„Niemals würden wir Deutschland auf den Stand der Zersplitterung und Ohnmacht von vor 1866 zurückwerfen lassen." Friedrich Engels an Paul Lafargue, 27. Juni 1893
Als am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Versailler Schlosses die Kaiserproklamation vollzogen wurde, welche im Bewußtsein der Deutschen der eigentliche Reichsgründungsakt geblieben ist, befanden sich August Bebel, Wilhelm Liebknecht und der Braunschweiger Ausschuß der 1869 begründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die sich in ihrem Programm ausdrücklich „als Zweig der Internationalen Arbeiterassoziation" bezeichnet hatte, im Gefängnis. Mit größer Eindringlichkeit zeigt sich so in der ersten Stunde des deutschen Kaiserreichs von 1871 der Antagonismus zwischen sozialistischer Arbeiterbewegung und diesem Reich, welcher weitgehend die innere Entwicklung Deutschlands bis zum Ersten Weltkrieg bestimmt hat.
Und doch wäre es verfehlt, wollte man jene sinnfällige Situation der Januartage 1871 zum Anlaß nehmen, einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen dem sozialistischen Programm der Klasseninternationalität und der Idee des nationalen Staates oder im engeren Sinne der Gründung des kleindeutschen Nationalstaates in jener Epoche zu behaupten Die Stellung von Karl Marx und Friedrich Engels sowie den Führern beider sozialistischen Parteien in Deutschland einmal zur deutschen Frage überhaupt und zweitens zu deren Lösung durch Bismarck und die preußische Staatsmacht im Bunde mit dem nationalliberalen Bürgertum wird die enge Verflechtung zwischen nationaler und Arbeiterbewegung in Deutschland sichtbar machen Zugleich wird sich erweisen — und hier ist in der Tat der Widerspruch seitens der sozialistischen Arbeiterbewegung gegen die Gründung von 1871 angelegt —, daß hinter der Forderung nach dem deutschen Nationalstaat eine sehr konkrete Vorstellung von der Beschaffenheit dieses Staates stand. Das Reich von 1871 wurde bei seiner Gründung wie auch später am Ideal des „freien Volks-staafes“ gemessen und mußte einem Mann wie Wilhelm Liebknecht schon im Dezember 1870 als „eine fürstliche Versicherungsanstalt gegen die Demokratie" erscheinen.
Des weiteren ergibt sich die Frage, ob die Reichsgründung von 1871 jenen Punkt markiert, an dem Arbeiterbewegung und nationale Bewegung auseinandergingen, und ob etwa in der Folgezeit das „Nationale" gewissermaßen von links nach rechts rücken konnte ohne dabei so zu entarten, daß es sich schließlich im Wilhelminischen Reich nach einer Formu-lierung Golo Manns „als schnarrende Phrase, in der kein großes Herz mehr schlägt, die nur noch den Dünkel nährt, materielle Bereicherung verbirgt und fördert" zu erkennen gibt.
Schließlich ist der Pariser Kommune-Aufstand in besonderer Weise zu berücksichtigen, da gerade durch dieses Ereignis, welches praktisch mit der Reichsgründung zusammenfiel, vor allem aber auf Grund der Selbstidentifizierung von Marx, Engels und der Sozialdemokratie mit der Kommune die Stellung des Staates und der diesen tragenden Gesellschaftsschichten gegenüber der sozialistischen Arbeiterbewegung auf Jahre hinaus bestimmt wurde.
Die „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland", welche das politische Programm von Marx und Engels am Beginn der deutschen Revolution von 1848 darstellten, beginnen mit dem Satz: „Ganz Deutschland wird zu einer einigen unteilbaren Republik erklärt." Bezeichnenderweise erscheinen diese Forderungen unter dem Motto „Proletarier aller Länder vereinigt Euch", das aus dem wenige Wochen zuvor verfaßten Kommunistischen Manifest übernommen worden war. So stellen sich die „Forderungen" als Anwendung der Aussagen des Kommunistischen Manifests auf die konkrete politische Situation Ende März 1848 in Deutschland dar, und zugleich wird in der ersten grundsätzlichen programmatischen Äußerung von Marx und Engels zur deut-sehen Frage die dialektische Auflösung des abstrakten Gegensatzes von Internationalismus und der Forderung nach dem deutschen Nationalstaat oder dem Großraum in Form des Nationalstaates schlechthin sichtbar. Damit erscheint auch der bis zum Überdruß zitierte Satz aus dem Manifest, nachdem die Arbeiter kein Vaterland haben — der, nebenbei gesagt, nur im Zusammenhang mit dem Kontext verständlich wird —, in einem anderen Licht.
Neben dem Bekenntnis zum zentralisierten deutschen Einheitsstaat in Form der Republik enthielt das Programm von Marx und Engels und damit auch das der „Neuen Rheinischen Zeitung“ den notwendig zu führenden Krieg gegen das Zarenreich, der die Wiederherstellung Polens mit einschließen sollte. Waren doch in richtiger Erkenntnis der Funktion Rußlands als eines Hemmnisses für jede progressive Entwicklung in Mitteleuropa die Ziele der extremen Partei, „Auflösung des preußischen, Zerfall des österreichischen Staates, wirkliche Einigung Deutschlands als Republik" nur durchzusetzen auf dem Wege eines siegreichen Krieges mit dem zaristischen Rußland.
Das Scheitern der Revolution von 1848 machte deutlich, daß vorderhand die nationale Frage in Deutschland auf revolutionärem Wege nicht zu lösen war. Darüber hinaus wurde das Erlebnis von 1848/49, insbesondere die Reichsverfassungskampagne, bestimmend für die Haltung der radikal-demokratischen Kräfte gegenüber Preußen. Vor allem die Politik Wilhelm Liebknechts wurde besonders zwischen 1866 und der Reichsgründung von einem tiefen Preußenhaß getragen, der im Jahre 1849 seine Wurzeln hatte.
Im Rückblick hat Friedrich Engels die drei Wege, die im 19. Jahrhundert zur deutschen Einigung führen konnten, aufgezeigt 1. „Der offen revolutionäre Weg" was die Beseitigung aller Einzelstaaten bedeutet hätte. Die Einheit Deutschlands hätte, wie es dem Konzept von 1848 entsprach, gegen die Fürsten und sonstigen inneren Feinde sowie gegen das Ausland bzw. auch mit Hilfe des Auslandes erkämpft werden müssen. 2. Die Einigung unter Vorherrschaft Österreichs. Solches stand für den Realisten Friedrich Engels wie auch für Marx eigentlich nie ernsthaft zur Diskussion. Wenn beide im Jahre 1866 für einen Augenblick eine große Niederlage der Preußen als wünschenswert angesehen haben, so nicht deswegen, weil sie geneigt waren, auf die österreichische Karte zu setzen, sondern weil sie die Möglichkeit einer Revolution in Preußen sahen Im übrigen aber erschien den Londonern eine nationale Einigung Deutschlands unter der Vorherrschaft Österreichs allenfalls als „ein romantischer Traum" 3. Die Einigung durch Preußen, unter preußischer Führung. Und da dieser Weg aus dem Bereich der Spekulation auf den „solideren, wenn auch ziemlich unflätigen Boden der praktischen, der , Realpolitik'" führte wie es Engels formuliert hat, so war es schließlich die Bismarcksche Einigungspolitik, mit der sich die Londoner konfrontiert sahen.
Ihre Haltung dazu ist nur zu verstehen, wenn man ins Auge faßt, welche Funktion oder, besser gesagt, welchen Stellenwert die deutsche Einigung in ihrer revolutionären Strategie besaß. Nach der Entscheidung von Königgrätz schrieb Marx an Engels, daß für die Arbeiter natürlich alles günstig sei, was die Bourgeoisie zentralisiert Schon 1855 hat Engels in dem verlorengegangenen Entwurf „Deutschland und das Slawentum" ausgesagt, daß Deutschlands entschiedenste Partei zugleich seine nationalste sei, und zwar deshalb, „weil in Deutschland der Kampf um innere Einheit und nationales Bewegungsterrain mit dem Klassenkampf zusammenfalle" 1865 hat er schließlich jene These formuliert, welche er in der Folgezeit stets reproduziert hat und die heute von der marxistischen Historiographie im Sinne der Betrachtung der Reichseinigung als einer objektiven Notwendigkeit für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft und damit auch für die Entwicklung einer starken sozialistischen Arbeiterbewegung und die Entfaltung des Klassenkampfes vorgetragen wird. Engels schrieb in diesem Jahr: „Die arbeitende Klasse gebraucht zur vollen Entfaltung ihrer politischen Tätigkeit ein weit größeres Feld, als es die Einzelstaaten des heutigen zersplitterten Deutschlands darbieten."
