Die Kommission zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der politischen Bildung, die im Jahre 1960 von der Bundesregierung berufen wurde, hat in den vergangenen Jahren der Bundesregierung zu zahlreichen Fragen Empfehlungen und Vorschläge vorgelegt. Daß sie an der Unruhe, die die junge Generation in Deutschland und nicht nur hier erfaßt hat, nicht unbeteiligt vorübergehen konnte, verstand sich. Patentrezepte zur Lösung des Generationenkonflikts oder auch nur zu den Problemen der Hochschulen hat sie so wenig wie irgend jemand sonst anzubieten. Die Kommission hielt es aber doch für notwendig, den großen Komplex der spezifisch deutschen Ursachen der gegenwärtigen Unruhe in einer außerhalb der normalen Arbeitssitzungen stattfindenden Diskussion soweit wie möglich zu diskutieren und zu klären. Zu diesem Zweck veranstaltete sie am 17. /18. Oktober 1968 ein Gespräch, zu dem auch Fachkenner hinzugezogen wurden, die der Kommission nicht angehören.
Die Redaktion hält diese Diskussion für so aufschlußreich, daß sie sie mit geringen Kürzungen zum Abdruck bringt. Der Diskussion lag ein schriftlich eingereichtes Expos von Professor Wilhelm Hennis, Freiburg i. Br., zugrunde, das zusammen mit anderen Arbeiten unter dem Titel „Die deutsche Unruhe — Studien zur Hochschulpolitik" im Christian-Wegner-Verlag, Hamburg, erschienen ist. Da Professor Hennis seine Thesen am Anfang kurz resümiert, ist ein Abdruck seiner Arbeit zum Verständnis der Diskussion nicht erforderlich. Das hier vorgelegte Protokoll wurde von Regierungsrat Alfons Bettermann angefertigt. Die Redaktion dankt allen Teilnehmern des Gesprächs für ihr Einverständnis zum Abdruck ihrer Beiträge.
Protokoll eines Kolloquiums in der Evangelischen Akademie Bad Boll am 17. und 18. Oktober 1968, veranstaltet von der Kommission zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der politischen Bildung
An dem Kolloquium nahmen teil als Mitglieder des Kommission: Akademiedirektor Dr. Felix Messerschmid, Tutzing (Vorsitzender)
Professor Dr. Karl Dietrich Bracher, Bonn Professor Dr. Wilhelm Hennis, Freiburg Professor Dr. Max Horkheimer, Frankfurt Professor Dr. Helmut Krausnick, München Akademiedirektor D. Dr. Eberhard Müller, Bad Boll Professor Dr. Hans Rothfels, Tübingen als Gäste:
Professor Dr. Thomas Ellwein, Frankfurt (am 17. Oktober)
Professor Wolfgang Hilligen, Gießen (ab 17. Oktober, nachmittags) Arbeitsgruppenleiter Manfred Klein, Bonn Professor Dr. Helmut Kuhn, München Dr. Johannes Karl Richter, Berlin Stellvertretender Direktor Franklin Schultheiß, Bonn Regierungsdirektor Dr. Walter Tormin, Hamburg.
Dr. Messerschmid teilte mit, daß es Professor Hennis nicht möglich gewesen sei, eine Ausarbeitung seines Referats den Kommissionsmitgliedern so frühzeitig zuzuleiten, daß diese eingehend schriftlich dazu hätten Stellung nehmen können. Auch habe sich das Vorhaben, einen Korreferenten zu gewinnen, leider nicht verwirklichen lassen. Aus diesem Grunde sei er selbst bereit, mit einigen Ausführungen zur Theorie der politischen Bildung wenigstens „eine halbe Gegenposition''zu dem Referat von Professor Hennis vorzutragen. Er bitte jedoch zunächst Professor Hennis, das Wort zu nehmen zu einer kurzen Einführung in die von ihm vertretenen Thesen. Professor Hennis bemerkte einleitend, daß es wohl kaum möglich sein werde, im Verlauf der Sitzung eine Empfehlung der Kommission zu verabschieden, wie dies beabsichtigt gewesen sei. Dazu sei der Gegenstand zu kontrovers. Wichtig sei es vielmehr, zunächst zu einer vertieften Diskussion zu gelangen über die Grundlagen der politischen Bildung und der Politik in der Bundesrepublik. Er bedauere sehr, daß er seine erstmals auf der 10. Arbeitssitzung der Kommission am 25. Mai 1968 vorgetragenen Auffassungen bisher noch nicht in eine wissenschaftlich abgesicherte Form habe bringen können. Er bitte daher um Verständnis, daß er den Teilnehmern die für seinen Vortrag im Deutschlandfunk am 19. September 1968 ausgearbeitete Fassung zugeleitet habe.
Professor Hennis führte weiter aus, seine Thesen könnten nicht etwa als „bewußt provokativ" aufgefaßt werden; sie stellten vielmehr seine wirkliche Meinung dar. In der Kommission habe Übereinstimmung bestanden, daß die mit „Unruhe" bezeichnete Bewegung in der Bundesrepublik Anlaß geben müsse zu einer grundsätzlichen Neuüberlegung des Standorts der politischen Bildungsarbeit. Diese werde ja immer Reaktion sein auf bestimmte Probleme der Gesellschaft. Wenn man sich die der politischen Bildungsarbeit zugrunde liegenden Theorien über den Zustand der deutschen Gesellschaft nach 1945 vergegenwärtige, so seien diese alle umgekehrte Faschismustheorien. Die politische Bildung habe sich zentral mit Vorgeschichte und Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigt und die Fragen gestellt: Wie hat es dazu kommen können? Welche konstitutionellen Schwächen haben diesen Einbruch der Barbarei ermöglicht? Die Faschismustheorie der westlichen Demokratien, auf denen die reeducation basiert habe, sei nicht marxistisch, sondern liberal gewesen und habe den Nationalsozialismus als letzte Stufe des deutschen Obrigkeitsstaates gesehen, als Revolte der bürgerlichen Schicht gegen die Bedrohung durch die moderne Industriegesellschaft. Mit dieser Theorie habe sich die große Masse des deutschen intellektuellen Bürgertums sehr schnell verständigen können, nicht zuletzt, weil sie falsch sei im Hinblick auf den Faschismus; denn der Nationalsozialismus habe sich — vor allem in seiner jungen Mannschaft — ja selbst als Gegner des bourgeoisen Obrigkeitsstaats verstanden. Von daher habe nach 1945 keine Schwierigkeit bestanden, sich für die politische Bildung zu engagieren, ohne mit der eigenen Tradition zu brechen.
Heute nun stünden wir an einem Punkt, an dem sich die Geister schieden in der Auffassung von Demokratie. Bei der „Neuen Linken" erlebten wir die Wiederkehr von Theorien über die Demokratie, die identisch seien mit dem, was Carl Schmitt am Ende der zwanziger und in den dreißiger Jahren vertreten habe. Bezeichnend sei der steigende Konsens — auch in der politischen Wissenschaft —, daß der Rousseau'sche Demokratiebegriff der eigentlich „klassische" sei. Auch die heutige Pluralismus-und Parlamentarismuskritik bewege sich in den Bahnen Carl Schmitts. Die Unfähigkeit, mit den Problemen des Parlamentarismus, des Pluralismus und der „sich verhärtenden" repräsentativen Demokratie fertig zu werden, erlaube vielen Jüngeren den Über-gang in ganz neue Formen der Demokratie-konzeption, die sich assoziiere mit einer neuen Faschismustheorie. Diese beziehe sich etwa auf Horkheimers vielzitierten Ausspruch: „Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll auch vom Faschismus schweigen." Hier werde Faschismus/Nationalsozialismus nicht als letzte Stufe des preußisch-deutschen Obrigkeitsstaates verstanden, sondern als letzte Stufe des in eine ausweglose Situation geratenen Kapitalismus. Beide Faschismustheorien gingen an dem eigentlichen Problem vorbei. Es gebe z. Z. keine befriedigende Theorie. Auch der beste Kenner des Problems, Ernst Nolte, sei nicht imstande, die tieferen Grundlagen des Faschismus außerhalb seiner Epoche zu sehen, und nehme keine Rücksicht auf geschichtlich weit zurückreichende politische, geistige und religiöse Zusammenhänge. Diese Verengung des historischen Blicks sei auch den Zeitgeschichtlern vorzuwerfen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Diskussion sei die Notwendigkeit einer Phänomenerfassung der gegenwärtigen Unruhe. Daß junge Menschen zu Protesten neigten, sei verstehbar. Viel beängstigender und problematischer sei die Art und Weise der Reaktion in der mittleren Generation und in den Institutionen. Weithin werde die Unruhe als eine erfreuliche, begrüßenswerte, im Kern berechtigte, neue Horizonte aufreißende Erscheinung kommentiert. Da schienen Traditionen deutscher Irrationalität und Bewegtheit wieder hochzukommen. Es sei zu befürchten, daß eine neuerliche Konsequenz aus diesem Phänomen noch schrecklicher sein werde als alles bisher Erlebte, da zur Zeit ein radikaler Abbau letzter bürgerlicher Tabus im Gange sei. Welche Folgerungen aus dieser Lage für die politische Bildungsarbeit gezogen werden könnten oder müßten, sei eine sehr schwer zu beantwortende Frage.
Dr. Messerschmid betonte, die politische Bildung habe zu dem, was Professor Hennis zum Ausdruck gebracht habe, noch keine Antwort gefunden, weil ihr die Fragestellung in dieser Form bisher unbekannt gewesen sei. Aber die politische Bildung habe ohne Zweifel einige Punkte anders beantwortet, als sie Professor Hennis in seinem Referat und seinen zusätzlichen Ausführungen zur politischen Bildung selbst auf der 10. Arbeitssitzung der Kommission dargestellt habe. Es erscheine ihm daher dienlich, einen kurzen Überblick darüber zu geben, wie sich die politische Bildungsarbeit bisher verstanden habe. Vielleicht ließen sich daraus einige klärende Gesichtspunkte gewinnen.
Dr. Messerschmid trug sodann sein Korreferat vor.
Er führte (nach dem Wortlaut des hier stark gekürzten Manuskripts) u. a. aus:
Die demokratische Ordnung bedarf mehr als jede andere politische Ordnung der aktiven Mitwirkung der Bürger, einer Mitwirkung, die nicht blind ist, sondern von einem sicheren Wissen um die Ziele und Einrichtungen dieser Ordnung und um die zur Entscheidung stehenden Fragen in diesem Staatswesen getragen wird. Das heißt: Die Demokratie bedarf mehr als jede andere Staatsordnung der das politische Verhalten prägenden politischen Bildung des einzelnen Bürgers.
Diese politische Bildung kann als Resultat langer politischer Erfahrungen, als „politische Kultur" gewachsen und fraglos gegeben sein; sie kann aber in Staaten ohne politische Kontinuität und ohne demokratische Traditionen eine erzieherische Aufgabe sein, die es um des Bestandes und des guten Funktionierens dieser politischen Ordnung willen zu erfüllen gilt. Vor allem in Deutschland besteht eine solche Aufgabe politischer Bildung.
Eines der schwersten Probleme für jede politische Bildung ist, daß die früher zweifellos vorhandenen und stark wirksamen emotionalen Bindungen des Bürgers an „Nation", „Volk und „Vaterland" verblaßt sind und kaum noch eine integrierende Wirkung vor allem auf jüngere Menschen ausüben. Ein Ersatz für diese Werte zu finden, ist schwer. Der Europagedanke, der gleich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem die Jugend bewegte, hat an Kraft verloren. Es besteht die Gefahr, daß die Demokratie nur noch als eine technische Apparatur, als ein formales Organisationsprinzip zur Lösung politischer Probleme angesehen wird, das über den Inhalt des Staatswesens nichts aussagt und dessen Qualität allein nach der Perfektion des Apparates bemessen wird. Es ist die Frage, ob eine derart formalisierte Demokratie noch genügend Integrationskraft entwickeln kann, um Belastungen und Krisen zu bestehen.
Daraus ergibt sich: Eine politische Bildung, die erfolgreich sein will, muß auch die ihr entgegenwirkenden Faktoren in Rechnung stellen. Das bedeutet: Die bloße Lehre von politischen Institutionen und Techniken kann nicht genügen; ebensowenig die posthume Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Antisemitismus; sie darf auch nicht in einer nur reaktiven Konfrontation unserer politischen Ordnung mit dem Kommunismus und in der Entwicklung einer Gegenideologie Stecken-bleiben. Eine demokratische Verhaltenslehre und politische Ethik ist unentbehrlich. Politische Bildung muß in jedem Fall mehr wollen; über die bloße Information hinaus muß sie auf die Einstellung des Bürgers zur Politik und zu den politischen Einrichtungen einwirken, auf sein Verhalten und Handeln in unserer politischen Ordnung, die er versteht und kennt. Es bedarf also einer politischen Lehre, die diesen Forderungen zu genügen vermag.
Politik ist letztlich auf Tun gerichtet; Politik in der Demokratie beginnt mit der Beauftragung von (vielleicht geeigneten) Mitbürgern, welche die gemeinsame Ordnung durch Gesetze bestimmen, die Regierung bilden und sie kontrollieren sollen, und setzt sich in verschiedenen Formen und Stufen der inhaltlichen Mitbestimmung und Mitkontrolle der Politik durch die Bürger selbst fort. Das ist jedenfalls im theoretischen Verständnis der Demokratie gemeint, in vielerlei institutionellen Regelungen ermöglicht und auch in der Wirklichkeit etwas mehr als Utopie. Mitverantwortlichkeit und Mitbeteiligung an der Politik, in welchen Formen und in welchem Maß immer, gehören also zu einer demokratisch gehandhabten und funktinnierenden Demokratie. Ohne sachliche Urteils-fähigkeit der Staatsbürger gibt es keine Demokratie.
