I. Zur Methode
Kommunikation mit dem Ziel der Verständigung setzt Begriffe voraus, über deren Bedeutung und Implikationen Übereinstimmung besteht. Konsensus über ein System von Begriffen, über Sprache also, ist umfassender Konsensus in dem Maße, in dem Sprache ein umfassendes Bezugssystem des Menschen zur Außenwelt begründet, sie also auch verhaltenssteuernde Funktionen ausübt
Kritik aber als Aufkündigung eines vorhandenen Konsensus führt neue Dimensionen gegebener Begriffe und auch völlig neue Begriffe ein. Sie stellt überkommene Begriffsabgrenzungen in Frage und durchbricht die gewohnte Verbindung von Begriffen: Kritik führt eine „neue" Sprache ein, ja, sie muß dies tun, da sprachimmanent die Kritik nicht hinreichend radikal zu sein vermag. Dies ist besonders bei B. Newspeak, Kunstsprachen wie z.
Kirchenlatein, allen Arten von Parteichinesisch, aber auch Mathematik und Logik-). Wenn Sprache verhaltenssteuernd wirkt, dann kann Kritik die Voraussetzung schaffen, mit der Sprache auch das Verhalten zu ändern: Kritik hat dann verändernden Charakter.
Da aber eine „neue" Sprache, die in ihren Begriffen ohne Verbindung zur alten stünde, nicht kommunizierbar ist, würden sich Kommunikation und Kritik ausschließen, wenn es nicht gelänge, die Begriffe so neu anzusetzen, daß sie die herrschenden Bedeutungen zwar aufgriffen, zugleich aber über sie hinauszugreifen suchten auf neue Bedeutungsinhalte hin, an denen Kritik ihre Maßstäbe gewinnt. Kommunikation braucht konsentierende Begriffe;
Kritik dissentierende, aber mit dem Ziel eines neuen Konsensus.
In diesem Dilemma läuft Kritik dauernd Gefahr, entweder im Vorgegebenen steckenzubleiben und damit nur zum Weiterbestehen des kritisierten (schlechten) Ganzen beizutragen, oder aber unverständlich zu werden in der unvermittelten Gegenüberstellung von Vorbefindlichem und Vorgestelltem
Diese Bedingungen von Kritik muß der methodische Ansatz reflektieren. Die im Thema enthaltenen Begriffe Demokratisierung, Staat und Gesellschaft deuten auf Gegenstände der Sozialwissenschaften hin. Soll an ihnen oder mit ihnen Kritik geübt werden, so sind diese Begriffe selbst zu klären und zu untersuchen auf die ihnen anhaftenden Vorentscheidungen und Implikationen.
Dabei ist Kritik nicht so einseitig zu sehen wie etwa in Poppers Formulierung: „Kontrolle der Vernunft durch die Empirie"; vielmehr scheint das Umgekehrte genauso — und heute drin-gender — zur Kritik zu gehören: Kontrolle der Empirie durch die Vernunft.
Es wird nicht die Triftigkeit empirisch-analytischer Methoden bestritten für das Auffinden von Aussagen, die, weil sie erfolgskontrolliertes Handeln leiten können, „wahr" sind. Es wird nur bestritten, daß dies die ganze Wahrheit sei. Denn nicht alle Theoreme der Sozial-wissenschaften lassen sich „in die formale Sprache eines hypothetisch-deduktiven Zusammenhangs übersetzen; nicht alle sind bruchlos durch empirische Befunde einzulösen — am wenigsten die zentralen"
Nun ist wesentlich, daß gerade in der Politik-und Rechtswissenschaft nicht-deduzierbare Begriffe nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind. So zentrale Begriffe wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Herrschaft, Öffentlichkeit oder gar Menschenwürde sind auf direktem Wege empirisch nicht zu erfassen. Wohl ist etwa Freiheit oder Gleichheit auch realisiert in empirischen Tatbeständen, aber eine Argumentation über den jeweiligen Grad der Verwirklichung von Freiheit — also Aussagen über ein Mehr oder Weniger an Freiheit —, die allein sich auf quantitative Befunde stützt, ist bedeutungslos. Denn quantitative Aussagen über Freiheit oder ähnliche zentrale Begriffe werden erst sinnvoll, wenn die Wertentscheidungen, die das System oder die Hierarchie der einzelnen Werte festlegen, mit in die Argumentation einbezogen werden. So ist die Abgrenzung und Gewichtung von Gleichheit und Freiheit — welche für die Ausprägung eines demokratischen Systems konstitutiv ist — notwendig Grundlage und Bezugspunkt jeder quantitativen Aussage über Gleichheit und Freiheit.
Eine Kritik, die den Grad der Verwirklichung von Freiheit oder Gleichheit oder Menschenwürde meint, ist daher zuerst Kritik der Wert-entscheidungen, die das Verhältnis dieser Werte untereinander, ihre Prioritäten festlegt; dann folgt eine kritische Analyse der praktischen Relevanz dieser Wertentscheidungen. An diesem Abgrenzungsprozeß kann exemplarisch verdeutlicht werden, wie für die Analyse die „normativ-deskriptive Doppelfunktion"
Während nun die Theorie einer „Gleichheit vor dem Gesetz" und einer „unpolitischen Justiz" vergleichbare Urteile in vergleichbaren Fällen erwarten läßt, zeigt die Praxis z. B.der politischen Justiz eklatante Unterschiede der Rechtsprechung
Gerade hier liegt der Kern der „positivistischen Restproblematik bei Popper" (Habermas). Popper sieht zwar, daß es Festsetzungen (Basissätze) sind, „die über das Schicksal der Theorie entscheiden"
Ist das Ziel der Hochschulbildung die Produktion fungibler Technokraten, wie es der Hochschulgesamtplan (Baden-Württemberg) impli-ziert, oder ist das Ziel die Heranbildung mündiger Bürger, die lernen, Wissen als Mittel zu betrachten, nicht aber als Endzweck?
Analoge Fragen für jeden behandelten Bereich zu stellen, schien uns die angemessene methodische Leitidee für unsere Untersuchung zu sein, um bereits durch den methodischen Ansatz emanzipatorisches Erkenntnisinteresse zu realisieren.
Um jedoch die Kritik nachvollziehbar zu machen, haben wir versucht, in einem fortschreitenden methodischen Ansatz zuerst immanent-empirisch zu fragen, was ist und wie das vor-befindliche soziale Ganze der demokratischen Idee angenähert werden kann. Dann erst wurde (in einem dialektisch-hermeneutischen Ansatz) gefragt, wodurch das, was ist, bestimmt und strukturiert ist. Voraussetzung dazu war der Versuch eines Verständnisses des Ganzen, um von daher „die Abhängigkeit der Einzelerscheinungen von der Totalität"
Die Analyse ist weder bloße Handlungsanweisung noch reine Theorie. Sie versucht, das dialektische Verhältnis so zu gewichten, daß „Theorie zur verändernden, praktischen Produktivkraft"
II. Die Fragestellung
Demokratisierung von Staat und Gesellschaft — eine prägnantere Formel für die Gesamtheit der aktuellen Bemühungen um Veränderung läßt sich kaum denken. Wie die meisten prägnanten Formeln ist sie inhaltlich nicht all-gemeingültig festlegbar, sondern dient als Vehikel, als „Sprachhülse"
Zum Beispiel ist eine für die Demokratie so fundamentale Institution wie die Wahl weitgehend manipulierbar durch das Wahlsystem. Nur langsam setzt die Wahlforschung zur Analyse jenes Teilbereichs des demokratischen Regierungsprozesses an, in dem Machtbildung, Machtausübung, Machtkontrolle und Macht-wechsel sich konzentrieren
Das Verständnis der Demokratie als Prozeß ist durchaus modern und im Grunde bereits ein Ergebnis der Demokratisierungsdiskussion
Nur beim traditionellen statischen Demokratiebegriff, der einen gegebenen politischen Zustand für „die Demokratie" hält, ist „Demokratisierung" als transitiver Begriff eigentlich berechtigt und bedeutet hier die Einleitung und Verwirklichung eines Prozesses, welcher Verkrustungen und Regression zu überwinden sucht.
