I. Die Krise des Geschichtsunterrichts in der Bundesrepublik — Politikum oder Pädagogikum?
Jedoch wurden sowohl von der Politischen Bildung als auch von der Geschichtswissenschaft alle Bemühungen um ein Geschichtsbild abgelehnt. Göttinger Historiker sprachen von der „Geschichtsmüdigkeit" unserer Zeit und vom „Verlust der Geschichte" oder betonten, daß man ein Geschichtsbild nicht „machen" könne, was auch niemals behauptet worden war
Es ist nicht verwunderlich, wenn sich im Geschichtsunterricht, um den es uns hier ja gehen soll, eine Verlagerung zur Voraussetzungslosigkeit vollzogen hat. Hatte der bekannte Geschichtsmethodiker Hans Ebeling — über jeden Verdacht, wieder „Nationalgeschichte"
lehren zu wollen, erhaben — als erster nach 1945 eine mehrbändige „Deutsche Geschichte" für Schüler geschrieben, so war er später zu dem unverbindlichen Titel „Reise in die Vergangenheit" übergegangen, ein Titel, der allein vom Methodisch-Psychologischen herkommt. Man hatte sich zunächst nach dem Kriege um die Neubesinnung über die Stoff-Auswahl, um die Revision des deutschen Geschichtsbildes bemüht; bald jedoch war die Frage nach der Stoff-Bewältigung in den Mittelpunkt der fachdidaktischen Diskussion getreten, so daß — ich schließe mich selbst hier nicht aus — ein so wichtiges Prinzip wie der Begriff des „Exemplarischen" zumeist nur methodisch behandelt wurde.
So hatte sich der Göttinger Historiker Hermann Heimpel (1951 bei den „Tübinger Beschlüssen") für das „paradigmatische Lehren" im Fache Geschichte ausgesprochen. Es sei völlig gleichgültig, sagte er, an welchem historischen Stoff man dem Historischen und seiner wissenschaftlichen Methode begegne, sei es nun ein Thema aus der Weltgeschichte oder eines aus der Landes-oder Dorfgeschichte. So richtig das für die dem Historismus noch verhaftete Fachwissenschaft damals sein mochte, so wenig erscheint es praktisch anwendbar für den Lehrer in der Schüle, insbesondere natürlich für den in der Mittelstufe (Haupt-, Real-und Oberschule in den Schuljahren 5 bis 10), wenn man von ihm verlangt, er solle in chronologischer Abfolge von der Urzeit bis zur Gegenwart unterrichten. Es ist also zu fragen, ob die jahrelange Diskussion über „Inselbildung", „exemplarische Stoffbewältigung" oder „Vergegenwärtigung" den Kern der Frage nach der Stellung des Geschichtsunterrichts in der heutigen Schule getroffen hat.
Wenn wir bei Theodor Wilhelm lesen: „Die geschichtliche Bildung'hat die wirkliche Geschichte weitgehend außer Sicht gebracht"
Die Antwort nach dem Ort des Geschichtsunterrichts ist heute also nicht von der Wissenschaft der Geschichte her, sondern von der politischen und gesellschaftlichen Situation her zu geben. Die Fachwissenschaft hat beim letzten Deutschen Historikertag in Freiburg (1967) in den Vorträgen von Mirgeler und Alfred Heuss Forderungen nach europäischer und nach Weltgeschichte für die Wissenschaft gestellt
Wir fassen zusammen. Erstens: Der kritische Blick in unsere Vergangenheit muß durch eine — wie man heute sagt — Curriculum-Forschung, die sich mit der Auswahl der Stoffe und Begründung ihrer Bildungsrelevanz beschäftigt, geschärft werden und dadurch den Schülern ein geschichtlicher Zusammenhang (Kontinuität), aber auch die Perspektivität im Blick auf die Vergangenheit (nicht Relativität) einsichtig gemacht werden.