Die Sorge, politische Bildung werde gegen die Wirksamkeit der von Politikern gesetzten (oder nicht gesetzten) Fakten nicht aufkommen, ist allenthalben anzutreffen; wer sich um sie bemüht, begegnet häufig der (meist umschriebenen) Meinung, man sei unter die unpolitischen Utopisten einzureihen, die sich von politischen Sektierern höchstens dadurch unterscheiden, daß sie, im allgemeinen wenigstens, kein Unheil anrichten; manchmal verbindet sich mit dieser freundlichen Meinung sogar eine gewisse Förderung, weil ja doch politische Bildung ein Mittel gegen den störrischen Staatsbürger sei und mit dem „einsichtigen", umgänglichen, gewissenhaften, domestizierten Staatsbürger leichter Staat zu machen sei.
Die Sorge ist berechtigt — allerdings kaum mehr als etwa für die religiöse oder die ethische Bildung. Sie hat viele Gründe: vor allem die kaum abzuweisende Erkenntnis, daß — außer in Krisenzeiten — der durchschnittliche Bürger, wenn es ihm halbwegs gut geht, unpolitisch ist, er also schwer dazu zu bringen ist, das Gemeinwesen, das ihn umfängt, als etwas anderes anzusehen, als eben notwendige „Polizey", von der zwar mehr Regen als Sonnenschein zu erwarten ist, die aber den Charakter des fast natürlich Gegebenen hat, oder als den ewigen Störenfried im schwer genug zu sichernden eigenen Gehege. Andere Gründe sind, daß die Möglichkeiten der Einwirkung für den einzelnen im Parteienstaat, in der hochdifferenzierten industriellen Gesellschaft, in einer Welt ungeheurer Machtsteigerung durch die Technik sich objektiv vermindert haben und die moderne Demokratie oligarchische Elemente in ihr Gefüge einbauen muß, um den daraus entstehenden Aufgaben gewachsen zu sein.
Aus alledem und vielem anderen ergibt sich: 1. Politische Bildung wird nur wirksam sein, wenn sie sich selbst als Teil der Politik begreift und nicht als außerhalb ihrer stehend, wenn sie also nicht, sich selbst genügend, zum bloßen interpretierenden Verstehen politischer Zusammenhänge führt. Sie partizipiert an der Politik, ist von den politischen Verhältnissen und den politischen Aufgaben abhängig, muß diese Abhängigkeit bejahen und sie — in Anpassung wie Widerstand — im Vorgang der Bildung aufnehmen. Sie hat auf diese Weise teil am nationalen Schicksal. 2. Das fundamentale Ziel der politischen Bildung bleibt der sich selbst und das Gemeinwesen mitverantwortende, zu begründeten Urteilen fähige, die Methoden der politischen Einwirkung kennende, später möglicherweise politisch aktive Zeitgenosse. 3. Es gibt einige wenige politische Betätigungen, die den Charakter moralischer Verbindlichkeit haben. Dazu gehört — normalerweise — die Beteiligung an den Wahlen. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht hat die modernen Massendemokratien geschaffen. Es ist fraglos ein hohes, weil die demokratische Ordnung konstituierendes Recht. Man kann es manipulieren, auf totalitär, auf plebiszitär und autoritär, auch auf demokratisch. Es ist kein Privileg mehr, daher selbstverständlich und in seinem Wert gemindert; gerade weil seine konstitutive Bedeutung nicht mehr im allgemeinen Bewußtsein ist, fällt das Manipulieren mit ihm relativ leicht. Um so dringlicher ist die Aufgabe der politischen Bildung, die Voraussetzung jeder echten Wahl, eine Urteilsfähigkeit höchst komplexer Art, zu sichern und aus diesem Recht wirkende Antriebe für die Mitgestaltung der politischen Ordnung zu gewinnen. 4. Dennoch: Die Aktivität des künftigen Bürgers ist keineswegs das einzige, nicht einmal das wesentliche Ziel der politischen Bildung in der Schule; jedenfalls ist das Aktivitätsprinzip für die politische Bildung, welche die Schule leisten kann, nicht konstitutiv. Es ist nötig, das deutlich zu sagen. Das Aktivitätsprinzip hat ein Modell des Bürgers vor Augen, das idealistisch überhöht ist, es an Nüchternheit fehlen und sich daher nicht realisieren läßt. Dieses Modell hatte im 19. Jahrhundert eine bedeutende politische Funktion und eine starke politische Wirkung für die Entwicklung des Bürgersinns; aber der Bürger in der Sicht der Honoratiorendemokratie ist nicht der Bürger der Massendemokratie mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht. Die politische Bildung dieses Bürgers ist sehr viel schwieriger; sie muß sich als intellektuelle Aufgabe anders verstehen und muß als Werk der Erziehung anders angelegt sein; sie muß insbesondere im Grundbereich für alle elementar in jedem Verstände sein. Auf dem elementaren Grundbereich für alle erst können die differenzierten Formen der politischen Bildung aufgebaut werden. Diese können jedoch keineswegs allen zugemutet werden, sondern nur bestimmten Gruppen, jenen nämlich, die sie zur richtigen Erfüllung ihrer Funktionen in der Gesellschaft in besonderem Maß brauchen, allen politisch besonders interessierten Einzelnen, vor allem aber jenen politisch engagierten und aktiven Gruppen, die es durch alle Schichten der Gesellschaft hindurch gibt, die in allen Schichten geweckt und gebildet werden müssen. Vermittlung von Ordnungseinsichten, von Einsichten am Ursprung, zugleich aber deren ständige Überführung in die Dimension der Aufgabe — damit ist wohl der wichtigste Auftrag der politischen Bildung gekennzeichnet, derjenige nämlich, der den Ausdruck politische Bildung rechtfertigt.
Es ist also nötig, politische Bildung so anzulegen, daß der politisch Gebildete imstande ist, Herrschaftsverhältnisse auf Sinn und Ziel der demokratischen Verfassung hin zu prüfen und zu durchschauen. Er muß sie auf ihre sozialen Voraussetzungen, ihre ökonomischen Grundlagen und gegebenenfalls ihre ideologischen Tarnungen zurückbeziehen können und darf politische Ideen nicht als irreale Utopien oder als bloße Ideale verstehen, deren unvollkommene Realisierung dann zu beklagen ist, sondern eben als Entwürfe auf eine zumutbare Ordnung hin. Schließlich ist es auch unumgänglich, klarzumachen, daß gerade um der Freiheit des einzelnen willen dem Staat gegeben werden muß, was er braucht, damit er die gesetzte Ordnung erhalten und durchsetzen kann.
Vor allem aber muß eine politische Bildung, die ihren Ort zwischen der bloßen Idealität und der bloßen Aktualität finden will, auf die Erkenntnis Wert legen, daß es im demokratischen Prozeß fast immer mehrere Lösungsmöglichkeiten gibt, daß man nie sicher im voraus weiß, ob die eigene Lösung sich wirklich als die mögliche und richtige erweisen wird, und daß alle Diktatur im Grunde aus der verführerischen Kraft absolut gesetzter politischer Ideale stammt. Politik ist ein nüchternes Handwerk; Wunschbilder können das Mögliche verhindern. Das Mögliche ist aber unter den Bedingungen einer offenen Gesellschaft sehr oft das demokratisch Richtige, jedenfalls das, womit man sich — wenigstens vorläufig abzufinden hat, wenn der Friede und die Aufrechterhaltung der demokratischen Ordnung es verlangen. Was freilich das Mögliche ist, kann erst in der Auseinandersetzung selbst erfahren ein Politiker werden; kluger kann die Grenzen des Möglichen hinausschieben, die Machtverhältnisse bestimmen sie mit. Politische Bildung darf die Kategorie des Möglichen nicht vernachlässigen, muß aber zugleich deutlich machen, daß der Raum des Möglichen durch die Grundrechte definiert, das heißt begrenzt ist;
die Warnung vor Wunschbildern ist also nicht die Empfehlung politischer Grundsatzlosigkeit, die in reinen Machtkampf mündet. Demokratische Machtanwendung steht unter der Kritik im Blick auf ihren Dienst an der Ordnung des Gemeinwesens. Für diese Ordnung gibt es auch innerhalb der demokratischen Definition konkurrierende Vorstellungen und Entwürfe; die Warnung vor idealistischer Ausschließlichkeit gilt für diese innerdemokratische Konkurrenz. Dr. Messerschmid stellte abschließend fest, daß seine Ausführungen insofern einen Einwand gegen die Forderungen von Professor Hennis darstellten, als er nicht der These zustimmen könne, die politische Bildung habe das Aktivitätsprinzip von Anfang an überbetont. Sie sei vielmehr nüchterner gewesen und habe einen bestimmten Grundbereich von Erkenntnissen als das Wichtigste angesehen.
Professor Hennis regte an, nicht etwa „Gerichtstag" über die politische Bildungsarbeit zu halten, zumal sein eigenes negatives und sicherlich extremes Urteil in der 10. Arbeitssitzung sozusagen nur aus einem Nebensatz bestanden habe. Es gelte das Phänomen „Unruhe" einmal isoliert von dieser Frage in den Griff zu bekommen.
Professor Ellwein schlug vor, in eine Aussprache über das bisher Vorgetragene einzutreten, und zwar erstens über die von Professor Hennis gegebene historische Analyse, zweitens über seine Situationsanalyse der Gegenwart, drittens über seine Thesen zum Ansatz der politischen Bildung nach 1945, viertens über die Frage nach den Konsequenzen für die politische Bildung.
Professor Bracher stimmte diesem Vorschlag zu. Im Hinblick darauf, daß Professor Hennis betont habe, sein Referat sei nicht etwa bewußt provokativ, sondern stelle seine eigene Meinung dar, sei eine scharfe Analyse der einzelnen Komponenten erforderlich. Im übrigen solle man nach seiner Auffassung danach streben, am Ende eine gemeinsame Bestandsaufnahme zu leisten oder später ein Ergebnis aus dem Protokoll zu erarbeiten. gab die Anregung, sofort Professor Kuhn den zweiten Punkt der von Professor Ellwein vorgeschlagenen Diskussionsabfolge zu behandeln. Der Schwerpunkt der Ausführungen von Professor Hennis liege in der Analyse der gegenwärtigen Situation. Die historischen Aspekte seien damit verflochten und könnten jeweils mit besprochen werden.
Die Anwesenden stimmten dem zu, wobei Professor Ellwein und Professor Bracher jedoch betonten, daß der historische Unterbau keinesfalls ausgespart werden dürfe. Die zentrale These von Professor Hennis sei ja, daß es eine geschichtlich nachweisbare deutsche Unruhe par excellence gebe, aus der sozusagen nahtlos die gegenwärtigen Probleme entstanden seien.
Nach einer Erörterung zwischen Professor Hennis, Professor Bracher, Professor Ellwein und Professor Krausnick über die Behandlung geistesgeschichtlicher Voraussetzungen für das Entstehen des Nationalsozialismus in der deutschen und außerdeutschen Geschichtsschreibung lenkte Professor Kulm die Aufmerksamkeit auf die eigentliche Thematik des Kolloquiums: Wie die gegenwärtige Unruhe zu deuten sei und welche Konsequenzen sie verlange. Der Soziologe Tenbruck habe in seinem Buch „Jugend und Gesellschaft" die Frage der Fortpflanzung von Traditionen von einer Generation zur anderen behandelt und außerdem untersucht, warum es erst seit dem 18. Jahrhundert eine „Jugend" als soziologisches Phänomen gebe. Als Leser dieses Buches könne man sehen, in welchem Maße die heutigen Unruhen sich an frühere Jugendunruhen anschlössen, deren klassisches Land Deutschland sei. Er selbst stimme den Thesen von Professor Hennis im ganzen zu. Die heutige Jugendunruhe müsse sehr ernst genommen werden; das bedeute jedoch nicht, sich ihr in der Weise zu unterwerfen, wie das heute geschehe. Die Gestaltverwandtschaft der heutigen Erscheinungen mit den Vorgängen in den zwanziger Jahren und von 1930 bis 1933 sei deutlich. Das Erschütternde jedoch sei weniger die Unruhe selbst, sondern die Art, wie die Öffentlichkeit darauf reagiere. Seine ganz persönliche Erfahrung aus den Jahren 1931 und 1932 könne er umschreiben mit dem Satz: „Der Boden rutscht weg." Menschen seien plötzlich verwandelt gewesen, innerlich umgekrempelt, in den Sog geraten. Heute zeige sich ebenso plötzlich genau dasselbe. Die Drittelparität, die vor zwei Jahren noch phantastisch und unglaubwürdig erschienen sei, werde von manchen bereits als längst überholt bezeichnet. Hier kämen nicht nur Meinungen einzelner zum Ausdruck, sondern diese Wandlungen schlügen sich auch nieder in den Massenkommunikationsmitteln und in den Auffassungen der Ministerien. Durch diesen Effekt werde die Universität heute zerstört. Der SDS werde nicht immer bestehen, aber sein Opfer habe er bereits gefunden. Auch das von früher her so vertraute Phänomen der Vergeßlichkeit tauche wieder auf. Die Menschen merkten nicht, daß sie andere geworden seien. Dies alles zeuge von einer politischen Unreife, die in anderen Ländern kaum eine Parallele finde.