Diese These wurde von ihm, wenn auch nicht in dieser Deutlichkeit, schon 1850 vorgetragen, und zwar im Zusammenhang mit seiner Ar-beit über den deutschen Bauernkrieg. Was sich am Beispiel des deutschen Bauernkrieges von 1525 für ihn als Fazit ergab: „Die Zersplitterung Deutschlands, deren Verschärfung und Konsolidierung das Hauptresultat des Bauernkriegs war, war auch zu gleicher Zeit die Ursache seines Mißlingens" wurde von ihm zusammen mit den Erfahrungen von 1848/49 aktualisiert und führte ihn zu dem Schluß: „Wer nach den beiden deutschen Revolutionen von 1525 und 1848 und ihren Resultaten noch von Föderativrepublik faseln kann, verdient nirgend anders hin als ins Narrenhaus." Solche Erkenntnis ist bestimmend geworden im Hinblick auf seine Haltung zur Politik Liebknechts nach 1866, dessen „süddeutscher Urinhalt-Föderativrepublikanismus" — so Engels — Gegenstand seiner schärfsten Kritik wie auch der von Marx wurde, was noch zu zeigen sein wird.
Es wird deutlich, daß sie den Nationalstaat, bzw.den deutschen Nationalstaat im besonderen, nicht deshalb als ein Ziel ihrer Politik angesehen haben, weil er für sie einen Eigenwert verkörperte oder sogar, wie manche nationalliberalen Schwärmer nach 1871 glaubten, das letzte Wort der Geschichte war, sondern weil er erst die Basis bot, auf der eine revolutionäre Arbeiterbewegung sich entfalten und gedeihen konnte. Sie sahen es als „geschichtlich unmöglich" an, daß ein großes Volk irgendwelche inneren Probleme auch nur ernsthaft diskutieren könne, solange die nationale Frage nicht gelöst sei Der Nationalstaat, und zwar der großräumige — für „Völkertrümmer" haben Marx und Engels nie eine Vorliebe gezeigt —, war ihnen quasi ein Vehikel für die sozialistisch-proletarische Revolution, und nur auf der Basis von Nationalstaaten konnten sie sich eine Entwicklung der jeweiligen Arbeiterparteien vorstellen, welche letzten Endes Voraussetzung für eine internationale Bewegung des Proletariats war.
„Internationale Vereinigung kann nur zwischen Nationen bestehen, deren Existenz, Autonomie und Unabhängigkeit in inneren Angelegenheiten daher schon in dem Begriff Internationalität eingeschlossen sind" woraus sich für Engels ergibt, daß „eine internationale Bewegung des Proletariats überhaupt nur möglich [ist] zwischen selbständigen Nationen" Da darüber hinaus nach Engels’ Meinung „die wahrhaft nationalen Ideen, d. h. diejenigen, die den ökonomischen, industriellen und landwirtschaftlichen Gegebenheiten entsprechen, die in der betreffenden Nation herrschen, zugleich immer auch die wahrhaft internationalen Ideen" sind, erweist sich der nationale Staat als der notwendige Ausgangspunkt für eine nationale Arbeiterbewegung und damit für die internationale Bewegung des Proletariats.
Gemäß der Dialektik der Geschichte war so das Ergebnis von 1866, die Schaffung des zentralisierten Norddeutschen Bundes, für die Londoner immerhin ein Fortschritt, den es wohl oder übel zu akzeptieren galt. Frei von jeder Klage über den deutschen Bruderkrieg nahmen sie den „Dreck" wie er nun einmal war, indem sie darin eine Beschleunigung der sozialen Revolution sahen. „Die Sache hat das Gute, daß sie die Situation vereinfacht, eine Revolution dadurch erleichtert, daß sie die Krawalle der kleinen Hauptstädte beseitigt und die Entwicklung jedenfalls beschleunigt. Am Ende ist doch ein deutsches Parlament ein ganz anderes Ding als eine preußische Kammer. Die ganze Kleinstaaterei wird in die Bewegung hineingerissen, die schlimmsten lokalisierenden Einflüsse hören auf, und die Parteien werden endlich wirklich nationale, statt bloß lokale.
Der Hauptnachteil ist die unvermeidliche Überflutung Deutschlands durch das Preußentum, und das ist ein sehr großer. Dann die mo-mentane Abtrennung Deutsch-Ostreichs, die ein sofortiges Vorschreiten des Slawischen in Böhmen, Mähren, Kärnten zur Folge haben wird. Gegen beides ist leider nichts zu machen.
Wir können also meiner Ansicht nach gar nichts anderes tun, als das Faktum einfach akzeptieren, ohne es zu billigen, und die sich jetzt jedenfalls darbieten müssenden größeren Facilitäten zur nationalen Organisation und Vereinigung des deutschen Proletariats benutzen, soweit wir können."
Marx stimmte dieser Interpretation von Engels zu, auch in der Erkenntnis, daß den „deutschen Philistern" die Einheit „nur von Gottes-und Säbelgnaden oktroyiert werden kann" Hinzu kommt, daß Engels durchaus das Revolutionäre in der Politik Bismarcks bei der Errichtung des Norddeutschen Bundes gesehen und später lediglich moniert hat, daß Bismarck nicht revolutionär genug war und sich mit der Annexion von vier „lumpigen Kleinstaaten" zufrieden gegeben hatte
Während also die Londoner mit „weltrevolutionärem Opportunismus von hoher theoretischer Warte aus" der Bismarckschen Einigungspolitik gegenüberstanden, wollten Lieb-knecht, Bebel und der Verband deutscher Arbeitervereine die Errichtung des Norddeutschen Bundes als eine Vorstufe zur nationalen Einigung nicht akzeptieren. Dahinter stand nicht nur süddeutsche Borniertheit, wie Marx und Engels vermuteten sondern die durchaus richtige Einsicht, daß eine Konsolidierung Preußens im Interesse der demokratischen und sozialen Revolution verhindert werden müsse. „Wenn Pr[eußen] sich konsolidiert, wird es durch keine äußerliche Gewalt, auch nicht durch einen Aufstand (Revolution) im Gefolge der bevorstehenden Französischen Revolution umzuwerfen sein, sondern erst fallen, wenn das deutsche Proletariat herrschaftsfähig (durch Zahl und Intelligenz) geworden ist. Aber bis dahin hätten wir einige Menschenalter zu warten. II saut corriger la fortune. Der historische Prozeß muß beschleunigt, Preußen] in der Consolidation verhindert werden“ hielt Liebknecht im Dezember 1867 Engels vor, und in der Tat haben Marx und Engels bei aller scharfen Kritik an der Position Liebknechts die Funktion eines erstarkten Preußens im Hinblick auf die Revolution nicht anders einschätzen können Unabhängig von einer möglichen Vertagung der sozialen Revolution durch die Existenz eines starken, vergrößerten Preußens, war es gerade die Verankerung in der großdeutsch-nationalen Bewegung, weshalb Bebel und Liebknecht gegen das fait accompli von 1866 schärfsten Protest erhoben.
Nachdem Liebknecht schon Ende 1865 angesichts einer sich abzeichnenden dualistischen Lösung der deutschen Frage die Alternative „Mit Preußen gegen Deutschland oder mit Deutschland gegen Preußen! “ aufgezeigt hatte, wobei nicht zweifelhaft war, auf welcher Seite er stand, hat er sich nach Königgrätz nicht nur geweigert anzuerkennen, daß „die Hinterlader und Moltkes Genie .. . gegen die deutsche Revolution und großdeutsche Einigung ... für Bismarck und Kleindeutschland und für Bismarcks Verehrer Schweitzer“ entschieden hatten, sondern im Gegenteil die Kampfansage an Preußen, unbekümmert um die erkennbare Tendenz des Ablaufs der Ge-schichte, verschärft. Der Programmartikel in der ersten Nummer des „Demokratischen Wochenblatts" zeugt davon, wobei es interessant ist, daß für Liebknecht die deutsche Frage vor der Arbeiterfrage rangierte. „Was insbesondere die beiden brennendsten Tages-fragen betrifft, die Deutsche und die ArbeiterFrage, so erstreben wir einen deutschen 'Volksstaat, der alle Stämme des großen Vaterlandes (selbstverständlich auch die Deutsch-Osterreicher) unter dem gemeinsamen Banner der Freiheit vereinigt, und werden Krieg auf Leben und Tod führen gegen jene verderbliche Politik, deren Endziel die Vergrößerung Preußens und die Verkleinerung Deutschlands ist."
