet sich auch durch empirische Daten der einschlägigen Verbändeforschung bestätigt. Bei 22 Prozent der in der Schmölders’schen Verbandsenquete befragten Wirtschaftsverbände herrscht satzungsgemäß Stimmenungleichheit der einzelnen Mitglieder (als Index gilt die Beschäftigtenzahl oder sonstiges). Bei 29 Prozent der Verbände ist satzungsgemäß zwar Stimmengleichheit vorhanden, „aber bei 18% (davon) setzen sich trotzdem inoffiziell die wirtschaftlich stärkeren Mitglieder besser durch"
Für die großen Gewerkschaftsorganisationen (DGB, DAG) gilt ein analoges Problem. Hier räumen die entsprechenden Satzungen den Mitgliedern zwar ein erhebliches plebiszitäres Mitspracherecht ein, der bürokratische und zudem finanzstarke Apparat ermöglicht jedoch eine weitgehende Manipulation der ohnehin führungsbedürftigen Mitglieder — mit den gelegentlichen Ausnahmen, wie sie durch einen (illegalen) wilden Streik markiert werden. Dieser Tatbestand ist wesentlich bedingt durch die Abhängigkeit der Arbeitnehmer vom Sachverstand ihrer Funktionäre, die nur durch eine erweiterte Fortbildung wie auch Heranziehung der Belegschaftsmitglieder zur Betriebspolitik zu überwinden wäre.
Auch im Bereich der Kirchen, die in diesem Kontext durchaus als Interessengruppen spezifischer Wertsetzung anzusehen sind und bei bestimmten Gesetzesmaterien einen oft entscheidender Einfluß ausüben (Bundessozialhilfegesetz, Novellierung des Ehescheidungsrechts, Schulgesetze etc.), wird die Frage der inneren Demokratisierung durch das Bestreben der sogenannten Laien nach mehr Mitsprache akut. Es scheint, daß hier neuerdings auf dem Gebiet der kirchlichen Finanzverwaltung einige Konzessionen seitens der Hierarchie gemacht werden. Ihrer inneren Struktur nach bilden die Kirchen bislang zweifellos „ein undemokratisches Element innerhalb unseres demokratischen Gesellschaftskörpers" Dieses Dilemma hat außer der hierarchischen Ordnung seinen Grund darin, als es bisher kaum gelungen ist, sowohl theologische als auch gesellschaftspolitisch relevante Fragen in einer breiteren Öffentlichkeit innerhalb der Kirchen zu diskutieren und sodann einer entsprechenden institutionalisierten und verbindlichen Willensbildung zugänglich zu machen. Auf diese Weise werden Tabus unbefragt tradiert und sind zu manipulativem Einsatz jederzeit verfügbar
Ein Pluralismus autoritärer Gruppen kann keinesfalls Ziel oder einkalkulierbares Risiko des Pluralisten sein. Eine „Harmonie der Repression" (R. Dutschke) wäre ihre Kehrseite. Die Repräsentation organisierter Interessen in der politischen Öffentlichkeit läßt eine demokratische Legitimation ihrer Wahrnehmung daher geradezu als eine conditio sine qua non der pluralistischen Demokratie erscheinen.
Andererseits kann eine Demokratisierung der jeweiligen Teil-Organisationen — soweit überhaupt möglich — als alleiniges Mittel einer Therapie der Schwächen des pluralistischen Systems nicht befriedigen. Es bedarf vielmehr, wie die Pluralismuskritik von links feststellt, auch einer Kontrolle der gesellschaftlich relevanten Gesamtsektoren wie der Wirtschaft, des Bildungswesens — insbesondere der Hochschule —, der Verwaltung, der Kirchen etc. Vor allem die Wirtschaft gilt der linken Kritik in ihrer gegenwärtigen unternehmerischen Verfassung als Hauptnutznießer pluralistischer Theorien, ohne daß dabei ein wirkliches Machtgleichgewicht zwischen den „Sozialpartnern" denkbar wäre: „Man geht offenbar von der Annahme aus, daß Unternehmer und Arbeiter zwei grundsätzlich gleichwertige, autonome Kräfte sind. Die Aufteilung des Nationalprodukts würde demnach entschieden durch die jeweilige gesellschaftlich-organisatorische Stärke der beiden Gruppen. Theoretisch ließe sich somit der Fall konstruieren, daß Arbeiter die Höhe der Lohnquote völlig unabhängig vom Verhalten der Kapitalseite (d. h. von der Organisationsform der Produktion in einem bestimmten Zeitraum) festsetzen könnten. Hier gerade zeigt sich der Fehler dieser Konstruktion: die Lohnquote ist keine beliebig variable Größe, sie ist stets abhängig von den Gegebenheiten der Produktion. Für Lohnverhandlungen ist zwar ein bestimmter Spielraum gegeben, aber dieser Spielraum ist nach oben hin begrenzt: Der Arbeitslohn kann nie so hoch steigen, daß der Kapitalist das Interesse an der Produktion verliert'(Werner Sombart)."