Professor Horkheimer sagte, nach dem bisher Gehörten sei ihm die Frage, was man eigentlich unter politischer Bildung verstehen solle, noch beunruhigender geworden. Der Vortrag von Professor Hennis, von dem er selbst überaus ernsthaft berührt gewesen sei, lege doch die Verpflichtung nahe, darüber nachzudenken, ob nicht bei den Unruheerscheinungen in der Bundesrepublik neben den historischen auch sehr viele psychologische und soziologische Elemente im Spiel seien. Wenn man die deutsche von der allgemeinen Unruhe unterscheiden wolle, so seien hier auffallend das Ressentiment, das Minderwertigkeitsgefühl, das „Unbewußte". Dies alles zeige sich sowohl bei den auf die Unruhe Reagierenden wie auch bei manchen Studenten. All denen, die da aufstünden, sei offenkundig eines gemeinsam: der Umstand, daß keine sie beglückenden Ziele vorhanden seien, daß es sie nicht locke, in die Fußstapfen des Vaters zu treten, daß die Theologie — anstatt bloß negiert zu werden — nicht aufgehoben werde in ein Höheres als ein gesellschaftspolitisches Ziel. Die Jugend sei infolgedessen mit Recht todunglücklich und setze sich in ihrer Verzweiflung selbst ihre Ziele. Daraus ergebe sich nun die Frage, inwieweit die politische Bildung neben der Erziehung zur Erkenntnis politischer Tatsachen psychologische und soziologische Einsichten berücksichtigen müsse. Eine außerordentlich wichtige Frage sei in diesem Zusammenhang die Heran-bildung der Lehrer für politische Bildung, insbesondere an den höheren Schulen. Bei der Beurteilung der gegenwärtigen Erscheinungen müsse man sich bewußt sein, daß die gesamte bisherige Tradition sich in einer ungeheuren Krise befinde. Der Nationalsozialismus sei nicht nur ein Rückfall, nicht nur eine deutsche Angelegenheit gewesen, sondern auch ein Symptom für die Entwicklung zur total verwalteten Welt. Das mit Schrecken verbundene Totalitäre sei die Gefahr im Übergang zu einer völlig rationalisierten Gesellschaft. Das müsse wenigstens als Hypothese auch von der politischen Bildung ausgesprochen werden.
Professor Bracher kam zurück auf die Bemerkungen von Professor Kuhn zur Situation an den Hochschulen. Die Einzelbeobachtungen ließen sich wohl als zutreffend bezeichnen, aber man könne doch wohl nicht allgemein davon ausgehen, daß sich nur aus Opportunismus oder Feigheit gegenüber aktuellen Ereignissen rasche Einstellungswandlungen in der Universität vollzogen hätten. Seit zwanzig Jahren werde von Hochschulreform gesprochen, von Departments, von der Gemeinschaft der Leh-renden und der Lernenden, von Demokratisierung der Universität. Das sei immer theoretisch geblieben. Ausgearbeitete Papiere seien nie ernst genommen worden. Dieser Hintergrund müsse gesehen werden. Bestimmte Modelle, seit 1945 in der Diskussion, würden jetzt plötzlich zum Gegenstand von Agitation und von Aktion. Wer heute die Einführung von Departments, die Aufteilung der Fakultäten etc. als Untergang der Universität proklamiere, der habe offensichtlich die früheren Diskussionsbeiträge als nicht ernsthaft gemeint hingenommen.
Professor Hennis wandte ein, das Erstaunliche sei doch, daß plötzlich die Drittelparität als die Erfüllung von „Demokratisierung" angesehen werde. Vor einem Jahr noch habe kein Mensch diese Forderung irgendwie ernst genommen. Heute finde sie Eingang in die Gesetzentwürfe der Kultusminister und werde vielfach als Minimalforderung bezeichnet.
Dr. Tormin legte dar, daß er die jüngere deutsche Geschichte ganz anders interpretiere, als dies im Referat von Professor Hennis geschehe. Bei der Betrachtung der historischen Zusammenhänge müßten nach seiner Meinung völlig andere Tatsachen und Gesichtspunkte als bestimmend in den Vordergrund gerückt werden. Was über den Nationalsozialismus ausgeführt sei, könne nach dem Erscheinen des Buches von Ernst Nolte so nicht mehr gesagt werden. Die Überleitung in die Gegenwart könne zumindest nicht für das, was gegenwärtig geschehe, als verbindlich gelten. Man müsse sich wundern, daß die Unruhe erst so spät ausgebrochen und nicht noch breiter und stärker sei. Es liege auf der Hand, daß dieser Staat nicht nach den von ihm selbst verkündeten Normen lebe und daß die Universität in ihrem gegenwärtigen Zustand einfach nicht mehr existieren könne. Es sei unverständlich, daß man sich über Reformforderungen angesichts dieser Situation noch wundern könne. Solche Forderungen seien vielmehr notwendig und selbstverständlich. Sie sollten auch für die politische Bildung den Ausgangspunkt bilden. Von einer Konfliktideologie, wie sie von Dr. Messerschmid als Gefahr angesprochen worden sei, könne man allenfalls bei wenigen sprechen, die mit den Problemen beschäftigt seien. In der Breite der Arbeit spiele die notwendige Beachtung des Konfliktmodells eine viel zu geringe Rolle. Wenn man die Wirklichkeit der Reaktion auf die „Unruhe sehe, so sei diese doch — im Gegensatz zu dem von Professor Kuhn Gesagten — leider weitgehend ablehnend. Es komme für die politische Bildung darauf an, das Unverständnis gegenüber dem sich zeigenden Reformwillen abzubauen, diesen Prozeß zu fördern und weiterzuführen. Im Hinblick auf die Universität stelle er die Frage: Warum eigentlich nicht Drittelparität? Es sei doch immerhin möglich, daß diese — wenn auch wohl nicht für alle Hochschulorgane — eine angemessene Lösung darstellen könne. In der politischen Bildung dürfe man nichts tabuieren und fetischisieren. Aktuelle Fragen solle man vielmehr von ihren Bedingungen her nüchtern verstehen und sie nicht in ein Schema pressen. So sei beispielsweise zu fragen, was eine Universität in unserer Zeit sei und wie sie konstruiert sein müsse. Diese Frage sei von der Universität selbst so gut wie nicht gestellt worden, und wenn doch, so sei die Antwort — pointiert gesagt — immer nur gewesen: Humboldt!
Professor Krausnick ging von der Feststellung aus, die Jugendlichen sähen vielfach nicht, wie sehr sie in die Nähe totalitärer Tendenzen kämen; die Entwicklung dahin sei jedoch psychologisch erklärbar. Mit der von Professor Hennis gegebenen Darstellung des Pragmatismus der Adenauer-Politik stimme er überein. Aber sei nicht doch durch den übertriebenen Pragmatismus dieser Ära eine psychologische Reaktion geradezu provoziert worden? Meinecke habe in seiner „Deutschen Katastrophe" gegenüber der Weimarer Republik den Vorwurf erhoben: Ihr habt uns keine Ideale gegeben. Man müsse beachten, welche Wirkung John F. Kennedy durch die Verknüpfung politischer Ziele mit bestimmten Grundprinzipien erzielt und welchen Eindruck er damit bei der Jugend gemacht habe. In der Adenauer-Zeit dagegen habe das politische Praktische und unmittelbar Taktische so sehr im Vordergrund gestanden, daß die Glaubwürdigkeit darunter vielfach gelitten habe. Die gegenwärtige Unruhe dürfe auch nicht überbewertet werden. Man müsse sich mit den Jugendlichen auseinandersetzen. Bei ihnen sei ein Grundgefühl vorhanden, die Demokratie sei nicht genügend glaubwürdig. Dafür gäben die Politiker selbst zum Teil erhebliche Anlässe. Was die historischen Zusammenhänge betreffe, so werde das Phänomen der deutschen Unruhe von Professor Hennis stark überschätzt. Auch der Deutung des Nationalsozialismus könne er nicht voll zustimmen. Der obrigkeitsstaatlich orientierte Zustand der Gesellschaft habe den Aufstieg Hitlers doch stark gefördert. Das Geschichtsbild der SS mit seinem Germanenkult und Elitarismus sei ausgesprochen reaktionär gewesen. Das anti-bourgeoise Element habe sich wesentlich auf die Verwerfung der bürgerlichen Werte des Humanismus-Liberalismus zugunsten älterer, ständischer Ideale bezogen. Der Klassenstaat sei nur bekämpft worden mit dem Ziel des solidarischen Einsatzes aller für ein Bild des Reiches, das sich am Mittelalter orientiert habe. Man müsse den Dingen mehr auf den Grund gehen, um nicht durch Überbewertung der extremen Elemente den Blick für die psychologischen Voraussetzungen der „Unruhe" zu verstellen.
Professor Ellwein bemerkte zu dem Hinweis auf die nüchterne Politik Adenauers, daß dieser einen ideologischen Überbau geschaffen habe, mit dem ein riesiges Defizit ausgefüllt worden sei. Im übrigen zeige die Bewegung, die in der Bundesrepublik in Gang gekommen sei, Parallelen zu Vorgängen in der Weimarer Republik vielleicht in den Äußerungsformen, jedoch nicht in den eigentlichen Antriebskräften. Bei der Beurteilung der neuen Vorgänge seien zwei Punkte wesentlich:
1. Es werde ein ahistorisches und damit apolitisches Phänomen in dieser Bewegung sichtbar. Man nehme einfach die Verfassung von 1949 beim Wort. Aus einer deutschen Tradition heraus werde die Verfassung überschätzt. Aber der Wille, sie ganz ernst zu nehmen, sei etwas ganz anderes als das, was sich vor 1933 abgespielt habe, als man grundsätzlich gegen die Verfassung und gegen ihre Aufträge gekämpft habe.
2. Professor Hennis habe gesagt, daß man unserem Staat Immobilismus vorwerfe, obwohl sich doch in den letzten zwanzig Jahren innenpolitische Wandlungen ohne Beispiel vollzogen hätten. Er seinerseits erkenne darin keinen Widerspruch. Der Wandel habe sich sozusagen subkutan und von selbst vollzogen durch die wirtschaftliche, technische und wissenschaftliche Entwicklung. Beunruhigend sei, daß die Politik darauf so gut wie nicht reagiere oder bestenfalls dann, wenn es gar nicht mehr anders gehe. Jeder vernünftige Mensch sehe ein, daß das so nicht bleiben dürfe. Die mangelhafte Zukunftsorientierung der Politik sei eine Erklärung für die gegenwärtige Unruhe. Wenn keine Vorstellungen der Regierung entwickelt würden, müsse es zu Erscheinungen kommen, deren Form man zwar verschieden beurteilen könne, die von den Ursachen her jedoch verständlich seien.
Professor Hennis stellte die Frage, ob man bei Betrachtung der Gesetzgebung seit 1949 allen Ernstes sagen könne, die deutsche Politik habe immer nur reaktiv mitgespielt; ob sie nicht vielmehr auf allen wesentlichen Sachgebieten versucht habe, mit den Problemen mit Blick auf die Zukunft fertig zu werden. Die Bundesrepublik schneide mit ihren Bemühungen, im Vorgriff auf zukünftige Entwicklungen zu handeln, in allen Bereichen im Vergleich mit Frankreich, den USA und England sicherlich gut ab. Man müsse auch das Problem beachten, das zum Beispiel futurologische Erkenntnisse nicht ohne weiteres jeweils sofort in Politik umgesetzt werden könnten.
Professor Ellwein räumte ein, daß Bundesregierung und Bundestag in den letzten zwanzig Jahren gesetzgeberisch in „solidem, handwerklichem Sinne" das jeweils Notwendige getan hätten. Er bestreite jedoch, daß eine Zukunftskonzeption, wenn sie damit verbunden gewesen sein sollte, in der Öffentlichkeit genug verdeutlicht worden sei.
Dem Hinweis von Professor Hennis und Dr. Richter auf die Problematik aller Zukunftsplanung, wie sie auf mancherlei Gebieten in der Vergangenheit doch recht deutlich sichtbar geworden sei, begegnete Professor Ellwein mit der Feststellung, es gehe hier nicht darum, was vor zehn oder zwanzig Jahren gewesen sei. Heute sehe man viele Dinge eben anders. Die Frage der Koordinierung der verschiedenen Bereiche spiele eine entscheidende Rolle, wie sich etwa am Beispiel der Raumordnung zeigen lasse
Dr. Messerschmid eröffnete die Nachmittagssitzung mit der Anregung, zunächst die Aussprache über das Phänomen der Unruhe fortzusetzen, insbesondere auch über die Frage, was diese bewirkt und was sie nicht bewirkt habe. Dieses Verfahren empfehle sich, weil die bisherige Debatte, was wohl in der Natur der Sache selbst liege, wenig an Klärung gebracht habe.