Zweitens: Da sich der Geschichtsunterricht vorerst noch einer modernen Wissensvermittlung durch Programmierung entzieht, müssen andere Wege gefunden werden, um den Lehrer von der bloßen direkten Fakten-Übermittlung teilweise zu entlasten
Drittens: Die von Alfred Heuss in Freiburg vertretene Konzeption einer Weltgeschichte kann für den modernen Geschichtsunterricht sowohl als Maßstab für die Auswahl der Stoffe als auch für den politischen und menschlichen Bildungswert von Bedeutung sein.
Schillers Antrittsrede in Jena, die er ja nicht als Fachhistoriker, sondern als engagierter Dichter hielt, handelte von Universalgeschichte; und es ist erfreulich, daß ein Geschichtsdidaktiker unserer Zeit (Wilhelm Münter, 1966) den Satz wagte: „Geschichte sei Universalgeschichte" und auch den Geschichtsunterricht von daher bestimmt. Mir scheint hier ein Neuansatz vorzuliegen, der über die bloß didaktisch-methodische Diskussion hinausgeht. Die kritische Situation des Geschichtsunterrichts, die auch in einem Artikel von Karl Friedrich Roth, dem Verfechter einer Friedens-forschung, unter dem Titel „Quo vadis — Geschichtsunterricht?"
Dazu haben die neuen Richtlinien in verschiedenen Bundesländern bereits einen Ansatz geschaffen: Es gibt nur noch einen Durchgang durch die Geschichte, das heißt, der Lehrplan läuft von der 5. bis zur 9. bzw. 10. Klasse in einem Zuge durch von der Urzeit bis zur Gegenwart. Damit ist die Bildersammlung von „Geschichten aus der Geschichte" in die Heimatkunde der Grundschule verwiesen.
II. Das Geschichtsbild formt Politik und Geschichte
1. Zur Geschichte des Geschichtsunterrichts Das Thema enthält die Voraussetzung, man könne von einem wirklichen „Beitrag" des Geschichtsunterrichts zur politischen Bildung sprechen, das heißt, dieser Beitrag müßte aus dem Phänomen „Geschichte" herzuleiten sein, indem man es zur Politik in Beziehung setzt. Diese These soll durch eine kurze historische Analyse erläutert werden. Erich Weniger hat als eine Art Gesetz herausgefunden, daß immer die sozialen Schichten und Kreise geschichtlich unterrichtet wurden, die an der Regierung und Verwaltung beteiligt waren
Die Geschichte sollte Vor-und Leitbilder für die politische Erziehung in der Gegenwart hergeben.
Die Möglichkeit eines Beitrags des Geschichtsunterrichts zur Politischen Bildung war für die damaligen Pädagogen unbestritten.
Damals begann sich jene historisierende Form der Bildung in Deutschland zu verbreiten, die schon Nietzsche kritisiert hat und die auch heute noch Gegenstand der Kritik ist.
Nach 1848 nahmen die fürstlichen Regierungen in Deutschland unmittelbar Einfluß auf den Geschichtsunterricht in ihren Schulen. Die neueste Geschichte wurde bewußt ausgeklammert, die Beschränkung auf die Antike wurde für die Gymnasien noch strenger durchgeführt, und für die Volksschulen schrieb man eine dynastische Geschichte in Geschichtsbildern vor. Nach 1871 stand der Geschichtsunterricht vollends im Dienste der Erziehung zum . guten Patrioten'unter besonderer Berücksichtigung des jeweiligen Herrscherhauses. Kaiser Wilhelm II. griff schließlich persönlich in den Geschichtsunterricht ein durch die Cabinettsordre vom 1. Mai 1889, um die Schüler gegen die Einflüsse des Sozialismus immun zu machen.
