Die beste Methode dürfte hier wie bei anderen Problemen sein, daß man die Gegenstände veriolgt, wie sie sich von Anfang an entwickeln.
Aristoteles, Politik
I. Didaktische Überlegungen zur Themenwahl
Ebenso alt wie die sogenannte Gemeinschaftskunde ist der Streit um die Rolle der Geschichte in dem neuen Sachbereich; im Grunde ist es eine müßige Auseinandersetzung. Gemeinschaftskunde will ja gerade das Fachdenken sprengen; nicht Fächergrenzen sollen zur Norm für die Wirklichkeit werden, sondern „das konkrete Problem wird zum Sammelpunkt für die zuständigen Disziplinen"
Niemand wird bestreiten wollen, daß es Geschichtsepochen gibt, deren Kenntnis jedem Schüler vermittelt werden sollte. Wenn junge Amerikaner sich heute in Kursen der „social studies" mit der Gesellschaft der Kalahari-bewohner oder revolutionären Veränderungen in der Jarmo-Kultur befassen
Einem Mißverständnis ist hier vorzubeugen:
Politischer Unterricht soll nicht allein von der Geschichte her betrieben werden, sondern es geht darum zu untersuchen, wie ein Geschichtsunterricht vorzugehen hat, der ein „Beitrag zur politischen Bildung" sein will. Dabei darf man sich nicht auf die letzten beiden Jahrhunderte beschränken, weil die Wurzeln unserer Kultur eben wesentlich weiter zurückreichen, weil nur ein Einblick in die Weltgeschichte das Verständnis unserer Welt-kultur ermöglicht. Für den politischen Unterricht ist ein Bildungswissen Voraussetzung; doch dessen „Werte und Vorstellungskomplexe bleiben so lange abstrakt, ja, haben in Wahrheit gar nicht die Qualität von Vorstellungen, wie sie nicht in Bezug gesetzt werden können zur Realität der gegenwärtigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Welt"
Das Folgende stellt einen aus der Unterrichts-praxis in einer gymnasialen Oberstufe entstandenen Versuch zur Diskussion, die Alte Geschichte für den politischen Unterricht fruchtbar zu machen, umgekehrt aber auch durch den in den Unterricht integrierten Vergleich mit unserer politischen Gegenwart zur Erhellung der unseren Schülern so fern liegenden griechischen Antike beizutragen: Die attische Polis als Modell eines demokratischen Versuchs, an dem Einsichten in antike Formen staatlicher Ordnung ebenso wie Erkenntnisse von Eigentümlichkeiten moderner Staatsformen zu gewinnen sein sollten.
Das Thema scheint im wesentlichen den Historiker, allenfalls den Verfassungsrechtler zu betreffen. Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, wie dennoch eine Vielzahl von Wissenschaften befragt werden muß, um eine möglichst umfassende Antwort auf unser Unterrichtsvorhaben zu erhalten, auf die Frage nach Wesen und Werden der attischen Demokratie
II. Geographische, ökonomische und soziale Voraussetzungen
Die Unterrichtsreihe sollte ausgehen von den Grundlagen für die eigentümliche Entwicklung Attikas: den geographischen Voraussetzungen und den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen gegen Ende des 7. Jahrhunderts. Die Reformen Drakons und Solons, auch die späteren des Kleisthenes, werden nur von hier aus verständlich.
Drei unterschiedliche Regionen sind für Attika kennzeichnend: die weite Ebene um Athen, die sich nach Nordosten erstreckt, ein Küstensaum im Südwesten der Halbinsel, schließlich die von der Stadt aus gesehen „jenseits der Berge" gelegenen Bezirke an der Ostküste. Hier sind Kleinbauern in der Überzahl; an der Westküste, hafenreich und in der Nähe der Metropole, widmet man sich überwiegend dem Handel und der Seefahrt; in der fruchtbaren Ebene wird Getreide angebaut.