Demokratisieren bedeutet also im politischen Bereich: das Vorantreiben der Entwicklung der Demokratie, um eine diagnostizierte Erstarrung der Demokratie auf einer bestimmten Stufe zu überwinden.
Wie der Begriff der Demokratie jedoch inhaltlich eine Fülle von Deutungen zuläßt, so lassen sich mit der Forderung nach Demokratisierung eine Fülle von Inhalten verbinden. In der Hauptsache kann man drei bestimmte Realisationsbereiche von . Demokratisierung'unterscheiden: Einmal die Forderung nach einer Demokratisierung des theoretischen Modells der parlamentarischen Demokratie des GG (faßbar im Schlagwort des „Antiquierten Grundgesetzes"
Diese Dreiteilung ist nur vorläufiges Gliederungsschema; es bleibt zu untersuchen, wie diese drei Stoßrichtungen der Demokratisierung untereinander Zusammenhängen.
B. Bereiche der Demokratisierung
I. Die Forderung nach Demokratisierung des Demokratiemodells des GG
1. Die Idee der Demokratie Demokratie heißt Herrschaft des Volkes. Dies ist ein Widerspruch in sich selbst, denn über wen sollte das Volk herrschen
Weil die Identität weder herzustellen noch zu wünschen ist, man dagegen den Konflikt gesellschaftlicher Gruppen untereinander und um Herrschaft als Grundmedium des Politischen begreifen muß — ohne in C. Schmitts Freund-Feind-Schema zu verfallen —. folgt aus der Demokratie als Muster sozialer Konfliktregelung die bedingte Herrschaft der Mehrheit der Ak-tivbürgerschaft
Dieses Mißtrauen kam wohl am krassesten zum Ausdruck bei der Schaffung des GG selbst
Dieses Mißtrauen zeigt sich im GG selbst in einer Fülle von institutioneilen Sicherungen gegen eine „allzu demokratische" Verwirklichung des Volkswillens, z. B. im Fehlen von Volksentscheiden
Diese beiden Grundzüge, die liberale Tradition und das Mißtrauen gegenüber dem Volke, kennzeichnen das bundesrepublikanische Modell der Demokratie nur knapp. Sie sind hier jedoch von besonderer Bedeutung, weil gerade sie in der Diskussion um die Demokratisierung des grundgesetzlichen Modells in das Zentrum der Kritik gerückt sind. a) Die liberale Tradition Das Verhaftetsein des GG in der liberalen Tradition
Der Idee der Demokratie wird die Verfassung aber nur dann gerecht, wenn sie die materielle Existenz aller Bürger so weit als gesichert annimmt, daß diese von ihren verbrieften Freiheiten tatsächlich und gleichermaßen Gebrauch machen können
Folgerichtig stellt daher Dürig fest, daß „es eine leere Redensart wäre, dem Menschen die Entfaltungsfreiheit seiner sittlichen Persönlichkeit zu versprechen, ohne ihm gleichzeitig auch die ökonomische Entfaltungsfreiheit zuzusichern"
Zwar sieht auch Herzog „die praktische Bedeutung des Art. 5 (1) S. 1 sowohl für die Persönlichkeitsverwirklichung des einzelnen als auch für die Genese der öffentlichen Meinung wird auf diese Weise in einem empfindlichen Maße reduziert"
Weiterhin postuliert z. B. Art. 3 (1), daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Daß aber in der gesellschaftlichen Wirklichkeit wohlhabende Schichten gleicher’ sind als Menschen ohne finanzielle Hilfsmittel, zeigen in aller Deutlichkeit Darstellungen über Untersuchungshaft und die Freilassung durch Kaution
Diese Beispiele sollten deutlich machen, daß die Freiheitsrechte des GG in ihrer Realisierung und Durchsetzung weitgehend ökonomisch bedingt sind
Autoren wie z. B. Dahrendorf
Demokratisierung des durch das GG geschaffenen Modells einer Demokratie bedeutet also die Überwindung der liberalen Tradition im Sinne einer sozialen Sicherung der Grundrechte. Diese Forderung ist im Prinzip Allgemeingut — bestritten wird sie eigentlich nur noch von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
Die erstaunliche Renaissance des Rätemodells der Demokratie — von der direkten Demokratie der „Neuen Linken"
Die Verstärkung plebiszitärer Elemente des GG als Versuch der Demokratisierung politischer Entscheidungsprozesse erscheint auf den ersten Blick überzeugend. Dieser Versuch dürfte beim gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungsstand jedoch problematisch sein und könnte in einer entpolitisierten Öffentlichkeit der Demagogie und Kommerzialisierung der Politik Tür und Tor öffnen
Bezeichnenderweise hat sich die Diskussion auch bald einem Problem zugewandt, welches die Präsenz des Volkes bei der politischen Willensbildung kontinuierlicher und effektiver gewährleisten soll als Plebiszite, nämlich dem Problem der Öffentlichkeit.
Seit Habermas im Jahre 1962 seine grundlegende Analyse über den Strukturwandel der Öffentlichkeit
Zwar ist Habermas nicht zuzustimmen, wenn er sagt, Herrschaft in Vernunft aufzuheben hieße, politische Fragen bis zum allgemeinen Konsens auszudiskutieren
Daß in einer vordemokratischen Gesellschaft allerdings die unvermittelte Einführung extensiver Diskussion aller zentralen politischen Fragen in das Gegenteil des erstrebten Zieles umschlagen kann, zeigen die Auswirkungen der Lehre des „ius-Faschisten" C. Schmitt (Bloch). Wenn heute Forsthoff, W. Martini oder W. Weber in das gleiche Hom stoßen
Die bisherige Analyse führt zu einer ersten These: Demokratisierung im politischen Bereich ist die progressive Verwirklichung von Demokratie im Sinne eines rationalen Organisationsmodells zur Regelung politischer Konflikte
Die Demokratisierung des grundgesetzlichen Modells zielt auf eine ökonomische Realisierung der Grundrechte durch einen Sozialstaat, welcher die materiellen Voraussetzungen für die freie Entfaltung des einzelnen schafft. Sie zielt weiter auf die institutioneile Ermöglichung einer kritischen Öffentlichkeit mit der Funktion einer umfassenden Kontrolle des politischen Entscheidungsprozesses.