Professor Rothfels glaubte feststellen zu können, es habe sich in der bisherigen — wenn zum Teil auch auseinanderfließenden — Diskussion doch ein gewisser Konsensus in verschiedenen Punkten herausgestellt. Erstens sei deutlich geworden, daß zwar gegen die historischen Deduktionen von Professor Hennis einiges Substantielles einzuwenden sei, daß es jedoch als eine der Aufgaben der politischen Bildung angesehen werde, über die Ursachen der gegenwärtigen Unruhen aufzuklären. Zweitens bleibe nach wie vor die Frage, wie stark alle politische Erziehung eigentlich von der Politik selber abhänge, ein Anliegen der Kommission. Dazu gehöre die Überlegung, was man für die politische Erziehung bewirke, wenn man sich nicht in Richtung auf eine politische Progressivität bewege — dies im Sinne eines Aufholens der Rückstände, die zu dem vorhandenen Unbehagen beitrügen. Drittens zeige sich eine gewisse Übereinstimmung darüber, daß die ganze akademische Oppositionsbewegung okkasionalistischer Natur sei, daß sie an gewisse Tatbestände anknüpfe, daß sich hinter ihr jedoch etwas sehr viel Weitergehendes verberge. Daraus resultiere die Frage, ob es Wege gebe, diesen Grundelan in rationale Bahnen zu lenken, oder ob es nur absoluten Widerstand dagegen gebe.
Dr. Müller stimmte dem Referat von Professor Hennis in vielen Punkten zu. Zweifellos gebe es bedenkliche Parallelerscheinungen zur Weimarer Zeit. Andererseits habe er Bedenken gegen die These, die obrigkeitlichem Denken damals und heute eine nur untergeordnete Rolle zumesse. In einer Diskussion mit einem griechischen Politiker sei ihm kürzlich wieder einmal vor Augen geführt worden, wie stark solches Denken — vielfach sich artikulierend in der Forderung, für „Ordnung" zu sorgen — noch verbreitet sei. Die Überwindung dieses Denkens sei ein wesentliches Ziel. Nur ergebe sich dabei oft eine sich steigernde Pendelbewegung. Das werde auch deutlich in der den Kommissionsmitgliedern zugegangenen Untersuchung „Die unruhige Generation" von Wildenmann/Kaase. In dem Fragenkatalog der Untersuchung gelte es als selbstverständlich, daß es negativ zu bewerten sei, wenn jemand dem Satz „Der Bürger verliert das Recht zu Streiks und Demonstrationen, wenn er damit die öffentliche Ordnung gefährdet", nicht zustimme. Natürlich könnten sich solche Störungen unbeabsichtigt ergeben. Wenn man aber die Frage der öffentlichen Ordnung als einer Verantwortung des Demokraten nicht in den Katalog aufnehme, so sei das eine andere Sache. Bei einem entsprechend angelegten Fragenkatalog könne sich dann herausstellen, daß der SDS die besten Demokraten stelle. Ohne Zweifel gebe es doch wohl Demonstrationen mit Störungen der öffentlichen Ordnung, die vom demokratischen Standpunkt aus abzulehnen seien. Die einseitige Beschränkung des Katalogs auf negative und kritische Verhaltensweisen führe notwendigerweise zu verzerrten Ergebnissen. Die Dialektik von Freiheit und Ordnung und die daraus resultierende Schaukelbewegung zu extremen Haltungen müsse in der politischen Bildung gesehen und sorgfältig untersucht werden.
Manfred Klein kam zurück auf die Darlegungen von Professor Horkheimer über die Not der Jugend, keine klaren Ziele zu haben. Es habe früher eine Jugend mit sehr klaren Zielvorstellungen, nämlich nationalsozialistischen und imperialistischen, gegeben. Eine Zielsetzung im Raum der Gesellschaftsgestaltung sei sicherlich ein großer Gewinn im Vergleich zu solchen Tendenzen. Bestrebungen, Mitbestimmung in verschiedensten Bereichen zu erfahren, experimentell zu erproben und weiterzubringen, seien an sich nicht zu verurteilen. Es komme dabei darauf an, den Stil, in dem für solche Ziele gefochten werde, unter die Lupe zu nehmen. Politische Bildung solle nicht das Recht der Jugend zu gesellschaftlichen Experimenten bestreiten, sondern die Notwendigkeit des fair play bei demokratischen Auseinandersetzungen sichtbar machen. Das Kräfteparallelogramm, das durch die revoltierende Jugend geschaffen sei, brauche nicht beklagt zu werden, wenn es gelinge, diese Jugend bei der Stilfrage zu packen.
Dr. Messerschmid ergänzte diesen Gedankengang, indem er auf die Stellung der Schüler und der künftigen Lehrer in der Schule einging. Es sei keine Frage, und dies habe die politische Bildung von allem Anfang an gesagt, daß bloße Information nicht unter die Haut gehe und das, was gelehrt werde, exemplarisch erfahren werden müsse. Mitarbeit, Mitbestimmung und Mitverantwortung in der Schule müßten hinzugegeben sein, um erfahren zu können, wie eine demokratische Schule aussieht. Auf diesem Gebiet sei durch die — in der Form zum Teil inakzeptablen — Proteste ein Fortschritt erzielt worden, den die politische Bildung nur für gut und notwendig erachten könne.
Professor Bracher meinte zu der Untersuchung von Wildenmann/Kaase, so kritisch man sie im einzelnen betrachten möge, so bestätige sie doch weitgehend seine eigenen Beobachtungen. Die Studentenbewegung sei vorläufig ein isoliertes Phänomen. Wenn man sich frage, wie sie entstanden sei, wie sie sich entwickelt habe und in welchem Zusammenhang sie stehe, so gebe es einige ganz einfache Erklärungen. Die erste sei der Verlust der dem Modell einigermaßen entsprechenden parlamentarischen Demokratie in den Jahren 1960/61. Da-B mals sei das Steuer von der SPD herumgeworfen worden mit konkreten Folgen, nämlich dem Ausschluß des SDS und dem Beginn des auf Abschleifung der Unterschiede zur CDU hinzielenden politischen Kurses. Dies müsse neben dem natürlich auch vorhandenen internationalen Aspekt gesehen werden. Für die politische Bildung ergebe sich die Überlegung, daß ein demokratisches System in der Lage sein müsse, auch unruhige Kräfte zu integrieren und in den politischen Prozeß einzubeziehen. Ganz offensichtlich sei das in der Bundesrepublik in den letzten Jahren nicht gelungen. Der zweite wichtige Punkt — von Manfred Klein schon genannt — sei für ihn die „politische Stilkunde", die Frage also, mit welchen Mitteln politische Ziele verfochten würden. Dies sei ein Gebiet, das sicherlich vernachlässigt worden sei. Bei den aktivistischen Studenten habe sich die Vorstellung herausgebildet, nur durch Nichteinhaltung gepredigter Formen der politischen Verständigung und durch Regelverletzung könne man zu Ergebnissen gelangen, die ernst genommen würden. Die Regelverletzung werde ganz bewußt betrieben, ohne daß etwa die betreffenden Studenten ihre gute Erziehung vergessen hätten. Aber demokratische Regeln würden auch deshalb nicht ernst genommen, weil man das, was von der politischen Bildung gesagt werde, an der Wirklichkeit messe. Hier stelle sich wieder die Frage, wie das Verhalten von Politikern und bestimmte politische Entscheidungen auf die immer rigoros empfindende Jugend wirkten. Unter der Glocke des erfolgreichen Adenauer-Regimes habe der Fall Globke nicht zu schweren Auswirkungen geführt. Beispiele für heute seien das Scheitern der Inneren Führung bei der Bundeswehr (Verdrängung von Baudissins) und die ungeschickt vertretene und verteidigte Tatsache, daß Bundeskanzler Kiesinger Parteigenosse im Dritten Reich gewesen sei. Er persönlich sei mit Günter Grass der Auffassung, daß man solche Dinge nicht bagatellisieren dürfe. Vorkommnisse dieser Art ließen es wiederum den Jugendlichen gerecht erscheinen, auch ihrerseits mit den Mitteln der Regelverletzung zu arbeiten. Dieser Zusammenhang sehe vielleicht etwas künstlich zusammengefügt aus, sei aber in gewisser Weise sicherlich vorhanden. Die politische Entwicklung seit 1960 biete schon sehr viel an Erklärung. Auch, sei zu bedenken, daß das Koordinatensystem, in dem die Jugend lebe, ein ganz anderes als das der Erwachsenen sei. Daraus ergäben sich ganz verschiedene Voraussetzungen zur Beurteilung von politischen Sachverhalten, z. B.des Vietnamkonflikts, und aus dieser Tatsache ließen sich weitere Erklärungen ableiten für das, was sich gegenwärtig abspiele.
Dr. Messerschmid fügte als weitere Gesichtspunkte zu dieser Betrachtung hinzu: das Siechtum der Erhard-Regierung, die Kritik an der Besetzung von hohen Staatsämtern, die bis zum einzelnen Bürger reichende Sorge über die Entwicklung in Vietnam, aber auch die Schwierigkeiten der späteren Berufsfindung für manche Studenten, insbesondere für die Soziologen.
Professor Kuhn betonte, er halte den Gedanken von Dr. Müller über die Dialektik von Ordnung und Freiheit für grundlegend wichtig. Es sei ein Teil des deutschen Schicksals, verursacht durch die radikalphilosophische Art des deutschen Denkens, in dieser Dialektik zu verfahren. Demokratie zeige sich aber weniger in Theorien und großen Taten, als vielmehr in der Art des Umgangs mit dem Nächsten. Ihm selbst sei ein — vielleicht übermäßig hartes — Wort eines Amerikaners über die Deutschen in Erinnerung, der gesagt habe: „They don't love each other." Er kenne Einzelvorgänge innerhalb der Studentenschaft, die sich mit dem Wort „Regelverletzung" überhaupt nicht mehr umschreiben ließen. Dabei müsse auf die Differenz zwischen den amerikanischen und den deutschen Universitätsunruhen aufmerksam gemacht werden. Die Tendenz, das Vertrauen zwischen Lehrern und Studenten von Grund auf zu zerstören, sei in den USA nie sichtbar geworden. Nun könne nicht verkannt werden, daß seit dem Kriege in der demokratischen Lebensart innerhalb der Bundesrepublik Fortschritte erzielt worden seien. Eine Art demokratischer Freundlichkeit habe selbst bei der Polizei sich auszubreiten begonnen. Das werde jetzt zerrissen. Es gehe nicht mehr um Verständigung, sondern um das absolute Herrschenwollen einer Gruppe, um „Student power". Ein weiterer Aspekt sei, daß die politische Bildung klar machen müsse, was der Staat sei. Dies den Schülern verständlich zu machen, sei bisher nicht gelungen. Die Demokratie sei gepriesen, der Staat jedoch gleichzeitig verächtlich gemacht worden. Je weiter links, um so demokratischer — das sei die Maxime der politischen Wissenschaft, und man merke dabei gar nicht, wie man ins Abrutschen gerate. Die politische Lehre in der Bundesrepublik werde — in mancherlei Abwandlungen und Anpassungen — weitgehend beherrscht von einer staatsverneinenden Theorie, nämlich vom Marxismus. Dr. Tormin knüpfte an die Ausführungen von Professor Bracher an. Die Regelverletzungen der Studenten hätten interessanterweise zwei Wirkungen gehabt. Einmal hätten sie Erfolg gehabt im Sinne des Gewollten: aufmerksam zu machen auf Dinge, welche die breite Öffentlichkeit und vielfach auch die Beteiligten nicht zur Kenntnis genommen hätten. Aus dieser Erfahrung erscheine manches erklärbar, was in der Regelverletzung über das noch verständliche Maß hinausgegangen sei. Im subjektiven Bewußtsein der Agierenden erweise sich die Regelverletzung als die einzige Methode, auf gravierende Mißstände wirksam hinweisen zu können. Tatsächlich hätten die politisch Verantwortlichen sich dann viel stärker als früher um das Bildungswesen gekümmert. Das schlage sich auch nieder in den öffentlichen Haushalten, in denen die entsprechenden Ansätze seit zwei Jahren merklich anstiegen. Die zweite Reaktion auf die Regelverletzung, nämlich die eines breiten Teiles der Öffentlichkeit und einer bestimmten Presse, sei derart negativ gewesen, daß sie als Pogromhetze bezeichnet werden müsse. Sie habe dann ja auch im Gefolge eines planmäßig betriebenen Verfahrens der „Bildzeitung" bis zum politischen Mordanschlag geführt.
Professor Kuhn und Professor Hennis widersprachen dieser letzten Folgerung, während Professor Ellwein ihr nachdrücklich zustimmte.
Dr. Tormin fuhr fort, die Reaktion der Öffentlichkeit habe gezeigt, daß wir noch nicht gewohnt seien, mit Demonstrationen und einigen anderen Unruhen zu leben. Angesichts der gegenwärtigen Situation scheine es ihm legitim zu sein, das Demokratieverständnis in der Bundesrepublik an der Einstellung zu diesen Dingen zu messen, wie dies in der Untersuchung von Wildenmann/Kaase geschehen sei.