Von der rechten Pluralismuskritik wird der Gedanke der Macht-und auch schon der Chancengleichheit recht offen als „blanke Utopie" abgelehnt. Was Wunder, wenn dann „Pluralismus" und „Partnerschaft" als „politische Leerformeln der Arbeitgeberverbände" abgetan werden und zum Gegenangriff, zur Bildung syndikalistischer „Gegenmacht", übergegangen wird. Aus der „Volksunmittelbarkeit" der Gewerkschaften ergebe sich nämlich deren Aufgabe, die Wirtschaftsstruktur in einem plebiszitären, direkten Sinne (vom Arbeitsplatz her) zu demokratisieren. Dies bedeute keineswegs die Verfechtung der überholten „Repräsentationslehren" oder etwa der dem „Korporationismus" der Werkgemeinschaft entstammenden Mitbestimmung der Arbeitnehmer, vielmehr komme es darauf an, in einem plebiszitären Elan „neue Gesellschaftskonturen" zu schaffen.
Alle politisch relevanten Sektoren der Gesellschaft sollten durch die unmittelbar Betroffenen in demokratischer Selbstorganisation bestimmt und durch jederzeit kontrollierbare Mandatare geleitet werden. Demokratisierung gilt hier als synonym mit Plebiszitierung, „demokratisch" als identisch mit „anti-kapitalistisch" Nur durch einen entsprechenden „autonomen politischen Willen" der Abhängi-gen könne „die Logik des gesamtgesellschaftlichen Interesses" gewahrt bleiben Die direkte Demokratie in der Gesellschaft erscheint als alleiniger Ausweg aus dem, wie man sagen könnte, ehernen Gesetz des Konservatismus repräsentativer Organisationen und repräsentativer, auf den Bereich des „Staates" beschränkter Demokratie.
Freilich verwirft ein Teil der sozialistischen und marxistischen Kritiker damit den Pluralismus nicht in toto, wie es die Rede von einem „sozialistischen Pluralismus" vor allem während der tschechoslowakischen Reform-Debatte des Jahres 1968 beweist Das Parteiorgan Rude Pravo’ vom 14. Juni 1968 meinte dazu: „Man braucht den Übergang zu einer pluralistischen Demokratie nicht mit der Bildung weiterer politischer Parteien verbinden . . . Wir müssen sowohl einen Mechanismus schaffen, der die demokratische Kontrolle der Macht in der Industrie sichert, wie die Voraussetzungen dafür, daß innerhalb der Kommunistischen Partei eine Opposition existieren kann." Ferner be-nötige man „freie, vom Staat unabhängige Gewerkschaften . . . mit der eindeutigen Aufgabe, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten, einschließlich des Rechts auf Streik", sowie als Gegenorganisationen ein Verband der Industrieunternehmer Auf der Basis nichtantagonistischer Werte würde dieser „demokratische pluralistische Sozialismus" funktionieren können.
Die weitergehenden Radikaldemokraten in der Bundesrepublik wollen hingegen das bestehende Gruppensystem durch eine Politisierung und direkte Herrschaft der Massen überwinden. In der Praxis würde dies jedoch, da funktional differenzierte Entscheidungsstrukturen der entwickelten Industriegesellschaft immanent sind, zur Herrschaft einer zwar plebiszitär gestützten, jedoch praktisch kaum kontrollierbaren und minderheitenunterdrückenden Gegenelite führen. Eine solche „Rätedemokra-tie" hätte schließlich die generelle Aufhebung einer offenen, pluralen Demokratie zur Folge — auch unter sozialistischem Vorzeichen.