II. Die Forderung nach Demokratisierung der politischen Demokratiewirklichkeit
1. Demokratie und Demokratiewirklichkeit Das GG ist ein Versprechen, „einzulösen durch Revolution"
Besonders die verfassungsrechtliche Theorie Abendroths stützt diese Vorstellung. Für Abendroth ist die Verfassungsordnung ein gesellschaftlicher Kompromiß, der durch die fak-tische Entwicklung der Machtverhältnisse nicht unterwandert oder verändert werden dürfe
Es geht hier also nicht mehr um die Veränderung des Normengefüges des GG, sondern um die Bedingungen und Hintergründe der politischen Konkretisierung der normativen Verfassung
Welche Aspekte der aktuellen Demokratie-wirklichkeit sind es nun im besonderen, die Kritik auf sich ziehen? Es sind — wie wir es sehen — die Tendenz zur Umgehung der formal rechtsstaatlichen Demokratie durch die Herausbildung einer Wirtschaftsaristokratie, was einerseits eine eklatante Ungerechtigkeit des sozialen Systems bewirkt, andererseits tendenziell einen autoritären Wohlfahrtsstaat und weiterhin die Tendenz einer strukturell gestützten Entpolitisierung der Öffentlichkeit. Beide Tendenzen sind Aspekte desselben Zusammenhanges, und nicht zufällig tauchen hier dieselben Kategorien wieder auf, die bereits bei der Demokratisierung des Modells die Diskussion bestimmten. a) Der formale Rechtsstaat Die erste Tendenz gründet auf der Diagnose einer überwältigenden „sozialen Unfreiheit auf dem Boden der Rechtsgleichheit"
Dies müßte — durchaus systemimmanent — zu einer Sozialstaatlichkeit führen, bei der der „Glaube an die immanente Gerechtigkeit der bestehenden Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung aufgehoben ist"
Demokratie wird so zum Mechanismus der politischen Regelung sozialer Konflikte mit dem Ziel des kontrollierten sozialen Wandels
Die Diskrepanz zwischen der Demokratie des GG und der Demokratiewirklichkeit ist die Diskrepanz zwischen der juristischen Perfektion der Institutionen und der grundlegenden Veränderung ihrer sozialen und soziologischen Voraussetzungen und Grundlagen
Diese juristische Perfektion der Institutionen erklärt vielleicht, warum für die meisten Juristen die Welt noch in Ordnung ist; denn sie glauben, sich nicht um die Gesellschaft kümmern zu müssen. So sind sie blind gegenüber den Antinomien zwischen „theoretischer Humanität und praktischer Unmenschlichkeit"
Von hier aus erscheint es ebenso plausibel wie bezeichnend, daß sich gerade die Jurisprudenz aus den Unsicherheiten der politischen und gesellschaftlichen Realitäten zurückgezogen hat in den nur scheinbar gesicherten Bereich des Grundsätzlichen
Die Voraussetzung einer Demokratisierung der Wirklichkeit unserer politischen Demokratie ist das Ersetzen von Bekenntnissen durch Erkenntnisse
In dem Maße, in dem die Gewaltenteilung als höchst formales und statisches Prinzip
Das Parlament als öffentliches Forum
Zählt man nur einige Strukturmerkmale eines demokratischen Herrschaftsprinzips auf wie Gleichheit der Chance, Transparenz des gesellschaftlichen Geschehens, die Kontrollierbarkeit der Herrschaft oder die Auswechselbarkeit der Inhaber von Führungspositionen
Die Analyse der Diskrepanz zwischen Demokratiemodell und politischer Demokratiewirklichkeit sowie der Vorschläge, diese Diskrepanz durch Demokratisierung der Wirklichkeit der praktizierten Demokratie zu überwinden, führen zu einer zweiten These:
Einer statischen, restaurativen Interpretation des GG mit der Tendenz der Zementierung bestehender Machtverhältnisse, etwa ökonomischer, politischer oder publizistischer Art, steht ein dynamischer, gesellschaftlicher Entwicklungsprozeß gegenüber
III. Die Forderung nach Demokratisierung der Gesellschaft
Nach unserer ursprünglichen Dreiteilung der Realisierungsbereiche von . Demokratisierung'in die Demokratisierung des grundgesetzlichen Modells, der politischen Wirklichkeit und der Gesellschaft kämen wir jetzt zur Forderung nach Demokratisierung der Gesellschaft. Aber ist diese Aufteilung der Demokratisierungsdiskussion in einen staatlichen und einen gesellschaftlichen Bereich überhaupt sinnvoll? Darf die Gesellschaft eigentlich undemokratisch sein, wenn der Staat durch das GG auf die Demokratie hin verpflichtet ist? Fordert die staatlich-politische Demokratie nicht auch eine gesellschaftliche Demokratie?
Diese Fragen fordern eine Klärung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft in bezug auf unser Thema. 1. Gesellschaft und Staat Das GG sagt in Art. 20 (2) mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, daß alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Weiterhin bestimmt es in Art. 1 (3), daß diese unteilbare und ausschließliche Staatsgewalt
Ist der Staat aber nur ein zweckorientiertes Organisationsmodell
Von diesem Verständnis des Staates aus ist es auch weder verwunderlich noch alarmierend, daß kontinuierlich gesellschaftliche Bereiche verstaatlicht, staatliche Bereiche vergesellschaftet werden
Gerade die fortschreitende Verschränkung von Gesellschaft und Staat bewirkt einen eminent wichtigen Umschlag von gesellschaftlicher zu politischer Macht. Während politische Macht einer relativen Kontrolle unterworfen ist, gibt es eine demokratische Kontrolle gesellschaftlicher Machtballungen bisher noch nicht. Damit entsteht die Gefahr, daß die demokratische Gesellschaftsordnung zur Fassade, zur Farce entartet
Diese Erkenntnis darf aber nicht dazu verführen, den Staat nun als Skelett ohne Fleisch zu sehen, der daher wieder möglichst stark zu machen sei. Vielmehr ist die Funktion des Staates in Anbetracht der durch die gesellschaftliche Entwicklung gewaltig veränderten Lage neu zu bestimmen: Die staatliche Organisation könnte über das Mittel eines flexiblen, auf Veränderung angelegten Netzwerkes rechtlicher Bestimmungen — mit der Bandbreite vom Maßnahmegesetz bis zum langfristigen Plan — die verschiedenen organisierten sozialen Gruppen als .countervailing powers'(Galbraith) in eine ausgewogene Beziehung bringen; einmal zu den nicht organisierten und daher extrem schutzbedürftigen Gruppen und zum anderen zu den das soziale Ganze betreffenden Zielsetzungen und Wert-entscheidungen, die von einer aktiven und effektiven Öffentlichkeit gesetzt werden. Der Schwerpunkt dieser Konstruktion liegt also weder bei einem übermächtigen Staat noch bei einer Selbstregelung der Gesellschaft durch die gegengewichtigen Kräfte der sozialen Organisationen, sondern bei einer von mündigen Bürgern hergestellten Öffentlichkeit. Der in rationaler Argumentation hergestellte Konsensus dieser Öffentlichkeit bezeichnet diejenigen Werte, die Grundlage und Ziel staatlichen Handelns sind
Die staatlich-politische Demokratie beruht damit auf der Fiktion der Gleichheit der Wähler-stimme; in ihr werden alle faktischen Unterschiede wie Alter, Wissen, Engagement oder Erfahrung nivelliert im Interesse einer menschenwürdigen Herrschaftsordnung
Wenn also in der integrierenden Institution der Gesellschaft entgegen Mythologie und Sachzwang, entgegen Tradition und individuellem Machtstreben Demokratie verwirklicht ist (als theoretisches Modell), weil der Mensch Fundamentalnorm ist