Professor Ellwein faßte seinen Eindruck von der bisherigen Diskussion dahin zusammen, daß sich zwei Fronten gebildet hätten. Es sei zwar deutlich geworden, daß die eine wie die andere Gruppe bedrückt sei von den Formen, in denen von Studenten und Jugendlichen argumentiert, demonstriert und provoziert werde; beide seien gleichermaßen besorgt über das Gesicht der Inhumanität, das sich hier zeige. Jede Diskussionsmöglichkeit höre jedoch auf, wenn man sich nicht einmal darüber verständigen könne, daß die Bildzeitung „ein zutiefst inhumanes Unternehmen" sei und daß inhumane Verhältnisse eben auch inhumane Reaktionen produzierten. Die eine Gruppe sage, daß die Unruhe zum Teil auch dadurch erklärt werden müsse, daß sehr vieles in der bestehenden Gesellschaft inhumane Züge trage. Die andere Gruppe habe im Ernst nichts zu beanstanden. Er selbst glaube daher, daß man über diesen Punkt nicht weiter hinauskommen werde, und schlage vor, sich im weiteren Verlauf über die Praxis der politischen Bildung zu unterhalten. Vielleicht lasse sich in einer solchen Sachdiskussion eher ein Ergebnis erzielen.
Professor Hennis ging davon aus, daß doch wohl in dem einen Punkt Übereinstimmung bestehe, daß Besorgnis herrsche über die sichtbar werdende Inhumanität und Intoleranz.
Den von Professor Bracher und Dr. Tormin vorgebrachten Erklärungsversuchen, Regelverletzungen in der Politik hätten notwendigerweise zu Regelverletzungen auf der anderen Seite geführt, könne er jedoch nicht beipflichten. Er selbst sei Kritiker mancher Erscheinungen und Personalentscheidungen in der Bundesrepublik. Es sei ihm aber unverständlich, wie man beispielsweise die sicherlich kritisierbare politische Vergangenheit von Bundeskanzler Kiesinger so hoch spiele, daß sie als Rechtfertigung für eine außerordentlich große Empörung dienen könne. Wenn man sage, das und das sei gepredigt worden und nun müsse auch Wort gehalten werden, so kämen dabei Begriffe aus dem theologischen Bereich ins Spiel, die in der Politik nichts zu suchen hätten. Die Realität der praktischen Politik in ihrer Unvollkommenheit müsse hingenommen werden. Den Einstieg der politischen Bildungsarbeit über die Begriffe Verfassung und Demokratie habe er deshalb immer schon für falsch gehalten. Dadurch werde ein Bild verfestigt, dem die Wirklichkeit nie entsprechen könne. Wenn behauptet worden sei, erst die Aktionen der Studenten hätten eine Expansion der Mittel für das Bildungswesen herbeigeführt, so sei das eine Legende. Die Erhöhungen der Bildungsetats seien initiiert worden vom Wissenschaftsrat und vom Bildungsrat sowie von der Ständigen Konferenz der Kultusminister, lange bevor man von Studentenunruhen habe sprechen können. Laufend habe es eine Erhöhung der Ansätze gegeben ohne derartige Anlässe. Zusammenfassend wolle er feststellen, daß heute in Deutschland die letzte Möglichkeit bestehe, in Freiheit eine Demokratie zu verwirklichen. Dieser Staat, der recht und schlecht versucht habe, seine Aufgaben zu erfüllen, werde von Teilen der Generation, die ihn bald hauptsächlich tragen müsse, in Grund und Bo-den kritisiert. An diesem Staat sei in der Tat vieles zu kritisieren wie an jeder freien politischen Ordnung, aber er verdiene es wirklich nicht, so hinstilisiert zu werden, daß radikale Reaktionen, wie man sie heute erlebe, als verständlich erklärt werden könnten. Dagegen wehre er sich ganz entschieden.
Dr. Müller meinte, die Diskussion gerate in die Gefahr, daß nach der einen oder anderen Seite apodiktische Urteile ausgesprochen würden. Zu gemeinsamen Konzepten könne man nur gelangen, wenn jeder die Relativität seines eigenen Standpunktes anerkenne. Zum Gesprächsgegenstand selbst vertrete er die Auffassung, einerseits lasse sich nicht bestreiten, daß das politische Engagement der Studenten positiv zu beurteilen sei, andererseits könne die Art der Demonstrationen für die Demokratie tödlich sein, und zwar da, wo Demonstranten andere Menschen zu etwas zwingen und ihnen ihre Meinung aufpressen wollten. Was die Bildzeitung betreffe, so bestehe wohl kein Zweifel, daß sie dem Eingehen auf die Wünsche der Käufer ihren Erfolg zu verdanken habe. Aber auch in ihr ließen sich Bemühungen feststellen, die man nicht einfach als undemokratisch abtun könne. So dürfe man bei allen Erscheinungen nicht mit einseitigen apodiktischen Urteilen vorgehen, und es sei eine wesentliche Aufgabe gerade der politischen Bildung, die Menschen zu Unterscheidungen zu führen und nicht zum Beziehen extremer Gegenpositionen. Das sei auch entscheidend für das pädagogische Bemühen im Hinblick auf die Studentenunruhen. Wenn junge Menschen ernst genommen würden, so vollziehe sich in ihnen eine positive Einstellung. Ein Grundübel sei die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft den Oberschülern der letzten Klassen begegne. Eine unterdrückte Aktivität bei den Siebzehn-bis Zwanzigjährigen breche sich dann beim Studium an der Universität Bahn. Hier stelle sich die Frage, wie es eigentlich mit der Schülermitverwaltung aussehe. Die bisherigen Versuche seien gescheitert. Wenn aber die Schüler in der 7. bis zur 9. Klasse der Oberschulen endlich zu einer wirklichen Verantwortung für ihre Schule mitherangezogen würden, dann werde sich an den Hochschulen ganz von selbst Wesentliches ändern.
Professor Horkheimer griff die Anregung von Professor Ellwein auf, nach den Konsequenzen für die Praxis der politischen Bildungsarbeit zu fragen. Zum Beispiel hätten einige Kultusministerien schon vor Jahren Dekrete erlassen, wie man die Hitlerzeit in den Schulen behandeln solle. Leider sei darin nicht der Hinweis enthalten auf die zahllosen Menschen, die damals anderen geholfen hätten. Die politische Bildung müsse gegen den totalitären Staat erziehen und darüber sprechen, daß die Freiheit zur Meinungsäußerung und zur Demonstration erhalten bleiben müsse. Die politische Bildung solle aber auch deutlich machen, wie aufgrund rationaler, notwendiger Entwicklungen die Freiheit des Menschen immer mehr eingeengt werde. In zunehmendem Maße werde der Mensch gezwungen, den Zeichen von Instrumenten zu gehorchen. Die eigentliche Freiheit, die im Bürgertum an eine relativ große — wenn auch total gesehen kleine — Anzahl von Menschen übergegangen sei, verringere sich, anstatt auf alle Menschen ausgedehnt zu werden. Dies vollziehe sich durch die Entwicklung der Produktionsmittel, denen sich die Menschen zu fügen hätten. Die Entwicklung ziele — im Gegensatz zur Lehre von Marx — nicht auf ein Reich der Freiheit, sondern auf das Gegenteil, auf ein Reich der Instrumentalisierung. Wenn diese Zusammenhänge als Problem in der politischen Bildung vermittelt würden, dann könne die Mitwirkung der Studenten und der jungen Menschen positiver gestaltet werden. Gegenwärtig werde in den Schulen und Universitäten zu vieles von dem verschwiegen, was gesagt werden müsse.
Dr. Messerschmid lenkte den Blick darauf, daß die bisherige Aussprache durchaus Spiegelbild dessen sei, was in der Gesamtgesellschaft in der Bundesrepublik vor sich gehe. Viele Schwierigkeiten hingen damit zusammen, daß politische Wissenschaft und politische Bildung auf der einen und praktische Politik auf der anderen Seite bisher nicht zu jener Kooperation gelangt seien, die notwendig sei, um das Frustrationsbewußtsein der Mitarbeiter in der politischen Bildung zu überwinden. Er sei damit einverstanden, die weitere Diskussion mehr der Praxis der politischen Bildungsarbeit zuzuwenden. Vorher jedoch müsse man sich darüber klar werden, daß eine politische Bildung, die sich selbst nur als politikbegleitende verstehe, nicht das sei, was sich an Überlegungen in den letzten fünf Jahren entwickelt habe. Wenn politische Bildung nicht selbst als ein Stück Politik betrachtet werde, komme man über das resignative Verhältnis zum politischen Bereich nicht hinaus. Politische Bildung vollziehe sich als ein spezifisches politisches Geschehen auf der Ebene der Vorbereitung von Entscheidungen. Als solches müsse sie sich selbst begreifen und sich auch äußern könB nen. Das werde sich jedoch nur dann auswirken, wenn es zwischen den verschiedenen Ebenen der praktischen Politik und der Bewußtseinsbildung der in der politischen Bildung Tätigen Vermittlungen gebe. Diese seien heute noch nicht in genügender Zahl vorhanden. Was die Folgerungen für die Inhalte der politischen Bildungsarbeit betreffe, so teile er nicht die Auffassung, daß diese sich vorwiegend mit dem Bereich des eigentlich Staatlichen zu befassen habe, zumal sich zwischen Staat und Gesellschaft nach seiner Meinung ein klarer Trennungsstrich nicht ziehen lasse.
Franklin Schultheiß griff die während der Vor-mittagssitzung von Professor Hennis geäußerte These auf, daß politische Bildung eine Kompensation von Mängeln anstrebe. Wenn das zutreffe, so müsse die politische Bildung auftretende Mängel ernst nehmen und sie in besonderer Weise deutlich machen. Gerade weil die Politik und teilweise auch die politische Bildung das politische System als Ganzes immer nur gelobt und weil sie nicht in ständiger Bemühung versucht hätten, die sich summierenden Fehler zu „bewältigen", seien junge Leute für vieles taub geworden. Es sei nicht zufällig, wenn sie heute nicht mehr hören wollten, daß ihre Aktionen inhumane Züge trügen. Man habe versäumt, ihnen zu zeigen, wie sie Fehler an der Hochschule, in den Parteien, in der Schule, im öffentlichen Leben mit ihren Mitteln durch „ständiges Bohren" effektiv beheben könnten.
Professor Hennis wandte ein, politische Zustände könnten doch nicht durch politische Bildung, sondern nur durch politische Betätigung, durch Eintritt in die Parteien etc. verbessert werden.
Franklin Schultheiß erwiderte, die politische Bildung sei aber in der Lage, die tatsächlichen Zustände und Schwierigkeiten in den Parteien und im öffentlichen Leben darzustellen. In der Breite der politischen Bildungsarbeit und in den Schulbüchern sei immer noch die reine Apologetik des Bestehenden vorherrschend. Das Aufmerksammachen auf die inhumanen Elemente in der Rebellion der Studenten funktioniere deshalb nicht, weil versäumt worden sei, auf die Notwendigkeit und auf die Möglichkeiten hinzuweisen, sich an der Politik zu beteiligen. Für die Studenten — Dr. Tormin habe bereits darauf hingewiesen — sei heute offensichtlich die Demonstration, die bis an die Grenze des Inhumanen gehe, die effektivste Form der Beteiligung an Politik. Gegen dieses Erlebnis und diese Erfahrung müsse die politische Bildung etwas unternehmen.
Professor Ellwein versuchte, die erörterte Problematik an einem bekannten „banalen" Beispiel zu verdeutlichen. Zunächst habe das klassische Parlamentsbild im Unterricht vorgeherrscht. Schulklassen in großer Zahl hätten die Parlamente besucht — und alles sei ganz anders gewesen. Darauf reagierend habe man dann etwa seit 1959/60 sich bemüht, die Realität darzustellen und die Wichtigkeit der Ausschußarbeit zu betonen. Das habe eine Zeit-lang funktioniert. Heute müsse man bei den Schülern und den Studenten ziemlich eindeutig feststellen, daß die vorgebrachten Entschuldigungen oder Erklärungen nicht mehr genügten. Die Flucht des Parlaments aus der Öffentlichkeit, die Verlagerung des Schwergewichts der Arbeit in die Ausschüsse sei bedenklich. Die Behandlung eines solchen Problems nun gehöre in die politische Bildungsarbeit. Eine Diskussion darüber werde sicherlich das eine oder andere Parlament — es gehe hierbei nicht nur um den Bundestag — dazu bewegen, über seine Position in der Öffentlichkeit Überlegungen anzustellen. Ein ähnliches Problem zeige sich beim Thema Verwaltungsreform. Es gebe darüber eine riesige, für den einzelnen gar nicht mehr faßbare Auseinandersetzung mit entsprechendem literarischen Niederschlag. Es gebe sogar einen überraschenden Konsensus in der Verwaltung selbst über vieles, was anders gemacht werden müsse, und dort, wo die Probleme besonders brennend seien, würden auch Ansätze zu Reformen sichtbar. Aber es werde sicherlich weitgehend von der öffentlichen Diskussion, von der Anfrage von Wählern etc. abhängen, ob auf diesem Gebiet Grundlegendes geschehe. Politische Bildung müsse solche Fragen einbeziehen, sie müsse offen sein für die Diskussion über relevante Bestandteile unseres demokratischen Systems. Das Handeln, das daraus hervorgehe, sei selbstverständlich Politik. Politische Bildung habe aber das Angebot an Handlungsmöglichkeit vor Augen zu führen und auch dem Staatsbürger zu sagen, welche realen Einflußchancen er habe — und seien sie noch zu bescheiden. Das sei das Wesentliche der politischen Verhaltenslehre. Insofern bestehe also eine ganz enge Verbindung der politischen Bildung zur Politik wie auch zur politischen Theorie. Es scheine ihm, daß darüber eine Verständigung unter den Diskussionsteilnehmern möglich sei, und von diesem Ausgangspunkt sollten die in der gegenwärti15 gen Lage erforderlichen Überlegungen zur politischen Bildungsarbeit angestellt werden. Sie würden sich damit schon ganz erheblich von dem unterscheiden, was in den fünfziger Jahren im allgemeinen für richtig gehalten worden sei.
