Vorbemerkung
Mit der folgenden Analyse soll die Entwicklung Sinkiangs im politischen Spannungsfeld zwischen der Sowjetunion und China verdeutlicht werden. Durch die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern an der Grenze Sinkiangs hat diese Problematik aktuelle Bedeutung bekommen.
Die Untersuchung geht von den ethnisch-religiösen, wirtschaftlichen und politischen Problemen Sinkiangs selbst aus und versucht, vor diesem Hintergrund die verschiedenen Interessenaspekte und unterschiedlichen Praktiken der sowjetischen und chinesischen Zentral-asien-Politik aufzuzeigen. Sie ist also von vornherein nicht darauf angelegt, die Politik beider Länder in diesem Rahmen in allen ihren Aspekten zu behandeln. Dies ist schon wegen der noch immer unzureichenden Quellenbasis unmöglich. Sofern Grenzfragen zwischen beiden Ländern in Zentralasien Gegenstand des Konfliktes sind, kann im übrigen auf einige vorliegende Spezialuntersuchungen hingewiesen werden, wie vor allem H. Pommerening:
Der chinesisch-sowjetische Grenzkonflikt. Das Ende der ungleichen Verträge, Olten und Freiburg 1968.
Die hier untersuchten Probleme werden ausführlicher und in wesentlich größerem Rahmen behandelt in dem Buch des Verfassers: Kommunismus und Islam; Islam und sowjetische Südostasien-Politik, das im Herbst dieses Jahres erscheint. Der erste Band dieser Untersuchung ist unter dem Titel „Kommunismus und Islam. Religionsdiskussion und Islam in der Sowjetunion" im Herbst 1969 erschienen.
I. Der Islam in Sinkiang als politisches Problem für die Sowjetunion und China
Vorbemerkung Inhalt I. Der Islam in Sinkiang als politisches Problem für die Sowjetunion und China 1. Ethnische und politische Einordnung Singkiangs 2. Religiöse Probleme II. Sinkiang im Spannungsfeld der politischen Interessen Rußlands und Chinas 1. Ostturkestan zwischen China und Rußland 2. Gefährdung des Status Sinkiangs innerhalb Chinas seit Beginn des 19. Jahrhunderts a) Der „Traum" von einem Islam-Staat in Zentralasien b) Die Politik der Autonomie und des Ausgleichs zwischen Ost und West: 1912— 1928 I?
Vorbemerkung Inhalt I. Der Islam in Sinkiang als politisches Problem für die Sowjetunion und China 1. Ethnische und politische Einordnung Singkiangs 2. Religiöse Probleme II. Sinkiang im Spannungsfeld der politischen Interessen Rußlands und Chinas 1. Ostturkestan zwischen China und Rußland 2. Gefährdung des Status Sinkiangs innerhalb Chinas seit Beginn des 19. Jahrhunderts a) Der „Traum" von einem Islam-Staat in Zentralasien b) Die Politik der Autonomie und des Ausgleichs zwischen Ost und West: 1912— 1928 I?
1. Ethnische und politische Einordnung Sinkiangs Zentralasien liegt so unmittelbar im politischen Interessensbereich der Sowjetunion, daß die Frage berechtigt ist, ob ihrer Politik in diesem Raum überhaupt der Charakter einer außenpolitischen Aktivität zuzuschreiben ist. Mit dem Begriff „Zentralasien“ wird hier derjenige Raum umschrieben, der seit jeher unter der geographisch-historischen Bezeichnung . Ostturkestan", seit 1884 unter dem chinesischen Namen „Sinkiang" (= neue Provinz) und schließlich seit 1949 unter dem Namen „Uigurisches Autonomes Gebiet Sinkiang" bekannt ist. Seit dem frühen 19. Jahrhundert hat dieser Raum in den sowjetisch-chinesischen Bezie-hungen immer eine herausragende Rolle gespielt. Der chinesische Teil Zentralasiens gliedert sich in zwei Teile: Der nördliche Teil — die Dsungarei — grenzt im Westen an das russische Siebenstromland und im Osten an die Mongolei. Die wichtigsten Städte dieses Raumes sind Kuldscha am Ili-Fluß und Urumtschi. Ethnisch gesehen wird dieser nördliche Teil durch die islamischen Kasachen, die das an die Sowjetunion grenzende Gebiet bewohnen, und die sich überwiegend zum Islam, teilweise aber auch zum Buddhismus bekennenden Mongolen und Kalmücken geprägt. Der südliche Teil — Kaschgarien — grenzt im Norden und Westen an die Sowjetunion und im Süden an Pakistan, Indien sowie Tibet. Kaschgar ist die bedeutendste Stadt dieses Gebietes. Ethnisch wird es weitgehend durch die sich ausschließlich zum Islam bekennenden Stämme türkisch-mongolischen Ursprungs bestimmt — die Kirgisen, Usbeken, Tataren und die Uiguren. Von allen in Ostturkestan lebenden Völkern sind die rund 500 000 Kasachen fraglos das dynamischste Element.
Insgesamt erstreckt sich Ostturkestan über ein Gebiet von rund
Beide Gebiete, die Dsungarei und Kaschgarien, bilden zusammen mit Westturkestan — dem heutigen sowjetischen Zentralasien — ethnisch und religiös eine Einheit. Sie haben darüber hinaus ein gemeinsames politisches Schicksal insofern, als sie im Verlaufe ihrer Geschichte immer wieder dem kolonialen Zugriff von West (Rußland: Westturkestan) und Ost (China: Ostturkestan) ausgesetzt waren. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat die „koloniale Konkurrenz" dieser beiden Großmächte ihre Ursache nicht zuletzt in der ökonomisch-strategischen Bedeutung Sinkiangs, das heißt im wirtschaftlichen Reichtum dieses Gebietes
Auch verkehrspolitisch hat Sinkiang größte strategische Bedeutung für beide Länder. Die Hauptstadt Urumtschi (chines.: Tihwa) ist durch Autostraßen mit der Sowjetunion und mit Kaschgar sowie von hier aus wiederum mit der Kirgisischen und mit der Tadschikischen SSR als auch mit Indien und mit Zentral-china verbunden. Karawanenstraßen führen von Urumtschi nach Tibet, Pakistan, Indien und Afghanistan. Für Motorfahrzeuge benutzbare Naturstraßen verbinden Urumtschi außerdem mit der Mongolischen Volksrepublik und der chinesischen Provinz Tsinghai. Schließlich muß in diesem Zusammenhang noch die Eisen-bahnlinie zwischen Urumtschi und Lanshow erwähnt werden, die aufgrund eines 1954 zwischen der Volksrepublik China und der Sowjetunion geschlossenen Vertrages bis zur sowjetischen Grenze ausgebaut werden und dort mit der von Alma Ata kommenden Zusammentreffen sollte.
Ein gewichtiges Kriterium für die Beurteilung des Verhältnisses der Bevölkerung zu China einerseits und Rußland bzw.der Sowjetunion andererseits ist darin zu sehen, daß die Chinesen in Ostturkestan seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts häufig als die Eroberer, die Russen hingegen seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Rolle eines Beschützers oder sogar Befreiers der islamischen Bevölkerung auftraten. Auf historische Einzelheiten der Auseinandersetzung um diesen und in diesem Raum kann und braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Eines muß aber in diesem Zusammenhang festgestellt werden: Wie in russisch bzw. sowjetisch Zentralasien ist auch in Ostturkestan das nationale Bewußtsein der Bevölkerung immer identisch gewesen mit dem Bekenntnis zum Islam. Bei der Behauptung der islamischen Bevölkerung Ostturkestans im Spannungsfeld der „kolonialen Konkurrenz" beider Großmächte hat deshalb auch das Moment der Verteidigung der Religion immer eine zentrale Rolle gespielt. Daran hat sich auch bis in die Gegenwart hinein nichts geändert. 2. Religiöse Probleme Die Verbindung zwischen nationalem Bewußtsein und Religion macht deutlich, daß die Politik der chinesischen Zentralregierung immer vor besonders heiklen Aufgaben in Sinkiang gestanden hat. Zur Problematik, die gerade der Islam von jeher und bis in die unmittelbare Vergangenheit hinein jeder chinesischen Regierung aufgegeben hat
Die Unabhängigkeit von den Chinesen kommt aber auch in der strikten Beibehaltung der kulturellen und sozialen Bräuche durch die Muslime Chinas zum Ausdruck, so z. B. bei der Heirats-und Bestattungszeremonie: Die Trauscheine werden in arabischer Sprache ausgestellt, Braut und Bräutigam erweisen Himmel und Erde keine Ehrerbietung wie die Han-Chinesen; die Bestattung findet auf besonderen Friedhöfen statt. Dies gilt aber auch für alle anderen Bräuche: So leben auch die arabischen und persischen Redewendungen fort; das Turban-Tragen ist noch immer üblich; die muslimischen Speisegebote werden weiterhin beachtet; die Kinder erhalten bisher noch immer koranische Namen; die Söhne werden im Alter von sieben Jahren beschnitten und mit 15 Jahren verheiratet; sie dürfen wohl chinesische Frauen heiraten, aber Töchtern ist die Ehe mit „Ungläubigen" strikt verboten. Diese Beispiele mögen hier genügen, um zu zeigen, in welch großem Maße sich die islamische Bevölkerung noch immer bewußt zum Islam bekennt und sich dadurch von der chinesischen Bevölkerung des Landes abhebt.
Ihrer wirtschaftlichen und sozialen Stellung nach sind die Muslime im allgemeinen sehr arm. Soweit sie in den Städten wohnen, sind sie in der Regel kleine Händler; in ländlichen Gegenden betreiben sie Ackerbau und Viehzucht. In einigen Gebieten von Szetschuan beherrschen sie den tibetanischen Teehandel. In vielen Teilen Chinas verfügen sie auch über ein gewisses Monopol im Fleisch-und Fellhandel, in der Lederverarbeitung, im Geldwechsel, in der Metallverarbeitung und im Handel mit Jade sowie anderen „Raritäten".