Bebel und Liebknecht konnten in der soge-nannten Einheit des Norddeutschen Bundes keine deutsche Einheit sehen, da diese die süddeutschen Staaten, Österreich und Luxemburg ausschloß, und beharrten auf dem Standpunkt, daß Preußen der Einheit im Wege stehe. In diesem norddeutschen Staatswesen vermochten sie aber auch keine Verwirklichung demokratischer Freiheiten zu erkennen. „Daß die freiheitlichen Interessen im Norddeutschen Bunde gewahrt würden, wagt niemand zu behaupten", sagte Bebel auf einer demokratischen Volksversammlung am 14. Mai 1868 in Berlin und gab seiner Überzeugung Ausdruck, „daß nur in einem Deutschland, das durch den Gesamtwillen der Bevölkerung getragen wird, an dessen Spitze eine Regierung steht, die aus diesem freien Willen hervorgegangen ist, allein ein wirkliches Heil für die Bevölkerung und für die arbeitende Bevölkerung ins Besondere zu erwarten ist."
Vor dem norddeutschen Reichstag kennzeichnete Bebel die Neubildung als „einen Bund, der dazu bestimmt ist, Deutschland zu einer großen Kaserne zu machen, um den letzten Rest von Freiheit und Volksrecht zu vernichten"
Im allgemeinen Wahlrecht vermochten Bebel und Liebknecht nichts weiter zu sehen als ein Stück Bonapartismus. Daß sie, vor allem Liebknecht, nach 1866 zeitweise in gewisse Nähe partikularistischer Strömungen sowie österreichisch gesinnter großdeutscher Föderalisten gerieten, wird heute von der marxistischen Historiographie, die unbedingt die Position von Marx und Engels einnimmt, gerügt Darüber hinaus wird von dieser Seite aus jenen demokratischen Elementen, die sich außerstande sahen, die Gründung des Norddeutschen Bundes als gewissen Fortschritt gegenüber der Kleinstaaterei anzusehen, Unfähigkeit, die Dialektik der Geschichte zu begreifen, attestiert
In der Folgezeit, das heißt bis zum Deutsch-Französischen Krieg, blieb die Haltung von Bebel und Liebknecht zum Norddeutschen Bund im wesentlichen unverändert. Auch die Tatsache, daß auf dem Nürnberger Vereinstag von 1868 und auf dem Gründungsparteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1869 in Eisenach das Programm der Internationalen Arbeiterassoziation in die Programme der unter Bebel und Liebknecht sich konstituierenden Richtung der deutschen Arbeiterbewegung übernommen wurde, bedeutete nicht, daß diese damit ihre primär großdeutsche, national-demokratische Zielsetzung aufgab. Johann Philipp Becker, einer der Redner auf dem Hambacher Fest von 1832 und Oberbefehlshaber der badischen Volkswehr 1849, arbeitete seit 1866 als Präsident der Sektionsgruppe deutscher Sprache der Internationalen Arbeiterassoziation im deutschen Raum für die Verbreitung des Programms der 1. Internationale in der Weise, daß die Ziele der Internationalen Arbeiterassoziation als nicht im Widerspruch stehend zur nationalen Politik des Verbandes deutscher Arbeitervereine erscheinen mußten Der Gegensatz zwischen den Anhängern von Bebel und Liebknecht und dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein in den Jahren, die der Reichsgründung vorangingen, wird in jeder Hinsicht falsch gedeutet, wenn man ihn auf die Formel national-international bringt. In Wahrheit schieden sich die Geister in bezug auf die Rolle Preußens in der Epoche der deutschen Einigung. Ursprünglich einig im Ziel, dem großdeutschen demokratischen Nationalstaat, was Lassalle 1863 auf die Formel brachte „Großdeutschland moins les dyna-sties" zeigte sich unter seinem Nachfolger, Johann Baptist von Schweitzer, daß der ADAV angesichts der realen Entwicklung bereit war, die preußisch-deutsche Lösung zu akzeptieren. Am Vorabend des deutschen Krieges von 1866 hat Schweitzer zwar die alte Forderung der National-Demokraten aller Richtungen wiederholt, die auf ein freies und einheitliches Deutschland, „frei und einig durch den Willen der Nation", zielte und sowohl ein „Großpreußen" wie auch ein „Großösterreich" als für die Arbeiterbewegung nicht annehmbare Lösungen bezeichnet, zugleich aber deutlich gemacht, daß er, wenn auch mit erheblichen Vorbehalten, hinsichtlich der deutschen Frage auf die preußische Karte setze. Er sah keinen vernünftigen Grund, „Preußen an der Zertrümmerung der Kleinstaatenwirtschaft, d. h. an einem Krieg mit Österreich . . . verhindern zu wollen". Preußen als Faktor bei der Verwirklichung des freien und einheitlichen Deutschlands möge also „den Versuch machen, das gerade Gegenteil von dem zu werden, was es bis heute war" Am Tage des Kriegsausbruchs sah er die Möglichkeit, „die preußische Regierung weiter zu treiben auf dem Weg der Konzessionen an uns“, vorzüglich in bezug auf das allgemeine Wahlrecht. Für diesen Fall würden die im ADAV organisierten Arbeiter, in ihrer überwältigenden Mehrheit in Preußen beheimatet, das Ihre tun, „daß der Sieg nicht bei den Fahnen Österreichs, sondern bei den Fahnen Preußens, nicht bei den Fahnen Benedeks, sondern bei den Fahnen Bismarcks und Garibaldis sei" Den Ausgang des Krieges und die Neuordnung Deutschlands in seinem Gefolge hat Schweitzer mit Resignation, was das definitive Ende der Hoffnungen auf die Schaffung des nationalen Deutschlands auf revolutionärem Weg angeht, aber auch mit bemerkenswertem Realismus hingenommen: „Unsere Hoffnung war, daß die Nation in ihrer eigenen Sache die Initiative ergreifen, daß sie durch eine deutsche Revolution ein nationales Deutschland schaffen werde. Diese Hoffnung hat sich nicht bewahrheitet; nicht das deutsche Volk, die preußische Regierung hat die Lösung der deutschen Frage in die Hand genommen und — was entscheidend ist — sie hat dies bis jetzt mit großem Erfolg und unter erstaunlicher Kraftentwicklung getan." In der Auseinandersetzung mit Johann Jacoby hat er betont, daß die Lösung von 1866 nicht die sei, welche der ADAV gewollt habe, aber daß sie eine Lösung sei und eine, die tatsächlich da ist Und diese Lösung war für Schweitzer nicht nur verbunden mit dem Ende des preußisch-österreichischen Dualismus in Deutschland, sondern er glaubte momentan das vergrößerte Preußen „im volkstümlichen Geiste" beeinflussen zu können, was die nationale Aufgabe der Gegenwart sei
Die Generalversammlung des ADAV nahm schließlich am 27. Dezember 1866 in Erfurt ein Programm an, das in der Formel „Durch Einheit zur Freiheit" das Fazit aus der Entscheidung von 1866 zog, was die Akzeptierung des Weges bedeutete, den Preußen unter der Führung Bismarcks hinsichtlich der deutschen Frage beschritten hatte Die ganze Schärfe des damit aufgeworfenen Gegensatzes zu den unversöhnlichen Verlierern von 1866 in den Reihen der Arbeiterbewegung klingt an in dem Vers, den Liebknecht im Dezember 1868 im „Demokratischen Wochenblatt" veröffentlichte: „Durch Blut und Eisen eint man Knechte — So sollen wir nun einig steh'n!
— Auf! Laß uns, Gott der Menschenrechte, Zur Einheit durch die Freiheit geh'n!"
Hier bricht das volle national-revolutionäre Pathos des 48er-Demokraten auf, der in Preußen die freiheitsfeindliche Macht Deutschlands seit 1849 sah und für den die Einigung als Ausfluß staatlicher Machtpolitik, durch Blut und Eisen, nicht akzeptabel war. Demgegenüber konnte der verhaßte Schweitzer am 20. Juli 1866 gelassen feststellen, daß noch kein großes Werk der Weltgeschichte ohne Blut und Eisen geschaffen worden sei und schließlich auch die revolutionäre Einigung Deutschlands „von unten" kaum ohne Blut und Eisen vonstatten gegangen wäre
Immerhin sah man sich bald nach 1866 auch im ADAV veranlaßt, die Möglichkeiten, welche der Norddeutsche Bund der Arbeiterbewegung, auch im Hinblick auf ihre nationalen Ziele, bot, realistischer einzuschätzen Die Wahlen zum konstituierenden Norddeutschen Reichstag, welche nach dem allgemeinen Wahlrecht durchgeführt wurden, das im Mittelpunkt der Programmatik und der Agitation der Lassalleaner gestanden hatte, brachten dem ADAV eine herbe Enttäuschung und machten den zweifelhaften Wert des allgemeinen Stimmrechts in einem Staatswesen, das schließlich Schweitzer nur noch als absoluten Militärstaat kennzeichnen konnte deutlich.