Das nationalistische Geschichtsbild der staatlichen Schulen, stets neu wachgehalten durch den Sedanstag, hat zu einem Geschichtsbild geführt, dessen gefährliche politische Wirkungen erst viel später — zu spät — erkannt wurden. Der durch diese Erziehung mit bedingte „Zeitgeist" hatte alle Schichten der Bevölkerung so stark erfaßt, daß selbst die ideologischen Gegenkräfte nicht dagegen ankamen. Allerdings darf man nicht vergessen, daß dieser nationalistisch-imperialistische „Zeitgeist" damals alle europäischen Völker erfaßt hatte. Golo Mann hat in seiner Rede zum Jubiläum des Auswärtigen Amts darauf hingewiesen
a) Das Geschichtsbild des historischen Materialismus wurde in den Kreisen der marxistischen Arbeiterschaft durch die intensive Schulungsarbeit ihrer Funktionäre gegen Ende des 19. Jahrhunderts bekannt. Sein leicht lehr-und lernbarer Inhalt ist der Klassenkampf und der vorgezeichnete Weg der Geschichte über den Kapitalismus zur Revolution. Dieser determinierte Ablauf des Geschehens bis zur staats-freien Endstufe schien zwar utopisch, war aber für die immer zahlreicher werdenden Anhänger des Sozialismus verheißungsvoll. Auch hier diente das Geschichtsbild zur Gestaltung der Politik. Bismarcks Gesetze gegen die „Reichsfeinde" führten nur zu einer noch stärkeren Konsolidierung dieser Anhängerschaft eines geschichtlich-politischen Zukunftsbildes, das im Gegensatz zu dem staatlich gelehrten stand.
b) Das Geschichtsbild des in der Bismarckzeit ebenfalls verfolgten Katholizismus unterscheidet sich vom offiziellen dadurch, daß es noch Kategorien und Werte kennt, die über der Nation und dem staatlichen Vaterland stehen, und daß es den Säkularisierungsprozeß noch nicht mitvollzogen hat. Das hatte zur Folge, daß überall da, wo diese Geschichtsauffassung als Heilsgeschichte noch ernsthaft geglaubt wurde, statt der hybriden Fortschrittsgläubigkeit und des imperialistischen Nationalismus die Endlichkeit der gottgeschaffenen Welt gesehen wurde.
Die Weimarer Republik versuchte zum ersten-mal, eine pluralistische Bildungswelt zu ermöglichen. Mit der Einführung der vollen parlamentarischen Demokratie war jeder Bürger formell an der politischen Gestaltung der Gesellschaft beteiligt. Daher sollte auch jeder den vollen Geschichtsunterricht erhalten. War in Preußen durch einen Ministerialerlaß im Jahre 1872 in allen Volksschulen Geschichte als ordentliches Unterrichtsfach eingeführt worden, so wurde der Geschichtsunterricht jetzt auf eine noch breitere Basis gestellt und — nach Möglichkeit — dem Einfluß des Staates entzogen, dafür aber in der erstaunlichen Liberalität jener Zeit den jeweiligen Schulbuchverlagen und -autoren überlassen! Neue Tendenzen wollten den Geschichtsunterricht im pazifistischen Sinne mehr als Kulturgeschichte gestalten, im Grunde aber änderte sich an der nationalistischen Tendenz kaum etwas. Der Nationalsozialismus brachte dann wieder eine einheitliche Ideologie in die politische Erziehung durch Geschichte: Erziehung zum heldischen Menschen durch Aufzeigen des Rassenkampfes in den Jahrtausenden nordisch-germanischer Geschichte 12a). 2. Grenzen der Fachwissenschaft Was und wie war bis dahin der „Beitrag des Geschichtsunterrichts zur Politischen Bildung"? War er erfreulich, positiv? Nach 1945 schrieben Historiker Bücher mit Titeln wie „Die deutsche Katastrophe" — „Abschied von der bisherigen Geschichte" — „Irrweg der deutschen Nation", die die Frage stellten: war alles falsch?