II. Sinkiang im Spannungsfeld der politischen Interessen Rußlands und Chinas
So begrenzt auch die Informationsmöglichkeiten und so lückenhaft infolgedessen heute die Kenntnisse über die Situation des Islams in China und die Islam-Politik von Partei und Regierung der Volksrepublik China sind, so gewiß kann doch schon aus dem vorliegenden Quellenmaterial darauf geschlossen werden, daß es ihnen bis in die jüngste Vergangenheit hinein nicht gelungen ist, den Einfluß des Islams völlig auszuschalten und die westlichen Grenzregionen im Sinne ihrer Politik zu integrieren und zu befrieden. Der Grund dafür muß nicht zuletzt darin gesucht werden, daß sich spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts die politischen und wirtschaftlichen Interessen Rußlands und Chinas in keinem Bereich so stark überschnitten haben wie eben im zentralasiatischen Raum. Bevor sich die Untersuchung aber dieser Problematik zuwendet, muß zunächst der Blick auf wenigstens einige wichtige Merkmale der historischen Entwicklung Ostturkestans gerichtet werden, weil die Interessenskonflikte zwischen beiden Ländern nur auf dieser Grundlage verdeutlicht werden können. 1. Ostturkestan zwischen China und Rußland Das Bewußtsein der Unabhängigkeit der Bevölkerung dieses Raumes hat weit zurückreichende historische Wurzeln. Bereits zur Zeit der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) besaß China zwar die nominelle Oberherrschaft über dieses Gebiet; Mitte des ersten Jahrhunderts wurde sogar das Tarim-Becken unter chinesische Militärverwaltung gebracht und damit die Vorherrschaft und der Anspruch Pekings in Zentralasien endgültig begründet. Aber schon nach wenigen Jahrhunderten er-6 losch die „fremde" (chinesische) Kontrolle über das Land. Sie war ohnehin immer schwach gewesen, da die Position der Chinesen nur durch ein sehr weitmaschiges Netz von Garnisonen gesichert wurde. Die unter der nationalen Oberherrschaft Chinas häufig wechselnden Königreiche oder Khanate waren z. T. beachtlich wohlhabend und politisch einflußreich
Ein anderer Aspekt der Ausdehnung des chinesischen Einflusses auf Zentralasien war, daß damit nicht nur dem chinesischen „Imperialismus" der Weg nach Westen gewiesen, sondern auch der Weg für Kultureinflüsse und -güter vor allem aus dem iranischen und — auf diesem Umweg — aus dem indischen Raum nach China geöffnet wurde: Auf den Routen der sogenannten Seidenstraße erreichten z. B.seit dem ersten Jahrhundert der Buddhismus, später der Islam China und mit beiden Religionen eine Fülle von neuen, die chinesische Zivilisation bereichernden Elementen.
Sie begründeten eine Periode nahezu völliger Unabhängigkeit Zentralasiens, die bis in das 18. Jahrhundert hineinreichte und deren wesentliches und durchgehendes Merkmal — ganz gleich, ob dieser Raum nun von den Chinesen oder den Mongolen beherrscht wurde — die Toleranz gegenüber den vorderasiatischen Weltreligionen war. So genossen beispielsweise die islamischen Mullahs und die christlichen Religionsdiener genauso Steuerfreiheit wie die taoistischen und buddhistischen Mönche. Der Einfluß der ethnischen und religiösen Minderheiten hat zu einem ausgeprägten Kosmopolitismus geführt, der bis in das 20. Jahrhundert hinein einer der wichtigsten innenpolitischen Faktoren blieb. Diese Toleranz bewirkte aber andererseits auch, daß die Anhänger dieser Religionen, bei denen es sich überwiegend um eingewanderte Ausländer und nur in ganz geringem Maße um konvertierte Chinesen handelte, außerhalb der chinesischen Kultur blieben; nur eine Minderheit von ihnen bemühte sich darum, Zugang zur chinesischen Sprache, Schrift und Literatur zu finden.
Die relative Unabhängigkeit Zentralasiens zwischen China, Rußland und Indien ging erst zwischen dem 17. und dem Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge des erneuten Vordringens der Armeen des chinesisch-mandschurischen Reiches verloren. Diese „Westbewegung" Chinas verdient schon insofern besondere Aufmerksamkeit, als sie sich fast gleichzeitig mit dem Vordringen der Engländer (Ostindische Compagnie) nach Asien und mit der Erschließung Sibiriens durch die Russen vollzog. In allen drei Fällen handelte es sich um eine Ausdehnung des Herrschaftsbereiches, der unterschiedliche Motive und Zielsetzungen zugrunde lagen: Während die Russen in Sibirien ein fast menschenleeres, jungfräuliches Territorium vorfanden und die Engländer sich bei ihrem Vordringen nach Indien vor allem von wirtschaftlichen Interessen leiten ließen, hing der erneute Vorstoß Chinas ursächlich mit den Versuchen der Westmongolen im 17. Jahrhundert zusammen, ein neues unabhängiges mongolisches Großreich zu schaffen
Unter dem Dsungaren-Khan Batur Huntscheidi schlossen sich im 17. Jahrhundert die erst Ende des 16. Jahrhunderts zum Buddhismus bekehrten Stämme der Choschoten, Torguten, Olöten und Dorbeten zum sogenannten „Oiratenbund" zusammen. Sein Sohn Galdan Khan (1632[? ]—-1697), der in seiner Jugend Lama in einem tibetanischen Kloster gewesen war, begründete den Staat der Dsungarei. Er eroberte 1678/79 mit dem Tarim-Becken ganz Ostturkestan und schloß hier — wohl zum ersten Mal überhaupt — die islamische Kleinherrschaft unter einer einheitlichen Führung zusammen. Er unterwarf sich auch das mongolische Kerngebiet am Orchon, im Herzen der Mongolei also. Stammesfehden verhinderten jedoch eine neue Einheit aller Mongolen. Als Galdan Khan auch in die „Innere Mongolei" und die „Äußere Mongolei" einzurücken begann, schlossen sich die Ostmongolen 1691 den Mandschus in Vasallentreue an. Galdan Khan wurde 1696 südlich Urga (Ulan Bator) von den Chinesen geschlagen. Sein Neffe versuchte 1709 noch einmal — vergeblich — einen Aufstand.
China besiegte 5a) schließlich 1720 den Olöten-Khan Tsewang Rabdan und 1759 auch den letzten Dsungaren-Khan Amursana, der sich zunächst zwar den Chinesen angeschlossen und für sie das Ili-Gebiet von seinem Rivalen erobert hatte, dann aber erneut die völlige Unabhängigkeit von Peking anstrebte; er floh, schließlich zu den Kasachen. Die ganze Dsungarei wurde von den Chinesen in Besitz genommen; sie wurde sogar als geographischer Begriff von den Landkarten getilgt. Während des kurzen Aufstiegs der Westmongolen stießen die Hoschuten in das Koko-Nor-Gebiet (Kansu) vor. Die Torguten zogen vor den siegreichen Chinesen nach Westen in die Gebiete zwischen Ural und Wolga, wo sie von den Russen unterworfen wurden. 400 000 flohen wieder in ihre alte Heimat zurück, die sie — schwer dezimiert — 1771 erreichten; nur ein geringer Rest blieb an der Wolga, wo sie als „Kalmücken" („die Zurückgebliebenen") weiter lebten und noch leben.
Nach der endgültigen Niederwerfung der Dsungarei eroberten die Chinesen 1758/1759 noch Kaschgar im Westen des Tarim-Beckens. Sie setzten eine Militärregierung ein, die Ostturkestan durch in Kuldscha (Ili), Urumtschi und Jarkand residierende Gouverneure verwalten ließ. Damit hofften die Chinesen, ihre Herrschaft über Zentralasien endgültig wiederhergestellt zu haben.
Die Befriedung Ostturkestans glaubten sie aber vor allem durch Rücksichtnahme auf die religiösen Gefühle der Muslime erreichen zu können: Die örtliche Verwaltung blieb zum großen Teil in den Händen der islamischen Führungsschicht. Ihr oblag es, im Auftrage der Mandschus die Steuern einzuziehen und Recht zu sprechen. Unter dieser maßvollen Politik konnte sich Ostturkestan zwar friedlich und fruchtbar entwickeln, in ihr lag aber auch der Keim für die Herausbildung eines im gemeinsamen Glauben, dem Islam, begründeten „Nationalbewußtseins", das schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit politi-schern Inhalt gefüllt wurde, als nämlich — bedingt durch innere Schwierigkeiten (OpiumKrieg, Taiping-und Nien-Aufstand) — die chinesische Herrschaft in Ostturkestan erneut zu verfallen begann. 2. Gefährdung des Status Sinkiangs innerhalb Chinas seit Beginn des 19. Jahrhunderts Ein für die hier behandelten Probleme weiteres wichtiges Element der Entwicklung in dieser Periode war zweifellos das Vordringen Rußlands nach Zentralasien, wobei es sich nicht zuletzt auch die Unabhängigkeitsbestrebungen der ostturkestanischen Muslime und ihren Widerstand gegen die chinesische Herrschaft zunutze machte: In Kansu war 1862 unter den muslimischen Dunganen ein größerer Aufstand gegen die Mandschus ausgebrochen, der auf die ganze Dsungarei Übergriff. 1864 hatten die Chinesen praktisch auch die Kontrolle über den größten Teil von Kaschgarien verloren. Diese für China äußerst schwierige Situation nutzte der 1820 im Gebiet von Kokand geborene Yakub Bek, um die letzten von den Truppen der chinesischen Zentralregierung in Kaschgarien noch gehaltenen Stützpunkte zu beseitigen und sich selbst 1867 zum Khan von Kaschgar auszurufen
Daß Yakub Beck unter diesen Umständen eine Unterstützung und Anerkennung seines Herrschaftsanspruches durch Rußland kaum erwartet hat, ist daraus zu schließen, daß er schon sehr frühzeitig die diplomatischen Beziehungen zum osmanischen Reich, dem damaligen politischen Zentrum der islamischen Welt, aufnahm. Anfang 1874 unterzeichnete er schließlich auch einen Handelsvertrag mit dem Engländer Douglas Forsyth, der sich damals im Auftrag der indischen Regierung auf einer Mission in Kaschgarien befand, um Möglichkeiten den Handel Zentralasien mit zu erkunden.