Noch ist das Gemeinwesen in der Hand der Adligen. Diese, die Eupatriden, die „Söhne edler Väter", sind im Besitz der reichen Äcker in der Ebene, leben aber zumeist in Athen, wo sich auch Handwerker und Händler befinden wie im Küstenbezirk. In den Jahrzehnten vor 600 treten nun zwischen den Großgrundbesitzern, den Handel-und Gewerbetreibenden und den Kleinbauern soziale Spannungen auf: Anstoß zu Verfassungsreformen.
Für diese soziale Krise werden verschiedene Ursachen angeführt, die, mehr oder minder, alle ihren Anteil an den Erschütterungen des Adelsstaates gehabt haben mögen.
Das Münzgeld kommt auf und damit der Geldverleih auf Zins. — Die Kolonisation hatte neue Absatzmärkte erschlossen, und die daraufhin steigende Getreideproduktion wird zum Teil ausgeführt und drückt die Preise. —• Ebenfalls für den Export wird in steigendem Maße Wein und öl gebaut. Alle diese Entwicklungen wirken sich zum Vorteil der Reichen aus: Sie machen Geldgeschäfte und können im großen Stil produzieren, vor allem O 1 und Wein, — Pflanzen, die erst nach Jahren Ertrag bringen und daher langfristige Investitionen erfordern. So gerieten zahlreiche Kleinbauern in wirtschaftliche Not, ja persönliche Gefahr, wenn sie geborgt hatten und nicht zurückzahlen konnten: Sie wurden in die Sklaverei ver23 kauft. Andere Bauern waren Hörige und verpflichtet, dem Herrn ein Sechstel des Ertrages als Abgabe zu leisten (hektemoroi). Auch sie hafteten mit ihrem Leibe
Diese Entwicklung hat aber noch einen weiteren Aspekt. Die wachsende Ausfuhr von öl und Wein erschloß Absatzmärkte auch für andere Erzeugnisse, und diese Tatsache machten sich die attischen Handwerker zunutze (Keramik). Damit wurde die Schicht handel-und gewerbetreibender Bürger gestärkt.
Auch unter den reichen Grundbesitzern müssen Umschichtungen eingetreten sein. Die Stellung der Eupatriden hatte vor allem darauf beruht, daß sie im Besitz des besten Landes waren. Die anspruchslosen Oliven und Weinstöcke sind aber auch auf den kärgeren Böden des Berglandes mit Erfolg anzubauen, so daß hier eine neue Gruppe von Landwirten emporgekommen sein wird. Sie standen den Eupatriden bald an Wirtschaftskraft nicht nach und konnten deren alleinige Vorherrschaft in Frage stellen.
Veränderungen im Kriegswesen liefern einen weiteren Beitrag zur Sozialgeschichte jener Zeit. Die Umstellung des Heeres von adligen Einzelkämpfern auf die Phalanx der Hopliten um 700 hatte zu einer Ausdehnung des Kriegs-dienstesauf weite Kreise der Bürgerschaft geführt, und es war selbstverständlich, daß diese Leistung für das Gemeinwesen auf lange Sicht einen gewissen Einfluß der Hopliten auf die Staatsgeschäfte, zumindest als Forderung, zur Folge haben mußte.
Der knappe Abriß der Voraussetzungen für die Entwicklung Athens im 7. und 6. Jahrhundert sollte zeigen, wie Wirtschaftsgeographie, Sozial-und Militärgeschichte Beiträge zu einem noch vor kurzer Zeit in der Schule rein von der allgemeinen Geschichte her behandelten Thema leisten können. Diese enge Betrachtungsweise herrscht noch in manchen Schulbüchern vor, die sich darauf beschränken, die wirtschaftliche Not und die daraus entstehende Schuldknechtschaft der attischen Kleinbauern als Grund für die Reformen Drakons und Solons anzugeben. Dabei ist es gär nicht sicher, inwieweit die Not der Kleinbauern oder die sich verbessernde Position der Hopliten, der Handwerker, Händler und der durch den Export emporgekommenen Gruppe der Landwirte das auslösende Moment für die Reformen war
III. Solon — Die Schaffung einer verfassungsmäßigen Ordnung
Der Unterricht wird Drakon nur kurz erwähnen. Wir wissen nicht viel über ihn. Schon die Annahme, er habe seine Gesetze „unter dem Druck des aufsteigenden Mittelstandes"
Didaktische Überlegungen zur solonischen Verfassung haben in Betracht zu ziehen, daß die Literatur kein einhelliges Urteil über Solons politischen Standpunkt bietet. Solon war adliger Herkunft, doch als Kaufmann tätig.