Wenn auch in den beiden Gruppierungen der Arbeiterbewegung nach 1866 allmählich die nationale Frage an Aktualität einbüßte, so blieb doch die Kluft, die durch die Entscheidung von Königgrätz entstanden war, weiterhin bestehen und sollte erst durch die Entscheidung von Sedan wieder geschlossen werden. Der Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges im Juli 1870 versetzte noch einmal alle Richtungen der deutschen Arbeiterbewegung in eine Art nationale Hochspannung. Dabei verliefen die Fronten bis zur französischen Niederlage bei Sedan und der Gefangennahme Napoleons auch quer durch die Eisenacher Partei.
Marx und Engels haben gleich bei Ausbruch des Krieges die Situation dahin gehend analysiert, welche Entwicklung die soziale Revolution in Europa vorantreiben werde. Das Ergebnis war eindeutig: „Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so die Zentralisation der state power nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Übergewicht würde ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen, und man hat bloß die Bewegung von 1866 bis jetzt in beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehen, daß die deutsche Ar-
beiterklasse theoretisch und organisatorisch der französischen überlegen ist. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unserer Theorie über die Proudhons etc." Zwei Gesichtspunkte waren für die Londoner maßgebend: 1. Die Errichtung des deutschen Nationalstaates als Folge eines preußischen Sieges führte die Zentralisation der Arbeiterbewegung in Deutschland herbei — eine Perspektive, die schon die Akzeptierung der Ergebnisse des deutschen Krieges von 1866 ermöglicht hatte. 2. Im Bereich der westeuropäischen Arbeiterbewegung würde durch eine Niederlage Frankreichs die ideologische Konkurrenz entscheidend geschwächt. Zu diesem revolutionären Kalkül trat ein nicht zu unterschätzendes nationales Engagement, das bei Marx und Engels zeitweise in gefährliche Nähe nationalistischen Überschwangs geriet Beide haben nicht gezögert, zu Beginn des Krieges zweierlei festzustellen: die Tatsache, daß der Krieg von deutscher Seite ein Verteidigungskrieg war, und — das ist im Zusammenhang dieser Untersuchung bedeutungsvoll — daß er ein deutscher Nationalkrieg war. „Es ist den Herren offenbar gelungen, in Deutschland einen vollständigen National-krieg hervorzurufen", schrieb Engels am 22. Juli an Marx, und er wußte im selben Brief auch die zögernden militärischen Operationen auf französischer Seite damit zu begründen, daß Napoleon die Gewißheit erlangt habe, „daß er es mit dem deutschen Volk selbst zu tun haben wird" Daß dieser Nationalkrieg allerdings einen anderen „theoretischen Ausdruck" besaß, als es die revolutionäre Zwei-Mann-Partei in London wünschte, wurde von ihnen beklagt
Während Marx und Engels vom archimedischen Punkt derer urteilen, die auch diesem Krieg und seinen vorausgesetzten Ergebnissen — schon am 8. August 1870 war es Marx klar: „L'Empire est fait, i. e. das deutsche Kaisertum" — einen Platz und eine Funktion in ihrer revolutionären Strategie einräumen konnten, war im Bereich der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung die Konfusion nicht zu übersehen. Lediglich die Lassalleaner waren sich einig in der unbedingten Stellungnahme für die deutsche Seite. Hasselmann schrieb am 17. Juli im „Social-Demokrat":
„Der Krieg von 1870, er ist ein Krieg gegen das deutsche Volk, er ist ein Krieg gegen den Sozialismus. Und jeder Deutsche, der sich dem Friedensbrecher [Napoleon III] entgegenwirft, der kämpft nicht nur fürs Vaterland, der kämpft gegen den Hauptfeind der Ideen der Zukunft, für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit." Noch weiter ging der „Agitator", ein Wochenblatt des ADAV, der am 23. Juli offen Liebknecht und Bebel Vaterlandsverrat wegen ihrer Enthaltung anläßlich der Abstimmung über die Bewilligung der Kriegskredite zwei Tage zuvor vorwarf und sich in einen wahren nationalen Rausch steigerte, wobei der Krieg lediglich auf der französischen Seite als dynastischer dargestellt und in der Niederlage Napoleons „die Bürgschaft des Aufblühens der sozialen Bewegung" gesehen wurde. Eine Woche später scheute sich das Blatt der Lassalleaner nicht, Liebknecht einen bezahlten österreichischen Agenten zu nennen, was beweist, daß die Lassalleaner glaubten, die Woge nationaler Begeisterung, welche auch die deutsche/Arbeiterschaft ergriffen hatte, nutzen zu müssen, um die Konkurrenz der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei auszuschalten Die Grenzen zwischen dem ADAV und dem nationalliberalen Bürgertum — beide hatten sich 1866, wenn auch nicht ohne Vorbehalte, auf den Boden der Entscheidung von Königgrätz gestellt — schienen in der ersten Phase des Deutsch-Französischen Krieges zu verschwimmen.
Ganz anders war die Situation in der Eisenacher Partei. August Bebel sah am 16. Juli der Entwicklung der Dinge „sehr vertrauenslos" entgegen und war der Auffassung: „Etwas Gutes für das Volk kommt schwerlich zu Tage." Wilhelm Liebknecht veröffentlichte am 20.des Monats im „Volksstaat" eine Erklärung zum Kriege, in der er zwar feststellte, daß die Herrschaft Napoleons „der Eckstein des reaktionären Europas" sei und mit Napoleon zugleich der „Hauptträger der modernen Klassen-und Säbelherrschaft" falle, weshalb im Interesse der Arbeiterbewegung die „Vernichtung Bonapartes" wünschenswert sei, zugleich aber an der konsequenten Ablehnung gegenüber der Schöpfung von 1866 festhielt und den Krieg als notwendige Folge davon ansah.
Der Abrechnung mit dem französischen Staatsstreich müsse die mit dem deutschen nachfolgen. Im übrigen weigerte sich Liebknecht entschieden, diesen Krieg einen deutschen zu nennen Einen Tag später enthielten sich Lieb-knecht und Bebel bei der Abstimmung über die Kriegskredite im Norddeutschen Reichstag der Stimme während die Lassalleaner und auch der inzwischen zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei übergetretene Fritzsche für die Anleihe stimmten. Das motivierte Votum Bebels und Liebknechts enthielt noch einmal die Aspekte des Liebknechtschen Aufrufes.
Inzwischen hatten am 16. Juli Vorstand und Ausschuß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu einer Protestversammlung gegen den Krieg aufgerufen auf der, wenn auch nicht ohne Widerspruch, eine Resolution verabschiedet wurde, welche Napoleon und die „Majorität der sogenannten Vertreter des französischen Volkes" als „die frivolen Friedensbrecher und Ruhestörer Europas" verurteilte, die deutsche Nation hingegen als die beschimpfte und angegriffene hinstellte, weshalb die Versammlung den Verteidigungskrieg als unvermeidliches Übel anerkannte. Im übrigen machte die Resolution deutlich, daß der Ausbruch des Krieges die alten national-demokratischen Bestrebungen neu belebte in dem Sinne, daß er wieder die Perspektive auf die Einigung der deutschen Nation „im wahren Volksstaat" eröffnete
Der Gegensatz zwischen Bebel und Liebknecht sowie dem Braunschweiger Ausschuß, der fürchtete, die sozialdemokratische Bewegung könne, wenn sie sich der nationalen Bewegung, die „eine außerordentliche Kraft und Tiefe entfaltete", entgegenstelle, „vorübergehend von derselben ganz verschlungen werden" verschärfte sich seit dem 20. Juli zusehends. Schon an diesem Tag empfahl der Ausschuß Liebknecht „sehr ernstlich . . ., in dieser kritischen Zeit mit größter Ruhe und Besonnenheit zu verfahren" Die Reichstagsabstimmung von Liebknecht und Bebel führte zu einer entschlossenen Reaktion des Ausschusses. Nachdem Wilhelm Bracke und Samuel Spier schon am 22. Juli an August Geib telegraphiert hatten: „Liebknechts Auftreten Organ Reichstag furchtbare Schädigung Partei energisches Handeln notwendig. Liebknecht fügen oder absetzen" veröf-fentlichte der Ausschuß am 24. einen Aufruf, der am 30. im „Volksstaat" abgedruckt wurde und als offene Kampfansage an die Liebknecht-Bebeische Position gelten mußte. Er schloß mit den Sätzen: „Es lebe Deutschland! Es lebe der internationale Kampf des Proletariats!" und enthielt unter anderem folgende Passage: „Solange ein böser Geist die Soldaten Frankreichs an Napoleons Fersen heftet und unsere deutschen Marken mit Krieg und Verwüstung bedroht, werden wir mit aller Entschiedenheit die Unantastbarkeit des deutschen Bodens gegen napoleonische und jede andere Willkür verteidigen helfen. Auch das Streben des deutschen Volkes nach Erringung der nationalen Einigkeit ist berechtigt; haben sich die Deutschen bei der augenblicklichen gemeinsamen Gefahr wie ein Mann zusammengeschart, so wird der gemeinsame Kampf das Band fester und fester schließen, und vielleicht ersteht aus den großen Wirren von heute zu unsrer aller Freude in nächster Zukunft der deutsche Staat. Unsre Aufgabe ist es, bei der Geburt dieses, so hoffen wir, ganz Deutschland umfassenden Staates bestimmend mitzuwirken, damit, wenn es möglich ist, nicht der dynastische Staat, sondern der sozialdemokratische Volksstaat ins Dasein tritt; unsre Aufgabe ist es — mag der gewordene neue Staat bei der Geburt noch dynastische Färbung tragen — ihm in ernstem, schwerem Kampf den Stempel unserer Ideen aufzudrückenl"