Für Yakub Bek verband sich mit den zum Ausland hergestellten Beziehungen die Hoffnung auf eine Anerkennung seiner Herrschaft in Ostturkestan, weil sie auch den ökonomischen Wünschen und Interessen dieser Länder entgegenkam. Zumindest glaubte er aber, auf diese Weise vor allem England und Rußland von Versuchen abhalten zu können, sich in den Besitz Ostturkestans zu bringen, zumal dies auch unausweichlich zu einer unmittelbaren Konfrontation beider Länder mit China führen mußte, an der sie zu dieser Zeit und in diesem Raum nicht interessiert waren. Schließlich glaubte er aber, auch auf die Neutralität der beiden Großmächte, wenn nicht sogar auf ihre Hilfe für den Fall rechnen zu können, daß China den Versuch unternehmen sollte, Kaschgarien zurückzuerobern.
Für die Zentralregierung Chinas mußte sich hingegen aus den vertraglichen Verbindungen Yakub Beks zum osmanischen Reich, zu Ruß-land und (wenn auch indirekt über Indien) zu England notwendigerweise eine zusätzliche internationale Bedrohung ihrer Souveränität in Zentralasien ergeben. Sie beauftragte deshalb den 1866 zum Generalgouverneur von Schensi und Kansu ernannten Tso Tsung-t’ang mit der Rückeroberung Ostturkestans
Obwohl damit alle Voraussetzungen geschaffen waren, das Ili-Becken jetzt wieder an China zurückzugeben, erwies sich sehr schnell, daß den von Rußland bei der Besetzung dieses Gebietes (1871) abgegebenen Erklärungen nicht mehr als nur deklamatorischer Wert beizumessen war
Diese Vorgänge haben offenbar der chinesischen Regierung unmißverständlich klargemacht, daß die russische Politik in Zentral-asien ausschließlich von machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen bestimmt wurde und daß auch der mit Rußland 1881 geschlossene Vertrag keine dauerhafte Garantie für die Respektierung der chinesischen Souveränität in Ostturkestan zu bieten vermochte. Der 1880 nach Peking zurückberufene und seitdem als Berater der Regierung in turkestanischen Angelegenheiten tätige Tso Tsung-t'ang drang deshalb darauf, Ostturkestan nicht mehr nur unter indirekter mandschurischer Verwaltung zu belassen, sondern in eine „neue Provinz" Chinas („Sinkiang") umzuwandeln und es auf diese Weise wirksamer gegen die russischen Interessen und Forderungen abzusichern. Dieser Vorschlag Tso's wurde noch kurz vor dessen Tod (1885) durch ein kaiserliches Dekret vom
Das ganze Land wurde in vier Bezirke aufgeteilt, die wiederum in mehr als 40 Verwaltungsdistrikte untergliedert waren. Die chinesische Herrschaft über Sinkiang wurde aber im Grunde nur durch die Stationierung von 800 Soldaten in ständigen Garnisonen repräsentiert. Denn: Während bis zur Ebene der Verwaltungsdistrikte herab die Verwaltung zwar ausschließlich von chinesisch-mandschurischen Beamten ausgeübt wurde, die überdies auch abseits von der einheimischen Bevölkerung lebten, lag sie auf der untersten Ebene allein in den Händen der muslimischen Stammesfürsten. Sie hatten — wie immer zuvor — die Steuern einzuziehen und Recht zu sprechen. Durch Toleranz gegenüber den einheimischen Sitten und Gebräuchen konnten die Chinesen die Unterstützung der muslimischen Führungsschichten gewinnen und auf diese Weise eine innenpolitische Befriedung der „Neuen Provinz" herbeiführen, durch die eine ruhige Entwicklung bis zum Jahre 1912, dem Jahre der Amtsübernahme durch Yang Tsenghim, zu gewährleisten war.
Obwohl 1884 die Grenze zwischen Rußland und der Dsungarei in einem Abkommen festgelegt wurde 11), war damit — wie sich sehr bald zeigen sollte — die Gefahr eines erneuten russischen Vordringens in das Ili-Gebiet keineswegs beseitigt worden: Bereits in den frühen neunziger Jahren drang Rußland in den Pamir vor, in ein Gebiet also, das von den Chinesen immer als unter ihrer Souveränität stehend angesehen wurde. Ohne Rücksichtnahme auf die Ansprüche Chinas wurde im März 1895 zwischen Großbritannien und Rußland ein Abkommen geschlossen, in dem der russische Besitzstand hier bestätigt wurde. Die russisch-chinesische Grenze wurde hingegen in diesem Gebiet vertraglich nicht festgelegt.
Allerdings wagte Rußland vorerst kein neues Eindringen in Sinkiang. Der Grund für diese Zurückhaltung war aber weniger in dem Respekt vor dem mit China geschlossenen Vertrag des Jahres 1881 von Petersburg zu suchen, als vielmehr in der Furcht vor dem möglichen Widerstand Großbritanniens gegen ein solches Unternehmen: Der im August 1907 zwischen Rußland und Großbritannien geschlossene Vertrag erwähnt Sinkiang zwar mit keinem Wort, in ihm verzichten beide Länder aber ausdrücklich auf jede provokative Politik „in der Nähe der indischen Grenze".
Auf diese Periode des russisch-chinesischen Verhältnisses in Zentralasien wurde hier deshalb ausführlicher eingegangen, weil in ihr bereits alle Probleme sichtbar werden, die in der Folgezeit, insbesondere aber in der für die hier behandelten Fragen so wichtigen Zeit nach 1928, die russisch-chinesischen Beziehungen in Zentralasien prägen sollten: In der Gestalt Yakub Beks und seinen Zielsetzungen verkörpert sich das Selbstverständnis der islamischen Bevölkerung Chinas, insbesondere aber Sinkiangs. Sie hat sich immer in erster Linie als ein Teil der islamischen Welt, zumindest aber als ein Teil der islamischen Turkbevölkerung des gesamten zentralasiatischen Raumes verstanden. Solange die ethnische, kulturelle und religiöse Sonderstellung der islamischen Bevölkerung in Sinkiang von der chinesischen Zentralregierung respektiert und ihr die — wenn auch nur begrenzte — Selbstverwaltung gewährt wurde, ist die Souveränität Chinas in diesem Raum immer nur als eine nominelle empfunden worden. Sie brauchte deshalb unter diesen Voraussetzungen auch nur selten in Frage gestellt zu werden, zumal da unklare Grenzverhältnisse auch in dieser Zeit noch die Verbindungen zwischen der islamischen Bevölkerung in den zentralasiatischen Provinzen Rußlands und Chinas kaum wesentlich behindert haben.
Seit der Inbesitznahme Turkestans im 19. Jahrhundert durch die zaristischen Truppen hat die russische Zentralasienpolitik ihren Ansatzpunkt immer wieder vor allem in dieser komplexen Problematik gesucht. Für sie konnte jede Zuspitzung des Verhältnisses zwischen Sin den -islamischen Bevölkerungsgruppen kiangs und der chinesischen Zentralregierung Vorteile nur bringen. Deshalb hat sie auch jede Möglichkeit genutzt, um solche Spannungsverhältnisse in Sinkiang zu fördern oder sogar überhaupt erst zu schaffen. Das erfahrungsgemäß wirksamste Mittel dazu war die Unterstützung aller Separationsbestrebungen der islamischen Bevölkerungsgruppen in Sinkiang. Sie fand allerdings immer da ihre Grenze, wo solche Bestrebungen in panislamistischen Ideen wurzelten und die Schaffung eines größeren islamischen Staates in Zentral-asien zum Ziele hatten, die notwendigerweise nicht nur die chinesische, sondern auch die russische Herrschaft in Zentralasien in Frage stellen mußte. b) Die Politik der Autonomie und des Ausgleichs zwischen Ost und West: 1912— 1928
Es bedurfte eines großen Maßes an Flexibilität und diplomatischem Geschick, um den Status und eine ruhige, durch den Zugriff Rußlands nicht gefährdete Entwicklung Sinkiangs zu sichern. Dies sollte sich bereits unmittelbar nach der chinesischen Revolution von 1911 erweisen, durch die China in eine Republik umgewandelt wurde. Die Einheit Sinkiangs war in Gefahr: Ili drohte, eine eigene Regierung einzusetzen, in Hami erhob sich die islamische Bevölkerung gegen die Mandschus, in vielen Provinzteilen waren die chinesischen Truppen im Begriff, sich der Kontrolle Urumtschis zu entziehen; in Sinkiang lebende Russen wurden angegriffen.
Diese Ereignisse waren in hohem Maße dazu geeignet, ein erneutes Eingreifen Rußlands zu provozieren: So wurden unter dem Vorwand, die russischen Konsulate in Kaschgar und Kuldscha wären gezwungen, die Sicherheit der eigenen Untertanen zu gewährleisten, die Konsulatstruppen wesentlich vergrößert; bis Mitte 1912 wurde ihre Gesamtzahl auf insgesamt 1 000 Kosaken erhöht. Zeitweilig bestand sogar die Gefahr für Sinkiang, entweder ganz von Rußland annektiert zu werden oder die Schutzherrschaft aufgezwungen zu bekommen bzw. ein Protektorat zu akzeptieren, wie es Rußland zu dieser Zeit auch über die Äußere Mongolei ausübte.
Es war im wesentlichen das Verdienst des zum Generalgouverneur von Sinkiang aufgerückten Leiters der Regionalverwaltung von Urumtschi, Yang Tseng-hsin, daß die Gefahr abgewendet werden konnte. Für seine Aufgabe war er deshalb in besonderem Maße prädestiniert, weil die muslimischen Truppen ihm bedin -gungslos ergeben waren und weil seine nicht gerade sehr republikfreundliche Haltung auf weite Zustimmung in Sinkiang stieß
Die mit dieser „Außenpolitik" herbeigeführte weitgehende Abschirmung gegen alle Einflüsse von außen ermöglichte Yang Tsenghsin eine Innenpolitik, die nicht nur darauf angelegt war, die Provinz auch wirtschaftlich so weit wie möglich unabhängig zu machen, sondern durch längst fällige soziale und wirtschaftliche Reformen eine dauerhafte Stabilisierung des Landes auf der Basis der Selbst-Verwaltung der islamischen Bevölkerung zu ermöglichen: So wurden beispielsweise die Handelsmonopole abgeschafft, ein Verbot der bis dahin obligatorischen Stellung von Beförderungsmitteln für Beamte durch die Bevölkerung ausgesprochen und dem Zinswucher durch Festsetzung von Zins-Höchstgrenzen für Geldverleiher ein Ende bereitet.
