In der jüngeren Vergangenheit, etwa seit Ende 1967, haben einzelne Parteien des sowjet-kommunistischen Lagers, insbesondere die SED, die Auseinandersetzung mit der soge-nannten Konvergenztheorie zu einem der zentralen Themen ihrer ideologischen und politischen Arbeit gemacht. In der folgenden Untersuchung soll versucht werden zu klären, warum man sich gerade auf diese Theorie konzentrierte und sie — im Gegensatz zu ihrer tatsächlichen Bedeutung im politisch-geistigen Leben der westlichen Welt — zu einem der wichtigsten und gefährlichsten Instrumente eines aggressiven Imperialismus deutete, welches die entscheidenden, von kommunistischer Seite gegen die Lehre von der Konvergenz ins Feld geführten theoretischen, ideologischen und politischen Argumente sind und warum schließlich die Hauptoffensive gegen diese Theorie gerade um die Jahreswende 1967/68 eröffnet wurde.
Vorher aber erscheint es erforderlich, den wesentlichen Inhalt der Konvergenztheorie darzustellen und das Für und Wider in der Wirtschafts-und Politikwissenschaft auf westlicher Seite zu erörtern.
I. Die Lehre von der Konvergenz der Systeme
Als einer der geistigen Väter der Konvergenz-theorie kann der amerikanische Nationalökonom Walter S. Buckingham gelten. In seinem 1958 veröffentlichten Buch „Theoretische ökonomische Systeme — Eine vergleichende Analyse" schrieb er, „daß die realen, die funktionierenden ökonomischen Systeme einander immer ähnlicher werden, anstatt voneinander abzuweichen", und gelangte zu der Schlußfolgerung: „. . . Drei von vier Eckpfeilern des Kapitalismus . .. werden wahrscheinlich aus dem reinen Kapitalismus in das neu entstehende Wirtschaft oystem übernommen werden. Erstens das Prix ateigentum an den Invest-bauten und Ausrüstungen .. . Zweitens die ökonomischen Stimuli und das Motiv des Profits . . . Drittens wird sich überall das Markt-system als Hauptmechanismus für die Kontrolle über die Verteilung der Waren und Dienstleistungen behaupten."
Erwähnt zu werden verdient auch, daß sich die heutigen Konvergenztheoretiker auf einen Vorläufer aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts berufen können, den französischen Historiker und Politiker Alexis C.de Tocqueville (1805 bis 1859). Dieser sprach in seinem 1835 erschienenen Buch „Die Demokratie in Amerika" bereits von der zu erwartenden Rivalität zwischen Amerika und Ruß-land und von einer — wie wir heute sagen würden — soziologischen Annäherung der beiden Staaten.
Wie bereits erwähnt, geht die Konvergenz-theorie von der Annahme aus, daß im Laufe der Zeit eine Annäherung zwischen dem westlich-demokratischen bzw. kapitalistischen’ und dem sozialistischen bzw. sowjetkommunistischen System staatfindet, ja stattfinden muß. Dieser Annahme liegt der Gedanke der Struktur einer „einheitlichen Industriegesellschaft" zugrunde. Nach der Konvergenztheorie ist diese gekennzeichnet von einem verhältnismäßig hohen Massenkonsum, vom „Machtantritt der Manager", von der „Herrschaft der Technokraten" und von einer zunehmenden Entideologisierung der Massen. Mit Entideologisierung der Massen ist gemeint, daß weite Kreise in der industriellen Massengesellschaft den Glauben und die Einsatzbereitschaft für irgendwelche ideologischen Werte verloren haben und sich im wesentlichen für die individuelle Konsumption, ihre privaten Belange interessieren. Unter diesen Voraussetzungen kommt es dann allmählich zu einer weitgehenden Angleichung — Konvergenz — der heute noch verschiedenen Systeme des Sozialismus und des Kapitalismus.
Die wirtschaftspolitischen Hintergründe dieses Annäherungsprozesses hat Tinbergen von der Rotterdamer Wirtschaftshochschule darzustellen versucht. Der klassisch-liberale Kapitalismus würde seiner Meinung nach durch den Einbau staatlicher Planelemente sozialistischer, während andererseits der marxistische Sozialismus durch die Übernahme marktwirtschaftlicher Elemente sich dem Kapitalismus nähere. Im Jahre 1965 schrieb Tinbergen in der Belgrader Zeitschrift: „Internationale Politik" (5. Juni 1965): „Wichtig ist es, daß sich beide Systeme im Entwicklungsprozeß befinden und daß viele von diesen Veränderungen eine Tendenz zur Annäherung zeigen. Es liegen sogar Beweise dafür vor, daß sich beide Systeme in Richtung auf ein bestimmtes Optimum, in Richtung auf ein System bewegen, das besser ist als der reine Kapitalismus und der reine Sozialismus früherer Auffassung."
Die ökonomische Variante In der Konvergenztheorie lassen sich zwei Varianten unterscheiden, und zwar eine ökonomische und eine soziologische. Der ökonomischen Variante nach wirken vor allem zwei Faktoren in Richtung einer Konvergenz der Systeme. Einmal ist es der technische Fortschritt, der allenthalben zum bestimmenden Faktor der Entwicklung geworden ist und zwangsläufig zu einer Annäherung der Systeme führt. Dieser Faktor wird vor allem auch von Galbraith betont, wenn er schreibt:
„Es gibt in der Gegenwart kaum eine interessantere Erscheinung, als daß die einstmals kapitalistische und die einstmals kommunistische Firma einander . . . immer ähnlicher werden. Die Ideologie übt in dieser Hinsicht keinen entscheidenen Einfluß mehr aus ... So ergeben sich an allen wichtigen Stellen Berührungspunkte zwischen den beiden scheinbar so verschiedenartigen Industriesystemen." 2) An anderer Stelle weist Galbraith auf die Ähnlichkeit von Industrieländern gleicher Entwicklungsstufe hin: „Die moderne Industrietechnik ordnet sich einem bestimmten Imperativ unter, der über die Ideologie hinausgeht. Eben dieser Imperativ, nicht aber der Wille der Politiker bestimmt — und zwar in sehr starkem Maße — in unserer Zeit die Tätigkeit der ökonomischen und damit auch der politischen Institutionen. Es ist nicht verwunderlich, daß er auch nachdrücklich ähnliche Forderungen stellt. In der Welt von heute besteht ein großer Unterschied zwischen industrialisierten und nicht-industrialisierten Gesellschaften und Ländern. Die Unterschiede zwischen den Ländern, die auf der höchsten Stufe der Industrialisierung stehen . . ., verringern sich jedoch mehr und mehr unter dem Einfluß der Bedürfnisse der Industrietechnik und der mit ihr zusammenhängenden Produktionsorganisation."
Die soziologische Variante Nach der soziologischen Variante erstreckt sich das Prinzip der Konvergenz nicht nur auf die ökonomische, sondern darüber hinaus auch auf die politisch-gesellschaftliche Ebene. Diese Auffassung wird beispielsweise von Raymond Aron
2. Im Unterschied zu dem Marxschen Gesetz I lung der gesellschaftlichen Beziehungen einem neuen „Gesetz" sozialer Veränderungen unterworfen, das letztlich zu einer Hybridgesellschaft führt.