VI. Fazit
Die Pluralismuskritik berührt anscheinend die neuralgischen Punkte in der Entwicklung unserer Gesellschaft von einer autoritären (bzw. faschistischen) zu einer mehr demokratischen. Sie ist zugleich Ausdruck des Unbehagens über das fehlende demokratische Potential wie auch des demokratie-kritischen, an der Möglichkeit einer Vereinbarung differierender Gruppenwillen zweifelnden Potentials
Die Linke hofft, die pluralistische Verharschung unserer Gesellschaft zu überwinden durch innerverbandliche und sektorale Demokratisierung, während die Rechte dieser Tendenzen eines „Demokratismus" durch Stärkung der sozialen und politischen Hierarchien aufhalten zu können vermeint. Sie warnt vor einer Aufgabe „hierarchisch unterbauter Machtverhältnisse" (G. Leibholz) in der Gesellschaft, da dies eine „Entliberalisierung" bedeute. Unter dem Eindruck von Robert Michels . ehernem Gesetz der Oligarchisierung'der Großorganisationen glaubt man selbst auf sozialdemokratischer Seite, feststellen zu müssen, daß die Verbände „in noch geringerem Grade als die Parteien einer Demokratisierung von unten nach oben offenstehen" Das Dienstwissen der Experten — bei den Verbänden ohnehin qualifizierter und verbreiteter als bei den Parteien — verstärke nur deren oligarchische und bürokratische Tendenzen.
Die Distanzierung oder generelle Ablehnung gegenüber dem Interessenpluralismus seitens des Konservatismus hat, wie hier abschließend zu bemerken wäre, vielfältige Gründe, die sich jedoch auf sozial-anthropologische Grundbefindlichkeiten in Korrelation zur jeweiligen sozio-ökonomischen Lage zurückführen lassen.
Die individualistisch-altliberale Theorie glaubte mit Adam Smith an eine harmonische Herrschaft des aufgeklärten Selbstinteresses (, en-lightened selfinterest') jenseits einer egoistischen , selfishness'. Die deutsche konservative Soziologie übernahm diese Vorstellung, wie sie bereits in der rousseauschen Unterscheidung der , amour de soi, der natürlichen Selbst-liebe, und der , amour propre', der Selbstsucht, tradiert wurde auf einer kollektiven, tendenziell nationalistischen Ebene in der Bevorzugung des gemeinschaftlichen Wesenwillens — einer philosophischen Umschreibung der volonte generale — gegenüber dem partikularen gesellschaffliehen Kürwillen.
Gemeinnutz geht vor Eigennutz — betonte ein totalitärer Faschismus, der nur die Selbstliebe, den „kollektiven Narzißmus" (Th. W. Adorno) der Nation als solcher kannte. Der pluralismusfeindliche Neoliberale Wilhelm Röpke konnte immer noch das Denken in materiell interessierten Gruppenkategorien als Erbübel unserer Zeit anprangern. „Das soziale Ich hat den deus mortalis besiegt. .. Die Gesellschaft, nicht der Staat ist in Deutschland totalitär geworden", meint Rüdiger Altmann in einer neueren Betrachtung
Die Übergänge zwischen Individualismus und Kollektivismus sind in der kulturpessimistisch gestimmten Abwehrhaltung gegen die plurale Gruppengesellschaft durchaus fließend. In Elitekategorien denkende Konservative, die sich im „Schutz letzter Distanzen" geborgen wissen wollen, meinen ebenso das Gefühl einer „volk-haft kreatürlichen Lebensgemeinschaft . . . und ihrem Willen zur gemeinsamen politisch-wirtschaftlichen Selbstbehauptung" hervorheben zu müssen wie die nationalistischen Antipluralisten. Dies wird soziologisch besonders deutlich bei den die Nationaldemokratische Partei stützenden Mittelschichten, vor allem dem gefährdeten wirtschaftlichen Mittelstand (sowie den Vertriebenen und „Ehemaligen"), deren je verschiedene soziale und politische Frustration infolge ihres Minderheitenstatus und ungleicher wirtschaftlicher Chancen zu einer politischen Entfremdung und damit zu Ablehnung des nicht als effizient empfundenen pluralistischen Willensbildungsprozesses überhaupt führen kann.