Das, Bestreben des Ausschusses ging also ganz offensichtlich dahin, einmal politischen Spielraum zu erhalten im Hinblick auf mögliche und vielleicht sogar bestimmende Einwirkung bei der erwarteten Schaffung des deutschen Nationalstaates, zum anderen zu verhindern, daß die sozialdemokratische Arbeiterschaft, die von nationaler Begeisterung ergriffen war, ins Lager Schweitzers überging. Die Chance, weitere Schichten des Volkes in diesem günstigen Augenblick für die Sache des Sozialismus und die des nationalen demokratischen Einheitsstaates zu gewinnen, sah er allerdings schon vertan Dabei erscheint die Einschätzung der Situation durch Bracke, der Liebknechts und Bebels Haltung durch ihren Internationalismus geprägt sah als verfehlt. In der Tat zeigten sich in den Gegensätzen, die sich im Juli 1870 in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei auftaten, die überkommenen Positionen zur deutschen Frage. Es war nicht von ungefähr, daß der Ausschuß der Partei, der von ehemaligen Lassalleanern beherrscht wurde, auch die sich nun sehr deutlich abzeichnende preußisch-deutsche Lösung akzeptieren wollte unter der Bedingung, daß man den deutschen Nationalstaat dieser Art mitgestalten könne, selbst wenn er anfangs noch „dynastische Färbung" trug, während Liebknecht, Bebel und, wie man wohl behaupten darf, eine Minderheit der Eisenacher nicht vom Standpunkt eines sozialistischen Internationalismus, sondern aus der Verbindung radikaler national-demokratischer großdeutscher Anschauungen und seit 1866 tief eingewurzeltem Preußenhaß dem Krieg von 1870 den nationalen Charakter absprachen Die Proletarier hatten — so Liebknecht — mit diesem Krieg „nichts gemein" Wenn Marx und Engels auch nicht unbedingt auf dem Standpunkt der Braunschweiger standen, so erst recht nicht auf dem Liebknechts. Schon in der ersten Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation über den Deutsch-Französischen Krieg hatte Karl Marx den Krieg von deutscher Seite als Verteidigungskrieg charakterisiert, für dessen Ausbruch er allerdings auch die Politik Bismarcks verantwortlich machte Er lehnte aber entschieden ab, daß Wilhelm Liebknecht aus der Adresse, „die er sich natürlich vorher ins Wilhelmsche übersetzt hat", eine Überein-stimmung in den Anschauungen herleitete In einem Schreiben an den Braunschweiger Ausschuß Ende August 1870 hat er „die widerliche , Identität', worin unser Wilhelm sich, sobald es seinen Zwecken dient, mit mir andern vorlügt, ein für allemal beseitigt"
Auch Liebknechts und Bebels Stimmenthaltung im Norddeutschen Reichstag wurde von Marx nur mit mäßigem Beifall bedacht. Er verband die Anerkennung der Tatsache, daß in diesem Moment „die Prinzipienreiterei un acte de courage" war, mit der Kritik daran, „daß dieser Moment fortdauert und . . . daß die Stellung des deutschen Proletariats in einem Krieg, der national geworden ist, sich in Wilhelms Antipathie gegen die Preußen schärfer Absage Noch war die Friedrich Engels'an die Politik Lieb-knechts. Daß eine deutsche politische Partei in dem Augenblick, wo die Masse des deutschen Volkes aller Klassen in diesem Krieg in erster Linie eine Frage der nationalen Existenz sah „ä la Wilhelm die totale Abstention predigen und allerhand Nebenrücksichten über die Hauptrücksicht setzen" konnte, schien ihm . „unmöglich". „Daß — und jetzt kommen die Nebenrücksichten —", schrieb er an Marx, „dieser Krieg von Lehmann, Bismarck und Co. kommandiert wird und ihnen zur augenblicklichen Gloire dienen muß, falls sie ihn glücklichdurchführen, das verdanken wir der Misere der deutschen Bourgeoisie. Es ist allerdings sehr öklig, aber nichts zu ändern. Darum aber den Antibismarckismus zum alleinleitenden Prinzip erheben, wäre absurd. Erstens tut [Bismarck] jetzt, wie 1866, immer ein Stück unsrer Arbeit, in seiner Weise und ohne es zu wollen, aber er tut's doch. Er schafft uns reineren Bord als vorher. . . . überhaupt ä la Liebknecht die ganze Geschichte seit 1866 rückgängig machen zu wollen, weil sie ihm nicht gefällt, ist Blödsinn"
Die Kritik an Liebknecht verband sich mit einer eigentümlichen Beanspruchung der Politik Bismarcks im Hinblick auf die Vorbereitung des Terrains für die soziale Revolution. Später ist diese aus erzwungener Passivität erwachsene These von Engels und Bebel zu dem Dogma verallgemeinert worden, daß die herrschenden Klassen in Deutschland und deren Repräsentanten, in erster Linie Bismarck, was immer sie auch tun, der sozialen Revolution und ihrem eigenen Untergang in die Hände arbeiten und man deswegen geradezu „die Hände in den Schoß Die legen" könne
Einordnung der Ereignisse von 1870/71 in die revolutionäre Strategie Engels'wird noch an deren Stelle in dem oben zitierten Brief an Marx sinnfällig: „Ein Volk, das immer nur Hiebe bekommt und Tritte, ist allerdings das wahre, um eine soziale Revolution zu machen, und noch dazu in Wilhelms geliebten X-Klein-staaten!" Folgerichtig enthielt das Programm, das er für das Vorgehen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei entwarf, als ersten Punkt: „sich der nationalen Bewegung anschließen . . ., soweit und solange sie sich auf Verteidigung Deutschlands beschränkt (was die Offensive bis zum Frieden unter Umständen nicht ausschließt)" Mit der Entscheidung von Sedan, die die Gefangennahme Napoleons im Gefolge hatte sowie die Ausrufung der Republik in Frankreich, wurden die verschiedenen Richtungen in der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung wieder zusammengeführt. Schon in der ersten Adresse des Generalrats der IAA hatte Marx davor gewarnt, den Krieg in einen solchen gegen das französische Volk ausarten zu lassen und in genialer Voraussicht auf die im Hintergrund lauernde, „unheimliche Gestalt Rußlands" hingewiesen. Er und Engels, der im Juli und August, obwohl das „alte Geheul von Elsaß und Lothringen schon wieder ganz flott im Gange" war geglaubt hatte, daß sich Preußen zu einem ehrenhaften Frieden gegenüber einer französischen Republik verstehen werde, wobei Frankreich „etwas Land" wohl lassen müsse [! ] legten schon vor Sedan in einem Brief an den Braunschweiger Ausschuß die zukünftige Taktik fest. Sie war ganz auf die Frage der Annexion Elsaß-Lothringens bezogen und konnte so von beiden Richtungen in der Eisenacher Partei akzeptiert werden. Die deutsche Arbeiterklasse wurde aufgerufen, „en mässe" ihre Stimme gegen die Annexionsgelüste zu erheben, wobei die Londoner die für die spätere deutsche Geschichte letztlich entscheidende Konstellation — Frankreich im Bunde mit Rußland gegen Deutschland — klarsichtig vor-aussahen. Mit unnachahmlichem Zynismus at-testierten sie den Deutschen, daß sie diese „Einheit in der preußischen Kaserne" reichlich verdient haben, um dann im Sinne ihres schon bekannten revolutionären Opportunismus auch diese Einheit dahin gehend zu werten, daß die Verhältnisse „sich auf großem Maßstab entwickeln und vereinfachen" werden.