Alle diese Maßnahmen Yang Tseng-hsins spiegeln eine äußerst kluge und umsichtige Politik wider. Sie bot einerseits der islamischen Bevölkerung keinen Grund zur Kritik an der chinesischen Provinzverwaltung oder sogar für eine offene Rebellion gegen sie, die sich erfahrungsgemäß leicht mit panislamischen Zielsetzungen verbinden konnte und sich damit nicht nur gegen die chinesische Herrschaft in Sinkiang, sondern gleichzeitig auch gegen die russische in Turkestan richtete, sie schuf aber andererseits auch Voraussetzungen, die Ruß-land keinerlei Handhaben für Übergriffe lieferten. Solche Übergriffe waren — wie die vorstehende Darstellung gezeigt hat — in der Regel immer dann erfolgt, wenn die chinesische Politik in Sinkiang in Gegensatz zu den Interessen der islamischen Bevölkerung der Provinz geraten war.
Dennoch wäre es verfehlt, die Zurückhaltung der russischen bzw. sowjetischen Zentralasienpolitik bis 1928 allein auf die umsichtige Politik Yang Tseng-hsins zurückzuführen. Die Gründe dafür müssen auch darin gesucht werden, daß Zentralasien für die Außenpolitik der zaristischen Regierung bis 1918 wegen der Notwendigkeit der Konzentration aller Kräfte auf den Krieg in Europa ein Problem von untergeordneter Bedeutung war und daß auch für die sowjetischen Staats-und Parteiführer nach der Oktober-Revolution zunächst andere Schwierigkeiten zu bewältigen waren: In der Periode bis 1928 wurde die vordringlichste Aufgabe in der inneren Konsolidierung des Sowjetsystems gesehen. Darin liegt auch die Erklärung dafür, daß die Sowjetregierung in dieser Zeit an allen „Fronten" der Außenpolitik gewissermaßen „kurz getreten" hat.
Für die Beurteilung der zurückhaltenden Zentralasienpolitik ist ferner nicht unwesentlich, daß eine Begleiterscheinung der inneren Konsolidierung des Sowjetsystems die Politik der relativen Duldung des Islams war, die ihren Abschluß praktisch erst mit dem Inkrafttreten des an anderer Stelle analysierten Beschlusses „über die religiösen Vereinigungen" vom 8. April 1929
Im übrigen ließ aber auch der unmittelbar nach der Oktober-Revolution veröffentlichte, von Lenin und Stalin gemeinsam unterzeichnete Aufruf „An alle Muslime Rußlands und des Ostens" erkennen, daß sich die sowjetische Außenpolitik eindeutig von den Zielsetzungen und von der Praxis der zaristischen absetzen wollte. Mit ihrer Zurückhaltung gegenüber der Entwicklung in Sinkiang bis 1928, dem Jahr der Ermordung Yangs, ist es der Sowjetregierung zweifellos gelungen, die Glaubwürdigkeit dieser Absicht zu vergrößern. Schließlich darf aber auch ein letztes Kriterium nicht außer acht gelassen werden, nämlich die Tatsache, daß die enge Zusammenarbeit der Sowjetregierung mit Chiang Kai-shek bis 1927 mit einer gleichzeitigen expansiven Politik in Sinkiang kaum vereinbar gewesen wäre.
III. Das sowjetische Vorgehen in Sinkiang
Nach 1928 entstand jedoch eine grundlegend neue Situation. Der Nachfolger Yang Tsenghsins im Amte des Generalgouverneurs, Tsin Schu-jen, der unter Yang Chef der Politischen Abteilung der Verwaltung von Sinkiang war und sich nach dessen Ermordnung selbst zum Generalgouverneuer erklärte, war zwar wie Yang auch ein Beamter alter Schule, er erwies sich aber für ein so schwieriges Regierungsamt als nicht sehr geeignet. Korruption und Vetternswirtschaft, die vor 1912 in Sinkiang an der Tagesordnung waren, hatten bereits nach kurzer Regierungstätigkeit das unter schwierigen Voraussetzungen durchgeführte Aufbauwerk Yang Tseng-hsins nahezu vollständig zerstört. 1. Doppelgleisigkeit der Politik in Zentral-asien Die Gewaltherrschaft und Mißwirtschaft Tsin Schu-jens mußte zwangsläufig in erster Linie auf Kosten der muslimischen Bevölkerung gehen. Sie forderte deren Widerstand geradezu heraus und trieb sie schließlich in den Aufstand: Er brach unter den muslimischen Uiguren in Hami aus, griff sehr schnell auf Kaschgarien über und ließ auch die Kasachen, Turkmenen und Kirgisen Sinkiangs zu den Waffen gegen die chinesische Herrschaft greifen. Von entscheidender Bedeutung nicht nur für den Verlauf dieser Aufstandsbewegung, sondern für die weitere Entwicklung Sinkiangs überhaupt aber war, daß die islamischen Dunganen von Kansu unter Führung des zu dieser Zeit erst 23jährigen Generals Ma Tsch’ung-ying ihren Glaubensgenossen in Sinkiang zu Hilfe eilten
Bei Ma Tsch’ung-ying handelte es sich um einen hochbegabten jungen Offizier. Aus religiösen und nationalen Gründen war er ein unversöhnlicher Gegner der Sowjetunion. Er hatte sich vor allem mit turkmenischen Beratern umgeben und wurde von seinen Krie-gern mit großer Hingabe, von vielen von ihnen sogar als der erwartete Mahdi verehrt. Dies hing vor allem damit zusammen, daß die Zielsetzung seines Eingreifens in Sinkiang weit über die Hilfeleistung für die Glaubens-brüder hinausging und — ganz ähnlich wie bei Yakub Bek im 19. Jahrhundert, nur mit viel mehr Nachdruck und unter günstigeren Voraussetzungen — auf die Schaffung eines islamischen Staates hinauslief, der ganz Zentral-asien, also nicht nur Sinkiang umfassen sollte. Damit wurde die muslimische Aufstandsbewegung nicht nur zu einer Gefahr für die chinesische Herrschaft in Zentralasien, sondern stellte auch die Außenpolitik der Sowjetunion vor eine neue, höchst verwirrende und gefährliche Situation.
Für die Regierung in Moskau ergaben sich daraus folgende Möglichkeiten: Sie konnte entweder zugunsten der muslimischen Aufstandsbewegung in Sinkiang eingreifen, also gewissermaßen die Stärke der „Partei der Unterdrückten" ausnutzen. Dies hätte die Möglichkeit eröffnet, sie zu kontrollieren, zu neutralisieren und dadurch gleichzeitig für die Verfolgung der eigenen Interessen zu nutzen. Wegen der „Anfälligkeit" der Muslime auch des sowjetischen Teils von Zentralasien für die von Ma Tsch’ung-ying verkündeten Ideen eines ganz Zentralasien umfassenden islamischen Staates wäre eine solche Politik aber von vornherein mit sehr großen Risiken beladen gewesen. Oder aber sie konnte die Schwäche der Zentralregierung ausnutzen, um jetzt diejenigen politischen und vor allem wirtschaftlichen Konzessionen zu erlangen, die ihr bis dahin nicht nur von Yang Tseng-hsin, sondern auch von der chinesischen Zentralregierung direkt oder indirekt verweigert worden waren.
Angesichts dieser Möglichkeiten war die Politik der Sowjets höchst aufschlußreich: Sie lieferten Waffen und anderes Kriegsmaterial an Tsin Schu-jen und unterstützten ihn dadurch direkt gegen die Rebellionen der Muslime; darauf ist es vor allem zurückzuführen, daß der Vormarsch Ma Tsch’ung-yings vor Urumtschi aufgehalten werden konnte. Tsin Schujen wurde gleichzeitig — am 1. Oktober 1931 — zur Unterzeichnung eines Geheimabkommens und von vier Zusatzabkommen gezwungen
— das Recht unbeschränkter Freizügigkeit für die Angestellten der Handelsbüros und andere Sowjetbürger im Gesamtgebiet von Sinkiang zur Erleichterung des Handelsverkehrs; — Zollvergünstigungen für alle Waren sowjetischen Ursprungs; — die Herstellung einer Kabelverbindung zwischen Tschugutschak und Bachti sowie Genehmigung des Funkverkehrs zwischen Funk-stellen in Sinkiang und in der Sowjetunion; — Tsin Schu-jen mußte sich ferner mit einer umfangreichen technischen Hilfeleistung der Sowjetunion, nämlich Maschinenlieferungen und mit der Entsendung sowjetischer Experten zur wirtschaftlichen Erschließung der Provinz, einverstanden erklären.