Dr. Tormin legte ergänzend zu den Ausführungen von Franklin Schultheiß dar, ihm erscheine es wichtig, den Akzent der politischen Bildungsarbeit auf die Erziehung zur Kritikfähigkeit, zur Offenheit, auch zum Sich-Weigern und auf die Notwendigkeit der Reform des Bestehenden zu legen. Auf die Erziehung zum politischen Engagement, zu politischem Tätigwerden komme es an, nicht so sehr auf die Vermittlung von Theorien oder die Hinführung zum Staat. Unter „Staat" könne er sich überhaupt sehr schwer etwas Wirkliches und Greifbares vorstellen; es gehe um Institutionen, um politische Prozesse und um die Fähigkeit, sich darin zurechtzufinden und selber tätig zu werden.
Professor Hennis stellte an Dr. Tormin die Frage, ob er sich vorstellen könne, daß die politische Bildung vielleicht auch die Aufgabe haben könne, Menschen zu überzeugen, daß Bestehendes bestehen bleiben solle. Die Auffassung, Bestehendes sei identisch mit dem, was beseitigt werden müsse, und Demokratie identisch mit Progreß, sei totalitär. Jedem einzelnen müsse die Entscheidung darüber überlassen bleiben, was er für bestehenswürdig oder für veränderungsbedürftig halte. Ohne Zweifel müsse manches verbessert werden, aber die Vorstellung sei entsetzlich, daß alle Menschen in diesem Staat der Überzeugung sein könnten, alles und jedes müsse verändert werden. Im Hinblick auf die in der Diskussion herausgestellte Erfahrung der extremistischen Studenten, was alles man mit bestimmten Methoden erreichen und in Gang setzen könne, sei zu fragen, auf welche Weise man solchen Studenten die sublimen Methoden der demokratischen Verhaltenslehre schmackhaft machen könne.
Franklin Schultheiß bemerkte dazu, nach seinem Eindruck habe die Mehrheit der sich mit dem radikalen Kern der Extremisten Solidarisierenden die Grenze zur Inhumanität noch nicht überschritten.
Nachdem sich Professor Hennis und Dr. Tormin noch zu dieser Frage geäußert hatten, gab Dr. Messerschmid der Meinung Ausdruck, daß die Positionen, von denen aus die Diskussionsteilnehmer sprächen, zwar verschieden akzentuiert seien, daß jedoch von beiden Seiten die jeweilige Gegenposition nicht radikal bestritten werde.
Professor Rothfels erklärte, er könne diesem Harmonisierungsversuch nicht ganz beitreten. Die Anerkennung der Position der Gegenseite sei nicht auf beiden Seiten in gleichem Maße vorhanden. So sei der Begriff Staat als solcher in Frage gestellt worden. Es sei nicht weitergeführt worden der Gedanke von Professor Hennis, daß es Werte gebe, zu deren Schutz politische Bildung beitragen müsse. Er nehme gerne in Kauf, wenn das vielleicht altmodisch klinge, aber ihn bewege die Frage, ob politische Bildung nicht auch eine Abwehrposition habe und damit in den politischen Prozeß einbezogen sei. Die Abwehr müsse sich gegen den Extremismus von links und rechts richten. Diese Position sei von Professor Hennis aufgezeigt, aber in der bisherigen Diskussion nicht als gleichgewichtig in Betracht gezogen worden. Nur bei Beachtung auch dieses Aspekts jedoch sei der politische Auftrag der politischen Bildung erfüllbar.
Professor Bracher erinnerte daran, daß die Diskussion von dem Referat von Professor Hennis ausgegangen sei. Er habe nicht den Eindruck, die Argumente von Professor Hennis seien in der bisherigen Aussprache zu kurz gekommen. Er glaube auch nachweisen zu können, daß der Staatsbegriff in der politischen Bildung gar nicht so sehr in den Hintergrund getreten sei, wie dies Professor Kuhn meine. Worte wie Staatsgesinnung. Staatsbewußtsein, Staatsverdrossenheit etc. hätten in den letzten Jahren eine ungeahnte neue Blüte erlebt. Es stehe also dahin, ob der Schatz an Staatsphilosophie und Staatsorientiertheit sich in der Bundesrepublik so sehr verringert habe. Der Kern des Problems liege durchaus im Demokratiebegriff, und es sei eine wichtige Frage, ob in der Kommission nicht stärker um diesen Begriff gerungen werden müsse. Einen Staatsbegriff in der klassischen Form gebe es heute in der Tat nicht mehr; es könne ihn auch nicht mehr geben unter den modernen ökonomischen Bedingungen. Die politische Bildung werde jedenfalls in einer fatalen Lage sein, wenn sie vorwiegend unter der Glocke des Staatsbegriffs zu operieren versuche.
Professor Ellwein stimmte der Auffassung zu, daß eine Auseinandersetzung über den Demokratiebegriff — den engeren, auf den Staat bezogenen und den weiteren, auf alle Gesell-schaftsformen bezogenen — nützlich sein und zur präzisen Verdeutlichung der Gegensätze unter den Gesprächspartnern beitragen könne. Er wolle jedoch über die Probleme der praktischen politischen Bildungsarbeit sprechen und dabei an Ausführungen von Professor Hennis vom Vormittag anknüpfen. Zwar könne man von einer ethischen Periode in der politischen Bildungsarbeit unmittelbar nach 1945 sprechen, aber keineswegs von einer fundierten und rational begriffenen Auseinandersetzung mit irgendeinem Faschismusbegriff oder mit einschlägigen Theorien. In den fünfziger Jahren seien vielfach stärkere Gefühlsbildung gefordert und der Vorwurf reiner Wissensvermittlung erhoben worden. Im Grunde sei die Diskussion jener Jahre, deren Problem der Mangel an Demokratieverständnis war, erstaunlicherweise ganz ahistorisch gewesen: Leitworte wie „Partnerschaft" und „Aktivität" seien damals unbefragt übernommen worden. Erst in den sechziger Jahren habe eine zum Teil sehr heftige Kritik und Selbstkritik der politischen Bildung eingesetzt, die ihre Anstöße nicht nur aus theoretischen Untersuchungen, sondern auch aus der Praxis selbst erhalten habe. Durch seine „Verhaltenslehre" habe er sich bemüht, einen Beitrag zur Konkretisierung der politischen Bildungsarbeit zu leisten. Wenn er heute einen weiteren Schritt tun wolle, so werde dieser in eine andere Richtung gehen: Die politische Bildung habe sich bisher weitgehend mit dem „Wie" des demokratischen Prozesses beschäftigt und nur an Hand ganz weniger — meist unzulänglicher — Beispiele auch mit seinen Inhalten. Zur politischen Bildung gehöre aber ein Stück Aufgabenlehre. An konkreten Aufgaben könne man Probleme viel einsichtiger darstellen und auch die Verfahrensweisen des demokratischen Prozesses leichter erfaßbar machen. Hierbei könne auch stärker verdeutlicht werden, daß Politik nicht nur bloße Addition verschiedener Teilbereiche wie Sozialpolitik, Kulturpolitik usw.sei und welche Konsequenzen sich aus Veränderungen in dem einen Bereich für den anderen ergäben. Diese Zusammenhänge seien in Lehrplänen und Lehrbüchern bisher kaum berücksichtigt. Mit der politischen Aufgabenlehre werde auch ein Stück Zukunftsorientierung einbezogen sein, und unter diesem Aspekt sei dann zugleich ein Maßstab für die Relevanz der verschiedenen politischen Probleme gegeben.
Professor Kuhn stimmte den Vorschlägen von Professor Ellwein grundsätzlich zu. Das beste Mittel gegen Radikalismus von links und von rechts sei das Sicheinlassen mit der Wirklichkeit in allen Einzelheiten. Was die Ausführungen von Professor Bracher und Dr. Tormin zum Staatsbegriff anbelange, so falle es ihm persönlich schwer, eine Trennung der Begriffe Staat und Demokratie gedanklich zu vollziehen. Das Demokratiebewußtsein müsse doch wohl den Ganken einschließen, daß es auch andere Formen staatlicher Organisation gebe, sowie den Maßstab, der es erlaube, die Demokratie diesen anderen Formen aus vernünftigen Gründen vorzuziehen. Demokratie sei nicht irgendeine Organisations-oder Staatsform, sondern die politisch einzig mögliche. Er lege hierbei den aristotelischen Begriff von Politik zugrunde, der vom politischen Verhältnis das despotische unterscheide. Nur in der Demokratie werde ein wirklich politisches Verhältnis zwischen Menschen hergestellt, nur in ihr bestehe noch ein Kontakt zwischen der politischen Gewalt und dem allgemeinen Gewissen. Daß die Despotie eine freie Presse und den freien Austausch von Meinungen von ihrem Wesen her nicht dulden könne und dürfe, sei in der tschechoslowakischen Tragödie vom August 1968 wieder deutlich sichtbar geworden. Wenn man nicht sich selbst und denen, die man lehren wolle, klarzumachen vermöge, daß es bei der Demokratie um nichts Geringeres gehe als um die Erhaltung der Menschlichkeit des Menschen, dann habe man von vornherein ausgespielt. Wenn man das aber begreife, so würden Fragen der Akzentsetzung — ob mehr Kritik oder ob mehr Nachweis der Vorzüge — relativ unwichtig. Verhaltenslehre, Aufgabenlehre usw.seien der sehr wichtige Stoff, sozusagen der Körper der politischen Bildung. Die Seele aber, die das alles beleben solle, müsse in dem Wissen darüber bestehen, was ein demokratischer Staat sein könne.
Professor Horkheimer wies zu der Frage, was Demokratie sei, darauf hin, daß interessanterweise in der bisherigen Debatte das Wort „Verfassung" so gut wie nicht erwähnt worden sei. Was Demokratie sei, müsse doch zunächst einmal die Verfassung sagen. Wenn man auf die Vereinigten Staaten hinweise, so müsse man wissen, daß dort in der Vergangenheit die Weltanschauung aus der Verfassung gelebt habe. Der Gedanke an die Verfassung müsse in diesem Sinne viel stärker in die politische Bildungsarbeit einbezogen werden.
Professor Rothfels wandte ein, das Grundgesetz könne in der Bundesrepublik nicht die Rolle spielen, wie die Verfassung in den Ver-einigten Staaten, da es nicht nur wesentlich jünger sei, sondern sich auch selbst als ein Provisorium verstehe.
Professor Hilligen konstatierte, die Diskussion habe sich in ihrem letzten Abschnitt auf drei Ebenen bewegt. Erstens sei die Grundsatzdebatte fortgeführt worden; zweitens sei der Dissens — hie Kritik, hie Erhaltung — offenbar noch nicht überwunden; drittens gebe es die schon ins Praktische hinüberweisenden Vorschläge von Professor Ellwein mit seiner Aufgabenlehre. Hinsichtlich des Staatsbegriffs könne er als politischer Bildner keinen Entscheidungsvorschlag machen. Er gehe davon aus, daß in der Bundesrepublik eine Richtung vorhanden sei, die im Staat einen Eigenwert erblicke. Andere faßten den Staat instrumental auf, als ein Mittel, Aufgaben zu lösen, und beurteilten ihn nach seiner Fähigkeit, dies gut oder schlecht zu vollbringen. Was ihn persönlich in erster Linie interessiere, sei die Methode, die Frage, ob die Schüler für eine anpassungsfähige Demokratie besser motiviert würden dadurch, daß man ihnen jenes innere Bindungsverhältnis zu den Werten der Demokratie vermittle, oder aber dadurch, daß man ihnen zeige, welche Aufgaben vorhanden seien, welche Chancen es gebe, Mißstände zu beseitigen, und daß es möglich sei, sich ungestraft zu engagieren. Nach all seinen bisherigen Erfahrungen könne er sagen, daß eine Bejahung der Demokratie, eine Entscheidung für Evolution und gegen Revolution bei Schülern und Studenten nur initiiert werden könne, wenn man sie ganz elementar in ihrer Kritiksucht anspreche. Die Sorge, das Bestehende könne dabei zu kurz kommen, sei nicht so groß, weil ja immer die Konsequenzen der Alternativen durchgespielt würden. Das, was an Unruhe oder hochgeputschter Aktivität bei den Studenten vorhanden sei, stelle eine doppelte Reaktion dar, einmal auf den Stil, der in den Schulen herrsche, zum anderen auf das, was den Schülern dort vorenthalten werde.
Auf eine entsprechende Zwischenfrage von Professor Hennis führte Professor Hilligen aus, diese Reaktion sei in den früheren Jahren nicht aufgetreten, weil in der wirtschaftlichen Aufbauphase andere Dinge und Ziele zu sehr im Vordergrund des Bewußtseins gestanden hätten. Zu beachten sei auch die Tatsache, daß die Mehrzahl der Studenten aus Akademiker-familien und sonstigen liberalen Familien stamme. Dort sei man in zunehmendem Maße nicht mehr gewohnt, so an der Strippe gehalten zu werden wie in der Schule.