Ist es nicht für den Nachlebenden erschrekkend, wenn er lesen muß, wie deutsche Universitätshistoriker sich in ihren Urteilen geirrt haben und wie sie sich etwa im Ersten Weltkriege völlig unwissenschaftlich in einen Haß haben hineinziehen lassen, obwohl sie von der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft gesprochen hatten? Ist es nicht erschütternd, wenn man von einem so hochzuverehrenden Geist wie Wilhelm Dilthey folgende Passage liest: „Unseren Schriftstellern imponiert bald das romanische Ideal der Vernichtung von Familie und Eigentum zugunsten staatlicher Tyrannei, bald der rückständige skandinavische Kultus des Rechts der verband-losen Individualität, bald das barbarische slawische Wühlen in den Partien des Menschen, wo für die Bestie Raum ist. Nur aus den Tiefen des germanischen Wesens kann unseren Dichtern ein der Gegenwart mehr entsprechendes Bewußtsein kommen, was das Leben sei und was die Gesellschaft sein soll." (Aus: Die Einbildungskraft des Dichters, 1887)
Trägt also Geschichte als Geschichtsunterricht tatsächlich zur Politischen „Bildung" bei? Sicherlich, aber wie? War die Art, wie durch Geschichte politische Erziehung und Bildung vermittelt wurde, im kritischen Rückblick immer richtig? Falls wir sie nicht für richtig oder angemessen halten — so müssen wir weiter fragen, ob es an der Geschichte oder an der Politischen Bildung lag. Sind wir sicher, daß heute die Erfolge besser sein werden? Alle Untersuchungen, die über die Effektivität und über die qualitative Wirkung der Politischen Bildung — sei es mit oder ohne Geschichtsunterricht — angestellt wurden, verneinen den Erfolg oder stellen ihn zumindest kritisch in Frage. Es genügt, wenn an die jüngst hier erschienenen Arbeiten von Assel und Schaaf
Die Übernahme bestimmter Inhalte aus der Geschichte in die politische Bildung scheint aber nicht mehr unumstritten möglich zu sein. Die bereits zitierte Kommission zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der Politischen Bildung kam zu dem Ergebnis, daß es derzeit keine faßbare Konzeption der Politischen Bildung gäbe. Dr. Tormin stellte in-jener Diskussion zu einer Bemerkung von Professor Rothfels fest, „die Praktiker der politischen Bildungsarbeit hätten die Notwendigkeit einer Grundkonzeption schon früh als sehr dringend empfunden. In zahlreichen und intensiven Bemühungen habe man sich mit dieser Frage auseinandergesetzt; zu einer gültigen Lösung sei es jedoch nicht gekommen. Unter diesen Umständen müßten die gestellten Aufgaben pragmatisch angegangen werden. Die Frage nach einer Gesamtvorstellung von Politik und Gesellschaft sei zur Zeit nicht beantwortbar." Professor Hennis vertrat hierzu die Auffassung, „daß eine solche Gesamtkonzeption überhaupt nicht realisierbar sei. Sie widerspreche einfach dem Wesen von Politik, die ja die ständige Reaktion auf Lagen sei und nicht Ausführung eines theoretischen Programms . . . Der Entwurf eines Gesamtkonzepts der Politischen Bildung — wie ihn vielleicht auch die
Bundesregierung von der Kommission erwarte — scheine ihm daher nicht möglich zu sein."
III. Lernen aus der Geschichte?
Die Diskussion spitzt sich auf die Frage zu: Können wir aus der Geschichte lernen? Kann Geschichtsunterricht politische Bildung ergeben? Lernen meint doch wohl in diesem Zusammenhang, politisch lernen, besser für das nächste Mal zu handeln, Fehler, die gemacht wurden, nicht wiederholen. Was sagt die geschichtliche Erfahrung dazu?