3. Die einzige Alternative zur Verhütung eines thermonuklearen Krieges ist die Schaffung einer einheitlichen Welt, eines integralen Gesellschaftstyps.
1 genz der USA und der UdSSR zum gemischten soziokulturellen Typ", untersucht Sorokin den Prozeß der Konvergenz in den folgenden Bereichen: 1. Naturwissenschaft und Technik, 2. Gesellschaftswissenschaften, 3. Philosophie, 4. Ethik und Strafrecht,
Sorokin gelangt dann zu den folgenden Schlußfolgerungen: „Ich neige zu der Auffassung, daß der herrschende Typ der entstehenden Gesellschaft und Kultur — wenn die Menschheit neue Weltkriege zu vermeiden und die gegenwärtige kritische Lage zu überwinden im-Stande sein sollte — wahrscheinlich weder kapitalistisch noch kommunistisch sein, sondern einen Typ verkörpern wird, den wir als einen integralen bezeichnen können. Dieser Typ dürfte ein Zwischending zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Ordnung und Lebensweise sein." 5)
II. Kritik der Konvergenztheorie
Abbildung 2
Abbildung 2
1. Aus der Sicht westlicher Wissenschaftler Wie nicht anders zu erwarten, mußte die Lehre von dem zwangsläufigen Ähnlicherwerden der verschiedenen Ordnungssysteme in Ost und West bei einer ganzen Reihe von Wissenschaftlern in der westlichen Welt auf Widerspruch stoßen. So schrieb Professor Werner Bosch von der Universität Mainz bereits 1961:
man „Kann Zentralverwaltungswirtschaft und Marktwirtschaft miteinander verbinden? Man kann in ein zentralverwaltungswirtschaftliches System marktwirtschaftliche Elemente einbauen, und es gibt tatsächlich in den meisten Zentralverwaltungswirtschaften Bauernmärkte oder andere marktwirtschaftliche Rest-elemente. Aber sie sind in das zentralverwaltungswirtschaftliche System verwoben. Die Pläne der noch freien Bauern, Handwerker oder Einzelhändler stoßen an allen Seiten auf die staatlichen Pläne. Die Handlungsfreiheit, die in diesen marktwirtschaftlichen Restbereichen einer Zentralverwaltungswirtschaft gilt, ist deshalb nur Schein Denn ein System, in dem die entscheidenden wirtschaftlichen Vorhaben zentral geplant werden, kann nicht zulassen, daß der einzelne zuviel mitplant. Seine Pläne sind für die Zentrale nur dann erträglich, wenn sie so unbedeutend sind, daß sie die Funktionsfähigkeit des zentralverwaltungswirtschaftlichen Systems nicht stören.
Man kann auch nicht eine marktwirtschaftliche Ordnung durch , ein bißchen Planwirtschaft veredeln'. Man kann überhaupt keine , Mischform'zwischen marktwirtschaftlicher und zentralverwaltungswirtschaftlicher Ordnung finden. Immer muß entweder die zentralverwaltungswirtschaftliche oder die marktwirtschaftliche Ordnungsform dominieren. Welche der beiden Grundformen in Wirklichkeit in einem wirtschaftlichen System dominiert, ist nicht immer mit dem Rechenstift zu beweisen, besonders dann nicht, wenn eine Marktwirtschaft sich im Übergang zur Zentralverwaltungswirtschaft befindet oder umgekehrt. Aber es gibt genug Indizien aus der sorgfältigen Beobachtung des wirtschaftlichen Alltags, die in jeder historischen Situation eine Antwort auf diese Frage geben können. Um es zu wiederholen: In jeder historischen Situation dominiert entweder die eine oder die andere Ordnungsform."
Allerdings scheint der Autor seine Ansichten über die Ablehnung der Konvergenztheorie später zugunsten einer etwas differenzierten Betrachtung modifiziert zu haben. So etwa, wenn er jetzt davon spricht, daß die Konvergenz eine Funktion der politischen Bedingungskonstellation sei und die Veränderung des politischen Klimas geradezu eine Voraussetzung ist für Wandlungen im Bereich der Wirtschaft
Zu den Kritikern der Konvergenztheorie hat man auch die amerikanischen Sowjetologen Zbigniew Brzezinski und Samuel P. Huntington zu rechnen. Sie sind neben anderen die Schöpfer der sogenannten „Evolutionstheorie". Nach Auffassung der Evolutionstheoretiker wird in der Konvergenztheorie die Rolle der ökonomischen Faktoren (Entwicklung der Massenbedarfsgüterindustrie, die Folgen des materiellen Überflusses und die zunehmende internationale Verflechtung) überschätzt, und sie teilen nicht die Hoffnung der Konvergenz-theoretiker bezüglich der Auswirkungen der industriellen Entwicklung.
Die Kritik aus dieser Sicht läuft im Ergebnis auf eine andere Bewertung des Verhältnisses von Ideologie und politischer Macht innerhalb des Kommunismus hinaus. Dies wird besonders deutlich bei Brzezinski, der die Einstellung der Konvergenztheoretiker als „antisowjetischen Marxismus" bezeichnet. Er behauptet demgegenüber, Voraussetzung für die Demokratisierung der sozialistischen Gesellschaft seien positive politische Reformen, in erster Linie die Beseitigung des „ideologischen und politischen Monopols der regierenden Partei"
1. Die Industrialisierung wird in der Konvergenztheorie als . ein rein technisch-ökonomischer Prozeß gewertet, der soziale Folgerungen nach sich zieht. Aber es wird davon abstrahiert, daß die Industrialisierung unter ganz bestimmten sozialen Verhältnissen stattfindet, die weitgehend ihre Formen und vor allem den sozialen Inhalt ihrer Auswirkungen bestimmen. Damit wird der marxistischen Einschätzung des Prozesses der gesellschaftlichen Entwicklung ein klassenmäßig unabhängiger Epochenbegriff entgegengesetzt.
2. Die Konvergenztheorie gelangt von der Entstellung des Charakters unserer Epoche folgerichtig zur Leugnung der führenden Rolle der Arbeiterklasse. Sie ersetzt den für den Kapitalismus bestimmenden Klassengegensatz von Bourgeoisie und Arbeiterklasse durch eine wertneutrale pluralistische Gesellschaftsauffassung. 3. Indem die Intelligenz als die im Kapitalismus führende Schicht dargestellt wird, soll von den eigentlich Herrschenden abgelenkt werden. Die Monopol-Bourgeoisie tritt in den Hintergrund, während die Herrschaft der Manager breit geschildert wird.
4. Nach Auffassung der Ideologen der einheitlichen Industriegesellschaft spielt das Eigentum an den Produktionsmitteln keine Rolle für die Machtausübung mehr. Fälschlich behauptet die Konvergenztheorie, daß das Eigentum nicht entscheidend für den Besitz der Schlüsselpositionen sei, sondern es entscheidend darauf ankäme, wer Zugang zu den Schlüsselpositionen hat und wer tatsächlich über die Verteilung der Produkte bestimmt.