Er selbst stellt sich in seinen Gedichten als diallaktes, als „Versöhner", dar. Dagegen erscheint er bei Forrest als Revolutionär: „Es besteht . . . kein Grund zu der Annahme, daß Solon nach den Begriffen seiner Zeit kein Extremist gewesen sei ..."
Betrachten wir Solons politische Maßnahmen: die Befreiung der Bauern aus Schuldknechtschaft und Zinspflicht, die Einrichtung von Volksgerichten und des Rates der 400, die Zuordnung politischer Rechte und Pflichten an die vier Klassen der Bevölkerung. „Wem brachte die neue Klasseneinteilung politischen Vorteil?" könnte im Unterricht gefragt werden. Kaum den Theten (Lohnarbeiter), die wahrscheinlich keinen Zugang zu Volksversammlung und Volksgericht erhielten, weil sie keinen Grundbesitz, hatten
Die Einrichtung von Volksgerichten schien Aristoteles von solcher Bedeutung, daß er sagt, das Recht, an den Volksgerichtshof zu appellieren, habe die Macht des Volkes am meisten gestärkt. Dort sei das Volk Herr in den Abstimmungen, so werde es auch Herr über den Staat
Man müßte den Schülern aber recht anschaulich vorstellen, was die hehaia (das Volks-gericht) bedeutete: Hier sprach nicht eine begrenzte Anzahl von Aristokraten Recht, wie im Areopag, sondern Tausende, ursprünglich vielleicht das Volk in seiner Gesamtheit, urteilten als Berufungsinstanz über Richter-sprüche der höchsten Beamten. Hier kann man mit Aristoteles und auch im modernen Sinne doch von einer durchgreifenden Demokratisierung des Gerichtswesens sprechen.
Ausgangspunkt für Solons Schlichtung der sozialen Gegensätze war die Befreiung der Bauern. Man sah, „daß zwischen den herabgesunkenen Kleinbauern, denen zugleich alle politischen Rechte verlorengingen, und Sklaven kaum noch ein Unterschied bestand; man erkannte Freiheit als eigenen Wert, man begriff, daß das Schicksal der Sklaverei nicht nur Stammfremde und Rechtlose, sondern jeden Bürger treffen konnte."
Kann man Solons Wirken danach revolutionär nennen? Man wird zu dem Schluß kommen müssen, daß er sich als Reformer im wahren Sinn des Wortes erweist, indem er die alten Rechte der Bauern wiederherstellt und die Eunomie, die gerechte Ordnung, eine aristokratische Ordnung, wieder einzurichten sucht
Solon wäre somit darzustellen als Reformer einer aristokratischen Staatsordnung, der diese auf eine rationale verfassungsmäßige Basis stellt, Herkunft durch Vermögen ersetzt und sie damit offen und entwicklungsfähig für die Zukunft macht. Dabei führt er zur rechtlichen Verankerung Verfahrensweisen ein, die später zur Grundlage dr Demokratie werden. „Solon von Athen steht nach Willen und Werk an jener Grenzscheide, die das nahende Ende der aristokratischen Ära markiert und Neues ahnen läßt."