Der Nationalismus als Mittel einer ideologischen Kompensation sozialer Insuffizienz-oder Inferioritätsgefühle ist ein vielfach belegbares Phänomen. Der Appell an das Gemeinschaftsbewußtsein dient dabei den schwach integrierten Marginalgruppen als verbindendes Integrationsmoment, wobei ihr Bedürfnis nach einem autoritären Staat um so fanatischer sein kann, je politisch entfremdeter sie sich fühlen. * Carl Schmitt hat in bemerkenswerter Selbstreflexion und Deutlichkeit in einem „Politische Anthropologie" betitelten Kapitel seines Buches „Der Begriff des Politischen" die Wurzeln des Antipluralismus von rechts offen-gelegt. Große Philosophen und Juristen wie Hobbes, Spinoza oder Pufendorf hätten gemäß ihrem geistigen Vorläufer Machiavelli in Kampf und Gefährdung den Naturzustand erblickt. Auch Fichte, Hegel und Nietzsche seien Anhänger der „bösen Seite", einer „pessimistischen Anthropologie". Daraus deduziert Schmitt sodann „die merkwürdige und für viele sicher beunruhigende Feststellung, daß alle echten politischen Theorien den Menschen als böse’ voraussetzten, d. h. als keineswegs unproblematisches, sondern als . gefährliches'und dynamisches Wesen betrachteten" Ein pessimistisches Menschenbild zeigt sich durchweg bei allen konservativen Kritikern der pluralistischen Demokratie, soweit sie diese durch einen interesseneutralen, mit starker Autorität ausgestatteten Staat ersetzt sehen wollen. Der Staatsrechtler von der Heydte hält den Satz: „Der Mensch ist an sich gut" für das Grunddogma sowohl des Liberalismus als auch des Sozialismus Das christliche Mittelalter sei dagegen in seiner Staatstheorie von einer anderen Voraussetzung ausgegangen: „Der Mensch war ja böse, nicht gut."
In einer säkularisierten Form finden sich diese Gedankengänge, die die politische Theorie de Maistres, Donoso Cortes und anderer Ideologen der Restauration und Reaktion entscheidend beeinflußten, heute auch bei Winfried Martini, Armin Mohler, Arnold Gehlen, Hans Freyer und Rüdiger Altmann wieder. Gehlen zum Beispiel warnt aus vergleichbaren Gründen vor der „Hypertrophie des humanitäreudämonistischen Ethos", das außer acht lasse, daß der Mensch ein „chaotisches", stabilisierender Bindungen bedürftiges Mängelwesen sei. Hans Freyer spricht unheilverheißend von dem „kataraktischen Prozeß des Fortschritts", den der Mensch der Neuzeit in seiner „ganzen Riskiertheit" in Gang gesetzt habe Der Gehlen-und Schmitt-Schüler Hanno Kesting lehnt jegliche Fortschrittsidee als Ausfluß einer „autonomistischen" Geschichtsphilosophie ab. Bei Rüdiger Altmann verdüstert sich dieses Bild durch die Aussicht, daß „die Rückseite des Fortschritts apokalyptische Symbole" trage: „Das innerstaatliche Niveau der Demokratie und der Zerfall der Weltpolitik entsprechen sich doch in vielfältiger Weise."