5. In der Konvergenztheorie wird die von Betrieben und marktbeherrschenden Monopolen heute in steigendem Umfang praktizierte ökonomische Programmierung im volkswirtschaftlichen Maßstab (Planifikation) mit der sozialistischen Volkswirtschaftsplanung verwechselt. Erstens verfolgt die sozialistische Volkswirtschaftsplanung andere Ziele und zweitens haben die bürgerlichen Staaten die entscheidenden Hebel des Wirtschaftsmechanismus nicht in der Hand. 6. Indem die Konvergenztheorie die Gegensätze zwischen Arbeit und Kapital und zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten im Sinne der marxistischen Theorie leugnet und die Frage nach der Natur des Staates, das heißt also nach seinem Klassencharakter, umgeht oder bewußt verschleiert, lenkt sie den Werktätigen vom Klassenkampf und damit von der Wahrnehmung ihrer objektiven-Interessen ab und dient der Stabilisierung und dem Fortbestand der kapitalistischen Ordnung. 7. Der methodologische Grundfehler der Konvergenztheorie liegt in der voluntaristischen und idealistischen Einstellung zum wirtschaftlichen Entwicklungsprozeß. Die Anhänger der Konvergenztheorie vertreten die Ansicht, daß der moderne Kapitalismus genau wie der Sozialismus gewisse Mängel und Schwächen und gewisse Vorteile und positive Werte besitze. Nunmehr geht es darum, durch Integration oder Synthese die Mängel auf beiden Seiten auszumerzen und eine optimale ökonomische Variante zu entwickeln. In Wahrheit ist jedoch die ökonomische Entwicklung der Gesellschaft nicht eine Sache freier Willensentscheidung, sondern sie beruht auf objektiven ökonomischen Gesetzen, zu denen auch der zwangsläufige Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus gehört.
In einer Reihe von analytischen Arbeiten, die in der ersten Hälfte des Jahres 1968 in Fachzeitschriften und theoretischen Parteiorganen der Sowjetunion und DDR erschienen sind, setzten sich Gesellschaftswissenschaftler und Politökonomen mit der Konvergenztheorie im Sinne der obigen sieben Punkte auseinander
III. Die Konvergenztheorie — „eine ideologische Waffe des aggressiven Imperialismus"
1. Geringe Beachtung der Konvergenztheorie bis 1967 Das Interesse, das der Konvergenztheorie im kommunistischen und besonders im sowjet-kommunistischen Lager heute entgegengebracht wird, ist erst neueren Datums. Bis Anfang 1967 läßt sich in den dortigen wissenschaftlichen und theoretischen Abhandlungen eine Reaktion auf diese Lehre kaum feststellen. Eine der wenigen Ausnahmen war ein Artikel im theoretischen Organ der KPCh „Rote Fahne", der im Oktober 1964 erschien und in dem der Widerspruch zwischen dem „revolutionären Geist" und dem „reaktionären Geist" der Konvergenztheorie herausgearbeitet wurde
Ihren konkreten Ausdruck fand diese Entwicklung in dem Widerstand einzelner Partner des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (Comecon) gegen die sowjetischen Bestrebungen, den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe zu einem supranationalen Planungsorgan auszubauen und damit die nationale Souveränität in entscheidender Weise über das schon gegebene Maß weiter zu beschränken
1. Die Schaffung eines einheitlichen Planungsorgans verstößt gegen die Souveränität der Länder. Das Comecon-Statut sichert den Teilnehmern aber ausdrücklich volle Souveränität zu.
2. Jedes Land braucht eine eigene Schwerindustrie, um den Sozialismus aufzubauen.
Gegen dieses Grundgesetz kann das Kriterium der Rentabilität nicht geltend gemacht werden.
3. Der Comecon ist nicht umfassend genug;
er sollte alle Länder aufnehmen, die sich vom Kapitalismus getrennt haben. 4. Die sozialistische Arbeitsteilung sollte nicht zu einer Isolierung von der Weltwirtschaft führen, sondern den Handel auch mit dem Westen fördern
Auf der gleichen Linie lagen die Bemühungen der Rumänen, die Kommandostruktur der War-schauer Paktorganisation in Richtung einer stärkeren Betonung des Gleichgewichts der Partner zu verändern sowie die Bemühungen verschiedener Mitgliedsländer des Comecon, sich mit der EWG zu arrangieren
Dieser Prozeß des Widerspruchs gegen die sowjetrussische Hegemonie und den ideologischen Führungsanspruch der KPdSU, der stärkeren Wahrnehmung der eigenen nationalen und nationalwirtschaftlichen Interessen und die sich daraus ergebende Auflockerung des sowjetischen Pakt-und Bündnissystems erreichte mit der Entwicklung in der Tschechoslowakei um die Jahreswende 1967/68 einen neuen Höhepunkt.
Nun gehört es bei der Verteidigung der eigenen politischen und ideologischen Machtpositionen durch die doktrinären oder neoleninistischen Führungsgruppen seit jeher zum Rezept, abweichende Vorstellungen und Gedanken, gegensätzliche politische Konzeptionen und Tendenzen und vor allem auch Rückschläge und Mißerfolge ihrer Politik als Werk innerer und äußerer Feinde, als Machenschaften des sogenannten Klassengegners hinzustellen. Unter diesem Gesichtspunkt lag es nahe, auch den gesamten Prozeß der politischen und ideologischen Erosion zum Teil als Ergebnis der Tätigkeit des Gegners und im Falle der Tschechoslowakei vor allem als „Wühltätigkeit amerikanischer und westdeutscher Imperialisten" hinzustellen. Und hier nun erlangte die bis dahin mehr oder weniger unbeachtet gebliebene Konvergenztheorie eine zentrale Bedeutung. Diese Theorie, so behauptete die sowjetkommunistische Propaganda, sei dazu bestimmt, das sozialistische Lager aulzuweichen und zu unterminieren und mit der Losung von der Annäherung der Systeme letztlich das Aufgehen des Sozialismus in den Kapitalismus zu propagieren. Interpretierte man aber die Konvergenztheorie in diesem Sinne, wies man ihr also die Rolle eines Schreckgespenstes zu, so durfte es sich bei dieser Theorie nicht nur um die private und unverbindliche Lehrmeinung einzelner westlicher Gelehrter handeln, sondern diese Theorie mußte zur ideologischen Basis des aggressiven Imperialismus, zu einem ausdrücklich im Interesse des verschärften Klassenkampfes geschaffenen Instrumentes umgedeutet und aufgewertet werden. 3. Die Rolle und Position der SED Den Anfang für die Auseinandersetzungen mit der Konvergenztheorie auf dieser Basis machte der für ideologische Fragen zuständige Sekretär im SED-Zentralkomitee, Hager, mit seinem Grundsatzreferat auf der 4. Plenartagung Ende Januar 1968. Damals führte er unter anderem aus:
„Die Theorie von der angeblichen Wandlungs-und Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus wird verbunden mit der sogenannten Konvergenztheorie’, der These von der Annäherung der beiden Gesellschaftssysteme unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution. Die Monopolbourgeoisie will damit vom notwendigen Kampf um die revolutionäre Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft ablenken, die Formierung ihrer Ausbeuterherrschaft als einen progressiven und gesetzmäßigen Prozeß hinstellen und die von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen befreite sozialistische Gesellschaft diskreditieren. ..