Abschließend mag die Frage aufgeworfen werden, ob diese Timokratie (Herrschaft nach Besitz) eine gerechte, das heißt Athen im frühen 6. Jahrhundert angemessene Ordnung war. Der Unterricht kann dabei zur Klärung der ideologisierenden und daher unzutreffenden Auffassung beitragen, daß eine demokratische Verfassung für alle Zeiten und an jedem Ort die einzig richtige sei. Es muß darauf hingewiesen werden, daß eine gewisse Homogenität der gesellschaftlichen Struktur und ein relativ hoher Bildungsstand der Mehrheit der Bevölkerung hierzu Voraussetzung sind
IV. Die Peisistratiden — Die Tyrannis und ihre sozialen Folgen
Bei der Beschäftigung mit der Tyrannis hat der Unterricht zunächst einmal die Vorstellungen abzubauen, die sich aus dem modernen Sprachgebrauch des Wortes ergeben. Das Wirken des Peisistratos bietet dazu das geeignete Modell: Vor allem die Vertreter der älteren Tyrannis (im 7. und 6. Jahrhundert) sind vorerst ganz neutral als Alleinherrscher anzusehen, die, gestützt auf ihre Anhängerschaft, an der Spitze der Polis stehen. Tyrannen (Grundbedeutung des Wortes: „Herr") treten wohl zuerst im ionischen Kleinasien auf, sie sind meist adliger Abkunft, und man muß ihr Erscheinen mit dem Verfall aristokratischer Lebensformen im Zusammenhang sehen. Auch für die Art und Weise, wie sie zur Herrschaft gelangten, ist Peisistratos typisch. Entweder auf mehr oder minder legale Weise, nämlich durch Abstimmung des Volkes (das Peisistratos vor seinem ersten Staatsstreich eine Leibwache zubilligte, mit der er die Akropolis besetzte), durch List (indem er sich nach seiner ersten Vertreibung durch ein hübsches Mädchen, das als Athene verkleidet war, zurückführen ließ) oder mit Gewalt (nach Anwerben von Söldnern und einem entscheidenden Gefecht, 546). Bei allen diesen Machtwechseln spielten Adelsfehden eine Rolle, denen Peisistratos schließlich ein Ende setzte, wobei er hauptsächlich von seiner Anhängerschaft der
Partei „Jenseits der Berge", also von den Kleinbauern, aber auch von Handwerkern und Kaufleuten unterstützt wurde. Interessant ist nun, daß Peisistratos die Solonsche Verfassung beibehielt, ja deren Organe durch den Bau von Amtsgebäuden förderte
Entsprechend fällt das Urteil antiker wie moderner Autoren über das Wirken des Tyrannen aus: Er regierte „eher demokratisch als tyrannisch", er war „volkstümlich und menschenfreundlich" und „wollte sich in allen Dingen an die Gesetze halten" (Aristoteles)
Nach dem Tod des Tyrannen setzte sich die Form der Herrschaft unter den Söhnen Hippias und Hipparch über 14 Jahre in ähnlicher Weise fort, und sie hätte ebenso enden können, wenn nicht der historische Zufall in Gestalt einer homoerotischen Liebesaffäre aufgetreten wäre: Harmodios und Aristogiton schmieden aus Rachsucht einen Mordplan gegen Thessalos, einen Peisistratider, töten aus Versehen auch noch den Falschen, nämlich Hipparch — all dies hindert nicht, daß der Mord von der Nachwelt zu einer Heldentat zur Erringung der Freiheit umstilisiert wurde, obwohl „Aristoteles unter den Motiven zum Tyrannenmord zwar allerlei persönliche Kränkungen, nicht aber den Wunsch nach Befreiung der Polis erwähnt"
Hier aber kommt nun die einer unumschränkten Herrschaft immanente Gefahr zum Vorschein, und sie sollten wir die Schüler erkennen lassen: die latente Möglichkeit des Umschlagens selbst gutartiger Alleinherrschaft in Unterdrückung und Gewalt wie unter Hippias nach der Ermordung seines Bruders