Schon dieser Vertrag stellte an sich einen ungeheuerlichen Vorgang dar, weil er unter offener Verletzung der Souveränität Chinas mit einer Provinzregierung zu einer Zeit abgeschlossen wurde, in der auch keine diplomatischen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und China bestanden
Parallel zur Unterstützung der Regierung in Urumtschi versorgte gleichzeitig aber auch der sowjetische Konsul in Kaschgar den Zivilgouverneur von Kaschgar, Ma Schao-wu, mit Waffen und Munition aus der Sowjetunion und stärkte damit auch den muslimischen Aufständischen den Rücken gegen die chinesische Zentralregierung — und damit natürlich auch gegen deren Repräsentanten Tsin in Sinkiang
Die Folgen der Politik Tsin Schu-jens entsprachen in jeder Hinsicht den offensichtlichen Erwartungen der sowjetischen Politik. Sie hatte die lange erstrebten Wirtschaftskonzessionen auf breiter Ebene erzwungen und damit praktisch auch die ganze „Neue Provinz" politisch „in den Griff" bekommen. Der Vertrag mit der Sowjetunion rettete dennoch für Tsin Schu-jen die Situation keineswegs; im Gegenteil. Am 12. April 1933 wurde er durch seinen eigenen Stabschef Scheng Schih-ts’ai gestürzt. Der Bürgerkrieg im Lande wurde nicht nur nicht beendet, sondern durch das doppelseitige sowjetische Engagement verstärkt. 2. Widerstand der islamischen Bevölkerung Ob die Sowjetunion in diesen verwirrenden Zuständen eine Möglichkeit erblickt hat, Sinkiang endgültig an sich zu binden, mag hier unerörtext bleiben, ist vielleicht auch kaum noch zu klären. Auf jeden Fall zieht aber die Person des Scheng Schih-ts’ai in Zusammenhang mit der Politik der Sowjetunion das Interesse in besonderem Maße auf sich: Scheng hatte seine Ausbildung in Japan erhalten und dabei große Sympathien für den Kommunismus entwickelt. Bei seinem Regierungsantritt 1933 nach dem Sturz des unfähigen und korrupten Tsin Schu-jens hatte Scheng die Ziele seiner Regierung vor allem darin gesehen, die Provinz von „japanischen Agenten" freizuhalten
Die Deklaration dieser sehr weit gesteckten Zielsetzungen sollte der Bevölkerung zeigen, daß hier ein Versuch der Rückkehr zur Politik vor 1928 unternommen werden sollte. Sie konnte aber ganz offensichtlich nicht überzeugen, denn die Wirren innerhalb des Landes wurden durch die Politik Schengs nicht beendet, im Gegenteil; die Muslim-Aufstände flammten jetzt erneut und sogar wesentlich heftiger als je zuvor auf: Ma Tsch'ung-ying brachte jetzt große Teile der gesamten Provinz — bis etwa 200 km ostwärts von Urumtschi — unter seine Kontrolle. Die Dunganen im Norden waren bereit, mit Ma gemeinsam auf Urumtschi zu marschieren. Und auch die übrigen muslimischen Führer Sinkiangs bekannten sich entweder offen zu Ma oder unterhielten Geheimverbindungen zu ihm. Für Scheng verschärfte sich die Situation noch wesentlich dadurch, daß auch der Kommandant der Garnison Ili, Schang Pei-yuan, revoltierte und gegen Urumtschi marschierte, nachdem er bezeichnenderweise von den Sowjets ausgerüstet worden war.
Scheng sah sich somit — von drei Seiten bedroht — in einer Lage, die ihm als einzigen Ausweg nur noch das Ersuchen um Hilfe an die Sowjetunion ließ. Damit war aber die Situation entstanden, auf welche die Sowjets ganz offensichtlich systematisch hingearbeitet hatten, um an das von ihnen erstrebte Ziel zu gelangen: die faktische politische und wirtschaftliche Integration Sinkiangs. Der Ablauf der weiteren Entwicklung vollzog sich nun gewissermaßen planmäßig: Im Dezember 1933 fanden zunächst umfangreiche Geheimverhandlungen statt, bei denen die Sowjetunion durch General Pogodin vertreten wurde
Unmittelbar im Anschluß an diese Geheimverhandlungen begann die Rote Armee mit der Liquidierung des Aufstandes: Anfang 1934 wurden etwa 7 000 Mann, mit Panzern und Artillerie ausgerüstet
Sven Hedin hat in seinem Buch „Die Flucht des großen Pferdes" aus dem unmittelbaren Erleben heraus anschaulich über die Legendenbildung berichtet, welche die Person dieses muslimischen Führers zu einer dem „verborgenen Mahdi" ähnlichen Figur erhob
Die wirtschaftliche Nutzung Sinkiangs war von einer umfangreichen „antiimperialistischen" Kampagne begleitet, durch die die indischen und britischen Händler zunächst unter ständigem Druck gehalten und dann 1939 sogar dazu gezwungen wurden, unter Zurücklassung all ihrer Warenbestände das Land zu verlassen. Dieser Aktion schloß sich ein Boykottfeldzug gegen das britische Generalkonsulat in Kaschgar an
Typisch für die sowjetische Politik in Sinkiang in der ersten Phase der Regierung Scheng Schi-ts’ais waren ferner die 1933/34 geführten Verhandlungen, die zur Vergabe eines sowjetischen Kredits in Höhe von insgesamt 5 Millionen Goldrubel führten; die Rückzahlung sollte durch Viehlieferungen erfolgen
Bis Ende 1937 scheinen die Sowjets eine nahezu vollständige wirtschaftliche Bindung Sinkiangs an die Sowjetunion erreicht zu haben. Dafür sprechen zumindest alle Maßnahmen, die jetzt von der Provinzialregierung ergriffen wurden: Scheng verkündete in diesem Jahr den für den Zeitraum 1938 bis 1940 angesetzten ersten Dreijahresplan für die wirtschaftliche Entwicklung nach dem sowjetischen Planvorbild, und er definierte bereits 1936 die acht Punkte seines Regierungsprogramms von 1933 ganz im Sinne dieser Bindung. Als dessen Grundlage bezeichnete er den „Antiimperialismus", worunter er den Kampf gegen die Japaner und die Engländer verstand, und die „Freundschaft zum sowjetischen Brudervolk", also die politische und wirtschaftliche Orientierung auf die Sowjetunion, nicht aber auf die chinesische Zentralregierung. In den Jahren zwischen 1940 und 1943 konnten die Sowjets ihre, wie sich jetzt zeigen sollte, noch sehr viel weiter gehenden Pläne auf der bis 1937 bereits geschaffenen Grundlage offen und ohne besondere Rücksichtnahme auf die Zentralregierung verfolgen. Die Voraussetzungen dafür ergaben sich vor allem aus dem Überfall Japans am 7. Juli 1937 auf China. Durch ihn in eine hart bedrängte Lage gebracht, sah sich die chinesische Zentralregierung bereits am 21. August 1937 zum Abschluß eines Nichtangriffspaktes mit der Sowjetunion gezwungen
Auch für die Sowjetunion ergab sich daraus eine völlig neue Situation, und es ist durchaus vorstellbar, daß ihr zumindest hinsichtlich der Pläne für Sinkiang der Überfall Japans aut China nicht ungelegen kam. Der entscheidende „Vorstoß" nach Sinkiang konnte außerdem unter einer anderen günstigen Voraussetzung insofern geplant werden, als nämlich der im August 1939 mit dem Deutschen Reich abgeschlossene Pakt ihr den Rücken in Europa politisch, wirtschaftlich und auch militärisch freihielt. In diesem Zusammenhang muß schließlich auch die Tatsache festgehalten werden, daß Scheng Schi-ts’ai im Jahre 1938 bei einem Besuch in der Sowjetunion und im Anschluß an ein persönliches Gespräch mit Stalin der Kommunistischen Partei der Sowjetunion beigetreten ist
Für die weitere Entwicklung in Sinkiang sollte dieser Akt zentrale Bedeutung bekommen. Ohne diese Voraussetzungen wäre jedenfalls der Abschluß des am 26. November 1940 unterzeichneten „Abkommens" zwischen Scheng Schi-ts’ai als „Vertreter der Regierung von Sinkiang" sowie Karpov und Bakulin als „Vertreter der Regierung der UdSSR" kaum vorstellbar gewesen. Die wichtigsten Bestimmungen dieses Vertrages — der Text ist bezeichnenderweise erst 1950 bekanntgeworden
Wie schon der Artikel 1 des zitierten Textes zeigt, räumte der Vertrag der Sowjetunion praktisch jede Möglichkeit zur Ausbeutung aller Bodenvorkommen in Sinkiang ein. Uber das volle Ausmaß der Inanspruchnahme dieser Rechte ist bisher nur wenig bekanntgeworden. Nach Feststellungen der chinesischen Zentralregierung haben sich die Untersuchungen der sowjetischen Experten auch auf die großen Wolfram-Lager im südlichen Altai-Vorland konzentriert. Unter dem Einsatz von 60 Ingenieuren und Technikern sowie 3 000 zwangsverpflichteten Arbeitern sollen von hier ohne Wissen und Erlaubnis der chinesischen Regierung allein in der Zeit von April 1941 bis April 1943 mehr als 150 Tonnen Wolfram abtransportiert worden sein
Der Höhepunkt des sowjetischen Drucks auf die Provinzialregierung war mit dem Vertrag vom 26. November 1940 aber noch keineswegs erneicht. Im Juli 1942 legte der stellvertretende Außenkommissar der Sowjetunion, Dekanossov, bei einem Besuch in Urumtschi dem Gouverneur Scheng vielmehr eine Reihe von weiteren Forderungen vor, die sich vor allem auf die Erteilung einer umfassenden Erdöl-konzession bezogen. Der von sowjetischer Seite gefertigte Entwurf umfaßte insgesamt 18 Artikel. Er enthielt im wesentlichen Bestimmungen darüber, daß die Ölfelder einer gemischten Gesellschaft — der „SinkiangSowjetischen Ölgesellschaft" — als Eigentum übergeben werden sollten, sowie Regelungen über die Finanzierungs-und Verwaltungsfragen
Bestärkt durch die sich zunehmend verschlechternde Situation der Sowjetunion in Europa infolge der ungünstigen Entwicklung des Krieges gegen Deutschland entzog sich Scheng Schi-ts'ai der Kontrolle der Sowjets. Mit dem schon mehrfach zitierten Brief vom 7. Juli 1942 an Chiang Kai-shek suchte er bei der chinesischen Zentralregierung in Tschungking Rückhalt. Bereits zehn Tage später teilte er dem damaligen Außenkommissar in einem Brief mit
Scheng ging noch einen erheblichen Schritt weiter: Er kündigte das Abkommen vom 26. November 1940 und verlangte den sofortigen Abzug der sowjetischen Techniker aus Sinkiang. Außerdem ließ er eine ganze Reihe von kommunistischen und linksorientierten Beamten seines eigenen Verwaltungsapparates verhaften. Diese Ereignisse ließen der Sowjetunion kaum eine andere Wahl, als den Rückzug aus Sinkiang anzutreten. Am 10. April 1943 teilte der sowjetische Generalkonsul in Urumtschi Scheng mit, daß die Arbeiten an den Zinngruben eingestellt, das technische Personal abgezogen und die installierten Maschinen demontiert werden sollten. Gleichzeitig brach Panjuskin die Verhandlungen in Tschungking über die Erteilung von Erdölkonzessionen ab und kündigte den Abbau aller Installationen in Tu-Schantse an — einschließlich der Bohrtürme und der Raffinerieanlagen. Er teilte ferner mit, daß die Handelsgesellschaft „Sovsintorg" ihre Tätigkeit einstellen, die sowjetischen Berater abziehen und auch das in Hami stationierte sowjetische Regiment in die Äußere Mongolei verlegt werden würde.