Politologisch von Bedeutung wird dieser Zivilisationspessimismus da, wo er sich dezidiert gegen die demokratische Staatsform selbst kehrt. Winfried Martini zum Beispiel hält es für erwiesen, daß die von heterogenen Gruppenwillen getragene Demokratie dem innenpolitisch geschlossenen autoritären Staat gegenüber unterlegen sei Die „Lebenserwartung" der durch den „Pluralismus der Loyalitätsbegriffe" geschwächten Bundesrepublik sei angesichts eines militanten Kommunismus als gering zu bezeichnen. Es greife in der Bundesrepublik das Gefühl um sich, „von der Welt, der man selber angehört, nicht in einem entsprechenden Maße geschützt zu sein" Die Schutzfunktion gegenüber dem auch ideologisch gefährlichen Gegner kann in dieser Sicht nur der „autoritäre Staat" wahrnehmen. Nur er bildet den Rahmen für die Entfaltung jener „unpolitischen Persönlichkeit, die das Fehlen politischer Freiheit eher befreiend" findet, da jene „dem Wert der individuellen, unpolitischen und durch rechtsstaatliche Institutionen gesicherten Freiheit bei weitem nachsteht"
Das hier so deutlich hervortretende Sekuritäts-bedürinis erweist sich bei näherem Zusehen als das gemeinsame sozialpsychologische MoB vens der Pluralismuskritik von rechts. Das Phänomen der diesen Bedürfnissen zugrunde liegenden Real-Angst, im wesentlichen begründet durch politische Konzeptions-und Perspek-tivlosigkeit bewirkt eine spezifische Form politischer Entfremdung, die sich sowohl in ideologischer Rigidität (Schwarz-Weiß-Malerei) als auch in starken Autoritätsbedürfnissen niederschlägt. So etwa, wenn Ernst Forsthoff den „rechtsstaatlichen Schutz" für wichtiger als die „rechtsstaatliche Freiheit" erachtet
Auch in Werner Webers politischer Devise „Ein Leben in Gleichheit und Sicherheit!" wird die politische Freiheit der Sicherheit untergeordnet. Für Arnold Gehlen sind Sicherheit — „wobei wir die große, politische verstehen" — sowie Ehre erstrebenswertere Ziele als der heute grassierende „eudämonistische Humanitarismus" Ludwig Erhard kommt ebenfalls dem Bedürfnis nach Sekurität und „Geborgenheit" in der Begründung der . Formierten Gesellschaft'explizite entgegen. Was Wunder, wenn auch die NPD in ihrem Parteiprogramm die Sehnsucht nach staatlichem Schutz anspricht. Er „schafft Geborgenheit und erfüllt das Leben des einzelnen mit Sinn und Wert. Der Staat kann (aber) diese Aufgabe nur erfüllen, wenn sich das Volk zur Hingabe an das Ganze begeistert..." (Präambel). Dieses lyrische Pathos ist zweifellos geeignet, unkritische Gemüter zu begeistern. Kritische Geister fordern daher nicht die Unterwerfung unter Herrschaft — nach Ralf Dahrendorf selbst ein „Kartell der Angst" — sondern ein „angstfreies Leben", eine „angstfreiere Selbstwahrnehmung" durch den Abbau aller nichtfunktionalen Autoritäten
Wie immer wieder im Laufe der Untersuchung ersichtlich, sind die Verbindungslinien zwischen konservativer und (rechts-) radikaler Pluralismuskritik fließend, da innere Abgrenzungen mit der notwendigen Intransigenz von keiner Seite vorgenommen werden. Im Gegenteil: Der diskreditierte, theoretisch entleerte Nationalismus versucht, um zu überleben, (wieder einmal) alle diejenigen Elemente der konservativen Theorie zu amalgamieren — einschließlich solche technokratischer Natur —, die er brauchbar findet. Er radikalisiert und führt konsequent das zu Ende, was der neue deutsche Konservatismus, wenn auch anders gemeint, bereits seit Jahr und Tag propagiert hat. Daß Adolf von Thadden auf dem Bundesparteitag der NPD 1967 in Hannover ein dezidiertes Votum der Delegierten gegen die „pluralistische Gesellschaft" gegenüber dem weit moderierteren, den Pluralismus anerkennenden Programmentwurf Y des Politologen und späteren Vorstandsmitgliedes Udo Walendy durchpauken konnte ist ohne das jahrelange geistige Trommelfeuer der konservativen