Die Tyrannis wird gekennzeichnet durch „die Beseitigung der hervorragenden Leute und Niederwerfung aller selbstbewußten Männer, indem man zugleich keinerlei Tischgenossenschaften oder politische Genossenschaften (hetairia) und keinerlei Bildung (paideia) noch irgend etwas derartiges duldet, sondern vielmehr alles zu verhüten sucht, woraus zweierlei zu entspringen pflegt, Selbstgefühl (phrönema) und Vertrauen (pistis), und keinerlei gesellige Vereine (schole) oder gesellige Zusammenkünfte sich bilden läßt und alles dazu tut, daß alle Staatsbürger möglichst einander unbekannt bleiben, weil aus der Bekanntschaft eher ein gewisses wechselseitiges Vertrauen entspringt. Ferner die Sorge dafür, daß die Einwohner des Staates stets in der Öffentlichkeit leben und vor den Türen sich aufhalten, weil so am wenigsten verborgen bleibt, was sie tun, und sie sich so an einen unterwürfigen Sinn gewöhnen, wenn sie dergestalt ununterbrochen wie Sklaven gehalten werden. . . . Ferner gehört es hierher, dahin zu streben, daß ja nichts verborgen bleibe, was irgendein Untertan spricht oder tut, sondern überall Späher ihn belauschen, . . .denn auf diese Weise werden die Leute es sich weniger angewöhnen, freie Reden zu führen, aus Furcht vor dieser Art Menschen, und wo sie es tun, werden sie weniger damit verborgen bleiben. . . . Und was ferner noch in der äußersten Demokratie zu Hause zu sein pflegt, das alles pflegen auch die Tyrannen, Weiberherrschaft in den Häusern, damit die Weiber die Geheimnisse ihrer Männer ausschwatzen, und schlaffe Zucht der Sklaven zu demselben Zweck . . .". Die Bemerkung von Aristoteles über die „äußerste Demokratie" — sie wird von Sterling und Hallgarten nicht zitiert — könnte als provozierender Denkanstoß ein Unterrichtsgespräch einleiten. Der Lehrer müßte dabei die Denkhilfe geben, daß Aristoteles zwischen Demokratie als radikaler Form und der gemäßigten Volksherrschaft „Politie“ unterscheidet. Deshalb darf man interpretierend wohl von der totalen Demokratie sprechen, die Aristoteles ebenso wie die Alleinherrschaft als autoritär kennzeichnet
Wenn die Beschäftigung mit dem Schicksal der Peisistratiden zu der Erkenntnis geführt hat, daß nicht jeder Tyrann bösartig, sondern das Wesen seiner Herrschaft für das politische Leben verderblich ist, da sie notwendigerweise auf Gewalt beruht, auch wenn sie nicht aufgrund von Widerständen in Terror umschlägt, dann hat die Beschäftigung mit antiker Geschichte einen wichtigen Beitrag zur politischen Bildung geleistet.
Eine weitere Erkenntnis, die sich aus dem Nachdenken über die attischen Tyrannen ergeben sollte, sei hier vorgreifend angeführt; der Unterricht wird sie erst nach der Betrachtung der kleisthenischen Reformen erarbeiten können.
Die demokratische Entwicklung des 5. Jahrhunderts wurde von der Tyrannis vorbereitet und gefördert. Beide Strukturen haben zwar nicht die Freiheit, aber die soziale Gleichheit, zumindest idealtypisch, gemein. Die Tyrannis war bestrebt, aristokratische Lebensformen abzubauen, konkret: mancher Adlige hatte außer Landes gehen müssen; wirtschaftlich: Aufstieg der werkenden und handelnden Stadtbevölkerung und der Kleinbauern; und kulturell: Einführung der Dionysien, der Festlichkeiten für den „unadligen Gott". „Mit der Nivellierung der Bevölkerung durch Entmachtung des Adels und Hebung der niederen oder bisher vom Bürgerrecht ausgeschlossenen Schichten hat die ältere Tyrannis eine gewisse Homogenität der Bevölkerung geschaffen und so die soziale Grundlage der künftigen Polis gelegt."
Wir sollten uns nicht scheuen, diese Erkenntnis mit der gebotenen Zurückhaltung mit den Erfahrungen unserer Zeit zu vergleichen.