Dr. Messerschmid bezog sich auf die verschiedenen Diskussionsbeiträge zum Thema Staats-begriff und erklärte, es lasse sich sehr leicht nachweisen, daß die politische Bildung keine Abstinenz vom Staat geübt habe. Das sei schon in ihrem Ansatzpunkt ganz deutlich geworden. Die von Professor Ellwein in die Debatte gebrachte politische Aufgabenlehre erscheine ihm außerordentlich wichtig. Daneben aber dürfe etwas anderes nicht vergessen werden:
Die Institutionenlehre sei bisher in geradezu unerträglicher Weise betrieben worden — trotzdem stecke ein richtiger Kern darin. Der Institutionenlehre müsse eine Art Philosophie der Institutionen vorgeschaltet sein, die zeige, welche Bedürfnisse demokratische Institutionen zu erfüllen hätten und aus welchen Gründen sie geschaffen worden seien. Dadurch bekomme die Institutionenlehre im Sinne eines Verständnisses vom richtig geordneten Staat eine völlig andere Perspektive. Die Aufgaben-lehre habe in bezug auf aktuelle Aufgaben nur dann Sinn, wenn nicht aus dem Blick gelassen werde, daß diese Aufgaben auf das Grundgesetz bezogen seien. Wenn dies geschehe, könne sie eine wesentliche Aufgabe der politischen Bildung sichern, nämlich zu verdeutlichen, daß Demokratie wie alle anderen Formen politischer Ordnung eine Herrschaftsform sei, eine Herrschaft, die kontrolliert werden könne und auf Zeit gegeben sei. Wenn man das nicht sehen wolle, komme man in die klare Anarchie. Abbau vieler Herrschaftsverhältnisse sei der Sinn dessen, was man Demokratisierung nenne. Aber darüber zu diskutieren sei nur möglich, wenn die politische Bildung nicht ablasse zu sagen, daß es keine Ordnung ohne Herrschaft geben könne. Die kommunistische Theorie sei die einzige idealistische, sie erkenne nicht, daß die Menschen der Herrschaft um ihrer eigenen Freiheit willen bedürften. Zusammenfassend sei zu sagen: 1. Politische Bildung, die einseitig akzentuiere, müsse scheitern. Ihre mangelnde Effizienz komme daher, daß immer wieder die Gesamtkonzeption des Politischen in den Hintergrund getreten sei. 2. Grundbegriffe von Politik, Staat etc. erhielten nur Sinn durch Konkretisierung auf die modernen Aufgaben hin. Dies sei leider in der politischen Bildung, die hinter der Wissenschaft und hinter wichtigen theoretischen Erkenntnissen immer mit einem Abstand von fünf Jahren — siehe Traeger-Gutachten und Teschner-Untersuchung — hinterherlaufe, nur mit entsprechendem Verzug möglich. Es müsse unter allen Umständen dafür gesorgt werden, daß Baiuldchungin ndiechretneiSneslebistitgverwsetärnded, -
naiusc, hawbgeenzneisciheneutnthearbea. ktMuealnlehnabNeotewsemnditigPkheai-steenn vzeurstcuhni, eddeinee sNeheruaeknzgenatuuiferduinegepnoliitniscAhbe, -
gsteäsnedllesnchavfotlnichjeewuenilds bfüenwfußJatsheriennsmväoßringeehmEnentwmiücsksleu. ng bezogen seien. Nach seinem Eindruck habe die politische Bildung bisher darunter gelPitrtoefne, ssdoarß Hzuenwneisnibgevtoonnted, iedseenmKenogmepnleZxusAaumfmgaebnehnalneghraeusaguefggraenifgeennd, wmoradnenkösenin. eSonihcahbtevsoine sAtäurfkgeabr eznurreKden, ntonhisnenevhomn ePnrimorüitsästeenn, zduaßspdraesJcahhenr, 1u 9n 6d 2/d 63ie eAinbewnägguanngz vwonesPenritolircihtäetnenEsine-i sncichhntitmt öignlicuhnsoehrneer eiinnnpenopliotilsictihsecsheGnesEanmtwtkiocnklzuenpgt., Zaubedreravuocnh PirnofdesesrorauHßiellnigpeonlitdisacrhgeensteSllittuenatiionnstrbuemdeenuttaeltenhaAbeu. ffDasiseusnagllvesonseSitawaitchutnidg I fIünrstidtaust, iowneans er vorhisnichalsdiedaFs raKgoeo, rdoibnamteannssiycshtemwirbkelizcehichInnsettithuatiboen, einn dweime UdineivjuenrsgiteätGene, -
nSechrautlieonn, zGuersiechheten, sPeia. rDlaamraeunsteeregtce. bevosircsht, eldleaßn ikmömnneer, wdiieedseirchdsieelbVstornüubrerrleeginunignsteriunmseetnzteanl mveürssstüenddaernü, beord, eirnowbenlcihchetr fZüeritsmieanalleeigeeinntlgicehlwebises. eDr Vieoprsoclhituisßchane WBiüldrudnegunbdefVinedretrsaiuchendneomtnwaecnhdiign seeiin. eEminbeeUstinmivmertesintätBeszeiugnsiscyhsttemmö, glnicahtoührnliech SneilcbhsttbeimjahuSningn, e ohenineerReRchetc, htsfeicrhtigbuneigospdieerlsVweirsteideiingmunagl imdeJsahjerwseliblsst Bzuesfteeiheern.den, sondern im Hinblick auf die aktuelle Problem-lageund die jeweils veränderte politische Periode. An solchen Perioden könne man für die Vergangenheit etwa die Jahre 1945 bis 1953 und 1953 bis 1961 benennen. Seit 1962/63 datiere die gegenwärtige politische Phase.
Dr. Messerschmid teilte ergänzend zu diesem Gedanken mit, es gebe eine — noch nicht gedruckte — Untersuchung von Dr. Barthel, der zu ähnlichen Ergebnissen komme mit der Feststellung, daß man es etwa alle fünf Jahre mit Schülern ganz anderer Bewußtseinsstruktur zu tun habe, daß aber die politische Bildung auf diese Bewußtseinsverschiebung nicht eingegangen sei. Damit werde bestätigt, daß die politische Bildung ohne Psychologie, insbesondere ohne Sozialpsychologie ihre Aufgaben nicht erfüllen könne. Eine viel stärkere Einbeziehung sozialpsychologischer Erkenntnisse sei erforderlich, um die politische Bildung nicht immer mit einer Verzögerung von drei bis fünf Jahren hinter den geschehenen, soziologisch feststellbaren Veränderungen hinterherhinken zu lassen.
Professor Hilligen ging auf die von Professor Hennis angeschnittene Frage der Selbstdarstellung von Institutionen ein und berichtete über seine Erfahrungen in der Universität. Bei ihrer ausgeprägten Abneigung gegen alles Restaurative hätten die Studenten zur Zeit keinerlei Sensorium für die überkommene dignitas. Eine positive Ausnutzung informeller Veranstaltungen führe ganz von selbst zu neuen Formen. Er habe festgestellt, daß man dabei mit dem Delegieren von Verantwortung Ernst machen müsse. Auf keinen Fall solle man etwa eine Rektoratsübergabe veranstalten, wenn sich die Studenten damit nicht vorher eindeutig solidarisiert hätten. Solange dieser Prozeß nicht abgeschlossen sei, solle man lieber abwarten und darauf vertrauen, daß die neuen Formen vielleicht besser sein würden als die gewohnten.
Dr. Richter stellte bezüglich der Aufgabenlehre an Professor Ellwein und Professor Hennis die Frage, woher die Legitimation bezogen werde, Prioritäten zu setzen.
Professor Hennis antwortete, dies müsse dem freien politischen Prozeß und der Verantwortung der Politiker überlassen werden.
Professor Ellwein führte aus, daß keine der relevanten politischen Aufgaben in ihrer Isolierung gesehen werden dürfe. So müsse z. B. für Probleme der Wasserversorgung ein Raumordnungskonzept vorhanden sein. Darin habe dieses Problem seinen Platz, und aus diesem Zusammenhang ergebe sich auch der Grad seiner Dringlichkeit. Raumordnung sei, wenn sie ernst genommen werde, schon fast ein Synonym für Gesellschaftspolitik; nahezu jede Frage der Gesellschaft habe einen Bezug dorthin. Er vermute, daß man nicht weit von dem Zeitpunkt entfernt sei, da Politik ein Gesamtkonzept haben müsse, das nicht nur durch Leerformeln wie Freiheit, Würde des Menschen, Vollbeschäftigung usw. zu erzielen sei.
Nach Eröffnung der Sitzung am 18. Oktober 1968 gab der Vorsitzende das Wort an Professor Hilligen zu einem Kurzreferat zum Thema „Vorschläge für didaktische Kategorien zur Strukturierung von Inhalten und Intentionen der politischen Bildung".
Der Diskussionsbeitrag hatte — nach einem nachträglich von Professor Hilligen angefertigten, stichwortartig zusammenfassenden Manuskript — folgenden Inhalt:
Es wird (z. B. von dem Harvard-Psychologen Bruner 1)) als eines der entscheidenden Ergebnisse der psychologischen Forschung in den letzten hundert Jahren bezeichnet, daß alle Einzelheiten vergessen werden, die nicht in ein Strukturmuster eingefügt werden können:
„Einzelheiten werden im Gedächtnis bewahrt durch eine vereinfachte Art und Weise der Repräsentation in einem strukturierten Zusammenhang."
2) Diese Repräsentation besitzt einen regenerativen Charakter; sie erlaubt es, eine komplexe Fülle von Informationen wie in einer Formel aufzubewahren und gestattet den Transfer, das heißt die Übertragung des Gelernten und Erkannten auf andere, ähnliche Inhalte und Situationen. Die Transferierbarkeit gewonnener Ergebnisse „ist nachweislich abhängig von der möglichen Verallgemeinerungs- bzw. Generalisierungsfähigkeit des erkannten Besonderen"
Zumal ein Unterrichtsbereich, der seine Gegenstände aus mehreren Wissenschaften entnimmt — der Politikwissenschaft, der Soziologie, der Wirtschafts-und Rechtswissenschaft, aber auch z. B.der Sozialpsychologie —, verlangt Klarheit über die gewählten Strukturmerkmale, wenn sich der Unterricht im Bewußtsein der Schüler nicht als eine Sequenz von zusammenhanglosen Tatsachen und abstrakten Wertforderungen spiegeln soll
Jede Wissenschaft strukturiert sich nach je eigenen Systembegriffen — nach Kategorien, die eine komplexe Vielfalt von Erscheinungen ordnen, indem sie Gegenstände und Prozesse nach gemeinsamen Merkmalen klassifizieren (z. B. in der Politik: Regierungssysteme usw.; in der Soziologie: Klassen, Schichten usw.).
Für die politische Bildung (und für Bildung überhaupt) stellt sich die Frage, ob sie sich mit den Katagoriensystemen der sie konstituierenden Fachwissenschaften begnügen darf oder ob sie von eigenen, besonderen, „gesetzten" Kategorien ausgehen soll.
In letzter Zeit ist das Problem u. a. durch Picht sinnfällig umrissen worden, wenn er den Ort der Bildung zwischen „Aufgaben der Gegenwart" und „den geistigen Fundamenten unserer Kultur" ansiedelt
Didaktische Kategorien haben demnach die „Aufgaben der Gegenwart", die „Interdependenz der Phänomene", die „Bedeutung für das Leben"
Dabei fungieren didaktische Kategorien ausschließlich als Auswahl-und Strukturprinzip. Alle Sachaussagen, deren sich die Didaktik bedient, unterliegen der Korrektur und der Legitimation durch die Fachwissenschaften. Alle Strukturmerkmale müssen ständig daraufhin untersucht werden, ob sie nicht etwa das Bewußtsein irreleiten, indem sie den Horizont willkürlich beschränken. 3. Kategorien für die Beurteilung von Prioritäten in der Auswahl des Lehrnotwendigen Kategorien für Prioritäten (für die Validierung von Lernzielen) lassen sich erschließen, wenn man die „Bedeutung für das Leben" wörtlich nimmt und fragt, von welchen Gefahren und Chancen der Mensch in Gegenwart und Zukunft betroffen ist. Worauf kommt es an, wenn die Menschen ihre Umwelt und ihr Zusammenleben menschenwürdiger gestalten, wenn sie den Gefahren begegnen, die Chancen wahrnehmen wollen? — so lautet die didaktische Schlüsselfrage, die aufs Existentielle zielt. Es ist notwendig und möglich, die (zunächst wertfreien) Begriffe „Chancen" und „Gefahren" zu präzisieren und aufzufalten.
Gefahren lassen sich subsumieren unter:
Hunger (vom Verhungern bis zum Ausgeschlossensein von Gütern, die vielen anderen schon zur Verfügung stehen); Unterdrückung (von Auschwitz, Workuta, Vietnam, Biafra bis zur unkontrollierten Samtpfotenmanipulation); Vernichtung; entsprechend die Chancen:
Bedürfnisbefriedigung (die grundsätzlich möglich wird, seit „das Weberschiffchen sich von selbst bewegt" — wodurch zugleich auf die „Sklaven" verzichtet werden kann (Aristoteles). Emanzipation mit dem Ziele der Autonomie (wie sie nicht nur den Vorstellungen einer personalistischen Anthropologie entspricht, sondern auch dazu beiträgt, in einer durch Wissenschaft und Technik bestimmten Gesellschaft alle Potenzen zu entfalten); humaner Austrag von Konflikten, das heißt Verzicht auf die art-vernichtende Aggression, zugleich Nutzung der Möglichkeiten für den „geburtshelferischen Kampf" (Mitscherlich).