Rechten gegen die dekadente Gruppen-gesellschaft kaum vorstellbar. Der schließlich spektakuläre Erfolg des Neonationalismus wäre wohl ohne die geistige Mithilfe jener Publizisten und Staatsmänner nicht möglich gewesen, die wie Armin Mohler (Träger des Adenauer-Preises), Winfried Martini, Hans-Georg von Studnitz, Caspar Freiherr von Schrenck-Notzing, Hans Zehrer, Emil Franzei, Franz-Josef Strauß, Eugen Gerstenmaier u. a. dem vermeintlichen Nachholbedarf eines interessetranszendenten Nationalgefühls Genüge leisten zu müssen glaubten. Man hatte wohl besser daran getan, statt eines vagen, an Werte und Vorstellungen von gestern appellierenden Nationalismus einen „demokratischen Radikalismus" (Kurt Sontheimer) und Patriotismus zu propagieren. Bei dem noch vorhandenen faschistischen Wurzelgrund kann es nämlich nur zu leicht geschehen, daß an-dere Früchte heranreifen, als man zu hegen gedachte. Angesichts des Mangels an — diesen Namen wirklich verdienender— national-demokratischer Tradition vermögen Institutionen wie die mit dem Andenken an Konrad Adenauer renomierende „Deutschland-Stiftung e V." die bar jeder theoretischen Kontur sind und sich allenfalls in einer sowohl antiliberalen wie auch antikommunistischen Abendlandsidee erschöpfen, keinen geläuterten Nationalismus zu begründen. Sie machen im Gegenteil die mit dem tradierten nationalen Denken verknüpften fatalen, pluralismus-kritischen Staatsvorstellungen eigentlich erst hoffähig und diskutabel. Es scheint, als dränge der Konservatismus immer noch darauf, Carl Schmitts dezisionistisches, antipluralistisches System — freilich ohne den dazugehörigen Faschismus — verwirklichen zu wollen. Die Konzeption der Formierten Gesellschaft [„ein Haufen von Waffen, die den Rüstkammern des traditionellen bürgerlichen Konservatismus deutscher Prägung entnommen . . . sind ] war ein sicherlich unzulänglicher Versuch in dieser Richtung, der zumal unter den Bedingungen des Grundgesetzes fehlschlagen mußte.
Dabei haben kluge Konservative — wie übrigens auch kluge Progressive — heute vielfach erkannt, daß der Pluralismus durchaus eine konservierende Institution zu werden im Begriffe ist. Selbst die katholischen Bischöfe der Bundesrepublik haben dieser Tendenz in ihrem Lehrschreiben über „Die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft und im demokratischen Staat der Gegenwart" vom Mai 1969 Rechnung getragen. (Die bestehenden Parteien und Großgruppen werden darin in ihrer Funktion anerkannt; es wird lediglich vor einer Option für die radikalen linken und rechten Extreme bei den Bundestagswahlen gewarnt.)
Heute wagt kaum mehr jemand, ernsthaft zu verlangen, die etablierten Verbände einfach aus dem politischen Leben wieder auszuschalten — es sei denn unpolitische Reaktionäre oder Revolutionäre. Zu lange und schließlich erfolgreich hat der bürgerliche Konstitutionalismus gegen den hartnäckigen Widerstand des Obrigkeitsstaates darum gekämpft, das Recht der Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit durchzusetzen. Diese Grundrechte sind, wie das Beispiel des tschechoslowakischen Frühlings mit seinem Ziel eines demokratischen, sozialistischen Pluralismus wieder einmal nachdrücklich erwies, das Vehikel jeder demokratischen Transformation. Zeiten eines verstärkten Demokratisierungsprozesses (wie etwa auch die Weimarer Republik) waren stets gekennzeichnet durch vielfältigste Gruppenbildungen und einen enormen Aufschwung der Großorganisationen. Jedes sich installierende totalitäre oder autoritäre Regime beginnt andererseits damit, die autonomen Gruppen zu beschränken, zu verbieten oder gleichzuschalten. Es wäre daher wohl auch ein unangemessener Versuch, durch staatliche Institutionalisierung den Gruppen-pluralismus domestizieren zu wollen.
Pluralismuskritik als Stimulans der politischen Theorie ?