V. Exkurs: Der Abbau aristokratischer Strukturen durch die NS-Herrschaft
Im Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt noch immer die Denkweise der vorindustriellen, feudalen Gesellschaft. Der wirtschaftliche Entwicklungsstand war dem zwar voraus, dennoch wurden der Obrigkeitsstaat und dessen autoritäre Ausprägungen noch allgemein akzeptiert. Der politische Umbruch von 1918 war keine soziale Revolution. Es gelang der alten Oberschicht, wichtige politische Machtpositionen zu behaupten, und sie war bestrebt, eine weitere Demokratisierung und den Abbau ihrer sozialen Stellung zu verhindern
Der Einbruch des Nationalsozialismus bedeutete dagegen sozial gesehen eine Wende, den „Triumph des Egalitarismus"
Dieser Tatbestand erscheint paradox, wenn man sich vergegenwärtigt, daß mit dem Nationalsozialismus eine Gegenrevolution zum Zuge kam, eine kleinbürgerlich-antiproletarische Bewegung, mit deren Hilfe das damalige „Establishment" hoffte, die vermeintlich drohende soziale Revolution zu stoppen
VI. Kleisthenes — Das Entstehen der Demokratie
Wäre der Sturz der Tyrannis von dem Wunsch nach Freiheit ins Werk gesetzt worden, so hätte der Vertreibung des Hippias zumindest ein Versuch zur Errichtung einer freiheitlicheren Ordnung folgen müssen. Statt dessen ist ein Neubeginn der alten Führungskämpfe des Adels zu bemerken, die schon ein halbes Jahrhundert zuvor Peisistratos emporgebracht hatten. Zwei Parteien kämpften um die Macht im Staat. Als der einen Partei eine Niederlage drohte, nahm deren Führer, Kleisthenes, den Demos in seine Gefolgschaft auf, sagt Herodot
Mit Recht wird dem Lernenden zunächst unverständlich erscheinen, daß Kleisthenes damit die Demokratie geschaffen habe. Die Zweifel werden größer, wenn man bedenkt, daß es umstritten ist, ob das Scherbengericht schon durch Kleisthenes und nicht erst in den Jahren 488/87 eingeführt worden ist.
Bleibt die Phylenreform. Unsere Zeit steht solchen organisatorischen Maßnahmen mit desinteressierter Gelassenheit gegenüber; um so schwerer ist es Jugendlichen klarzumachen, was damals geschehen ist: Der natürliche, gewachsene und hierarchisch gegliederte Verband der alten Phyle (Geschlechterverband) wurde aufgelöst und durch einen Wohnbezirk, man ist versucht zu sagen „Wahlkreis", ersetzt. Kleisthenes schuf, so formuliert ein Handbuch, „die 1. Repräsentativ-Verfassung der Weltgeschichte auf lokaler Grundlage"
Ein zweiter Aspekt der Reform wird in den meisten Lehrbüchern kaum beachtet: Es ist die Erweiterung des Bürgerrechts auf alle Theten
Das heißt nicht, daß Athen zu Beginn des 5. Jahrhunderts eine demokratisch regierte Polis gewesen wäre. Der Rat der 500
Bis zum Jahre 462 entwickelt sich die Verfassung Athens im demokratischen Sinn. Das wahrscheinlich 488 eingeführte Scherbengericht
Die Veränderungen der attischen Verfassung werden nun wesentlich vom Heerwesen bestimmt. Symptomatisch dafür ist der Aufstieg des Strategenamtes, dem die sinkende Bedeutung des Archontats enspricht; seit 487/86 werden die Archonten (leitende Regierungsbeamte) ausgelost. Vor allem der von Themistokles betriebene Ausbau der attischen Flotte und der dadurch bedingte Kriegsdienst der Theten als Ruderer geben dieser Klasse immer mehr politisches Gewicht. Kriegerische, nach der unmittelbaren Abwehr der Perser imperialistische Entwicklungen und Demokratisierung laufen hier parallel. Der endgültige Umschwung trat erst im Jahre 462 ein; er wird von Hignett als „Revolution" bezeichnet
VII. Perikies und seine Epigonen — Die radikale Demokratie und deren Scheitern
Für einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert, zwischen 461 und 404, kann Athen — abgesehen von einer kurzen Unterbrechung — als demokratisches Staatswesen bezeichnet werden. Dennoch sagt Thukydides, des Perikies Herrschaft sei „dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit aber Alleinherrschaft des ersten Mannes“ gewesen