Luther meinte, die „Chroniken und Historien" seien „wundernütze", den Lauf der Welt zu erkennen. Die Geschichte war ihm ein Spiegel, darauf die Menschen die Welt erblicken und „dazu witzig und weise werden aus denselben Historien . . .". Wolle man die Erfahrungen, die uns die Geschichte bietet, durch eigene Erfahrungen machen, so würde dazu unser Leben nicht ausreichen, sagte er. Ich nenne das die „stellvertretende Funktion" des Geschichtsunterrichts: wissen, was menschenmöglich ist, das heißt, das Menschenbild realistisch sehen. In der Aufklärung entdeckte man das genetische Prinzip in der Geschichte; dadurch wurde sie zur zwangsläufigen Stufenleiter, die zum optimalen Ziel einer Endstufe menschlicher Entwicklung auf vernünftigem Wege führt. Die Französische Revolution wollte dieser Entwicklung nachhelfen, und Marx bildete daraus das logische Gesetz einer determinierten Geschichte. Die Romantiker erblickten in einer längst vergangenen Zeit, die zum Ideal verklärt wurde, das Vorbild für die Politik und wollten Vergangenes wiederherstellen (Restauration). Jakob Burckhardt aber sah in der Heraufkunft des Nationalismus — ähnlich wie Grillparzer — den Untergang der Kultur; , Macht'war ihm an sich böse.
Das Fazit dieser Geschichtsbetrachtungen ist, um es pointiert zu sagen: Man lernt immer nur das aus der Geschichte, was man lernen will oder soll! Ähnliches wurde im ersten Kapitel gelegentlich der Geschichte des Geschichtsunterrichts bereits angedeutet: Die Wilhelminische Zeit versuchte in einer Zeit mit demokratischen Tendenzen in Europa, völlig unzeitgemäß dennoch in Deutschland das monarchische Prinzip als Gottesgnadentum zu restaurieren und zu konservieren, einen Hohenzollern-Mythos zu entwickeln, um zu beweisen, daß die Geschichte geradewegs auf diese preußisch-deutsche Gegenwart hingeführt habe. Die Weimarer Zeit versuchte, nationale, demokratische und pazifistische Geschichte zugleich zu lehren und verlor damit ihr Profil. Hitler ließ aus der Geschichte nur die kämpferischen Helden von Armin dem Cherusker bis Horst Wessel gelten. Und auch er griff, wie Wilhelm II., persönlich in den Geschichtsunterricht ein, hatte er doch in Mein Kampf darüber ein eigenes Kapitel geschrieben. Geschichte war also immer als Unterricht und auch als Wissenschaft „Magd der Politik".
Gern hat man auch von den „Analogien" in der Geschichte gesprochen. So schrieb Johann Gustav Droysen über Alexander den Großen und sah in den Makedoniern die Preußen der Antike. Für Spengler war in Analogie zur spätrömischen Kaiserzeit seine Gegenwart eine Verfallszeit — was Ludwig Klages und Hans Sedlmayr für die Anthropologie und Kunstwissenschaft nachvollzogen. Wagner und Nietzsche wollten aus dem germanischen My-thos eine neue Kultur für das 19. und Hitler und Alfred Rosenberg für das „XX. Jahrhundert" schaffen. Immer und immer wieder sollte Politik als Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft durch die Geschichte geformt werden.
Echte Analogien, die schlüssig sind, gibt es nicht in der Geschichte, so lehrte der Historismus. Wittram hat wiederholt davor gewarnt, denn jede geschichtliche Situation sei je wieder eine andere und lasse sich niemals mit einer früheren vergleichen
IV. Politik und Geschichte
Die Herausarbeitung des einmaligen, einzigartigen und unwiederholbaren Faktums als Aufgabe der Geschichtswissenschaft hat zu einem Spezialistentum geführt, so daß keine großen Gesamtdarstellungen mehr gelingen konnten. Hängt man weiterhin diesem historischen Prinzip nach, so kann in der Tat die Geschichte, dem Nur-Einzelnen verhaftet, der Politik und der Politischen Bildung kaum einen Beitrag liefern, da ja auch die Situation und die Lage jeweils in der Politik anders ist und der Politiker und der Aktivbürger jeweils anders darauf reagieren müssen. Wenn wir aber die jüngste Entwicklung der Geschichtswissenschaft und auch der Geschichtsdidaktik verfolgen, so wird ein Verlassen der Position des extremen Historismus deutlich. Die reine Ereignisgeschichte tritt zurück in ihrer Bedeutung gegenüber einer Verlebendigung und einem Ausweis von geschichtlichen Strukturen, die der geschichtlichen Wirklichkeit in ihrer Komplexität und Verästelung, in ihrem Ubergreifen auf alle Lebensgebiete des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens nahe-kommen und die inneren Baugesetze’ transparent machen sollen.