Auf die . Konvergenztheorie'können nur diejenigen hereinfallen, die nicht sehen, daß sie dazu dienen soll, den Kapitalismus zu erhalten. Diese Theorie ist also auch nur ein Schild, hinter dem sich die Absicht verbirgt, die Entwicklung des Sozialismus aufzuhalten.
. . . Während die EWG am 1. Juli 1968 die Zollunion und den gemeinsamen Agrarmarkt vollendet und die Zollunion durch eine Wirtschaftsunion, durch gemeinsame Wirtschaftspolitik ergänzt werden soll, wollen die Imperialisten und ihre sozialdemokratischen Gehilfen Brandt und Schiller den sozialistischen Ländern einreden, daß es für sie vorteilhaft sei, wenn sie eine Angleichung der Wirtschaftssysteme in der EWG akzeptieren würden."
Anschließend wurde das gleiche Thema in zahlreichen Aufsätzen in der Fachpresse und in theoretischen Parteiorganen in immer neuen Variationen behandelt. Auf der vom Zentralkomitee der SED veranstalteten Internationalen Wissenschaftlichen Session in Ost-Berlin vom 2. bis 4. Juni 1968 anläßlich des 150. Geburtstages von Karl Marx sprach auch das Mitglied des Politbüros des ZK der KPdSU, Arvid* J. Pelsche. In seinem Referat über „Die gegenwärtige Epoche, die Epoche des Triumphes der Ideen des Marxismus-Leninismus" wies er auf den weiter bestehenden Gegensatz der Systeme hin: „In letzter Zeit hat die in Mode gekommene bürgerliche Konzeption der . Transformation'des modernen Kapitalismus und seiner allmählichen (Annäherung 1 an den Sozialismus weite Verbreitung gefunden. Der verborgene antimarxistische Sinn dieser Theorie läuft darauf hinaus, die selbständige Rolle der Arbeiterklasse zu negieren und die Unversöhnlichkeit der Klassenwidersprüche der bürgerlichen Gesellschaft zu vertuschen, die sich ständig und anschaulich in diesem oder jenem Grade in allen kapitalistischen Ländern äußern (Ausweitung des Streikkampfes, Wachstum der Arbeitslosigkeit usw.)."
Professor Arno Winkler von der Deutschen Akademie für Staats-und Rechtswissenschaft . Walter Ulbricht'in Babelsberg faßte seine Erkenntnisse über die Konvergenztheorie folgendermaßen zusammen: „Den Theoretikern des Monopolkapitals ist von jeher die Aufgabe zugewiesen, Ideologien zu entwickeln, die das zum Untergang verurteilte kapitalistische System retten sollen. Stets bestand ihr Klassenauftrag darin, das reaktionäre Wesen des imperialistischen Systems zu verschleiern, den Sozialismus zu verleumden und die Arbeiterklasse vom Kampf gegen die Monopolherrschaft abzuhalten.
Unter zahlreichen Konzeptionen tritt seit einigen Jahren die sogenannte Konvergenztheorie hervor...
In dem Maße, wie sich die ökonomischen und politischen Widersprüche der historisch überlebten kapitalistischen Ordnung verschärfen und der Sozialismus seine allseitige Überlegenheit über den Kapitalismus immer überzeugender beweist, wächst der Bedarf der Herrschenden in den imperialistischen Ländern an Ideologien zur Verschleierung des Wesens des staatsmonopolistischen Kapitalismus und zur ideologischen Diversion gegen den Sozialismus. . . .
Die Konvergenztheorie gehört zum Instrumentarium des Klassenkampfes gegen das werktätige Volk. Sie will die wachsende Kritik am kapitalistischen System in Bahnen lenken, die für die bestehenden Macht-und Gesellschaftsverhältnisse ungefährlich sind. Deshalb wird die Verbreitung konvergenztheoretischer Thesen in der Regel mit einer Scheinkritik an einzelnen Symptomen des Kapitalismus verknüpft."
Ähnlich wie sich die Partei zum aggressivsten und lautstärksten Wortführer einer Intervention in der Tschechoslowakei machte, so betrieb sie auch die heftigste Propaganda und Polemik gegen die Konvergenztheorie. Dem Verhalten Ost-Berlins in der tschechoslowakischen Frage und in den Auseinandersetzungen mit der Konvergenztheorie liegen durchaus analoge Motive zugrunde; es sind, so könnte man auch sagen, zwei verschiedene Seiten der gleichen Medaille. Bis jetzt hat die SED mit ihrer Politik der politischen und wirtschaftlichen Ausrichtung auf die Sowjetunion und der staatlichen Zwei-bzw. Dreiteilung Deutschlands (Forderung auf Anerkennung der Westsektoren Berlins als eigenes Subjekt des Völker-rechts) in der Bevölkerung offensichtlich keine ausreichende Basis finden können. Unter diesen Umständen besteht die politische Konzeption der Ost-Berliner Parteiführung darin, das von ihr geschaffene Herrschaftssystem als Erfüllung des Ziels der sozialistischen deutschen Arbeiterbewegung zu verteidigen, es als Modell einer Wiedervereinigung anzupreisen und die Bundesrepublik und die sie tragenden Kräfte überall und mit allen Mitteln zu diffamieren. Die Partei reagiert — aus ihrer Position durchaus logisch und verständlich — mit konsequenter Ablehnung aller Versuche, den doktrinären Marxismus-Leninismus zu revidieren und den unbeschränkten Alleinherrschaftsanspruch der Partei, genauer: einer Gruppe in dieser Partei, anzutasten.
Und hier liegt die Nahtstelle zwischen der politischen Konzeption der SED und ihrem Propagandafeldzug gegen die Konvergenz-theorie. Die SED ist gegen eine Intensivierung aller Kontakte gesamtdeutschen Charakters, soweit diese nicht ihren politischen Interessen dienen; sie propagiert nicht die Konvergenz, sondern die Divergenz der Systeme.
Diese politische und ideologische Plattform der SED-Führung spiegelt sich in der gegen die Konvergenztheorie gerichteten Agitation und Propaganda wider. Es geht der Partei darum, auf wirtschaftlichem, ideologischem und kulturellem Gebiet den Gedanken der Konvergenz zurückzuweisen
„Wie in der , Neuen Zeit'schon dargestellt wurde, äußerte sich der Einfluß der Konvergenztheorie etwa auf der Weltkirchenkonferenz in Uppsala darin, daß die Begriffe Kapitalismus und Sozialismus so gut wie eleminiert und durch den Terminus , Industrienationen'ersetzt wurden. . . .