Hier wird deutlich, daß nur die gesellschaftlichen Institutionen und Bereiche von einer Übertragung demokratischer Prinzipien ausgenommen werden dürfen, denen nachgewiesen werden kann, daß ihre Aufgabe derart verschieden ist von derjenigen des Staates, daß eine Demokratisierung in diesem weitgehenden Sinne nicht möglich ist. Hier ist dann abzuwägen, ob eine nicht gänzlich demokratisierte Organisationsform für die ihr zugehörigen Menschen dienlicher und angemessener ist
Diese Umkehr der Beweislast ist durchaus beabsichtigt; sie geht von der Vermutung der Angemessenheit demokratischer Organisationsformen für alle gesellschaftlichen Bereiche aus. Bereiche wie Universität, Familie oder Wirtschaft haben in rationaler Diskussion der Zweck-Mittel-Relation
Ausgangspunkt dieser Erwägung ist, daß im Rahmen einer demokratischen Gesellschaftsordnung und des in ihr zu entwickelnden Bewußtseins-und Bildungsstandes jede undemokratische, hierarchische, autoritäre oder gar diktatorische Ordnung menschenunwürdig ist
Dies bedeutet, daß in den gesellschaftlichen Bereichen, in denen der mündige Mensch nicht vorausgesetzt werden kann (z. B. Kindergarten, Grundschule), das demokratische Prinzip „nur" regulative Idee sein kann, selbst jedoch nicht so zu verwirklichen ist wie dort, wo Mündige miteinander umgehen
Menschliche Freiheit verwirklicht sich in einem Prozeß von der absoluten Unfreiheit des Neugeborenen bis zur relativen Freiheit des zu denken Beginnenden. Sie bleibt relativ für jeden Menschen, weil er nicht nur Individuum ist, sondern wesentlich auch Mitglied einer Gesellschaft
Das -Argument einer menschlichen Herrschaftsordnung ist jedoch juristisch nicht verwertbar
Es ist daher in der gegebenen Rechtsordnung nach einer Norm zu suchen, die den Anspruch auf qualitativ
Art. 1 (1) GG postuliert den Generalanspruch auf die Achtung der Menschenwürde
Besonders Hamann
Wenn also die rechtliche Ordnung, das GG, nicht nur kein Verbot einer Demokratisierung gesellschaftlicher Bereiche kennt, sondern beträchtliche Evidenz dafür spricht, daß die Intention des GG vor allem in den Art. 1, 20 (1) und 20 (2) sowie 28 (1) in Richtung auf eine demokratisierte Gesellschaft geht, dann stellt sich die Frage, warum sich gesellschaftliche Bereiche wie Universität, Wirtschaft, Verbände, Kirchen etc. so erbittert gegen eine Übertragung demokratischer Strukturmerkmale wehren
Die stereotype Antwort ist, daß die Funktionen und die Aufgaben dieser Bereiche eine Demokratisierung nicht erlauben
Entwicklung der These:
Die demokratische Ordnung des GG wäre mißverstanden, wenn man annähme, sie schlösse Herrschaft
Entscheidend ist, daß diese Herrschaft demokratischen Prinzipien gehorcht, also auswechselbar ist und auf einer Mehrheitsentscheidung beruht
Wenn also der Staat auch schwierige Aufgaben bewältigt, obwohl er (zumindest in der Theorie) demokratisch strukturiert ist, wird da nicht das Gerede von den besonderen Aufgaben gesellschaftlicher Institutionen nun zur durchsichtigen Verschleierung? Wird da nicht das Heraufbeschwören des Chaos durch Demokratisierung zur gezielten Unterdrückung der Noch-nicht-Gleichen und Noch-nicht-Freien?
Das Erstaunliche an der gegenwärtigen Demokratisierungsdiskussion scheint uns einzig zu sein, daß sie derart zahm ist, daß sie zum überwiegenden Teil
Hier muß aber betont werden, daß diese Zahmheit nur für die theoretische Antizipation demokratischer Gesellschaftsverhältnisse gilt, nicht aber für deren sofortige praktische Durchsetzung
In dieser Zwangslage, einerseits den humanen Anspruch der Demokratisierung der Gesellschaft nicht durch eine Revolution zu verleugnen, andererseits aber eine Demokratisierung überhaupt zu erreichen, scheint uns die graduelle Durchsetzung demokratischer Prinzipien vorläufig der einzige Ausweg zu sein
Andererseits ist Hommes zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, daß Veränderungen ihren Ansatzpunkt im tatsächlich Gegebenen zu suchen haben, daß man also, um von der reinen Gesinnung abzukommen, „nicht totale, sondern bestimmte Negation"
IV. Einzelne gesellschaftliche Bereiche
1. Familie und Schule Wir haben gesehen, daß Familie und Schule noch Bereiche der Heranbildung zu gesellschaftlicher Mündigkeit sind, indem hier erst die Möglichkeit zur Ausbildung einer relativen Freiheit und Selbstbestimmung gewährt werden muß
Die autoritären Strukturen in Familie und Schule, wie sie gerade in Deutschland besonders gepflegt werden, verhindern ja gerade, daß der heranwachsende Bürger zur Mündigkeit erzogen
Ein junger Mensch, der bis ins Wahlalter hinein nur die Realität einer autoritären Familie und Schule, Berufsausbildung oder Universität erfahren hat, der . Demokratie'und das, was sie beinhaltet, nur in der Theorie vermittelt bekam: Kann von ihm erwartet werden, daß er politisches Interesse zeigt, daß er sich für die Demokratie engagiert? Die soziologische Analyse zeigt denn auch, daß (bei Jungwählern) die demokratischen Institutionen zwar akzeptiert werden, sie jedoch äußerlich und damit gleichgültig bleiben
In eine intensive und persönliche Beziehung zur Demokratie als Lebensstil kann der Jugendliche nur dann hineinwachsen, wenn ihm . Demokratie'nicht nur als idealisiertes theoretisches Modell gelehrt wird (vgl. die Diskussion um die Denkansätze zur politischen Bildung
Um dies zu verhindern, muß bereits die innere Organisation der Schule den Schülern Möglichkeit und Anreiz bieten, demokratische Verfahrensweisen kennenzulernen und einzuüben. Wenn die Schüler dadurch politisch denken lernen, wenn sie die Spannungen zwischen Ordnung und Konflikt, zwischen . Effizienz und Partizipation'(v. Beyme)
Natürlich ist die Idee einer formalen Demokratisierung der Universität im Sinne gleicher Rechte für alle, ungeachtet ihrer Funktion, absurd
Demokratisierung der Hochschule meint vielmehr in einer ersten Tendenz die Verwirk-I materiellen also lichung einer Demokratie: die
Bestimmung der Art und des Umfanges der Mitwirkung von funktional verschiedenen Gruppen am Willensbildungsprozeß
Die Berufspraxis realisiert sich in einer demokratischen Gesellschaftsordnung, deren Lebenselement der Konflikt sein sollte, (wobei Konflikt nicht Selbstzweck
Eine zweite Tendenz der Demokratisierung der Universität geht dahin, nach der juristischen Chancengleichheit zu studieren, auch die faktische, das heißt soziale, ökonomisch realisierte zu sichern
Beide Tendenzen zusammen sollen zu einer materiell demokratischen Universität führen, die den Konflikt als gesellschaftliches und wissenschaftliches daher Agens und die vor und Wirt allem in der Rechts-, Politik--schaftswissenschaft nicht mehr vornehmlich daran arbeitet, alte Erkenntnisse zu zementieren, also Herrschaftswissen zu reproduzieren, sondern die endlich beginnt, „Daten zu sammeln, die hauptsächlich dem Erkenntnis-fortschritt dienen"
Die Vorstellung vom . privaten Unternehmer'scheint immer noch die Annahme zu stützen, öffentliche Wirtschafts-und Finanzpolitik, ein immer weitergehender staatlicher Interventionismus deuten hier an, daß man zwar den Prozeß im ganzen als öffentlichen sieht, nicht aber den Kern dieses Prozesses, die Entscheidungen nämlich, was produziert und unter welchen Bedingungen produziert wird. Diese Entscheidungen gesellschaftlicher Mitgestaltung und Kontrolle noch vorzuenthalten, ist die Restproblematik des sogenannten Spätkapitalismus.