Werner Conze und Theodor Schieder
Bei seiner Aufgabe, die Funk-Hörer exemplarisch in die Arbeitsweise der Geschichtswissenschaft einzuführen, wählte er nicht, wie es noch Heimpel in seinen großen Vorlesungen über deutsche Geschichte im Norddeutschen Rundfunk 1955 getan hat, den erzählenden Bericht über die Zeiten hinweg unter gleichzeitiger Herausarbeitung der großen Tendenzen (Ideen), sondern er beschränkte sich auf eine Epoche und auf ein politisches Grundproblem:
„Geschichte ist ... auch Erzählung um der Erzählung willen, und eben doch viel mehr, sie ist ein Ringen um die Probleme, die uns alle existentiell betreffen . . . Und zudem wurde der Geschichte schon sehr früh eine besondere Aufgabe zugeschrieben: die unmittelbar belehrende ... So gern ein solcher Anspruch . bestritten wird, sollten wir uns vergegenwärtigen, daß doch eine ganze Wissenschaft darauf aufbaut . . . die Politik-Wissenschaft . . .
Das Funk-Kolleg dieser Reihe, das an den politischen Verhältnissen Englands seit dem 17. Jahrhundert allgemeine Einsichten in die Voraussetzungen und das Wesen des Parlamentarismus vermittelt hat, ist ein schönes Beispiel dafür." (S. 9 f.)
Warum er das Thema „Außenpolitik in Deutschland" gewählt hat, begründet er politisch und nicht historisch, aber letzthin soll dadurch Geschichte transparent werden, denn nun kann sie wieder einen Beitrag zur Politischen Bildung leisten: „So verwirrend nun außenpolitische Ereignisse in den Verwicklungen eines bestimmten Fragenkomplexes sein mögen, es bleiben in ihnen doch gewisse Konstanten bestehen, die über lange Zeiträume hinweg uns immer wieder begegnen." (S. 17) Als solche Konstanten werden genannt: Staat, Volk, Nation, Nationalstaat, Nationalität, Selbstbestimmung.
Mit dieser Konzeption haben wir den Historismus hinter uns gelassen. Es ist offensichtlich, daß der politische Beitrag einer Geschichtswissenschaft dieser Art bedeutender und umfangreicher sein kann als zuerst angenommen. Versuchen wir, einen Katalog von Merkmalen zusammenzustellen.
1. Geschichtsunterricht kann — auch schon in der Mittelstufe aller gegenwärtigen Schularten bei einer gewissen intellektuellen Beanspruchung der Schüler — Strukturen als Konstanten in der Geschichte herausarbeiten, die zugleich Grundbegriffe der Politik sind und dadurch politische Grundeinsichten vermitteln.
2. Unter Politischer Bildung kann man einen Vorgang in drei Stufen verstehen
Erste Stufe:
Information (Übermitteln von Kenntnissen);
Zweite Stufe:
Einsicht (Urteilsbildung aus Erkenntnis);
Dritte Stufe:
Entscheidung und Handeln (Bekenntnis, Wekkung des Willens zum Handeln).