Neben westlichen Ökonomen und politischen Wissenschaftlern sind es vor allem die . Futurologen', die die These von der Bedeutungslosigkeit der Unterschiede der gesellschaftlichen Systeme propagieren und damit gelegentlich auch bei Theologen in der DDR zeitweiliges Gehör finden. Der Irrtum, daß die . Sachgesetze der Technologie'die Unterschiede zwischen Ost und West gegenstandslos machen würden, ist vor allem für die Verkündigung verhängnisvoll. Denn er rückt das Konkrete und Spezifische aus dem Blickfeld, das gerade das Feld christlicher Bewährung bestimmt."
Und schließlich entfaltete man eine breite Agitation gegen die angeblichen Gefahren der Konvergenztheorie in der Tagespresse. Die Schlagzeilen lassen Inhalt und Tendenz dieser Kampagne deutlich hervortreten:
„Konvergenztheorie ist mit Sozialismus unvereinbar" (Der Morgen,
Auch die von der FDJ organisierte und geleitete Singebewegung wurde in den Dienst der Antikonvergenz-Agitation gestellt. Auf einem der Treffen der FDJ-Singeklubs trug eine Gruppe u. a.den folgenden Vers vor: „Ihr sagt, die Welt, sie strebt zur Konvergenz aus dem Rotstern wird der Stern von Daimler-Benz und vom Kampfe der Klassen sollten wir die Finger lassen, weil er, wie ihr wißt, für euch gefährlich ist!" 22) 4. Die Okkupation der Tschechoslowakei, die „Breschnew-Doktrin" und die Konvergenz-theorie
In der Art, wie in der ersten Hälfte des Jahres 1968 — also während des , Prager Frühlings'— die tschechoslowakischen Reformer und die mit ihnen sympathisierenden Kräfte in anderen Ländern und Parteien des Sowjetblocks unter der vordergründigen Auseinandersetzung mit der Konvergenztheorie angegriffen wurden, die Konvergenztheorie also zum Vorwand der politischen und ideologischen Diffamierung aller Moskau unbequemen Tendenzen benutzt wurde, so diente sie nach der Invasion in der Tschechoslowakei als willkommene Rechtfertigung dieser Gewaltaktion und zur Stützung der These bzw.des Prinzips des proletarischen und sozialistischen Internationalismus — dies um so mehr, als der gleichzeitig mit dem Einmarsch unternommene Versuch Moskaus bzw.der Warschauer Paktmächte scheiterte, die Invasion als „Beantwortung des Hilferufes führender Vertreter der Partei und des tschechoslowakischen Staates, die sich, der Sache des Sozialismus treu, an uns wandten"
Weiter heißt es dann in einem kürzlich von der Parteihochschule „Karl-Marx" beim Zentralkomitee der SED herausgegebenen Buch „ökonomische Gesetze im gesellschaftlichen System des Sozialismus": „Von modernen Marxisten aufgegriffen, die neue Modelle des Sozialismus fabrizieren, erweist sich die Konvergenztheorie als gefährliches Instrument, die sozialistische Ordnung und die internationale Arbeiterbewegung von innen aufzuweichen. Dem muß eine Offensive des Marxismus-Leninismus in Theorie und Praxis • entgegengesetzt werden."
In einer zur Zeit im Pressezentrum am Bahnhof Friedrichstraße in Ost-Berlin verbreiteten Broschüre kann man lesen: „Auf der anderen Seite zielt diese Konvergenztheorie natürlich darauf ab, den Sozialismus auf neue Art aufzuweichen und zu unterminieren. Daß dies das eigentliche Ziel all solcher Theorien des Monopolkapitalismus ist, wurde mehrfach während der Ereignisse in der ÖSSR offen ausgesprochen . . . Für einen solchen Prozeß bedarf es aber nicht des neuen Begriffs Konvergenz . Ihn nennt man in der internationalen Arbeiterbewegung deutlich und treffend Konterrevolution. Ein solches Programm der Aushöhlung und Umstürzung der Arbeitermacht ist selbstverständlich für die DDR völlig unannehmbar, wie für jeden Kommunisten auf der Welt, dem es um den Sozialismus ernst ist."
In letzter Zeit hat sich auf dem Hintergrund der Vorbereitung und Durchführung der Kommunistischen Weltkonferenz in Moskau im Juni 1969 auch die sowjetische Propaganda des Themas . Breschnew-Doktrin'und . Konvergenztheorie'angenommen. Dabei zielt die sowjetrussische Propaganda vor allem in die Richtung, die Souveränität der einzelnen sozialistischen Länder und das Prinzip des proletarischen und sozialistischen Internationalismus als eine „unzertrennliche Einheit", als frei von Widersprüchen erscheinen zu lassen und die These von der „begrenzten Souveränität sozialitischer Länder", also die sogenannte „Breschnew-Doktrin", als eine westliche Erfindung und ein westliches Störmanöver hinzustellen. Beispielhaft für diesen Versuch ist ein mehrfach verbreiteter Artikel, der Ende Juli 1969 von der Moskauer Presseagentur „Nowosti" (ANP) veröffentlicht wurde und in dem es u. a. heißt:
„Die Souveränität einer kommunistischen Partei und eines sozialistischen Landes schließt das Recht ein, die Formen und Methoden des sozialistischen Aufbaus entsprechend den nationalen Verhältnissen zu bestimmen. Zugleich erlegt die Souveränität jeder Partei und jedes sozialistischen Landes ihnen die Pflicht auf, die Macht der Arbeiterklasse und Werktätigen zu behaupten und zu schützen sowie auch alle revolutionären Errungenschaften der sozialistischen Ordnung. Die Souveränität eines sozialistischen Staates ist mit der internationalen Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft der sozialistischen Länder und der internationalen kommunistischen und revolutionären Bewegung unzertrennlich verbunden.
Es handelt sich also um die Klasseneinstellung zur Souveränität. Die Losung der Souveränität, die nicht klassenbewußt aufgefaßt wird, stellt eine feine Waffe der rechtsopportunistischen, revisionistischen und antisozialistischen Kräfte dar, eine der krassen Offenbarungen des bürgerlichen Nationalismus. Die Schöpfer der Konvergenz, die die Formel . begrenzte Souveränität'im Umlauf setzten, versuchten offensichtlich, die internationalen Beziehungen der sozialistischen Länder einzuschränken, die sozialistische Gemeinschaft zu spalten und zu schwächen und dadurch die internationale kommunistische Bewegung zu untergraben."