und ähnliche Schlagworte werden die Schüler in die Debatte werfen. Diese Aktualisierung braucht nicht irreführend zu sein, sondern kann zur Klärung der Herrschaftsverhältnisse damals wie heute beitragen, denn wir fragen nach Ursprung und Legitimation politischer Macht Was meint Thukydides? Nicht das Volk hält die politische Macht in den Händen, sondern Perikies, doch dieser im Namen, im Auftrag des Volkes, was durch die jährliche Wahl zum Strategen und durch die immer wiederkehrende Notwendigkeit, das Volk in der Volksversammlung zu überzeugen, zum Ausdruck kommt. In der Zeit von 443 bis 429 liegen die Entscheidungen tatsächlich im wesentlichen bei einem Manne, ohne daß dieser Zustand institutionalisiert worden wäre. Die Macht des Perikies war ohne Zweifel demokratisch legitimiert. Uns, die wir ein politisches Mandat für etwas Selbstverständliches halten — im Gegensatz zu den Griechen der klassischen Zeit —, fällt das rechte Verständnis für die Aussage des Thukydides zunächst schwer. Zur Ergänzung könnte man die Theorie des Aristoteles heranziehen, der den drei „ausgewogenen" Verfassungen Monarchie, Aristokratie und Politie die extremen Tyrannis, Oligarchie und Demokratie gegenüberstellt
Die radikale Demokratie beginnt nach dem Tode des Perikies: die schrankenlose Herrschaft der Masse in der Volksversammlung ohne die Führung durch einen überlegenen Mann. — Hier ist nun nüchtern festzustellen, daß dieser Staat gescheitert ist, und zwar an den Unzulänglichkeiten seiner Verfassung. Ideologen der Demokratie, so E. Sterling, wollen das nicht wahrhaben: „Wie uneinsichtig und ungerecht auch immer manche Beschlüsse der Ekklesia während des Krieges gewesen sein mögen, einen Beweis dafür, daß der Demos, wie H. E. Stier meint, überhaupt das , Gefühl für die Norm'verloren hafte, . . . gibt es nicht . . . Die gleichen Fehlentscheidungen hätten auch unter jedem anderen Regierungssystem getroffen werden können."
Die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft — und sie scheint die in diesem Problemkreis zu befragende Disziplin zu sein — sprechen eine andere Sprache: Vier Jahre nach dem Tode des Perikies macht Sparta nach der Einschließung eines Truppenkontingentes auf der Insel Sphakteria ein Friedensangebot, die radikalen Kräfte unter Kleons Führung setzen die Ablehnung durch. Zu einem strategisch ungünstigen Zeitpunkt kann Nikias dann doch einen Frieden zustande bringen. Dieser für Athen vorteilhafte Friede, der den wirtschaftspolitischen Gegner Korinth diskreditiert, die Peloponnesier entzweit und sogar zu einem Bündnis Athens mit Sparta führt
Es wäre eigentlich nichts Verwunderliches, wenn der erste Versuch zu einer Demokratie nach einer kurzen, aber großartigen Blüte gescheitert wäre. Die Geschichte spendet keine Belohnungen für demokratisches Wohlverhalten. Im Falle Athens scheint aber eine Erklärung für das militärisch-politische, vor allem moralische Scheitern verhältnismäßig einfach. Die Stadt bietet gegen Ausgang des Krieges ein solches Bild von Dilettantismus und Uneinsichtigkeit, daß selbst alle Teilerfolge überraschen. Es fehlt eine Schicht von qualifizierten Berufspolitikern, um so mehr, als diese ja auch als Strategen militärisch den Ton angaben. Die Figuren des Perikies und des Alkibiades unterstreichen diesen Mangel noch, ein jeder in seiner Weise. In früheren Jahren hatte aristokratische Tradition die Männer mit dem nötigen Sachverstand und der erforderlichen Integrität hervorbringen können. Aber nach der Auflösung der alten Ordnung und mit dem Fortschreiten der Zivilisation war die griechische Welt so kompliziert geworden
Eine Volksversammlung, die nach Entmachtung des Areopags ohne Rat und Kontrolle der politisch Erfahrenen und nach dem Tode des Perikies ohne die Leitung durch den genialen Staatsmann nicht nur Sachentscheidungen fällen, sondern eine kontinuierliche Politik konzipieren sollte, war überfordert. Der Mangel der direkten Demokratie ist evident. Es fehlte die Konzeption der repräsentativen Volksherrschaft. „Da in einem freien Staatswesen jeder, dem man einen freien Sinn zuerkennt, von sich selbst regiert werden soll, so müßte das Volk in seiner Gesamtheit die gesetzgebende Gewalt haben. Da es aber in den großen Staaten unmöglich ist und in den kleinen mit vielen Ubelständen verknüpft ist, so muß das Volk durch seine Repräsentanten alles das vornehmen, was es nicht durch sich selbst vornehmen kann . .. Der große Vorteil der Repräsentanten besteht darin, daß sie die Angelegenheiten erörtern können. Das Volk ist dazu nicht geeignet, was einen der großen Nachteile der Demokratie ausmacht."