Es kommt heute darauf an — und dies müßte eine praxisorientierte politische Theorie leisten — die politischen Entscheidungsstrukturen den gewandelten Bedürfnissen der Gesellschaft anzupassen. Dies hieße einmal, dem Wirken der Verbände mehr Transparenz zu verschaffen. Dazu wäre eine weitergehende Legalisierung und Normierung der faktisch bereits stark ausgebauten Beteiligung der Verbände am Willensbildungsprozeß durch einschlägige Gesetzgebungsakte erforderlich. Die obligatorische Veröffentlichung der jeweiligen Verbandsvoten bei der Gesetzesvorbereitung sowie die Vermehrung öffentlicher Hearings gelten allgemein als wichtige Mittel der Kontrolle. Zum anderen könnte ein gesetzlich vor-geschriebenes minimales demokratisches Organisationsstatut der Interessengruppen die Kontrolle der politischen Einflußnahme durch die Mitglieder selbst bedeutend fördern.
In dem unbestreitbar eine neue Phase gesellschaftlichen Strukturwandels einleitenden Demokratisierungsprozeß zeigt sich die Tendenz einer weiteren Durchdringung der pluralen Führungsschichten von , Staat'und Gesellschaft'an. Einerseits wird durch die geforderte Mitbestimmung das Prinzip des Pluralismus, das zunächst nur auf der staatlichen und Parteienebene von Belang war, als demokratisierendes Prinzip in die einzelnen, bislang hierarchisch-monistischen Sektoren der Gesellschaft hineingetragen. Andrerseits, und das wäre sozusagen die dialektische Ergänzung, sollen entsprechend den Mitbestimmungsvorschlägen der DAG (oder auch der Sozialausschüsse der CDU) in den paritätisch zu besetzenden Unternehmensrat als dritte Kraft auch Vertreter des Parlaments sowie der Exekutive (mittels „Landes-und Bundeswahlausschüssen") entsandt werden.
Die Diskussion über den Pluralismus weist auf eine Krise der herrschenden Demokratietheorie selbst hin. Mit dem bloßen Appell an Rationalität, Vernunft und Liberalität lassen sich noch keine neuen demokratischen Modelle der Entscheidung als Antwort auf die Herausforderungen des industriell-bürokratisierten, „technischen Staates" begründen. Die Theorie muß, in Übereinstimmung mit ihrem Anspruch auf Objektivität und in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftszweigen, langfristige Entwicklungstrends sämtlicher Sektoren der Gesellschaft aufzeigen, gleichzeitig aber die Möglichkeiten einer humanisierenden Korrektur dieser wahrscheinlichen Prozesse erkunden. Eine Publizierung und öffentliche Debatte dieser alternativ zu erstellenden Prognosen würde eine Möglichkeit eröffnen, die durch ein , informational lag'der Bevölkerung bedingte politische Angst als Ursache antipluralistischer Autoritätsbedürfnisse operational zu überwinden.
Wichtig wäre weiterhin die Klärung der Frage, wieweit eine vermehrte Selbstorganisation der Gesellschaft wünschenswert und funktional durchführbar ist. Das bestehende repräsentative System pluraler Organisationen scheint gerade im wirtschaftspolitischen Bereich an den Grenzen seiner Differenzierungsmöglichkeiten angelangt zu sein. Experimente einer Koordination (bis hin zur konzertierten Aktion) treten heute in den Vordergrund. Zum Problem einer direkten, sektoralen Demokratisierung (Rätemodell) sei hier bemerkt, daß dieses dann, wenn es nicht einer bürokratischen Zentralisierung unterworfen wird, durchaus pluralistische, gewaltenhemmende Funktionen ausüben kann. Das Problem der auf die Gesamtgesellschaft bezogenen Entscheidungen sowie des Minderheitenschutzes ist allerdings in dieser Betrachtung noch nicht gelöst. Die Betonung des imperativen Mandates im Zuge dieser neueren Ansätze gesellschaftlicher Demokratisierung deutet jedoch darauf hin, daß die tradierte Repräsentationstheorie infolge verbesserter Kommunikationsstrukturen und eines verstärkten politischen Teilnahmewillens zumindest revisionsbedürftig ist. Der Repräsentant in Parteien und Verbänden sollte in geringeren Abständen als bisher gegenüber seinen Wählern zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Forderung steht durchaus im Einklang mit demokratischen Traditionen. Die vielzitierte Virginia , Bill of Rights'von 1774 bestimmte bereits sehr rigoros eine unbedingte jährliche Neuwahl der Politiker und sogar der Beamten.