3. Die Art des methodischen Vorgehens und die Zielrichtung in der Politischen Wissenschaft und in der Geschichte sind jeweils andere. Will Geschichtswissenschaft Zusammenhänge erfassen und den Sinn von Situationen und Ereignissen verstehen, so will die Politikwissenschaft punktuelle Analysen durchführen
4. Politik und Geschichte ereignen sich überall dort, wo der Wille von Individuen oder Gruppen aktiv auf Einwirkung oder auf Veränderung der Umwelt ausgerichtet ist. 5. Man hat nach elementaren und fundamentalen Kategorien der Politik und damit auch der Politischen Bildung gesucht und jeweils angeführt: Macht, Partnerschaft, Gemeinwohl (bonum communae des Mittelalters), Freiheit und Konrolle der Macht, Konflikt und Ordnung, Menschenwürde
6. Geschichte wird gern als das Feld der Entscheidung und Bewährung bezeichnet (so auch Kluke, a. a. O.). Um nicht einem Dezisionismus zu verfallen, sollte man zum geschichtlichen Grundbegriff der „Tat" den aus dem Mittelalter stammenden der „Widerfahrnis" hinzufügen
Zusammenfassend muß nach dem jüngsten Stande der Diskussion gesagt werden, daß wohl alle Bemühungen, den Beitrag der Geschichte und des Geschichtsunterrichts zur Politischen Bildung inhaltlich materiell oder gar normativ zu fassen, heute an unserer Auffassung einer offenen Struktur Politischer Wissenschaft und des politischen Handelns als eines pragmatischen und völlig undoktrinären scheitern müssen. Der Beitrag kann daher wohl nur im folgenden liegen:
Erstens: Geschichte vermittelt Fakten in möglichst objektiver Form als Voraussetzung und als Arbeitsmaterial für politische und politologische Analysen und Entscheidungen (Information).
Zweitens: Geschichte gibt Grundbegriffe der Politik in ihrer elementaren Form und Strukturen als formales Material.
Drittens: Geschichte könnte vielleicht heute doch eine Konzeption anbieten — was von den Diskussionsrednern der Kommission für die Politik-Wissenschaft verneint wurde —: die Konzeption einer „Weltgeschichte".
V. Geschichte als Information
Eines muß deutlich sein: Die Information — also die „erste Stufe" — kann immer nur Gelegenheit geben für politische Bildung, kann nur Angebot sein. Hierzu eine Stellungnahme von Gottfried Leder, die zunächst etwas befremdend klingen mag: „Angesichts des Problems der Bildung müssen wir Abschied nehmen von der Vorstellung, daß alles machbar sei. Politische Bildung ist ihrem Wesen nach Ereignis, nicht Veranstaltung . . . Veranstal-tungen schaffen stets nur Anlässe und damit Möglichkeiten zu politischer Bildung. Sie sind jedoch nicht imstande, politische Bildung gleichsam als vorausberechenbares Ergebnis zu . produzieren'."
Der Beitrag des Geschichtsunterrichts kann heute nicht mehr in Unmittelbarer, inhaltlicher Art, sondern nur in formaler, struktureller Art gesehen werden. (Das „nur" gilt dabei nicht als abwertend
Erstens: Sie gibt sachlich'richtige Fakten (nach unserem Verständnis von Wissenschaft!). — Ich zitiere noch einmal Gottfried Leder: „Die Fähigkeit und Entschlossenheit des Menschen, eine Sache vor allem so zu sehen, wie sie ist, kennzeichnet eine erste Verhaltensweise, die für politische Bildung von grundlegender Bedeutung ist. Nur diese Haltung der Sachlichkeit ermöglicht Sachgerechtigkeit . . . Die Hin-führung zur Sachlichkeit soll ihrerseits die Fähigkeit und Entschlossenheit fördern, Konflikte sachgerecht auszutragen" (a. a. O., S. 194).
Zweitens: Politische Grundbegriffe werden am treffendsten und am einprägsamsten dann erklärt, wenn sie, bzw. die damit bezeichneten Phänomene, in der Geschichte in ihrer Ursprungssituation zum erstenmal auftreten.
Darin liegt zum Beispiel der ungemein bildende Wert der Kenntnis des Griechentums für die moderne Demokratie, weil dort Begriffe wie „Polis“, „Demokratie", „Freiheit"
die Elemente ihrer politischen Bedeutung im Ursprung zeigen, noch besser als in der englischen Geschichte 29a).