In der letzten Phase des sowjetischen Rückzuges aus Sinkiang
Ob die erneute Aktivierung der sowjetischen Sinkiang-Politik auch mit diesen Vorgängen innerhalb der Sowjetunion in Beziehung zu bringen ist, läßt sich heute nicht mehr oder vielleicht erst dann klären, wenn entsprechendes Archivmaterial ausgewertet werden kann. Die Möglichkeit eines solchen Zusammenhangs darf jedoch nicht ausgeschlossen werden: Bereits im Februar 1944 begann mit der Rebellion der Kasachen-Stämme unter ihrem Führer Usman Batur die letzte große Aufstandsbewegung der Muslime in Sinkiang vor der Machtergreifung Mao Tse-tungs (1. Oktober 1949). Sie v/ar durch die gleichen Merkmale geprägt, die bis dahin immer Ausgangspunkt und Kern der Muslimaufstände in Zentralasien gewesen waren, nämlich durch das Streben nach einer möglichst weitgehenden Autonomie zwischen den beiden Großmächten in West und Ost. Aufstandsbewegungen in Sinkiang haben sich — wie gezeigt wurde — immer dann geradezu von selbst entzündet, wenn entweder die chinesische Zentralregierung ihre Souveränität mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln praktiziert hat oder aber wenn durch die politischen und wirtschaftlichen Interessen Rußlands bzw.der Sowjetunion eine zu starke Bindung an die Politik Moskaus befürchtet werden mußte. Insofern befand sich Sinkiang eigentlich permanent in der Gefahr, Spielball im Konflikt der Macht-interessen beider Länder zu sein.
Auch in der Aufstandsbewegung Anfang 1944 spiegelt sich dieses Spannungsverhältnis deutlich wider. Sie wurde ausgelöst durch die Un-* Zufriedenheit der muslimischen Bevölkerung mit der Politik der chinesischen Zentralregierung und bot damit indirekt auch der Sowjetunion einen Ansatzpunkt zur erneuten Beeinflussung der weiteren Entwicklung Sinkiangs. Die rebellierenden Kasachen-Stämme unter Usman Batur waren mit Waffen und Munition ausgerüstet, die von der Sowjetunion geliefert worden waren. Sie wurden unterstützt von mongolischen Truppen unter Führung von sowjetischen Offizieren und durch die sowjetische Luftwaffe, die von der Äußeren Mongolei aus mehrere schwere Bombenangriffe gegen die chinesischen Regierungstruppen flogen. Ohne diese Hilfeleistung wäre die völlige Vernichtung von drei chinesischen Regimentern durch Usman Batur und seine kasachischen Truppen kaum denkbar gewesen.
Die Sowjetunion hat aus ihrem Eingreifen zugunsten Usman Baturs auch keinen Hehl gemacht. Sie rechtfertigte es, indem sie die in Sinkiang stationierten chinesischen Truppen beschuldigte, die territoriale Integrität der Äußeren Mongolei verletzt zu haben
Der Zeitpunkt der erneuten Intervention in Sinkiang war von der Sowjetregierung außerordentlich geschickt gewählt worden: In den USA hatte die „Russophilie" in dieser Zeit ihren Höhepunkt erreicht. Für Roosevelt und seine Regierung hatte der Krieg in Europa und die zu seiner Beendigung unabdingbare Kooperation mit der Sowjetunion absoluten Vorrang. Deshalb unternahm er auch jeden Versuch, den Ausbruch von Konflikten unter seinen Verbündeten — in diesem Fall zwischen China und der Sowjetunion — mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu verhindern. Diesem Zweck diente auch die Reise, welche in seinem Auftrag der amerikanische Vizepräsident, Henry A. Wallace, vom 20. Mai bis 10. Juli 1944 unternahm; sie führte ihn zunächst in die Äußere Mongolei, dann nach sowjetisch Zentralasien, von hier auch nach Urumtschi, wo er mit Scheng Schi-ts’ai konferierte
Daß die Abberufung Scheng Schi-ts’ais im Juli 1944 nach Tschungking, wo er ein Ministerium übernahm, weitgehend auf den Einfluß von Wallace zurückzuführen ist, dürfte kaum zweifelhaft sein. Weder der Bericht von Wallace noch die ausführliche Darstellung des sowjetisch-chinesischen Verhältnisses von Chiang Kai-shek
Die Abberufung Schengs führte jedoch nicht zu der offensichtlich von den Amerikanern erwarteten Beruhigung in Sinkiang, sondern schuf vielmehr die Voraussetzungen für eine noch unbehindertere Entfaltung der sowjetischen Aktivität in Zentralasien. Bereits am 7. November 1944 brach eine neue Rebellion unter der muslimischen Bevölkerung in Kuldscha, also dicht an der sowjetischen Grenze, aus. Sie entwickelte sich wiederum sehr schnell zu einer Aufstandsbewegung, der sich auch die muslimischen Uiguren anschlossen und die starken Zuzug von jenseits der Grenze aus der Sowjetunion erhielt. Die Soldaten der chinesischen Garnison wurden zum Rückzug gezwungen; die Truppen der muslimischen Aufständischen konnten erst rund 100 km vor Urumtschi aufgehalten werden. Damit war die Kontrolle der Sowjetunion über die mit reichen Bodenschätzen ausgestatteten Gebiete Ili, Tatschen und Altai wiederhergestellt. In Urumtschi wurde unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der nichtchinesischen Bevölkerung die „Republik von Ostturkestan" proklamiert. An der Spitze ihrer Regierung stand mit Achmed Dschan — sein russischer Name war Kassymov —, ein sowjetischer Staatsbürger
Die Versicherung der sowjetischen Regierung in dem mit China am 14. August 1945 geschlossenen Freundschafts-und Bündnisvertrag
Die unmittelbare Folge des Bruchs von Usman Batur und seiner Kasachen mit der sowjetisch gesteuerten Politik war die sogenannte „Peitachan-Affäre“, die hier wenigstens erwähnt werden muß: Als Usman Batur sich zum Rückzug nach Peitachan (Baitik Bogda) gezwungen sah, wurden Truppen der Äußeren Mongolei zu seiner Verfolgung eingesetzt. Ihre Unterstützung übernahmen Formationen der mongolischen Luftwaffe, die am 5. Juni 1947 die chinesischen Positionen in Peitachan mit Bomben belegten. Ein Protest des chinesischen Außenministeriums gegen diese „Peitachan-Affäre" wurde von der Sowjetunion scharf als nicht den Tatsachen entsprechend und als „eine provokatorische Entstellung" zurückgewiesen. Wenn dennoch, trotz dieses Dementis, die Kämpfe fortgesetzt wurden, so dürfte dafür die Erklärung vor allem darin zu suchen sein, daß dieses rund 200 km von der Grenze der Äußeren Mongolei entfernt liegende Gebiet reiche Uranium-Vorkommen aufwies.
Schließlich sind hier noch eine Anzahl überraschender Luftangriffe auf chinesische Sicherheitsposten und Dörfer im chinesischen Pamirgebiet und der Südwestgrenze von Sinkiang entlang zu erwähnen. Sie wurden von Flugzeugen ausgeführt, die von dem sowjetischen Militärflugplatz Qizil Rabat in Tadschikistan starteten
Nach dem Kriege war die chinesische Zentralregierung offensichtlich nicht mehr in der Lage, die Entwicklung in Sinkiang ernsthaft zu beeinflussen. Die ganz auf sich gestellte Provinzialregierung sah sich deshalb auch gezwungen, Verhandlungen mit der in Kuldscha gebildeten Regierung der „Republik von Ostturkestan" aufzunehmen. Sie führten im Sommer 1946 dazu, daß die Führer der Kuldscha-Gruppe, nachdem sie liberale Verwaltungsreformen durchsetzen konnten, in die Provinzialregierung von Urumtschi eintraten, deren Vorsitz zunächst der chinesische General Tschang Tschi-tschung übernahm. Er wurde später durch den Uiguren Masud Sabri, den ersten Nichtchinesen seit Yakub Bek, und dann schließlich im Dezember 1948 durch Burchan, einen weiteren Nichtchinesen, ersetzt, blieb aber dennoch Mitglied der Provinzialregierung von Urumtschi.
Wie ohnmächtig die chinesische Zentralregierung dieser Entwicklung gegenüberstand, zeigt, daß die der sowjetischen Regierung am 4. November 1946 unterbreiteten Vorschläge für eine Regelung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Sinkiang und der Sowjetunion bis zum Ende Januar 1949 überhaupt nicht beantwortet wurden. Auch der am 24. Januar 1949 vom sowjetischen Generalkonsul in Kaschgar der Provinzialregierung in Urumtschi unter Mißachtung der Zuständigkeit der Zentralregierung vorgelegte Entwurf für ein dreijähriges Handelsabkommen charakterisiert das damals immer stärkere Schwinden der Macht der Kuomintang. Darin verlangte die Sowjetunion das Vorrecht des unbeschränkten Ex-und Imports von und nach Sinkiang ohne entsprechende Gegenleistungen. In ihm wurde ferner der Abschluß eines neuen, auf fünfzig Jahre befristeten Vertrages über die Bildung gemischter chinesisch-sowjetischer Gesellschaften zur Erforschung und Ausbeutung der Mineral-und Erdölvorkommen Sinkiangs angeregt. Die Sowjetunion verlangte die Beteiligung an der Ausbeutung nicht nur der bekannten, sondern auch der damals noch unbekannten Rohstoffvorkommen. Schließlich sah der Vertragsentwurf noch vor, daß die Generaldirektoren sämtlicher zu bildenden gemischten Gesellschaften von der sowjetischen Regierung benannt werden sollten
Wie schon die Tatsache zeigt, daß die chinesische Zentralregierung der Sowjetunion am 4. November 1946 Wirtschaftsverhandlungen angeboten hatte, war zwar auch China durch-aus an der Erweiterung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Sinkiang und dem westlichen Nachbarn ernsthaft interessiert, wollte diese Ausweitung aber nicht mit der Abtretung der Hälfte aller Erdöl-und Mineralvorkommen von Sinkiang „bezahlen". Die Verhandlungen über den sowjetischen Entwurf in den Monaten März bis August 1949 verliefen deshalb auch sehr zähflüssig. Sie wurden dann schließlich beendet, nachdem im September 1949 Tschang Tschi-tschung und Vertreter der Kuldscha-Gruppe an der von der Kommunistischen Partei Chinas nach Peking einberufenen Versammlung des politischen Volksrates teilgenommen hatten und am 25. und 26. September 1949 zunächst die militärische und dann auch die politische Führung Sinkiangs die Beziehungen zur chinesischen Zentralregierung abbrach und formell in das kommunistische Lager übertrat.