Von der Politologie wird schließlich gefordert, wirksame Gegenmittel gegen die Krankheitssymptome des bestehenden Pluralismus (die Oligarchisierung, das eherne Gesetz des Konservatismus ausschließlicher Repräsentation) aufzuzeigen, Gegenmittel also gegen die mangelnde politische Vermittlung der vorhandenen kontroversen Willensströmungen. Der Akzent wäre demnach zu legen auf — eine Gewährleistung demokratischer Mobilisierung der Gesellschaft durch Beteiligung aller (auch der Marginal-) Gruppen am Entwicklungsprozeß der politisch relevanten Sektoren der Gesellschaft; — eine fortwährende öffentliche Ziel/Mittel-Debatte anhand der vorliegenden wissenschaftlichen Daten zur Vorbereitung der politischen Entscheidung, um damit gleichzeitig — ein entsprechendes Problembewußtsein und eine angstfreie Offenheit für die zu bewältigenden gesamtgesellschaftlichen Fragen bei den einzelnen Gruppen zu wecken.
Diese gesamten Maßnahmen sind freilich nicht denkbar und realisierbar ohne eine gewisse Ergänzung und Akzentverlagerung des bestehenden Pluralismus selbst. Zum einen scheinen neben den an Detailproblemen wirtschaftlicher, beruflicher und kultureller Natur interessierten Verbänden von zunehmender Wich-
I tigkeit jene Kräfte, die aufgrund einer gesamtgesellschaftlich orientierten Reflexion einen erweiterten Horizont aufweisen, um die immer neu anstehenden Grundentscheidungen vorbereiten, mitverantworten und in der Öffentlichkeit vertreten zu können. Nach den zu diesem Zwecke eigentlich geschaffenen Parteien sind hier in erster Linie futurologisch orientierte und auch solche (humanistisch, marxistisch oder christlich motivierte) Gruppen zu nennen, die eine auf die Gesamtheit bezogene, realisierbare politische Utopie vorzulegen haben. Eine unerläßliche Voraussetzung ihres Wirkens ist der ständige Bezug auf die wissenschaftlich erhärteten Daten gesellschaftlicher Entwicklung. Gesamtgesellschaftliche Planung und am Einzelinteresse orientierter Pluralismus konnten bisher noch nicht zureichend versöhnt werden.
Zum anderen bedarf es einer Vermehrung und Kräftigung der auf die internationale Politik, auf die Konflikt-und Friedensregelung (der Ost-West-sowie der anwachsenden Nord-Süd-Spannungen) ausgerichteten Organisationen. Außenpolitik im Zeitalter ihrer Umwandlung zur Weltinnenpolitik kann nicht länger eine Prärogative der Exekutive bleiben.
Ein weiterer Reflexionsprozeß ist schließlich vonnöten über die Position ungleichgewichtiger sozio-ökonomischer Machtverhältnisse und den ständigen Versuch ihrer Fixierung mit den Mitteln der Politik. Es scheint, daß Gruppenpluralität im Sinne optimaler Konkurrenz der , countervailing powers'in der Bundesrepublik mehr als gefährdet ist. Gleichwie in der spätliberalen Marktwirtschaft Oligound Monopole an Stelle vieler mittlerer Unternehmen den Markt beherrschen, existieren in der Politik oligokratische Tendenzen. Ihr einziges Gegengewicht kann nur die immer neue Selbstorganisation nicht oder nicht genügend repräsentierter, alternativer, das Bestehende in Frage stellender Gruppen sein — notwendige Voraussetzung gesellschaftlichen Wandels und eines permanenten Führungsaustausches überhaupt. So gesehen bedarf es, pointiert ausgedrückt, heute weniger der Kritik eines vorhandenen, als vielmehr der Kritik des fehlenden Pluralismus.