Sie ist zugleich aber noch eine Kernproblematik, denn solche Entscheidungen betreffen unmittelbar die Produktionsverhältnisse — die nach Marx „die überkommenen und im Zuge der industriellen Entwicklung hervorgebrachten gesellschaftlichen Macht-und Abhängigkeitsverhältnisse" widerspiegeln
Mit der Zielvorstellung einer sozialen Wirtschaftsordnung — in der gleichwohl Freiheitlichkeit und Initiative erhalten bleiben sollen — ist es jedoch unvereinbar, daß „weiterhin durch den ökonomischen Prozeß Herrschaft über den Menschen" unlegitimiert ausgeübt wird
Damit stellt sich erneut das Problem der Öffentlichkeit. Denn die Voraussetzungen dafür, daß die Betroffenen verständig und mit Einsicht urteilen können, müssen erst noch ge-schaffen werden. Nicht von ungeiähr wird ihnen ja genau das Wissen in allen Ausbildungsbereichen vorenthalten, das sie zum Urteil über Wirtschafts-und Herrschaltsverhältnisse benötigen. Bis hinauf zum Abitur werden Rechtskunde und jegliche Sozial-und Wirtschaftswissenschaft nahezu ignoriert. Unter solchen Umständen kommt selbst dort, wo die Öffentlichkeit durch das Budgetrecht des Parlaments zu bestimmen scheint, wie öffentliche Mittel verwendet und investiert werden sollen, nur heraus, daß 25 °/o (BRD) bis 50% und mehr (USA) der Mittel der Bundeshaushalte für Rüstungen und Instrumente der Vernichtung ausgegeben werden. Ausgaben für die soziale Wohlfahrt bleiben demgegenüber relativ zurück. „Solche Wohlfahrtsinvestitionen setzen eine andere Willensbildung voraus als die Investitionen in Abschreckungsvorhaben, ja sie erzwingen eine wirklich demokratische."
Es berührt die Allgemeinheit in starkem Maße, was ein Unternehmen herstellt, ob Napalm, Pillen oder Information. Nach wie vor aber ist das im wesentlichen eine private Entscheidung, die sich an Profitchancen ausrichtet und nicht am gesellschaftlichen Nutzen.
Es berührt die Öffentlichkeit, ob Menschen Arbeit haben oder arbeitslos werden. Im wesentlichen beruht das aber auf den Investitionsentscheidungen privater Unternehmer
Ist nun die Produktionssphäre als gesellschaftliche, und damit der Öffentlichkeit zugänglich zu machende erkannt, dann wird es notwendig, für die dortigen Entscheidungsprozesse die demokratischen Normen der Gesellschaft anzulegen, die einen Anspruch darauf hat, ihre öffentlichen Angelegenheiten selbst zu regeln.
Typischerweise wird diese Forderung mit dem Hinweis abgewehrt, die Funktionsweise lasse es nicht zu. Die gerade bestehende Art des Funktionierens wird zu der Funktionsweise schlechthin erhoben. Es wird auch nicht gesehen, daß gerade darin ein Grund zur Kritik liegt, daß die jetzt funktionierende Wirtschaftsordnung die Forderung nach einer weitergehenden Demokratisierung nicht zuzulassen scheint. Ist eine .demokratischere’ Organisationsform der Wirtschaft, die . trotzdem’ funktionierte, so undenkbar? Ist der Weg zur Wirtschaftsdemokratie’ unvermeidlich der Weg ins Wirtschaftschaos? Oder sind nur ganz bestimmte Interessenten darum bemüht, die bestehenden Funktionsweisen zum Fetisch zu erheben? Für einige Arbeitgeberverbände scheint die Problematik schon mit der Allerweltsformel gelöst, . unterschiedliche Lebens-und Gesellschaftsbereiche verlangten auch unterschiedliche Organisationsformen'; demokratische Forderungen seien für die Wirtschaft also wohl nicht angemessen
Flier versperren kurzsichtige Profit-und Herrschaftsinteressen den Weg zu besserer Einsicht. Denn die Forderung nach stärkerer Partizipation, nach weitergehender Einbeziehung der Produzierenden in die Gestaltungsund Entscheidungsvorgänge ist unter dem Gesichtspunkt menschenwürdiger Produktionsverhältnisse selbst dann gerechtfertigt, wenn das auch zu einer gewissen Beeinträchtigung der Effizienz des Wirtschaftssystems führen würde — was offensichtlich von vielen befürchtet wird.
Wir meinen aber gerade im Gegensatz dazu, daß mittel-und langfristig, unter den Erfordernissen des Produktionsprozesses mit seiner hochentwickelten Technologie und Automatisierung, nur durch eine wachsende Übertragung von Mitverantwortung und Einbeziehung aller Mitarbeiter in die Entscheidungsvorgänge die Effizienz des Wirtschaftssystems er-halten werden kann. Die partizipatorischen . Reibungsverluste', die es wohl geben könnte, würden durch eine gesteigerte Interessiertheit der Produzierenden mehr als ausgeglichen werden. Es scheint uns wichtig zu betonen, daß wir das Funktionieren einer Wirtschaft nicht geringschätzen. Es ist Voraussetzung für alle Weiterentwicklungen freiheitlicher Lebensformen. Es geht hier lediglich darum, die Gefahr aufzuzeigen, daß mit der Überbetonung, ja Fetischisierung einer bestimmten Wirtschaftsordnung das, was nach wie vor Mittel zu sein hat, sich zu einer Zielvorstellung verselbständigt. Damit werden die Chancen angemessener Weiterentwicklung versperrt. Schwerwiegender aber noch: Das Ziel droht, verdrängt zu werden, auf das alles Wirtschaften immer ausgerichtet sein sollte: die Ermöglichung einer humanen Existenz.
Was eine humane Existenz sei, muß immer neu bestimmt werden; aber auch die dafür angemessenen Formen der Wirtschaftsordnung müssen entsprechend immer neu gesucht werden — sicherlich auch, aber nicht allein, unter dem Gesichtspunkt der Praktikabilität und Effizienz. In diesem Punkt aber ist kein Fortschritt zu sehen, eher ein Rückschritt. Das Ahlener Wirtschaftsprogramm der CDU z. B. umriß noch die genannten Zielsetzungen des Wirtschaftens: „Ziel aller Wirtschaft ist die Bedarfsdeckung des Volkes. Die Wirtschaft hat der Entfaltung der schaffenden Kräfte des Menschen und der Gemeinschaft zu dienen. Ausgangspunkt aller Wirtschaft ist die Anerkennung der Persönlichkeit."