Doktrin erschöpfend erläutert. Meissner führt darin aus, daß die Breschnew-Doktrin auf eine Wiederholung der Forderung der Moskauer Zentrale auf Unterordnung der kommunistischen Parteien im Satellitenbereich hinauslaufe. Die Sowjetunion betrachtet es (nunmehr schon als „Konterrevolution" — so schreibt Meissner —, „wenn von einer regierenden kommunistischen Partei die Verwirklichung eines demokratischen Sozialismus im Sinne der reformkommunistischen Vorstellungen in einer gewaltlosen Form und unter Wahrung ihrer Bündnisverpflichtungen angestrebt wird". Unter diesem Gesichtspunkt stelle die Gewaltaktion gegen die Tschechoslowakei auch keinen Bruch innerhalb der politischen Praxis des Sowjetkommunismus dar, weil es eine echte Wandlung in den ideologischen und außenpolitischen Auffassungen Moskaus niemals gegeben habe
„Selbstverständlich fällt der Kampf gegen den Opportunismus und Nationalismus in diesen oder jenen Ländern vor allem in den Kompetenzbereich der entsprechenden Bruderparteien. Aber keine von ihnen kann erfolgreich vorankommen, wenn sie nicht konsequent und entschlossen für die Reinheit der marxistischleninistischen Prinzipien kämpft. Wahr ist aber auch, daß sich, wenn man in diesem oder jenem Bestandteil unserer Bewegung aufhört, diesen Kampf zu führen, dies auf sie in ihrer Gesamtheit auswirkt."
Deutlicher und direkter äußerte sich dann Ulbricht, der die Delegation der SED leitete, in seiner Diskussionsrede. Die Ausführungen Breschnews unterstützend, meinte er: „Typisch für die neuen Methoden des Imperialismus ist die psychologische Kampfführung, der Versuch, mit Hilfe der Konvergenztheorie die Bastionen der Arbeiterklasse und des Sozialismus aufzubrechen und das sozialistische Bewußtsein zu zersetzen. Demagogisch stellen die Imperialisten die wissenschaftlich-technische Revolution dar als Weg zur Überwindung des . alten Kapitalismus'und der angeblichen Annäherung des Monopolkapitalismus und des sozialistischen Systems. In der Tat erfolgt durch die wissenschaftlich-technische Revolution und die Konzentration der Produktiv-kräfte im Kapitalismus eine weitere Vergesellschaftung der Produktion. Doch damit wird nur der Beweis erbracht, daß die Herrschaft einiger tausend Monopolherren immer anachronistischer wird, die Übernahme großer Monopole und der Kampf um den Sozialismus auf der Tagesordnung steht. ...
Der Imperialismus vermochte an jenen Abschnitten der internationalen Klassenauseinandersetzung Einbrüche zu erzielen, an denen die Kampfkraft der revolutionären Kräfte im nationalen Maßstab zeitweilig gelähmt bzw. die internationale Solidarität und Einheit der progressiven Kräfte vorübergehend geschwächt war und deshalb nicht in vollem Maße wirksam werden konnte. Die sozialistische Staatengemeinschaft und die anderen mit ihr verbündeten revolutionären Kräfte waren jedoch imstande, die Angriffe des Welt-imperialismus zurückzuschlagen und an einigen entscheidenden Brennpunkten des Klassenkampfes in der internationalen Arena dessen Anfangserfolge in Niederlagen umzuwandeln."
Die Doktrin von der Koexistenz im Sinne der sowjet-kommunistischen Ideologie steht vielmehr im Zusammenhang mit der atomaren Bedrohung und dem atomaren militärischen Gleichgewicht: Die Sowjetunion mußte auf den Einsatz militärischer Mittel für ihre welt-revolutionären Ziele verzichten, weil das Risiko nicht zu überblicken war, und nach anderen Wegen suchen. Diese fand sie in den beiden offensiven Komponenten der Koexistenztheorie, nämlich im ökonomischen Wettlauf mit dem Westen, den sie in der Überzeugung von der Überlegenheit der kommunistischen Planwirtschaft über die marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung im Westen zu gewinnen hofft, und in der These von der Verlagerung des weltpolitischen Kräfteverhältnisses zugunsten des Sozialismus/Kommunismus. Diese These schließt die Behauptung des Programms der KPdSU von 1961 ein, daß der Sozialismus/Kommunismus zur „geschichtlich bestimmenden Kraft unserer Epoche" geworden sei. Unter diesem Gesichtspunkt bildet natürlich die Lehre von der Konvergenz der Systeme einen unvereinbaren Widerspruch zu den Thesen von der friedlichen Koexistenz. Professor Arno " Winkler faßte in seinem schon erwähnten Artikel „Die Konvergenztheorie — Instrument des Antikommunismus" diese Argumentation folgendermaßen zusammen:
„Der ideologische Angriff der Konvergenz-theoretiker auf Grundpositionen des Marxismus-Leninismus geschieht hier unter zwei Gesichtspunkten:
Erstens wird die Politik der friedlichen Koexistenz ihres Klassencharakters entkleidet und aus einem Mittel des Klassenkampfes in ein Mittel der Klassenversöhnung umgefälscht.
Zum Wesen der friedlichen Koexistenz kann man aber nur dann vorstoßen, wenn man vom Charakter der Epoche und der Entfaltung des Widerspruchs zwischen Sozialismus und Imperialismus ausgeht. Die geschichtlichen Erfahrungen lehren, daß der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus kein einmaliger Akt ist. Zwischen dem Beginn dieses weltgeschichtlichen Prozesses und seiner Vollendung liegt eine ganze historische Übergangsperiode. Das aber bedeutet, daß beide Systeme für längere Zeit nebeneinander existieren. Es entsteht also die Frage nach dem Charakter der Beziehungen zwischen entgegengesetzten Gesellschaftssystemen. Lenin hat diese Frage beantwortet, indem er das Prinzip der friedlichen Koexistenz von Staaten mit unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnung begründete. Der hauptsächliche Inhalt dieses Prinzips ist der Verzicht auf den Krieg als Mittel der Politik. Die marxistischleninistische Bestimmung des Inhalts der modernen Epoche enthält in sich zugleich, daß der Sozialismus im Klassenkampf ohne Krieg über den Kapitalismus siegen kann. Diese Möglichkeit kann aber nur dann zur Wirklichkeit werden, wenn alle Formen des Klassenkampfes um die Durchsetzung des Inhalts unserer Epoche bewußt, und zwar unter Führung der Partei, entwickelt und organisiert werden. Die Konvergenztheorie aber hemmt gerade die Durchsetzung des Prinzips der friedlichen Koexistenz dadurch, daß sie ihren Klassencharakter leugnet.
Friedliche Koexistenz ist ein Prinzip der Außenpolitik. Die Mittel dieser Politik sind in erster Linie die des ökonomischen Wettbewerbs zwischen Sozialismus und Kapitalismus, aber in bezug auf die politischen, ideologischen und ökonomischen Entwicklungen des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus kann es keine Koexistenz, keine Neutralität und Überbrückung im Sinne der Koexistenz geben.
Zweitens soll die Vermengung von Koexistenz und Konvergenz von den antagonistischen Gegensätzen zwischen Sozialismus und Kapitalismus ablenken. Die friedliche Koexistenz wird als Methode der Konfliktkanalisierung zwischen gleichwertigen, versöhnbaren sozialen Systemen dargestellt. Damit schließt sich der Kreis. Ausgangs-und Endpunkt der Konvergenztheorie ist die Leugnung der objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung, die Verfälschung der wesensbestimmenden Merkmale des Sozialismus und des Kapitalismus."