Schließlich war für Marx und Engels das im Juli Erhoffte zur Gewißheit geworden: „Dieser Krieg hat den Schwerpunkt der kontinentalen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegt.“ Dieser Brief ist eingegangen in das Manifest des Braunschweiger Ausschusses vom 5. September 1870, in dem der Annexionswut entgegengetreten und ein ehrenvoller Friede mit dem französischen Volk gefordert wurde Unabhängig davon, daß die führenden Vertreter der 1. Internationale Liebknechts die jetzt erwachte Schwärmerei für die französische „Notdurftsrepublik" nicht teilten war die Aktionseinheit der sozialistischen Arbeiterparteien wiederhergestellt und die Gefahr, daß durch das Aufleben der nationalen Leidenschaften in Deutschland wie auch in Frankreich die Einheit der internationalen Arbeiterbewegung gesprengt würde gebannt. Das Manifest der Braunschweiger und seine Folgen sind bedeutsam geworden, was die Stellung der sozialistischen Parteien zum deutschen Nationalstaat angeht, der wenige Monate später begründet wurde.
Auf Befehl des Generalgouverneurs und Ober-kommandierenden in Norddeutschland, General Vogel von Falckenstein, wurden am 9. September die Mitglieder des Braunschweiger Ausschusses, zwei andere Parteimitglieder sowie der Drucker des Manifestes verhaftet und wie Schwerverbrecher mit Ketten gefesselt auf die Festung Lötzen gebracht Daß wenige Tage später nicht nur weitere führende Mitglieder der Eisenacher Partei, sondern auch der preußische Demokrat und Kantianer Johann Jacoby aufgrund einer Rede, die er am 14. September in Königsberg gegen die Annexion Elsaß-Lothringens gehalten hatte, in Haft ge-nommen wurden, schien die Prognose der Londoner von der kommenden Einheit in der preußischen Kaserne zu bestätigen. Gerade jene Führungsgruppe in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, welche die „reine Negation" gegenüber der erwarteten Errichtung des preußisch-deutschen Staates ablehnte und bei dessen Gestaltung den Einfluß der deutschen Arbeiterbewegung geltend zu machen können glaubte, wurde zuerst von den staatlichen Verfolgungsmaßnahmen betroffen, welche sich von der Lötzener Ketten-Affäre über die Ära Tessendorf bis hin zum Sozialistengesetz ständig verschärfen sollten. Im „Volksstaat", der Ende September in ganz Norddeutschland verboten wurde, erschien seit 21.des Monats auf der ersten Seite jeder Nummer der Aufruf: „Ein billiger Friede mit der französischen Republik! Keine Annexionen! Bestrafung Bonapartes und seiner Mitschuldigen!" Auch die Lassalleaner schwenkten, wenn auch vorerst nicht so eindeutig, auf diese Linie ein.
Die Haltung der deutschen Arbeiterparteien im eigentlichen Stadium der Reichsgründung war von zwei Momenten bestimmt, 1.dem Kampf „gegen die Annexionswut, gegen die Franzosenhetze und gegen den nationalen Größen-schwindel" 2.der Enttäuschung, daß der deutsche Nationalstaat sich nicht durch freiheitliche Umstände auszeichnen werde. So erklärte Bebel Anfang Dezember im Norddeutschen Reichstag angesichts der Verhaftungen und Verbote: „Das wirft kein schönes und ermutigendes Licht auf das, was für die nächste Zeit Deutschland in freiheitlicher Beziehung trotz aller Opfer, die es im gegenwärtigen Krieg gebracht hat, zu erwarten hat ..."
Auch der ADAV, dessen Abgeordnete zusammen mit den Eisenachern am 28. November gegen weitere Kriegskredite stimmten, sah sich im Spätherbst vor die Tatsache gestellt, daß die Parole „durch Einheit zur Freiheit" durch die geschichtlichen Ereignisse als bloßes Wunschdenken entlarvt worden war und der dynastische Krieg von 1870 keine freiheitlichen Zustände schaffen konnte Dabei traten in der Kritik an der Entwicklung während der letzten Monate des Jahres 1870 selbst bei Schweitzer wieder großdeutsche Anschauungen hervor die auch weiterhin zu den Ausgangspunkten gehörten, von denen Liebknecht aus die Gründung des kleindeutschen Kaiser-reichs attackierte, wobei er die Erinnerung an 1849 wachrief und sich angesichts längst verlorengegangener Möglichkeiten an die Utopie klammerte, die deutsche Frage könne in einem revolutionären Bürgerkrieg doch noch einmal anders entschieden werden Die äußerste Zuspitzung der Situation war am 17. Dezember erreicht, als die preußische Regierung Bebel und Liebknecht wegen Vorbereitung zum Hochverrat verhaften ließ. Damit war für die sozialistische Arbeiterbewegung in Deutschland entschieden, daß das künftige Reich nicht nur keinen Boden für die Verwirklichung ihrer sozialen und nationalen Forderungen bieten, sondern im Gegenteil ein starker Hort der Reaktion in Europa sein würde.
Der letzte Akt der Reichsgründung wurde von dieser Seite nur noch mit schneidendem Hohn kommentiert, der eigentlich nicht aggressiv war, sondern tiefer Resignation entstammte.
Der ungezügelte Spott, mit dem der „Volksstaat" sich über die „Kaiserposse" und die Deputation des Reichstages ausließ, welche als „Bemühungen der Selbstverspottung" des Par-laments charakterisiert wurden kann die bitteren Untertöne nicht verdecken, die darin begründet lagen, daß am 18. Januar 1871 im Versailler Schloß Fürsten, Generale, Soldaten und Höflinge die Kulisse der Kaiserproklamation bildeten, das „Volk" aber nicht vertreten war.
Was die Haltung von Marx und Engels zu den Vorgängen vom Oktober 1870 bis zur Kaiserproklamation angeht, gibt es so gut wie keine direkten Zeugnisse. Das bedauernswerte Fehlen jeder Stellungnahme ist darauf zurückzuführen, daß Engels am 20. September von Manchester nach London in die Nähe von Marx'Wohnung zog, was ihren regelmäßigen Briefwechsel beendete. Wie Marx das Reich von 1871 beurteilte, läßt sich jedoch aus späteren Äußerungen erschließen, am besten wohl aus der 1875 verfaßten „Kritik des Gothaer Programms", in der er die Gründung von 1871 als einen Staat charakterisierte, „der nichts anderes als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus ist. . ."
Schon bei seiner Gründung sah sich die sozialistische Arbeiterschaft in diesem Reich, das sich im direkten Gegensatz zu ihren Zielen entwickelte, staatlicher Verfolgung ausgesetzt, so daß Engels vermuten mußte, daß sie das Opfer abgeben sollten, „bei dessen Opferung Junker und Bourgeoisie sich versöhnen" In der Tat wollte dieser Staat die noch junge und zahlenmäßig schwache Arbeiterbewegung, der das Odium der Vaterlandslosigkeit angehängt wurde, nicht integrieren. Liebknecht sah sich im Oktober 1871 zu der Feststellung gezwungen: „Ihr nennt uns, scheltend, , vaterlandslos', und Ihr selbst habt uns vaterlandslos gemacht.“
Nachdem die auf die Schaffung eines „freien Volksstaates" gerichteten Hoffnungen weitgehend gescheitert waren, ja nicht einmal die „bürgerliche Freiheit", welche jetzt unter die „Kategorie der Jugend-Eseleien" der Bourgeoisie gerechnet wurde in Sicht war, was seinen Ausdruck fand in dem Vers Georg Herweghs „ Schwarz-weiß-rot, schwarz-weiß-rot, Aller Freiheit sichrer Tod!", wurden die Erwartungen immer stärker auf die proletarische Revolution gerichtet und die Vorstellung vom aus der geschichtlichen Notwendigkeit entspringenden Untergang der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft und damit auch des von den herrschenden Klassen getragenen Staatswesens trat gleichsam ersatzweise an die Stelle des unter dem Zwang der Ereignisse nicht realisierten Nahziels, welches aber eigentlich nie aufgegeben wurde. So konnte Wilhelm Liebknecht schon 1871 verkünden: „In dem Glockengeläute zur Feier Eurer Siege hören wir schon das Grabgeläute Eurer Herrlichkeit."