Heute werden die auf den Menschen bezogenen Ziele gar nicht mehr erwähnt. In den Vordergrund politischer Überlegungen treten wirtschaftsspezifische Zielkombinationen wie die des Stabilitätsgesetzes: Preisstabilität, Vollbeschäftigung, ausgeglichene Zahlungsbilanz und angemessenes Wachstum. Wo der Mensch, wo die Persönlichkeit in diesem Gefüge bleibt, scheint zweitrangig geworden zu sein — und das zeigt sich nicht nur im skandalösen Nachhinken der Löhne hinter den Gewinnen oder in einem Steuersystem, das als „ungerecht, unsozial und teilweise verfassungswidrig" bezeichnet worden ist
Die Zielgerichtetheit des sozialen Systems schreibt ganz bestimmte Normen und Verhaltensweisen vor, die spezifisch sind für seinen Reproduktionsprozeß. Was uns heute daran naturgegeben erscheint, weil durch Sozialisation und Enkulturation die Werte, Normen und Verhaltensmuster, welche das soziale System erfordert zu seiner Reproduktion, schon so in die Gefühlsstrukturen, Glaubens-haltungen, Gewohnheiten und Meinungen der Gruppenmitglieder internalisiert sind
Man muß sich daran erinnern, wie die Motivationen für die kapitalistische Art der Produktion den Leuten erst aufgezwungen werden mußten. Werner Sombart beschrieb diesen Vorgang so: „Aber wenn sie nun auch in das Joch der Fabrik oder irgendeines anderen Großbetriebes, etwa eines Warenhauses, eingespannt waren, so verrichteten diese urwüch-sigen Menschen ihre Arbeit doch noch ganz und gar nicht mit dem kapitalistischen Ethos (sic!), das von ihnen erheischt wurde. Sie verharrten im Schlendrian, im Traditionalismus."
Vielleicht war es notwendig, zur Entwicklung effizienterer Produktionsmethoden (die gewiß auch einen Beitrag zur Überwindung der materiellen Not leisteten und zur Ansammlung eines gelinden Wohlstands bei den Massen führten), den Massen ein kapitalistisches Ethos aufzuzwingen: regelmäßiges und methodisches Arbeitsverhalten, das sich unter die Bedingungen mechanischer Produktion ein-zwängen ließ
Gewiß, eine Befreiung von Deformationen würde wiederum nicht ohne schmerzliche Um-stellungen erfolgen können. Denn die Zwänge früherer Zeiten wurden sublimiert zu Normen, die, internalisiert, zur , Natur'geworden sind. Die positiven Sanktionen, welche eine Erfüllung der Normen belohnen, sind zum Bedürfnis geworden. Diese . zweite'Natur müßte erst in einem langwierigen Aufklärungsprozeß überwunden werden. Die Einschätzung der Menschen an den Waren, über die sie verfügen, der Warencharakter aller Beziehungen, das hat sich tief eingeschliffen: „Das gemeinsame Werk entfaltet so eine Macht jenseits der Macht der Menschen, indem jeder von ihm abhängig ist als der äußeren Bedingung seiner Existenz."
Nur die Analyse der Verhältnisse und die Aufklärung des sich selbst unklaren Bewußtseins
Emanzipation ist denkbar geworden, doch überall herrschen noch Zwänge vor. Wenn in unglaublichem Maßstab gesellschaftlicher Reichtum für Rüstung und Weltraumfahrt, für nationale und internationale Prestigeunternehmen vergeudet wird, wenn dadurch auch noch die im Wirtschaftssystem geronnenen Machtverhältnisse stabilisiert
In erschreckendem Maße zeigt sich das etwa an der Methode der analytischen Arbeitsplatzbewertung, die z. Z. in der Industrie eingeführt wird. Menschliche Tätigkeit wird zerstückelt in die sinnlosesten Teilbewegungen, in Anteile an Muskelkraft und Überlegung, und jede einzelne Reaktionsform wird dabei nach Punkten bewertet; der Mensch aber ist entwertet. Peinlich sorgsame Untersuchungen stellen die Belastung durch Staub, Lärm, Hitze, Verschmutzung fest, anstatt alles darauf zu verwenden, diese Belastungen abzuschaffen.
Wenn über 70% der Produktionsmittel einer winzigen Minderheit von 1, 7% gehören
Die Repression im Bereich der Produktion ist nur Teil einer Repression, der die Tendenz inne ist, andere soziale Bereiche auf ihre Erfordernisse auszurichten. Wie könnten die Massen von den wenigen Verfügenden in Gehorsam gehalten
Gerade in Ausbildungsbereichen, wo sie ein-geübt werden müßte (also vor allem in den Hochschulen), ist Kritik meistens nur zulässig als positive, konstruktive Kritik; als solche, die Vorschläge unterbreitet, um Reibungsflächen zu vermindern, die Effizienz zu erhöhen und damit zur Erhaltung eines schlechten Ganzen nach Kräften beizutragen. Das ist Kritik im Banne gegebener Verhältnisse. Wo werden die Bedingungen geschaffen, „in denen der Mensch in immer größerem Maße ein freies, schöpferisches, gesellschaftliches, rationales Wesen wird"?
Wo gibt es die Vermittlung von Anleitungen für eine Humanisierung des Lebens, die Bereitstellung von Hilfsmitteln für die Selbstverwirklichung in einer verwalteten Umwelt? Bisher sind fast nur die gegenteiligen Tendenzen zu erkennen: Ein dominierendes technisches Erkenntnisinteresse und eine ökonomisch verkürzte Rationalität bestimmen die Entwicklung; die emanzipatorischen Möglichkeiten bleiben auf der Strecke. Somit ist im Umfeld der Produktionsverhältnisse Vorsorge getroffen, weil die Aufklärung und Emanzipation der Massen auch das Zerreißen der Verblendungszusammenhänge und zugleich die Liquidation derjenigen kapitalistischen Prinzipien bedeuten würde, die heute noch einer sozialen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung entgegenstehen: das Prinzip der privaten Aneignung gesellschaftlicher Arbeit, der Trennung der Arbeitenden von der Verfügung über die Produktivmittel und über die Produktionsziele. Nun ist mit diesen Bemerkungen nicht beabsichtigt, den Bürgerschreck der Sozialisierung an die Wand zu malen. Sozialisierung hat sich in den bisher erprobten Fällen weder vom Gesichtspunkt der Effizienz noch von dem der Humanisierung der Produktionsverhältnisse als nützlich erwiesen. Wohl aber ist damit gemeint, daß die Möglichkeiten der Beteiligung der Produzierenden an den Ergebnissen der Produktion (Gewinnbeteiligung) sowie an der Gestaltung der Zielsetzungen und der Produktionsbedingungen noch lange nicht ausgeschöpft sind, daß sie vielmehr gerade bei fortschreitender Technologie in wachsendem Maße wahrgenommen werden müssen, um nicht den Menschen den technisierten Verhältnissen zu opfern. c) Die harten Grenzen des Systems Auf der Grundlage dieser kurzen Analyse, deren Intention bewußt auf die Herausstellung vorhandener Mängel gerichtet war, muß nun überprüft werden, ob nicht die gegebenen Verhältnisse von vornherein alle Versuche unmöglich machen, im Bereich der Gesellschaft und des Staates zu demokratischeren Formen zu kommen. Zur Klärung dieser Frage ist es wichtig, zunächst auf das Verhältnis von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat einzugehen. Sprach Otto Kirchheimer noch von den „restriktiven Bedingungen", unter denen politische Gewalt steht
Für die Politik ergibt sich der Zwang, „die Stabilitätsbedingungen des gesellschaftlichen Status quo umfassend zu garantieren, strukturelle Risiken und Konflikte vorbeugend auszuschalten und systemgefährdende Dysfunktionen in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen mit systemkonformen Mitteln zu verhindern.
Solche Formulierungen weisen bereits darauf hin, daß nicht die Durchsetzung praktischer Ideen, sondern subsidiäre Funktionen technischer und administrativer Art den Aufgabenbereich des politischen Zentrums kennzeichnen."