IV. Die Wirtschaftsreform und innenpolitische Aspekte der Konvergenztheorie
übereinstimmendes Ziel aller wirtschaftlichen Reformbestrebungen in den sozialistischen Ländern ist es, daß noch aus der Stalin-Ära stammende Wirtschaftssystem zu modernisieren, leistungsfähiger zu machen und so die Voraussetzungen für den wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Wettlauf mit dem Westen zu schaffen. Als Mittel der Wirt-Schaftsreform kommen in Betracht:
a) Verbesserung der Methoden der Planung und Leitung der Wirtschaft;
b) größere Selbständigkeit und erhöhte Eigeninitiative der Betriebe;
c) Entwicklung eines Lohn-und Gehaltssystems mit Anreiz zur qualitativen und quantitativen Steigerung der Produktion und d) Neugestaltung des Preissystems unter stärkerer Berücksichtigung der Kostenfaktoren und der Marktsituation.
Sehr schnell zeigte sich nun, daß die Wirtschaftsreform von den dahinterliegenden ideologischen und gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen kaum zu trennen war, so daß tief-gehende Differenzen in bezug auf die einzuschlagenden Wege, das anzuwendende Instrumentarium und die weiteren Zielsetzungen der Reform zutage treten mußten.
So lassen sich heute hinsichtlich der Wirtschaftsreform zwei Gruppen von Ländern unterscheiden. Zur ersten Gruppe, der reformfreudigen, wird man außer Jugoslawien vor allem die Tschechoslowakei bis zur Okkupation im August 1968 und Ungarn zu rechnen haben. In diesen Ländern wird der Schwerpunkt der Wirtschaftsreform auf die Verselbständigung der Betriebe und die Umgestaltung des Preissystems — und wenn erreichbar auch des Währungs-und Verrechnungssystems —, also auf den Einbau marktwirtschaftlicher Elemente in das sowjetsozialistische Wirtschaftsmodell, gelegt. Ihren konsequentesten Fürsprecher fanden diese Vorstellungen in dem stellvertretenden Ministerpräsidenten der CSSR während der Ära Dubcek, Professor Ota Sik, den man gleichzeitig als Schöpfer der tschechoslowakischen Wirtschaftsreform bezeichnen kann. Für das von ihm entwickelte Modell prägte er den Begriff „Sozialistische Marktwirtschaft"
Dieser Gruppe steht nun eine andere gegenüber, zu der man außer der UdSSR und der DDR alle nicht zur ersten Gruppe gehörenden Länder des sowjetischen Herrschafts-und Kontrollbereiches rechnen muß. 1. Die Doktrinäre in Moskau und Ost-Berlin — Angriffe gegen Ota Sik Nun ist unschwer einzusehen, daß eine Wirtschaftsreform, die als entscheidenden Schritt den Einbau marktwirtschaftlicher Elemente beinhaltet und als Endziel eine „sozialistische Marktwirtschaft" ansteuert, den Gedanken einer Konvergenz mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung im Westen tatsächlich nahelegt Auf Seiten der doktrinären Marxisten bzw. Neoleninisten mußte ein solcher wirtschaftlicher Reformversuch in dem Augenblick auf heftigsten Widerstand stoßen, als man, wie in der Tschechoslowakei, mit seiner Verwirklichung ernst zu machen begann, sich nicht mehr mit theoretischen Erörterungen begnügte und auch vor den weitergehenden gesellschaftlichen und politisch-ideologischen Voraussetzungen und Schlußfolgerungen nicht haltmachte
Es war daher nur folgerichtig, daß sich die Angriffe aus Moskau und Ost-Berlin zunächst einmal auf Ota Sik und das von ihm konzipierte Wirtschaftsmodell konzentrierten. So behauptete die sowjetische Nachrichtenagentur TASS unter dem 5. September 1968, daß das von Sik und anderen Reformern entwickelte neue ökonomische Modell darauf abziele, die CSSR wieder in den Kapitalismus zurückzuführen und die Gefahr der Arbeitslosigkeit und der ausländischen Ausbeutung in sich berge. Ein paar Tage später erneuerte das sowjetische Regierungsorgan „Iswestia" die Angriffe gegen Ota Sik mit der Behauptung, daß die Autoren des neuen ökonomi-sehen Modells in der Tschechoslowakei Grundprinzipien der sozialistischen Wirtschaftsführung wie den demokratischen Zentralismus, die staatliche Planung und den sozialistischen Wettbewerb verworfen hätten, der Marktbasis der Wirtschaft das Wort redeten und die planmäßige Leitung der Wirtschaft negierten. Dieses neue Modell hätte bereits zur Verlangsamung des wirtschaftlichen Entwicklungstempos, zu Arbeitslosigkeit und steigenden Lebenshaltungskosten geführt, und auch die Praxis in Jugoslawien hätte zu einem anarchistischen System geführt
Die SED hatte in ihrem theoretischen Organ „Einheit" bereits vorher den tschechoslowakischen Wirtschaftsreformern den Vorwurf gemacht, die Thesen der Konvergenztheorie übernommen zu haben. In einer Polemik gegen die Veröffentlichungen eines Autorenkollektivs in „Rude Prvo" vom 10., 11. und 12. Juli 1968 zum Thema „Vor der Entscheidung über das neue tschechoslowakische Modell des Sozialismus" hatte die „Einheit" geschrieben: „Im ideologischen Klassenkampf der Gegenwart spielt die von bürgerlichen Ideologen verbreitete und auch von einigen . marxistischen'Publizisten aufgegriffene Theorie der . Konvergenz', der Annäherung von Sozialismus und Kapitalismus, eine große Rolle. . . . Diese . Theorie'wird auch von . modernen'Marxisten aufgegriffen, die insbesondere die politische Macht der Arbeiterklasse, die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Partei, die sozialistische Demokratie und die Planwirtschaft durch eine . Kontrolle der Macht auf der Grundlage der Partnerschaft . . ., der Konfrontation und der Opposition', durch einen . Selbstverwaltungsdemokratismus'sowie eine , vom Kuratel des Staates'getrennte Wirtschaft und andere dem Sozialismus system-fremde Elemente ersetzen wollen."
Ein von der doktrinären Haltung in Moskau und Ost-Berlin deutlich abweichender Standpunkt ließ sich im Oktober 1969 dem Organ der Ungarischen Kommunistischen Partei „Nepszabadsäg" entnehmen. Zwar bekannte sich das Blatt nicht ausdrücklich zur Konvergenztheorie, wohl aber plädierte es dafür, der „kapitalistischenKonsumgesellschaft" eine „sozialistische Konsumgesellschaft" entgegenzustellen und räumte ein, daß die kapitalistische Wirtschaft in den am weitesten entwickelten westeuropäischen und überseeischen Ländern eine Stufe der Entwicklung erreicht habe, auf der sie in der Lage sei, für die große Mehrheit der Bevölkerung einen hohen Lebensstandard zu gewährleisten. Die moderne kapitalistische Wirtschaft versorge den einzelnen und die Familien heute massenweise auch mit solchen Gütern, über die früher nur eine dünne, wohlhabende Schicht verfügte. Die Läden seien voller Waren, das Sortiment werde ständig verbreitert und in vielen Ländern zählten Personenwagen nicht mehr zum Luxus.