IV. Sinkiang und der sowjetisch-chinesische Konflikt
1. Die Periode des Übergangs bis 1955
Am 17. Dezember 1949 wurde in Urumtschi eine provisorische Volksvertretung eingesetzt. Für die Konfrontation der Sowjetunion und Chinas in Zentralasien hatte die Machtübernahme Mao Tse-tungs in China weitreichende Konsequenzen, deren volle Bedeutung jedoch erst in der jüngsten Vergangenheit hervortraten. a) Das sowjetisch-chinesische Vertragssystem von 1950
Zunächst mußte der Eindruck entstehen, daß der Sowjetunion ohne große Schwierigkeiten von der Kommunistischen Partei Chinas zugebilligt wurde, was sie der Nationalregierung in den zähen Verhandlungen seit Ende Januar 1949 nicht abringen konnte. Nach dem zweimonatigen Aufenthalt von Mao Tse-tung in Moskau wurde zwischen beiden Ländern ein Freundschafts-, Bündnis-und Beistandspakt abgeschlossen
Am 27. März 1950 wurde in Moskau ein Abkommen mit dreißigjähriger Laufzeit über die Bildung von zwei gemischten sowjetisch-chinesischen Gesellschaften für die Erdölgewinnung und den Abbau von Edel-und Buntmetallen abgeschlossen
Das ganze Ausmaß der Verpflichtungen und Bindungen, zu denen China in diesen Verhandlungen in bezug auf Sinkiang gezwungen wurde, ist bis heute nicht bekanntgeworden. Es muß aber davon ausgegangen werden, daß es weit über das am 27. März 1950 geschlossene Abkommen hinausgegangen ist. So soll etwa — einer indischen Quelle zufolge
Die Erklärung für dieses, einem weitgehenden Souveränitätsverzicht in Sinkiang gleichkommenden „Entgegenkommen" Chinas, das im übrigen auch eine umfangreiche Säuberung Sinkiangs von führenden Repräsentanten der nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen er-möglichte läßt sich nur darin finden, daß für die Kommunistische Partei Chinas unmittelbar nach Übernahme der Regierungsgewalt die Stabilisierung ihrer Macht absoluten Vorrang hatte. Insofern dürfe die neue kommunistische Regierung in der „Sowjetisierung" Sinkiangs angesichts der vor ihr liegenden Aufgaben zunächst wohl das kleinere Übel gesehen haben. Daß für die Regierung in Peking damit kein endgültiger Souveränitätsverzicht im chinesischen Teil Zentralasiens verbunden war, haben nicht erst die wortstarken Auseinandersetzungen zwischen beiden Ländern in der jüngsten Vergangenheit, sondern schon die Maßnahmen zur Beruhigung und Stabilisierung der politischen Situation gezeigt, die sie — ungeachtet der sowjetischen ökonomischen Durchdringung Sinkiangs — schon in dieser Zeit durchgeführt hat: Bereits unmittelbar nach dem 1. Oktober 1949 wurde der nationale Sonderstatus Sinkiangs innerhalb Chinas anerkannt
Diese Aufgliederung entsprach den ethnischen Gegebenheiten des Landes. Sie trug — beabsichtigt oder unbeabsichtigt — auch den Unterschieden und der Differenzierung der sich jeweils entweder gegen Rußland oder China richtenden Autonomiebestrebungen der muslimischen Bevölkerung Sinkiangs Rechnung. Diese Maßnahme, die insgesamt gesehen die sowjetische Politik vor größere und schwierigere Aufgaben stellte, schuf die Voraussetzungen für eine erneute — und nun endgültige — Sinisierung, das heißt für die Wiederherstellung bzw. Stärkung der Autorität der chinesischen Zentralregierung in Sinkiang. Diese Politik führte am 1. Oktober 1955 schließlich zur Zusammenfassung des chinesischen Zentralasiens mit der Bezeichnung „Uigurisches Autonomes Gebiet Sinkiang"; zum Gouverneur wurde der stellvertretende Gouverneur Sais ad-Din (Saifuddin) ernannt. b) Die chinesische Islam-Politik der „ersten Stunde"
Ein weiteres Mittel zur festen Bindung Sinkiangs an China und damit zur Begegnung der Sowjetisierung Ostturkestans ist in der relativ milden Islam-Politik der Jahre bis Mitte 1955 zu erkennen
Wie in der Sowjetunion wurden zunächst auch in China Funktionäre der Kommunistischen Partei in die Minderheitsgebiete geschickt, um die Muslime für eine aktive Mitarbeit zu gewinnen. Durch Überredung und mit psychologischen Mitteln sollten sie geschult und gewissermaßen „transformiert" werden. Ähnlich wie in der Sowjetunion wurde die Islam-Politik auch in China durch die Umsiedlung von Han-Chinesen in die durch muslimische Nomaden nur sehr spärlich besiedelten Gebiete Sinkiangs unterstützt. Den Vorwand für dieses Vorgehen lieferte die Tatsache, daß die reichen Rohstoffvorkommen Sinkiangs zwar bekannt waren, aber nur von chinesischen Experten erschlossen werden konnten. Parallelitäten zur sowjetischen Religionspolitik der „ersten Stunde" in Zentralasien lassen sich in China auch im Zusammenhang mit der Landreform feststellen. Durch sie wurden die Religionsgemeinschaften unmittelbar getroffen, da sie mehr oder weniger große Ländereien besaßen. Bei der Enteignung des Landbesitzes wurden jedoch die Muslime im Unterschied zu den anderen Religionsgemeinschaften insofern bevorzugt, als ihnen das den Moscheen gehörende Land im allgemeinen zur Bewirtschaftung überlassen blieb.
Dafür daß solche Maßnahmen mit religiöser Toleranz nur wenig zu tun hatten, lassen sich eine ganze Reihe von Beispielen anführen: Bereits Anfang 1952 wurde in Shanghai eine neue chinesische Koranübersetzung unter dem Titel „Umriß und besondere Kennzeichen des Korans" herausgegeben, in der nur diejenigen Suren und Verse Berücksichtigung fanden, die geeignet waren, die Richtigkeit der kommunistischen Lehre zu beweisen. Mit dieser Über-setzung wurde gewissermaßen der Versuch unternommen, die Lehre des Islams dem Schema des marxistisch-leninistischen Dogmas anzupassen. Diese Maßnahme wurde ferner durch die Einrichtung besonderer islamischer Lehrinstitute unterstützt. In ihnen wurden sowohl die Geistlichen wie auch die Kinder auf der Grundlage der neuen Koran-Übersetzung ausgebildet und unterrichtet, einer Islam-Version also, die den Zielsetzungen und Bedürfnissen des kommunistischen Staates angepaßt war.
Schließlich muß hier auch noch die Gründung zweier zentraler islamischer Organisationen erwähnt werden, der „Chinesischen Islamischen Gesellschaft" und des „Flui-Kulturvereins" — ein Unternehmen, durch das es der chinesischen Partei-und Staatsführung möglich war, das religiöse, soziale, ökonomische und politische Leben der islamischen Minderheiten Chinas im Sinne ihrer innenpolitischen Zielsetzungen zu beeinflussen, zumindest aber unter ständiger Kontrolle zu halten. Darüber hinaus wurden diese Organisationen vor allem zur Herstellung und Pflege der Verbindungen mit den islamischen Ländern eingesetzt, ein außerordentlich wirksamer Schachzug, auf den nicht zuletzt die Erfolge der chinesischen Außenpolitik im Vorderen Orient, in Afrika und in Südostasien bis 1963/64 zurückgeführt werden müssen.
Die relativ entgegenkommende chinesische Islam-Politik stand keineswegs im Widerspruch zur offiziellen Religionsauffassung der marxistisch-leninistischen Doktrin, deren letztes Ziel natürlich die Vernichtung der Religion und des religiösen Bewußtseins bei der Bevölkerung war und ist. Aber in ihr wird dennoch eine — wenn auch zeitlich begrenzte — wesentlich mildere Behandlung des Islams etwa dem Christentum gegenüber erkennbar; dies gilt im übrigen nicht nur für den Islam, sondern auch für den Buddhismus. 2. Rückzug der Sowjetunion und Isolierung Sinkiangs Alle diese Maßnahmen der neuen chinesischen Regierung bis 1955 waren durchaus dazu angetan, die Sowjetisierung des Landes in der Zeit der unvermeidbaren Prädominanz der Sowjetunion in Sinkiang einzuschränken, wenn nicht ihr sogar entgegenzuwirken. Sie waren aber keineswegs das Zeichen für ein prinzipiell tolerantes Verhältnis zur Religion und insbesondere zum Islam oder sogar für die Bereitschaft, der muslimischen Bevölkerung eine echte Autonomie innerhalb der Volksrepublik China zu gewähren. Dies zeigte sich bereits deutlich 1955 nach dem Rückzug der Sowjets aus Sinkiang
a) Neubelebung des organisierten Widerstandes Die Beobachtung der inneren Entwicklung Sinkiangs durch Außenstehende wurde dadurch wesentlich erschwert, als von nun an der Informationsfluß durch Regierung und Partei der Volksrepublik China ganz nach Ermessen gestaltet werden konnte. Uber die Vorgänge in Sinkiang läßt sich deshalb für die Periode von 1955 bis etwa 1963 nur ein höchst lückenhaftes Bild gewinnen.