Es scheint uns wichtig, diese Probleme deutlich herauszustellen. Man wird sich eines Tages entscheiden müssen zwischen einer weitergehenden Demokratisierung und einem System institutionalisierter Ungleichheit. c) Politik im Banne von Vermeidungsimperativen Die Gesetzlichkeiten der Produktionssphäre haben bestimmende Auswirkungen auf den Handlungsspielraum der Politik. Sie setzen ihr um so engere Grenzen, als immer deutlicher der Erfolg oder Mißerfolg einer Regierung von der wirtschaftlichen Konjunktur her bemessen wird. Nun ist das einerseits durchaus nützlich. Zwei Einwände müssen jedoch erhoben werden: Erstens ist es bedenklich, wenn sich die Erfolgsbeurteilung fast ausschließlich nach der Konjunkturlage richtet. Damit werden andere wichtige Bereiche, z. B. die Sozial-und Bildungspolitik, aber auch die Justiz-oder Entwicklungspolitik durch die Öffentlichkeit stark vernachlässigt. Zweitens aber — und das ist in diesem Zusammenhang entscheidend — gerät die politische Führung in die Zwangslage, durch eine (aus den Mitteln der Allgemeinheit ermöglichte) Wirtschafts-, Finanz-und Steuerpolitik die privaten Investitionsentscheidungen zu unterstützen. Das widerspricht der Zielsetzung der Gleichheit — oder, schon sehr abgeschwächt, der sozialen Symmetrie.
Dies ist nur ein Aspekt der viel umfassenderen Verflechtung zwischen den Gesetzen der ökonomischen Sphäre und der Politik: „In dieser Struktur des Verhältnisses von Ökonomie und Staat degeneriert . Politik 1 zu einem Handeln, das zahlreiche und immer neu auftretende . Vermeidungsimperative 1 befolgt, wobei die Masse der differenzierten sozialwissenschaftlichen Informationen, die ins politische System einfließen, sowohl die Früherkennung von Risikozonen wie die Therapie aktueller Gefährdungen erlaubt. Entscheidend neu an dieser Struktur ist, daß nicht mehr das politisch artikulierte und kanalisierte Interesse einer herrschenden Klasse, geschweige denn irgendeiner anderen Instanz, den konkreten Gehalt staatlicher Entscheidungen determiniert; sondern daß die in den Mechanismus privatwirtschaftlicher Kapitalverwertung auf hochorganisierten Märkten eingebauten, aber manipulierbaren Stabilitätsrisiken diejenigen präven-
dven Handlungen und Maßnahmen vorzeichnen, die akzeptiert werden müssen, solange sie mit dem bestehenden Legitimationsangebot irgend in Einklang zu bringen sind."
Wir haben eingangs festgestellt, daß alle Freiheitsrechte in ihrer Realisation ökonomisch bedingt sind. Das bedeutet vor allem nicht, daß die materiellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung von Rechten, für Freiheit, in irgendeinem Wohlstandsniveau bestünden; es heißt viel entscheidender, daß der Freiheitsspielraum eines einzelnen immer relativ zu den ökonomischen Möglichkeiten der anderen zu sehen ist, daß er also in Abhängigkeit von der Distribution von Vermögen und Einkommen steht, mithin vom Grad der Gleichheit und Gerechtigkeit. „Armut ist auch relativ. Wer mehr hat als andere, erträgt seine objektive Bedürftigkeit leichter, und wer vom Überfluß umgeben ist, hält sich für arm, obwohl es ihm vielleicht am unmittelbar Notwendigen nicht fehlt."
Die ökonomischen Voraussetzungen für die Realisierung demokratischer Grundrechte laufen notwendigerweise auf eine Voraussetzung in der Ökonomie hinaus: die Realisierung von Demokratie in der Produktionsund Distributionssphäre. Erst dann ist der Weg offen für eine weitere — wiederum rückwirkende — Demokratisierung von Gesellschaft und Staat, eine Aufhebung der kulturellen Repression, eine Emanzipation der Bildung, ein Funktionieren der Öffentlichkeit. 4. Andere Bereiche Es wäre jetzt notwendig, auch auf die Demokratisierungsbestrebungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Parteien, Gewerkschaften, Verbänden und Kirchen
Das wachsende Bewußtsein des Ungenügens der bestehenden Einrichtungen verdichtet sich zu dem Verdacht, daß die mangelnde Wandlungsfähigkeit der vorhandenen Organisationsmuster zu demokratischen Organisationsformen in allen gesellschaftlichen Bereichen weniger auf die vielgenannten, aber nicht kritisierten Sachzwänge
C. Der Zusammenhang
I. Demokratisierung als Aufklärung
In einer Gesellschaft, in der der Unterschied zwischen Armen und Reichen immer krasser wird
Der permanenten Beschwichtigung muß das permanente Aufbegehren entgegengesetzt werden
II. Demokratisierung als kollektiver Lernprozeß
Die unvermittelte Übertragung demokratischer Strukturen auf gesellschaftliche Bereiche würde nicht Demokratie bewirken, sondern Ratlosigkeit, schlimmstenfalls Chaos. Die „Kraft einer antizipierten Mündigkeit" folgt erst einem und ist gleichzeitig Bestandteil eines kollektiven Lernprozesses, in dem Kinder und Schüler zu unterscheiden lernen zwischen „Persönlichkeitsautorität und Stellungs-autorität"
III. Demokratisierung als eskalatorische Reform
Wie hängt nun die Demokratisierung des Staates mit der Demokratisierung der Gesellschaft zusammen?
Die fortschreitende Technokratisierung führt zu einer Spezialisierung und Betonung des „Sachverstandes", zu Kommunikationsund Steuerungstechniken, zu Machtballungen und Abhängigkeiten. Diese Momente verstärken heute das „eherne Gesetz der Obligarchisie-rung" (R. Michels) in Parteien, Verbänden, im Parlament
Die Vorstellung einer umfassenden Demokratisierung steht im Gegensatz zu der Ansicht, punktuelle Reformansätze könnten eine demokratische Gesellschaft herbeiführen. Fängt man z. B. in den Kindergärten an, in emanzipatorischer Absicht, Kinder zu erziehen, dann muß man berücksichtigen, daß diese Kinder in einer vordemokratischen Gesellschaft — die sie z. B. im Elternhaus und später in der Schule umgibt — in eine Konfliktsituation geraten können, die sie nicht bewältigen können. Ebenso sind Hoffnungen auf die erzieherische Wirkung einiger aufgeklärter Lehrer illusionär, da sie gegenüber reaktionären Kollegien und einer ängstlichen Elternschaft im Rahmen einer obrigkeitsstaatlich strukturierten Schule zum Mißerfolg verurteilt sind.
Diese Beispiele zeigen die Notwendigkeit auf, in allen gesellschaftlichen Bereichen parallel eine Demokratisierung einzuleiten. Die ohnehin nur schwer erzielbaren aufklärerischen Erfolge werden dann nicht durch das gesellschaftliche Umfeld abgewürgt, sondern sie können sich wechselseitig verstärken. Nur so kann jene „kritische Masse" erreicht werden, die über mehrschichtige Rückkoppelungsprozesse eine eskalatorische Demokratisierung ermöglicht.
Inwieweit diese eskalatorische Reform als Mittel des Existenzkampfes der Demokratie gegen die „Sachzwänge" einer sich selbst potenzierenden Technologie und Wissenschaft möglich und ausreichend ist, kann hier nicht entschieden werden.