Ein marxistischer Historiker hat erst jüngst festgestellt: „Die historische Stellung der Reichseinigung ist bestimmt von den Wirkungen der Pariser Kommune." Wenn man auch bezweifeln muß, daß diese These — so apodiktisch vorgetragen — zutrifft, so läßt sie sich doch dahin gehend spezifizieren, daß der Pariser Kommune-Aufstand, indem Marx, Engels und die sozialistischen Parteien in Deutschland sich mit ihm identifizierten und die Kommune als „Vorbote einer neuen Gesellschaft feierten das schon aufs schwerste gestörte Verhältnis der Arbeiterbewegung zum gerade aus der Taufe gehobenen deut-sehen Nationalstaat entscheidend belastet hat. Die skandalös einseitige Berichterstattung in so ziemlich der gesamten deutschen Presse über die Ereignisse in Paris, durch die das rote Gespenst schrecklichster Art an die Wand gemalt wurde während die weit furchtbareren Exzesse der Versailler Truppen — in den sozialdemokratischen Blättern durchgängig als „Ordnungsbanditen''bezeichnet — nicht nur ohne Empörung, sondern sogar mit Befriedigung zur Kenntnis genommen wurden, hat das Bürgertum verschreckt. Demgegenüber sah sich die im Nationalstaat, wie er nun entstanden war, frustrierte Arbeiterbewegung angesichts des Kommune-Aufstandes und der Reaktion aller anderen Gesellschaftsschichten auf die Vorgänge in Paris auf die internationale Klassensolidarität verwiesen. Indem die sozialistische Arbeiterbewegung sich mit der Kommune solidarisch erklärte, die August Bebel am 25. Mai 1871 im Reichstag nur als „kleines Vorpostengefecht" bezeichnete, sahen jene Gesellschaftsschichten, die sich als Träger des gerade begründeten Reichs betrachteten, in der Arbeiterbewegung und ihrem Programm eine tödliche Gefahr für diesen Staat. Auch Bismarcks „Dämonenfurcht vor der Revolution" ist vor dem Hintergrund des Pariser Kommune-Aufstandes sowie vor allem der Reichstagsrede Bebels zu sehen, auf welche er sich 1878 anläßlich des von ihm eingebrachten Sozialistengesetzes bezogen hat. Daß man jedoch solche Beweggründe für das Sozialistengesetz, das die 1871 in der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung noch nicht voll entfaltete Theorie, nachdem der Staat ein Instrument der herrschenden Klasse ist, den Betroffenen bestätigen nicht überbe zu schien, -werten darf, macht schon die Reaktion der Zeitgenossen deutlich, welche durchaus sahen, daß das „arglose (liberale) Marienkäferchen. . . mit dem schädlichen (sozialdemokratischen) Koloradokäfer eine solche Ähnlichkeit [hat], daß es häufig mit diesem verwechselt und arg zugerichtet" wurde
In zweifacher Hinsicht bedeutete die Reichs-gründung von 1871 für die sozialistische Arbeiterbewegung einen tiefen Einschnitt. Die eine Hinsicht betraf Marx und Engels, die andere die beiden deutschen Arbeiterparteien bzw. nach der Einigung von 1875 die Sozialdemokratie. Für Marx und Engels war es mit der Reichsgründung entschieden, daß sich der Schwerpunkt der kontinentalen Arbeiterbewegung nach Deutschland verlagert hatte, wo sich die nationale Arbeiterbewegung wie die Bourgeoisie in Zukunft auf „großem Fuße" entwickeln konnte. Paradoxerweise kam der Untergang der französischen Kommune, der Aderlaß von Paris, dieser These entgegen. Den im Ende der Kommune geborenen Mythos, der es der sozialen Revolution des 19. Jahrhunderts möglich machte, ihre „Poesie" auch aus der Vergangenheit zu schöpfen als Wirklichkeit in die Zukunft zu transponieren, wurde nun gemäß den Einsichten der Londoner in erster Linie Aufgabe der deutschen Arbeiterbewegung. Schon durch die Wahlen von 1874 und erst recht durch die von 1877 sahen Marx und Engels ihre Prognose glänzend bestätigt Sie wußten natürlich wie stets um den eigentlichen Grund dieser Entwicklung. Er lag nicht nur in der Konzentration der Produktionsmittel, die sich, mit Ausnahme Amerikas, in keinem Land der Welt so steigerte wie in Deutschland, sondern auch in der „echt internationalen Haltung" Ar der deutschen -beiter während des Deutsch-Französischen Krieges, wobei die Auseinandersetzungen in der ersten Phase dieses Krieges nicht weiter berücksichtigt wurden. Wenn aber die These richtig war, daß die deutsche Arbeiterbewegung seit 1870/71 an die Spitze der europäischen und damit der internationalen Arbeiterbewegung gerückt war, so war nunmehr die Sache der proletarischen Revolution verknüpft mit dem Schicksal der deutschen Arbeiterbewegung und damit, was im Rahmen dieser Untersuchung von höchster Relevanz ist, mit dem des deutschen Kaiserreichs.
Wenn auch die Londoner mit aller Eindringlichkeit vor der Annexion von Elsaß-Lothringen gewarnt und das Bündnis zwischen Frankreich und Rußland als notwendige Folge davon vorausgesagt haben, so war wenigstens Engels in der Folgezeit angesichts des Aufschwungs, den die Sozialdemokratie nahm, nicht bereit, einen Revanchekrieg von französischer Seite zu tolerieren. Noch zu Lebzeiten von Marx hat er an Eduard Bernstein geschrieben, für den Fall, daß die Elsässer einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland provozieren und damit dem kämpfenden Proletariat in die Parade fahren würden, sei ein energisches „Halt da!" am Platze Nachdem der Besuch eines französischen Flottengeschwaders im Juli 1891 in Kronstadt die französisch-russische Annäherung augenfällig demonstriert hatte, versuchte er, mit allen Mitteln auf die französischen Sozialisten Einfluß zu nehmen und sie davor zu warnen, aus nationalistischen Gründen ein gegen Deutschland gerichtetes Bündnis mit Rußland zu stützen. Der Verlust Elsaß-Lothringens sei letztlich das Ergebnis eines Krieges, der aus dem Anspruch Frankreichs, sich in innerdeutsche Angelegenheiten zu mischen, entstanden sei, hielt er Laura Lafargue vor, und er sei nicht bereit, „das ganze Schicksal Europas und der Arbeiterklasse der Frage unterzuordnen, wem dieses elende bißchen Land gehören soll"
In dem Artikel „Der Sozialismus in Deutschland", der Anfang Dezember 1891 im „Almanach du Parti Ouvrier pour 1892" veröffentlicht wurde, hat er im Anblick drohender Kriegsgefahr die Vision der „zarischen Horden“ in Deutschland beschworen und die unverhüllte Drohung geäußert, daß der deutsche Sozialismus, der, wenn die französische Republik auch „möglicherweise" gegenüber dem deutschen Kaisertum die bürgerliche Revolution präsentieren könne, „gegenüber der Republik eines Constans, eines Rouvier und selbst eines Clemenceau, besonders aber gegenüber der Republik im Dienste des russischen Zaren .. . unbedingt die proletarische Revolution" verkörpert, sich rückhaltlos für die nationale Existenz Deutschlands schlagen würde: „Sollte der Eroberungsdurst des Zaren und die chauvinistische Ungeduld der französischen Bourgeoisie den siegreichen, aber friedlichen Vormarsch der deutschen Sozialisten aufhalten, so sind diese — verlaßt euch darauf — bereit, der Welt zu beweisen, daß die deutschen Proletarier von heute der französischen Sansculotten von vor hundert Jahren nicht unwürdig sind und daß 1893 sich sehen lassen kann neben 1793. Und wenn dann die Soldaten des Herrn Constans den Fuß auf deutsches Gebiet setzen, wird man sie begrüßen mit den Worten der Marseillaise:
Quoi, ces cohortes etrangeres Feraient la loi dans nos foyers!
Wie, soll dieses fremde Heer uns schnöde Gewalt antun am eignen Herd?"