Nicht nur die technischen Möglichkeiten — sie wären heute in Staaten jeder Größe gegeben —, sondern die Fähigkeit des Volkes, sich selbst zu regieren, zieht Montesquieu in Zweifel!
VIII. Schlußbemerkungen
Montesquieu spricht von einem freien Staat, damit stellt sich dem Unterricht die Frage der persönlichen Freiheit in der attischen Polis. Deren grundlegende Erörterung würde über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen; sie wäre vielleicht auch Thema einer eigenen Unterrichtsreihe, die sich vor allem in Nordrhein-Westfalen, wo die Philosophie an der Gemeinschaftskunde teilhat, anbieten würde. Zur Vorbereitung des Themas sei verwiesen auf: H. Strasburger, Der Einzelne und die Gemeinschaft im Denken der Griechen, 1954, und H. Schaefer, Politische Ordnung und individuelle Freiheit im Griechentum, 1957; beide Aufsätze in: Zur griechischen Staatskunde, herausgegeben von F. Gschnitzer, 1969; sowie A. Heuss, Propyläenweltgeschichte III, S. 271 f.
Abschließend sollte man nach den besonderen Voraussetzungen fragen, die eine Entstehung demokratischer Ordnung in Athen ermöglicht und begünstigt haben. Die gesellschaftlichen sind oben entwickelt Aspekte worden. Daneben wird man die Weltoffenheit einer Seehandelsmacht hervorheben müssen, damit eng verknüpft den steigenden wirtschaftlichen Wohlstand, der mit einer beginnenden Industrialisierung im Rahmen der antiken Technik (größere, mit Sklavenarbeit betriebene Manufakturen) zusammengeht. Der Vergleich mit der Entstehung der neuzeitlichen Demokratie in England drängt sich auf
Selbst für die heutige Konfliktforschung böte das 5. vorchristliche Jahrhundert interessantes Material. Die Quellenlage für eine Kriegsgrunddiskussion ist ungewöhnlich günstig — für beide große Kriege. Der Peloponnesische Krieg wäre möglicherweise als eine Auseinandersetzung anzusehen, die zu vermeiden sowohl Sparta als auch Athen gute Gründe hatten, ohne daß es gelang. Beide Seiten scheinen den Kampf nicht gewollt, aber für unvermeidlich gehalten zu haben. Thukydides stellt dieses vergebliche Ringen um den Frieden in mehreren Dialogen eindrucksvoll dar. Die Untersuchung einer „der berühmtesten Kriegsursachendiskussionen"
Diese Überlegungen wollen eine Anregung sein, antike Geschichte für die politische Bildung fruchtbar zu machen in einem Unterricht, der Bildungswissen vermittelt, das für die politische Bewältigung der Gegenwart von Bedeutung ist. Das Ziel des Unterrichts war ein an der Betrachtung historischer Vorgänge geschultes Demokratieverständnis, das hier und heute den freiheitlichen, repräsentativ regierten Rechtsstaat kritisch distanziert, aber darum nicht weniger entschieden bejaht.