Nur so viel sei angemerkt, daß u. E. diese „Sachzwänge" in hohem Maße das Produkt einer „self-fulfilling prophecy" (R. Merton) sind. Dies sei beispielhaft an den Prognosen der Futurologie gezeigt: Eine unaufgeklärte Öffentlichkeit nimmt die Prognosen der Futurologie als Prophetien notwendigerweise hereinbrechender Ereignisse. Daß aber Prognosen viel eher Warnungen bedeuten, welche — mit Vorsicht — als Orientierungshilfen und Ent-scheidungsgrundlagen zu betrachten sind, dieses Wissen muß erst durch Aufklärung verbreitet werden. Diese Aufklärung sollte aber auch erreichen, daß jegliche Trendanalyse oder Prognose auf das ihr zugrunde liegende Interesse durchleuchtet wird. Und schließlich sollte sie erreichen, daß Prognosen so verstanden werden, daß sie ein kritisches und reformerisches Potential wecken zur Hinterfragung und Veränderung (bei nicht wünschbaren Trends) der Ursachen dieser Prognosen. Die Fortentwicklung von Wissenschaft und Technologie diente bisher den Theoretikern der „Sachgesetzlichkeiten" als Argument gegen eine Demokratisierung der Gesellschaft. Es geht aber gerade darum, Wissenschaft und Technologie als wirksame Instrumente für die Entwicklung zu einer mündigen Gesellschaft einzusetzen, anstatt sich von ihrer vermeintlichen Eigengesetzlichkeit beherrschen zu lassen.
So wird deutlich, daß nur derjenige einen Gegensatz zwischen Technologisierung und Demo-kratisierung konstruieren kann, der Interesse am Weiterbestehen der herrschenden Unordnung hat. Das leitende Interesse jeder Demokratisierung: Hilfestellung für die Entwicklung des Menschen zur Mündigkeit, die Erhebung des Menschen zum Subjekt, — dieses Interesse zielt nicht auf einen Gegensatz zu Wissenschaft und Technologie, sondern im Gegenteil: Es zielt auf eine rationale und kontrollierte Verwertung ihrer Ergebnisse zu Zielen, die eine demokratische Gesellschaft sich selbst setzt.
D. Schlußbemerkungen
a) Absicht dieser Arbeit war es zu begründen, daß „Demokratie" als Organisationsstruktur nicht auf den politischen Bereich beschränkt werden kann. Der grundlegende Wert unserer Demokratie ist die Würde des Menschen. Da die Menschenwürde nicht teilbar ist, ist von einer ernstgemeinten, politischen Demokratie immanent die Forderung ableitbar, alle Lebensbereiche gemäß dieser Wertentscheidung zu ordnen. Eine Gesellschaftsordnung, die „Demokratie" auf den staatlich-politischen Bereich beschränkt, mag für eine historische Phase angemessen gewesen sein, in der sich die Ablösung von der Monarchie vollzog. Heute ist diese Beschränkung willkürlich, weil durch die wachsende Verschränkung von Staat und Gesellschaft ein staatlicher Bereich nicht mehr eindeutig abgrenzbar ist.
Die gesellschaftliche Macht der Unternehmen, Verbände, Parteien etc. ist heute gleichzeitig politische Macht. Daher ist es nur konsequent, auf diese Bereiche eine Ordnung zu übertragen, die für den politischen Bereich unabdingbar ist: partizipatorische Demokratie. Eine demokratische Gesellschaftsordnung kann nur verwirklicht werden, wenn die gesellschaftlichen Bereiche analog der politischen Ordnung demokratisch strukturiert sind.
b) Weiterhin wollten wir zeigen, daß das Ziel einer Demokratisierung der Gesellschaft eine bestimmte Zweck-Mittel-Relation nahe-legt. Weder punktuelle Reformen noch gewaltsame Revolutionen scheinen angemessene Mittel zu sein, politische und gesellschaftliche Unmündigkeit zu überwinden. Heute steht nicht nur die „Arroganz der Macht" allen Demokratisierungstendenzen entgegen, sondern auch eine von diesen Machtinteressen ideologisierte Wissenschaft und Technologie. Deshalb muß die Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche parallel und sich gegenseitig verstärkend vorangetrieben werden, um zu einer Dynamik anzuwachsen, die den obligarchischen Tendenzen unserer Gesellschaft überhaupt entgegenwirken kann.
So zentral der Bereich der Wirtschaft für die moderne Gesellschaft ist, so entscheidend ist die Demokratisierung dieses Bereichs für die Zukunft der Demokratie. Wer in den Fesseln von wirtschaftlichem Existenzkampf und ökonomischer Abhängigkeit noch politische Mündigkeit praktizieren soll, ist leicht überfordert. Wenn nicht nur Bildung, sondern auch politische Aktivität weitgehend noch Privileg einer bestimmten Schicht ist, dann ist das bezeichnender für die Verfassungswirklichkeit unserer Demokratie als manch andere „Errungenschaften". c) Schließlich ging es uns darum, gegen die Verketzerung jeglicher Demokratisierung einige Argumente anzuführen, die eine Aufklärung über Sinn und Ziel einer Demokratisierung von Gesellschaft und Staat einleiten könnten.
Hier ist zu betonen, daß das Spannungsverhältnis z. B. zwischen Freiheit und Gleichheit nicht durch eine Patentlösung überspielt werden sollte. Vielmehr wurde gefordert, die Wertentscheidungen und Ziel-Mittel-Relationen im Rahmen dieses Spannungsverhältnisses einer rationalen, kritischen Diskussion zu unterziehen. Eine in der Diskussion sich bildende Öffentlichkeit hat dann über die Ziele und Prioritäten zu entscheiden. Nicht mehr eine prästablisierte Ordnung kann Grundlage dieser Diskussion sein, sondern ein durch Aufklärung und Argumentation erreichter Konsensus. Dieser Konsensus ist zugleich Medium der notwendigen gesellschaftlichen Integration. Mit aller Schärfe widersprechen wir damit der Vorstellung, die besonders von dem Staatsrechtler Forsthoff
In entschiedenem Gegensatz dazu möchten wir herausstellen, daß in einer mündigen Gesellschaft, die auch der Integration notwendigerweise bedarf, Kern dieser Integration nicht Staatsgesinnung ist, sondern ein in rationaler Argumentation herzustellender Konsensus über ein Minimum gemeinsamer Zielvorstel-lungen. Dies ermöglicht, daß die Opfer an Freiheit, die jegliche gesellschaftliche Integration erfordert, einsichtig gemacht und begründet werden können, anstatt erzwungen werden zu müssen.
So wie jegliche Demokratisierungsbestrebungen in unserer Gesellschaft einerseits gegen den Anachronismus obrigkeitlicher Staats-ideologie anzukämpfen haben, so müssen sie sich andererseits gegen den Vorwurf des Anti-Modernismus wehren. Wiederum ist hier zu betonen, daß das Spannungsverhältnis zwischen Effizienz und Partizipation, in dem die moderne Leistungsgesellschaft steht, nicht durch eine romantisierende Polemik gegen Verwissenschaftlichung und Technologisierung aufgehoben werden kann. Ganz im Gegenteil zielt die Demokratisierung dahin, durch Aufklärung die Öffentlichkeit zu veranlassen, Wissenschaft und Technologie als Mittel für die Ziele emanzipatorischer Politik einzusetzen.
Die Zukunft der Demokratie hängt aufs engste zusammen mit der Antwort auf die Frage, ob das gewaltige Potential von Wissenschaft und Technologie weiterhin seiner vermeintlichen Eigendynamik überlassen wird oder ob es gelingt, dieses Potential zur Gestaltung der Demokratie der Zukunft einzusetzen.