Aus den spärlichen Nachrichten, die in dieser Zeit nach außen gedrungen sind, kann jedoch geschlossen werden, daß der chinesischen Politik seit 1955 nicht nur wachsender Widerstand entgegengesetzt, sondern daß dieser auch in zunehmendem Maße organisiert geleistet wurde. So stellte z. B. Sais ad-Din am 26. Juli 1955 in einer Rede vor dem Nationalen Volkskongreß fest
Parallel dazu sollten zwangsläufig nach und nach auch die örtlichen Lehrer durch chinesische ersetzt werden. Diese Maßnahmen führten zu Unruhen unter den Schülern und Studenten, zu . Streikversuchen und Protestversammlungen. Die Reaktion der chinesischen Behörden war zuerst der Entzug der Lebensmittelkarten und später — als diese Maßnahme ohne Wirkung geblieben war — der Verweis vieler Lehrer und Studenten von den Hochschulen und ihre Verhaftung.
Auch über das Ausmaß der Unruhe in Sinkiang gibt es nur wenige Angaben. Nach dem Bericht eines uigurischen Flüchtlings aus Hong Kong
ausgerufen hätten. Bei allen diesen Berichten und Meldungen handelt es sich nur um höchst unvollständige Angaben. Eines scheint danach aber ziemlich sicher zu sein, daß nämlich das Zentrum der Aufstandsbewegung wiederum Khotan war, wo Militärdepots in Brand gesetzt und Nachrichtenverbindungen gestört wurden. Nach dem zitierten Bericht des nach Hong Kong entkommenen uigurischen Flüchtlings haben sich die Sowjets nach den Jahren der Zurückhaltung die Unruhen des Jahres 1958 in Sinkiang offenbar zum ersten Mal wieder zunutze gemacht. Darin wird festgestellt, daß von den 60 000 am Aufstand 1958 in Ostturkestan Beteiligten etwa die Hälfte von sowjetischen Instrukteuren ausgebildet und mit Waffen ausgerüstet waren. Ferner wird in diesem Bericht davon gesprochen, daß es den Rebellen gelungen war, sich für mehr als zwei Monate in den an Kasachstan angrenzenden Bergen festzusetzen und daß die Chinesen ihren Widerstand nur unter großen militärischen Anstrengungen brechen konnten. Der in einer französischen Tageszeitung veröffentlichte Erfahrungsbericht eines anderen, nach Pakistan geflohenen Uiguren
Auch in den folgenden Jahren konnte die Rebellion in den an die Sowjetunion angrenzenden Gebieten Sinkiangs von den Chinesen nicht niedergeschlagen werden. Sie hat im Gegenteil sogar an Intensität dadurch wesentlich zugenommen, daß sich die aufständischen Muslime immer offener um die direkte Unterstützung der Sowjetunion bei der Durchsetzung ihrer Forderungen gegen die Pekinger Regierung bemühten. Dies trat vor allem im Jahre 1962 deutlich hervor, das ein Höhepunkt der Aufstandsbewegung gewesen zu sein scheint. Im Juli dieses Jahres, so wird berichtet
Die Ordnung in Kuldscha konnte zwar im September 1962 durch geringfügige Erhöhung der Lebensmittelrationen zunächst wiederhergestellt werden. Dadurch war aber nicht zu verhindern, daß die Unruhe sich weiter ausbreitete: Auch in der Folgezeit berichtete vor allem die indische Presse
Die Dokumente des Jahres 1963, die zugleich den offenen Ausbruch des Konfliktes und den schon zu dieser Zeit nahezu unüberbrückbaren Abgrund zwischen Moskau und Peking bezeugen, unterstreichen jedoch die Glaubwürdigkeit der den hier zitierten Berichten entnommen Einzelangaben weitgehend: In einem redaktionellen Artikel, den die chinesischen Zeitungen Hung ch'i und Jen Min Jih Pao am 6. September 1963
„Vom April bis Mai 1962 provozierten die Führer der KPdSU . . . einige tausend chinesische Bürger, die mit Unterstützung der sowjetischen Regierung und ihrer in Sinkiang akkreditierten offiziellen Repräsentanten im Ili-Distrikt eine subversive Tätigkeit großen Stils entfaltet hatten, zur Flucht in die Sowjetunion
Trotz drastischer Maßnahmen konnte die chinesische Regierung auch in den folgenden Jahren die unruhigen Verhältnisse in Sinkiang nicht unter Kontrolle bringen. Das einflußreiche türkische Organ „Yeni Istanbul" berichtete noch Anfang 1966 über die Entwicklung in Sinkiang
„Kürzlich wurden zusätzlich 60 000 chinesische Soldaten an die sowjetisch-chinesische Grenze in Ostturkestan verlegt. Diese Maßnahme zeigt, daß die chinesische Verwaltung in Ostturkestan hinsichtlich der Drosselung der Fluchtbewegung der Kasachen und der Uiguren in die Sowjetunion noch immer nicht erfolgreich gewesen ist ... Aber es ist nicht nur das Flüchtlingsproblem, das die Führer in Peking stört. Tatsache ist, daß seit einigen Jahren bewaffnete Zusammenstöße zwischen Kasachen, Uiguren und anderen türkischen Völkern auf der einen Seite und chinesischen Besatzungstruppen auf der anderen unvermindert hier andauern. Die Partisanen-Bewegung ostturkestanischer Patrioten beunruhigt weiterhin nicht etwa nur das bergige Tarbagatai-Gebiet, sondern auch das Ili-Tal und die Gebiete um Kaschgar und Aq Su (Wen Su). Nach den meist sehr zurückhaltenden Schätzungen haben noch kürzlich etwa 40 000 gut bewaff-nete uigurische und kasachische Partisanen auf dem Territorium Ost-Turkestans operiert. Sie überfielen und zerstörten chinesische Garnisonen, sprengten Brücken und Bahnlinien, ließen Truppentransportzüge entgleisen usw. Die chinesische Truppenführung ist gezwungen, hier allein zum Schutz der Verkehrsverbindungen ungefähr 100 000 Soldaten einzusetzen."
Zur Unterstützung dieses Kampfes wurde in Istanbul ein „Nationales Zentrum für die Befreiung Ostturkestans" gegründet, das verschiedentlich an die Weltöffentlichkeit appelliert hat, die Rechte der Völker Östturkestans zu unterstützen und sie vor der völligen Liquidation durch die Chinesen zu schützen. In diesem Zusammenhang berichtet eine andere türkische Zeitung, die „Yeni Gazeta", im Februar 1966 über ein Interview, das der Vorsitzende des „Nationalen Zentrums für die Befreiung Ostturkestans", Isa Yusuf Alptekin, einer Gruppe von amerikanischen Journalisten gab
In Berichten, die Alptekin von in der Sowjetunion lebenden türkischen Flüchtlingen aus Sinkiang erhalten haben will
In dem zitierten Bericht der „Neuen Zürcher Zeitung" wird die Existenz geheimer Ausbildungsstätten bestätigt, in denen Flüchtlinge aus Sinkiang nicht nur in der Partisanen-Kriegführung, sondern auch in Verwaltungsfragen ausgebildet werden. Außerdem wird darin betont, daß die in diesen Lagern ausgebildeten hohen Partisanenfunktionäre laufend nach Sinkiang eingeschleust werden. Die Zahl der seit 1962 in die Sowjetunion geflohenen Türken wird im übrigen — unter ausdrücklichem Hinweis darauf, daß früher der Flüchtlingsstrom umgekehrt geflossen sei — mit ungefähr 300 000 angegeben. 3. Kulturrevolution und Religionsverfolgung Die Berichte über das unmittelbare Interesse der Sowjetunion an der neuesten Entwicklung in Sinkiang und über die moralische oder sogar materielle Unterstützung des Widerstandes der Bevölkerung gegen die chinesische Staatsgewalt durch sie werden auch durch die sowjetische Presse, die seit 1963 mit zunehmender Intensität über die Vorgänge in Sinkiang berichtet, bestätigt — wenn zwar nicht in allen erwähnten Einzelheiten, so doch in der Grundtendenz, überwiegend stammt das Material auch für diese Berichte von Flüchtlingen aus Sinkiang. Noch vor wenigen Jahren wäre das Erscheinen solcher gegen das chinesische Vorgehen in Sinkiang gerichteter Darstellungen in sowjetischen Publikationsorganen völlig unvorstellbar gewesen.
Die Beispiele, die hier zitiert werden, stammen nicht nur oder in erster Linie aus der zentralasiatischen Presse der Sowjetunion, sondern sie sind vor allem in zentralen Organen veröffentlicht worden. Im September 1963 berichtete z. B.der kasachische Schriftsteller Buchar Tyskanbaev in der „Literaturnaja gazeta" unter der Überschrift „Unverborgener Chauvinismus" ausführlich über die Erfahrungen in einem sogenannten „Umerziehungslager"
Alimzanov gibt Augenzeugenberichte wieder, die besonders das Vorgehen der sogenannten „Hungweipingler"
Alle von Alimzanov zitierten Flüchtlingsberichte beklagen eindringlich die „zwangsweise Assimilierung" der Bevölkerung Ostturkestans. b) Die Sowjetunion als Anwalt der Religionsfreiheit in Sinkiang Die Härte und Entschiedenheit, mit der die Differenzen zwischen den beiden Ländern seit Beginn der Kulturrevolution geführt werden, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß die sowjetischen Publikationsorgane der Bekämpfung des Islams durch China einen ungewöhnlich breiten Raum widmen. In dem bereits mehrfach zitierten Artikel von Alimzanov wird nachdrücklich herausgestellt, daß der Kampf gegen den Islam ein wesentlicher Bestandteil der Kulturrevolution in Sinkiang ist: „Am 14. und 15. Dezember 1966 kamen 300 . Hungweipingler'aus Peking nach Urumtschi . .. Sie begannen, alle Moscheen abzureißen und führten deren Geistliche, die sie mit Farbe bemalt hatten, durch die Straßen."
Nach einem anderen ausführlichen Bericht der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS bestätigte auch der frühere Chefredakteur der türkischsprachigen Zeitschrift „Die Befreiungsarmee Sinkiang", Sakir Gubarbakiev, daß sich die Maßnahmen der Kommunistischen Partei Chinas in Sinkiang in erster Linie gegen die Muslime richten: „In Kuldscha", stellt er nach seiner Flucht in die Sowjetunion fest
Den Berichten dieser Art in der sowjetischen Presse könnten viele andere hinzugefügt wer-