Diese Änderungen im hochentwickelten Kapitalismus — so führt das ungarische Partei-blatt weiter aus — könnten auch für die sozialistischen Länder nicht gleichgültig sein. Auch die Bewohner sozialistischer Länder wollen jene Waren kaufen, die in kapitalistischen Ländern dazu dienen, das Leben zu erleichtern und die Mühsal des Alltags zu mildern. Auch sie wollten mehr verbrauchen und bessere Waren kaufen. Es gebe keine kapitalistischen Autos und keine sozialistischen Autos — es gebe nur Autos, die Menschen in allen Teilen der Welt gleichermaßen gern besäßen. „Nepszabadsäg" geht dann auf die heikle Frage der Konvergenztheorie ein, wobei der Unterschied gegenüber den doktrinären Auffassungen besonders in der KPdSU und SED und der ideologische Differenzierungsprozeß innerhalb des sozialistischen Lagers deutlich wird. Während kapitalistische Ideologen die Behauptung aufstellen, so heißt es, das kapitalistische Konsummodell werde sich auch in den sozialistischen Ländern — unabhängig von den Eigentumsverhältnissen — verwirklichen, hätten es die sozialistischen Propagandisten bis jetzt unterlassen, dem Modell der kapitalistischen Uberflußgesellschaft das Modell der sozialistischen Uberflußgesellschaft entgegenzustellen. Es sei offensichtlich, daß für Sozialisten nicht die kapitalistische Verbrauchergesellschaft das nachzuahmende Vorbild sei. Es sei aber genauso offensichtlich, daß auch Sozialisten kein anderes Ziel hätten, als die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Es ginge zum Beispiel im Sozialismus nicht an, daß der Durchschnittsbürger durch die erbitterte Konkurrenz um den Verbraucher ständig gezwungen werde, immer neue Waren zu kaufen.
Man müsse den Umstand berücksichtigen, daß die vollkommenere Gesellschaft des Sozialismus in schwach oder mittelmäßig entwickelten Ländern entstanden sei. Es sei also verständlich, daß es noch nicht gelungen sei, die entwickelten kapitalistischen Länder im Pro-Kopf-Verbrauch einzuholen. Es müsse also ein Modell der sozialistischen Verbrauchergesellschaft entwickelt werden, das auf der Annahme basiere, daß die sozialistischen Länder in 15 bis 20 Jahren — also etwa 1985 bis 1990 — den heutigen Entwicklungsstand der entwickelten westeuropäischen erreichen werden
Wir müssen daher anerkennen, daß es keine gualitativen Unterschiede in der Gesellschaftsstruktur der beiden Länder entsprechend der Konsumverteilung gibt. . . .
Die Annäherung an die kapitalistische Welt sollte keine prinzipienlose, antipopuläre Verschwörung zwischen herrschenden Gruppen sein, wie es im extremen Fall der sowjetischnazistischen Annäherung 1939/40 der Fall war. Eine solche Annäherung muß nicht nur auf einer sozialistischen, sondern auf einer demokratischen Grundlage beruhen, unter der Kontrolle der öffentlichen Meinung, wie sie sich in Wahlen und Publikationen äußert. . . .
Die Geistesfreiheit wird den Weg zu dieser Einsicht, zu Geduld, Elastizität und Sicherheit vor Dogmatismus, Furcht und Abenteuer erleichtern und glätten. Die ganze Menschheit, einschließlich ihrer am besten organisierten und aktivsten Kräfte, der Arbeiterklasse und der Intelligenz, begehrt Freiheit und Sicherheit."
Man wird in der Annahme nicht fehlgehen, daß das Auftauchen dieses Manuskripts mit eines der Motive der sowjetischen Parteiführung für ihr Interesse an der Konvergenztheorie und für die aggressive Propaganda gegen diese Theorie bildete. Dafür sprechen die Stellungnahmen zu dem von Sacharow verfaßten Manuskript und die einleitende Bemerkung des Verfassers, daß seine Anschauungen im Milieu der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz der Sowjetunion geprägt worden seien.
Dieser Tatbestand wurde im Oktober 1969 durch den ebenfalls bekannten sowjetischen Physiker Kapitza
Zusammenfassung
In der jüngeren Vergangenheit ist die soge-nannte Konvergenztheorie zu einem der zentralen Themen der Propaganda und politischen Auseinandersetzungen auf sowjetkommunistischer Seite geworden. Diese Theorie besagt, daß die heute noch getrennten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungssysteme in Ost und West im Zuge des fortschreitenden Industrialisierungsprozesses immer ähnlicher werden — konvergieren — und sich im Ergebnis dieses Prozesses eine einheitliche Industriegesellschaft als Hybridform herausbildet. Diese Theorie ist sowohl auf westlicher Seite als vor allem auch auf Seiten doktrinärer Marxisten auf heftigen Widerspruch gestoßen.
Aber während die Lehre von der Konvergenz der Systeme im Osten zunächst kaum beachtet wurde, änderte sich die Situation um die Jahreswende 1967/68. Der Grund hierfür lag in dem verstärkten politischen und ideologischen Erosionsprozeß innerhalb des sowjetsozialistischen Lagers, wie er im besonderen an der Entwicklung in der Tschechoslowakei sichtbar wurde. Im Zuge der Abwehr dieser Tendenzen durch Moskau und seine Verbündeten wurde die Konvergenztheorie umgedeutet zur ideologischen Basis des aggressiven Imperialismus, zum bewußt eingesetzten Mittel des Klassenkampfes gegen das sozialistische Lager sowie zum Instrumentarium der . neuen Ostpolitik'.
Daneben spielten auch innenpolitische Gründe eine wichtige Rolle. Der seit 1963/64 in Gang gekommene Prozeß der Wirtschaftsreform legt mit dem Einbau marktwirtschaftlicher Elemente in das überkommene stalinistische Wirtschaftssystem den Gedanken einer Konvergenz der Systeme nahe. Wollte man demgegenüber die führende Rolle der Partei und die Machtposition ihrer Funktionäre behaupten, so mußte die Lehre von der Konvergenz aufs schärfste bekämpft und statt dessen eine zunehmende Divergenz der Systeme propagiert und bewiesen werden.
Für die SED spielte in diesen Auseinandersetzungen um die Konvergenztheorie noch die durch die besondere Situation im geteilten Deutschland gegenüber den übrigen Ostblockstaaten geschwächte Position der Partei eine Rolle. Das Memorandum des sowjetischen Atomwissenschaftlers Professor Sacharow zeigte, daß die Idee eines friedlichen Ausgleichs und einer konvergierenden Entwicklung auch unter sowjetischen Wissenschaftlern und Intellektuellen offenbar eine gewisse Resonanz gefunden hat.