Diese deutlichen Worte an die Adresse der französischen Sozialisten finden ihre Ergänzung in einem Brief an Bebel, worin die völlige Identifikation von Engels und der sozialistischen Arbeiterbewegung mit dem Bestand des deutschen Reiches in außenpolitischer Hinsicht schon im Stil des Schreibens zum Ausdruck kommt. „Werden wir [! ] geschlagen, so ist dem Chauvinismus und Revanchekrieg in Europa Tür und Tor geöffnet. Siegen wir [! ], so kommt unsere Partei ans Ruder. Der Sieg Deutschlands ist also der Sieg der Revolution, und wir müssen ihn, kommt's zum Krieg, nicht nur wünschen, sondern mit allen Mitteln befördern.“
Die Gründung von 1871, der deutsche Nationalstaat, war in der revolutionären Strategie von Engels ein positiver Faktor geworden, dessen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Unabhängig von der innenpolitischen Verfassung des Reiches bildete die 1871 geschaffene Einheit die Bedingung der Existenz der Arbeiterpartei, welche an die Spitze der internationalen Bewegung des Pro‘etariats gerückt war; weshalb Engels an den französischen Sozialistenführer und Schwiegersohn Karl Marx'1893 jenen Satz schrieb, der dieser Untersuchung vorangestellt wurde: „Niemals würden wir Deutschland auf den Stand der Zersplitterung und Ohnmacht von vor 1866 zurückwerfen lassen." Die Arbeiterbewegung mußte also an der nationalen Existenz Deutschlands in letzter Konsequenz noch stärker interessiert sein als die anderen Gesellschaftsschichten und wurde von Engels aufgerufen, dafür „bis auf den letzten Mann [zu] kämpfen"
Während Engels bei aller scharfen Kritik an den inneren Zuständen im Kaiserreich letztlich diesem Reich eine positive Funktion zuweisen konnte, sahen sich die deutschen Sozialdemokraten vom Tage der Reichsgründung an viel intensiver mit den innenpolitischen Verhältnissen konfrontiert, und diese wurden eigentlich der Maßstab, mit dem sie retrospektiv die Reichsgründung beurteilten. Wilhelm Liebknecht hat 1872 vor dem Schwurgericht in Leipzig bekannt, daß ihm von Jugend an ein zweifaches Ideal vorgeschwebt habe, „das freie und einige Deutschland und die Emanzipation des arbeitenden Volkes, d. h. die Abschaffung der Klassenherrschaft" Lieb-knechts Ideale waren im wesentlichen die der Arbeiterbewegung, und außer der kleindeutschen Einheit hatte in den Augen ihrer Anhän-ger das Jahr 1871 nichts davon verwirklicht. Hier ist der Ausgangspunkt für die Kritik an Bismarcks Schöpfung zu sehen, wobei die Reichseinheit als solche nie in Frage gestellt wurde. Wenn in diesem Zusammenhang die These vertreten worden ist, daß im Moment der Reichsgründung die Arbeiterbewegung aus der nationalen Bewegung ausgeschieden ist so ist dem doch zuerst einmal entgegenzuhalten, daß nach der Reichsgründung von „nationaler Bewegung" in Deutschland schlechterdings nicht mehr gesprochen werden kann. Der eine Teil dieser Bewegung sah sich 1871 am Ziel der Bestrebungen angelangt, was naturgemäß das Ende als „Bewegung" bedeutete, der andere Teil, die Arbeiterbewegung und die Reste unversöhnt gebliebener Demokraten, war in seinen nationalen Zielen gescheitert, schied aber deshalb nicht notwendigerweise aus dem Zusammenhang von Staat und Gesellschaft aus. Hier ist eine Entwicklung zu sehen, die bis weit in die Zeit des Sozialisten-gesetzes reichte. Wenn ebenfalls behauptet worden ist, daß die Aufgabe des Ideals vom „freien Volksstaat" in der sozialistischen Arbeiterbewegung nach 1871 schon darin zum Ausdruck kommt, daß der Name des Zentral-organs der 1875 vereinigten Sozialdemokratie in „Vorwärts" umgewandelt wurde so erscheint dies zwar als geistreiche Interpretation dieses Faktums, doch zeigt ein Studium des Protokolls des Gothaer Parteitages und der Quellen aus jenen Wochen und Monaten, daß der Grund für solche Namensänderung ein sehr simpler und einleuchtender war: Den Las-salleanern konnte nicht zugemutet werden, daß der „Volksstaat" der Eisenacher Partei unter diesem Namen Organ der Gesamtpartei werden sollte.
Daß schließlich das „Nationale" seit 1871 von links nach rechts rückte, wird man nur dann akzeptieren können, wenn man am Ende dieses Prozesses das Nationale als nicht mehr identisch mit den „wahrhaft nationalen Ideen" im Engelsschen Sinne ansieht, es sei denn, man würde angesichts des weiteren Verlaufs deutscher Geschichte seit nunmehr 100 Jahren Königtum, Herr, Flotte und Kolonien als die wahrhaft nationalen Fragen der Epoche zwischen 1871 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ansehen. Hier sind auch durchaus die Argumente marxistischer Historiker ernst zu nehmen, die den Vorwurf erheben, daß die kleindeutsch-national-liberale Geschichtsschreibung nur zu leicht bereit war, Ergebnisse der „Klassenpolitik", wie es in der Terminologie der DDR-Historiographie heißt, mit dem Interesse der Nation gleichzusetzen
Wie seinerzeit die Sozialdemokratie dem Deutschen Reich gegenüberstand, tritt wohl am besten in einem Artikel Julius Mottelers, der zur Zeit des Sozialistengesetzes als „roter Feldpostmeister" eine legendäre Gestalt wurde, aus dem Jahre 1874 zu Tage. Motteler schrieb damals im „Volksstaat": „Wir sind Gegner des Reichs, insofern das Reich bestimmte Einrichtungen repräsentiert, unter denen wir uns gedrückt fühlen, unter denen wir leiden", und führte weiter aus, daß die Sozialisten nicht Gegner des Reichs sind, „weil es ein Reich und weil es ein nationales Ganzes sei, sondern weil es in seiner dermaligen Beschaffenheit den Zweck seines Daseins nicht erfüllen kann". In eindringlich bildlicher Sprache wurde von ihm endlich die differenzierte Position der sozialistischen Arbeiterbewegung aufgezeigt: „Sagen auch die Verteidiger des neuesten deutschen Nationalfracks: , Das, was unser Frack denkt, ist das Reich', so bleibt doch dem Sozialismus unbenommen, nachzuweisen oder anzudeuten, daß das Reich vom Volke im Wesen und Ausdruck anders gedacht und verlangt wird, aber doch als Reich, doch als nationales Ganzes."
Die eine Seite dieser Aussage, das unbedingte und rückhaltlose Bekenntnis zur Reichseinheit, läßt sich im sozialdemokratischen Schrifttum während der Epoche von 1871 bis 1914 vielfach nachweisen. Der langjährige Parteisekretär Ignaz Auer hat in einer Schrift zum 25. Jahrestag der Schlacht von Sedan sich sogar zu der Behauptung verstiegen, daß „kein geistig normaler Mensch den Einheitsstaat wieder aus der Welt schaffen wolle" Unter diesem Aspekt war die Sozialdemokratie schließlich auch bereit, die Annexion Elsaß-Lothringens anzuerkennen, und zwar auch in dem Sinne, daß von einer Rückgabe dieses Gebietes an Frankreich nicht mehr die Rede sein könne Die andere Seite der Feststellungen Mottelers verweist darauf, daß die sozialistische Arbeiterbewegung von der Reichsgründung als einem Ereignis, das Anspruch auf geschichtliche Bedeutung erhob, verlangte, daß es die „gesellschaftlichen Zustände verbessert, die Freiheit des Volkes erweitert, sein Rechtsbewußtsein . .. verfeinert, kurz, daß es einen Kulturfortschritt einschließt" Da sich das preußisch-deutsche Kaiserreich in den Augen seiner sozialistischen Kritiker als das gerade Gegenteil dessen etabliert hatte, konnten sie es als ein Staatsgebilde, „wo der Korporalstock die Leuchte der Menschheit und die Pickelhaube das Symbol der Kultur vorstellen soll" seiner inneren Verfassung nach nicht bejahen. Ohne diese differenzierte Haltung der Sozialdemokratie zur Schöpfung von 1871 sehen zu wollen, haben die Repräsentanten dieses Reiches im Augenblick seines Entstehens ihr pauschal den Charakter der „Reichsfeindlichkeit" zugesprochen, wobei ein Mann wie Treitschke auf nicht mehr zu unterbietendem Niveau argumentierte Die Partei wurde durch diese Klassifizierung, die noch in der Wilhelminischen Epoche gängig war, und die Verfolgungsmaßnahmen schließlich immer weiter auf einen Weg gedrängt, der sie in ein Ghettodasein führte. Bismarcks Sozialgesetzgebung bei gleichzeitiger Unterdrückung der Arbeiterbewegung, von Engels schlicht als „Sozialreformscheiße" charakterisiert, konnte diese Entwicklung nicht aufhalten. Daß schließlich die sozialistische Arbeiterbewegung in ihrer Mehrheit sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges mit der bestehenden Staats-und Gesellschaftsordnung abgefunden hatte, ist in Entwicklungen begründet, die hier nicht analysiert werden können
Was das grundsätzliche Verhältnis von Internationalismus, Sozialismus und Nationalstaat angeht, welches hier am Beispiel der Gründung des Deutschen Reichs untersucht wurde, so hat Karl Kautsky dazu Aussagen gemacht, welche über den Bereich der Lösung der deutschen Frage im 19. Jahrhundert hinaus-weisen. Nach ihm tritt die Arbeiterklasse in dem Moment, wo sie sich in bewußtem Gegensatz zur Kapitalistenklasse befindet, auch in bewußtem Gegensatz zur nationalen Idee. Sie wird international. Damit ist aber die nationale Idee nicht aus dem Bereich sozialistischer Ideologie verbannt. Zwar kann die sozialistische Gesellschaft oder — wie Kautsky sagt — der Kommunismus, wobei dieser Begriff anderes beinhaltet als das, was heute gemeinhin unter Kommunismus verstanden wird, nicht mit der „Nationalität" erstehen, weil im Kampf um den Nationalstaat zu viele Energien absorbiert werden, aber sie kann auch nur auf der Basis des Nationalstaates begründet werden So wird noch einmal deutlich, welche Funktion die Reichsgründung von 1871 im Schema sozialistisch-internationalistischer Ideologie einnehmen mußte.