Drittens: Geschichte kann deutlich machen, wie es geworden ist; sie zeigt die Entwicklung auf. Die einzige angemessene Form, Ursachen für politische Situationen und Phänomene, Probleme und Konflikte aufzuzeigen, ist die Zurückführung auf die geschichtlichen Wurzeln, auf ihre Entwicklung. Eine andere Kausalität kann es auf diesem Fachgebiet nicht geben. Das Kennzeichen für diese Verfahren ist, daß wir einen Wirkungszusammenhang erst im Nachhinein erkennbar machen können. Friedrich Schlegel sagte bekanntlich, der Historiker sei ein rückwärts gewandter Prophet, und nach Hegel tritt die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dämmerung an. Ob unter „viertens" der Historiker auch ein vorwärts gewandter, also ein echter Prophet sein kann, muß trotz mancher Bemühungen um eine historische Futurologie seit Oswald Spengler vorerst noch offenbleiben
VI. Geschichte als Weltgeschichte
Daß Geschichte Ausformungen eines bestimmten Arsenals solcher Begriffe und Ideen oder Tendenzen (Ranke) zeige, setzen die unter der Leitung von Hörst Schällenberger erarbeiteten neuen Richtlinien von Nordrhein-Westfalen (1968) voraus. Dort gibt es nur noch das Bindestrich-Fach „Geschichte/Politik". In der Einleitung zu diesen Richtlinien zum Geschichts-unterricht an den Hauptschulen heißt es: „Durch kritisch geprüfte Anschauung wird der politische Sinn gebildet. Die Arbeit in der Hauptschule im Fachgebiet Geschichte/Politik soll in Auseinandersetzung mit der Verwirklichung des Menschen in der Geschichte und Gegenwart eine politische Bildung bewirken, die auf Vergegenwärtigung der politischen Sachverhalte und eines sachgemäßen politischen Verhaltens und Handelns abzielt."
Die Geschichte wird daraufhin untersucht, wieweit in ihr Begriffe (Ideen, Ideologien, Tendenzen), die in der Gegenwart noch gewisse Bedeutung haben, verwirklicht wurden oder gewirkt haben. Alfred Heuss hat in seinem o. a. Buch (1968) auf Max Webers „Idealtypen" hingewiesen, die dieser ja nicht als typisierte oder idealisierte Personen, sondern als verdichtete Strukturen, Ausformungen oder Verwirklichungen auffaßte. Durch Herausarbeiten solcher Strukturen kann man Phänomene verdeutlichen und miteinander vergleichen. Das hat einen eminent politisch bildenden Effekt. Es gibt — nach Klafki — Individualitäten, die Abbildcharakter haben, repräsentativ sind.
Die Konzeption der Menschen-und Menschheitsgeschichte als Weltgeschichte ist schon an sich ein Beitrag zur Politischen Bildung. Ein solches Geschichtsbild war von jeher die katholisch-christliche Konzeption, aber auch in säkularisierter Form die idealistisch-aufklärerische und wohl auch die eigentlich marxistische. Die erste geht aus von der Auffassung, daß es sich bei der Weltgeschichte als Heilsgeschichte um die Schöpfung Gottes handelt, die anderen davon, daß es um die Entfaltung der Humanität gehe. Wohl alle fassen das Ganze der Weltgeschichte als Hinführung zum Frieden auf, sicherlich für uns heute eine bemerkenswerte politische Kategorie! Man erhofft eine Überwindung des Nationalismus
Nationalstaat und Nationalismus sind also recht junge Erscheinungen, und auch die Geschichtsschreibung war noch bis ins frühe 19. Jahrhundert „Weltgeschichts-Schreibung".
Ein Geschichtsunterricht in dieser Konzeption kann der Politischen Bildung dienen, ohne seinen facheigenen Charakter aufzugeben.