Die drei Gruppen von Chancen und Gefahren sind zugleich Folgeerscheinungen von drei grundlegenden Veränderungen, durch die sich das wissenschaftlich-technische Zeitalter von aller Vergangenheit unterscheidet. Ob sie als Herausforderungen für eine rationale Bewältigung und als Gefahr, aber auch als Chance für Humanisierung erkannt werden, kann als Pegel für ein zeitadäquates
Interdependenz („eine Welt", Notwendigkeit der Gestaltung der Erde als Lebensraum; weltweite Arbeitsteilung — zugleich mit der Gefahr, daß die Interdependenz Dependenz, einseitige Abhängigkeit, bleibt oder wird).
Massenproduktion (mit der grundsätzlichen Möglichkeit, den Mangel an existenznotwendigen Gütern zu überwinden).
Massenvernichtungsmittel, die den objektiven Zwang zur Verhinderung artvernichtender Aggression hervorgerufen haben. 4. Kategorien für einen demokratischen Minimalkonsensus Daß die politische Bildung weiterhin Anpassung an den „Status quo" zur Folge hat und die Verfassungswirklichkeit unreflektiert widerspiegelt und reproduziert, wird ihr zum Vorwurf gemacht und zugleich als eine der Ursachen für Unruhe und Protest angesehen; daß über „demokratische Grundvorstellungen" kein Konsesus herrscht, erweist sich in jeder Diskussion. Das didaktische Problem muß demnach also darin gesehen werden, Kriterien für einen Minimalkonsensus zu definieren, die nicht einen als unveränderlich angesehenen Bestand von Werten, Institutionen und Regeln beschreiben, sondern diejenigen Grundentscheidungen, die eine freiheitliche Ordnung und ihre Entwicklung ermöglichen. In didaktischen Entwürfen der jüngeren Vergangenheit hat man hierfür den Begriff der „grundlegenden Einsichten" — im Unterschied zu wertneutralen, wissenschaftlich beweisbaren „Erkenntnissen" — benutzt und längere oder kürzere Kataloge derartiger Einsichten formuliert. Eine gründliche Analyse dieser Kataloge, aber auch ihre Anwendung auf Unterrichtsprojekte, haben zu der Auffassung geführt, daß sich nahezu alle „Einsichten" auf drei grundlegende Optionen zurückführen lassen
für die Notwendigkeit, Voraussetzungen für die Entwicklung der Menschenwürde, Autonomie, Emanzipation, Chancengleichheit aller zu schaffen;
für die Notwendigkeit, Spielraum und Institutionen für Alternativen zu schaffen und zu erhalten.
Menschenwürde in dem Sinne, daß der Mensch nie als Mittel zu irgendeinem Zweck zu betrachten ist, sondern als „Zweck an sich" (Kant), wird zwar kaum irgendwo als Wert ausdrücklich in Frage gestellt; die Erhaltung und Herstellung von Menschenwürde im Sinne von Grundrechten wird aber nicht nur in der marxistisch-leninistischen Doktrin und Praxis vernachlässigt (wie es z. B. Bloch 1968 in Trier bemängelte), sondern auch von weiten Teilen der Jugend so wenig als Wert erkannt, daß die Option dafür nicht vorausgesetzt, sondern didaktisch intendiert werden muß. Den Jungen, die sich von Auschwitz und Workuta weit entfernt glauben, fällt es nicht leicht, im Angesicht der idealen Ziele, die sie zu verfolgen wähnen, die Barrieren zu beachten, die unveräußerliche Rechte der Person gegen Eingriffe von Staat und Gesellschaft aufrichten. Die anthropologische Grundentscheidung wird teilweise als eine ideologische denunziert. So muß die Didaktik, und zwar an vielen Einzelfällen, Gelegenheit zur Antizipation der Konsequenzen intendieren, die eine Verneinung mit sich brächte.
Bei der Schaffung von Bedingungen für die Entwicklung menschenwürdiger Daseinsverhältnisse für alle geht es primär darum, für die Überwindung von „grundlegenden Teilungen"
Daß sich in der Bundesrepublik die Teilungen in den letzten zwanzig Jahren auf vielen Gebieten — zumal im Bildungswesen, beim Eigentum, bei der Lohnquote, bei der Bemessung des Anteils gesamtgesellschaftlicher Aufgaben, bei der Möglichkeit, das gesellschaftliche und staatliche Leben mitzubestimmen — nicht verringert, sondern (im Widerspruch zu Art. 2, 14 [2], 20 GG und zu den Parteiprogrammen der Nachkriegszeit) verstärkt haben, wird als eine weitere Ursache für den Protest nicht nur der Jugendlichen diagnostiziert; daß es des Protestes bedurfte, die Teilungen ins Bewußtsein zu heben, hat das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie als Instrument geregelter Veränderung geschmälert. Eine Option für die Evolution scheint auf die Dauer nur dort möglich, wo die Tendenz zur Aufhebung der Teilungen zum Minimalkonsensus gehört. Das bedeutete zugleich eine angemessene Antwort der politischen Bildung an Ideologien, die gesellschaftliche Teilungen an einem einzigen Symptom und durch einen einzigen Akt ein für alle mal beseitigen zu können glauben, mit dem irrationalen Ziel einer konfliktlosen Gesellschaft.
Die dritte Option „Alternative“ bzw. „Konflikt" bedarf einer besonderen Begründung, denn es handelt sich weder um eine unbesehene didaktische Rezeption der soziologischen Konflikttheorie noch um das, was Giesecke unter seiner Didaktik des Konfliktes
Konflikte werden z. B. hervorgerufen: — durch „Teilungen" zwischen „Oben" und „Unten";
— durch das dialektische Verhältnis zwischen der ersten Option („defensive" Menschenwürde) und der zweiten (Herstellung von Bedingungen dafür); — durch technischen Fortschritt (durch jeden Wandel);
— durch Inkonsistenz auch solcher Ziele, die von den meisten bejaht werden (Steuersenkung — Bildungspolitik).
Bei diesen Ursachen von Konflikten handelt es sich um grundsätzliche, die Habermas mit den dialektisch zu verstehenden Begriffen „Arbeit" (technologische Gesetzmäßigkeiten, Anpassungszwang) und „Interaktion" (mit der Notwendigkeit, Gleichheit, Emanzipation usw. herbeizuführen) und Hartmut v. Hentig ähnlich mit den Begriffen „Systemzwang" und „Selbstbestimmung“ beschreibt.
Weitere Begründungen: — ohne Spielraum für Alternativen werden Interessen und Alternativen unterdrückt;
Konflikte sind Entzündet des Denkens; — ambivalente Objekt-und Subjektbeziehungen, wie sie bei der Option für den Konflikt vom Einzelnen verlangt werden, sind nach Erkenntnissen der Tiefenpsychologie zugleich konstitutiv für die Individuation
In der Zielsetzung für politischen Bildung, „sie soll den Bürger befähigen, sich aufgrund eigener Einsichten ein kritisches und selbständiges Urteil zu bilden und sich für die Durchsetzung dessen, was er als richtig erkannt hat, in demokratischer Weise einzusetzen"
Wieviel soll, muß, darf, um die Handlungsund Entwicklungsfähigkeit des Gemeinwesens zu sichern, von Gesellschaft und Staat geplant und geregelt werden — und was soll und muß der Initiative von Gruppen und einzelnen überlassen bleiben? Welche Institutionen gibt es und welche müssen geschaffen werden, damit die Planung und Durchführung kontrolliert, unter maximaler Beteiligung geleistet wird?
Wer soll von wem wieviel erhalten bzw. wofür soll von wem oder wovon wieviel gegeben werden — und wer befindet darüber? Welche Mittel sollen, dürfen, müssen für dieses als notwendig erkannte Ziel eingesetzt werden?
Aus den Kategorien lassen sich Problemkreise ableiten, um die sich in der Sekundarstufe Einzelprobleme gruppieren lassen; in der Oberstufe dürfen die Probleme durch die Fülle „isolierter Phänomene" nicht aus dem Blick geraten.
Elementar formuliert:
Wie können Menschen frei bleiben und freier werden (Autonomie erlangen) trotz technologischer Zwänge und der Interdependenz?
Welche Regelungen sind notwendig, damit die Massenproduktion auf die Dauer allen zugute kommt?
Wie können weltweite Regelungen geschaffen werden, technische Machtmittel für die friedliche Entwicklung der Erde zu nutzen?
Wie können Herrschaftsverhältnisse und Interessenlage in Staat und Wirtschaft durchschaubar und kontrollierbar gemacht werden (Partizipation im weitesten Sinne)?
Wie kann die wachsende Freizeit durch Erweiterung der Bildungschancen genutzt werden, um Emanzipation und Daseinsbereicherung für alle zu ermöglichen? 6. Zur Funktion der Kategorien in Lernplanung und Unterricht Die hier entwickelten Kategorien fungieren in der Lernplanung und im Unterricht als Schlüsselfragen nach Gefahren, Chancen, Bedingungen für menschenwürdiges Dasein usw., die — auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion (Generalisierung) — an konkrete Situationen, Fakten, Meinungen, Alternativen, Ideologien angelegt werden. So gewährleisten sie, daß zentrale Fragen, von denen das Dasein des einzelnen und die Befindlichkeit der Gesellschaft abhängt, zum Regulativ für die Auswahl des Lehrnotwendigen werden.
Zu wenig beachtet wurde in den bisherigen Entwürfen zum politischen Unterricht die planmäßige Entwicklung von Fertigkeiten (Qualifikationen). (In den USA, aber auch in der DDR, gibt es nach Jahrgängen abgestufte Kataloge und Pläne dafür.)
Die Entwicklung der Fähigkeit zur Kritik und Antikritik, zur Analyse von Meinungen auf dem Hintergrund von Interessen und Ideologien sind Qualifikationen, deren Entwicklung vernachlässigt worden ist; gipfeln könnten sie in der Fähigkeit zur Antizipation der Konseguenzen von Alternativen für einzelne, Gruppen und Gemeinwesen.
Der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland wird — nicht ohne daß man es begründen könnte — vorgeworfen, sie habe durch „Erziehung zur Anpassung" den unreflektierten Protest provoziert. Wenn auch die Frage, wieviel Unterricht bewirken könne, kontrovers beantwortet wird, die Entwicklung eines reflektierten politischen Urteils ist auf Kriterien (Kategorien) angewiesen, auf den unablässigen Versuch, das „Worauf-es-ankommt" begrifflich aufzufalten und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nachzuweisen — als Defizit oder als Modell.
Dr. Messerschmid wertete das von Professor Hilligen Vorgetragene als eine Konzeption, mit deren Hilfe es vielleicht möglich sein könne, die gegenwärtige, Unzufriedenheit schaffende Punktualität der Einzelunternehmungen und Thematisierungen in der politischen Bildung zu überwinden. Solange begründete Ordnungsgesichtspunkte für das Ganze nicht verfügbar seien, sei diese dem Zufall ausgesetzte Punktualität nicht zu beseitigen. Es sei aber auch klar geworden, daß mit den Fachwissenschaften allein politische Bildung nicht zu leisten sei. Die Beiträge der Einzelwissenschaften seien von außerordentlicher Wichtigkeit und müßten „im Hinterkopf" des jeweils Lehrenden in möglichster Fülle und Klarheit vorhanden sein. Aber die bloße Vermittlung fachwissenschaftlicher Ergebnisse gehe nicht „unter die Haut" und schaffe nicht politische Bildung im eigentlichen Sinn. Dazu brauche man solche Kategorien, mit denen man an bestimmte Fragestellungen herangehen könne, und seine Frage sei nun, wie die auf der Tagesordnung stehenden Probleme — die Ursache der Studentenunruhen sowie das Verhältnis der politischen Bildung zur Politik — von den vorgeschlagenen Strukturierungs-Kategorien aus gesehen werden könnten.
Professor Hilligen legte dar, die politische Bildung könne sich nur in der Stellungnahme zur Politik entfalten. Das „Aktualitätenkino" poliB 'tischer Ereignisse, Aufgaben und Probleme lasse sich in sein Kategorien-System „einfüttern", und jede praktische Frage der Politik lasse sich mit dessen Hilfe einordnen. Das Ganze habe aber auch einen deutlich aufklärerischen Aspekt.
Es folgte eine längere Erörterung zwischen Professor Hennis, Dr. Müller, Professor Hilligen und Dr. Messerschmid über die Anwendbarkeit der Kategorien beispielsweise auf die Frage der Drittelparität an den Hochschulen oder die der Mitbestimmung im wirtschaftlichen Bereich.
Professor Bracher bemerkte dazu, das vorgeschlagene Kategorien-Modell werde durch solche Fragestellungen wohl in eine etwas falsche Position gerückt. So wie er es verstanden habe, solle das System keineswegs Lösungsantworten zu aktuellen Problemen und Anweisungen zu richtigem Verhalten vermitteln. Eine solche Aufgabe könne der politischen Bildung unter keinen Umständen zukommen. Sie vermöge Material zu Überlegungen anzubieten und auf Verknüpfungen aufmerksam zu machen, aber nicht etwa von den genannten Kategorien her bestimmte Lösungen für politische Probleme zu liefern oder gar zu indoktrinieren. Er habe den Ansatz von Professor Hilligen so aufgefaßt, daß damit eine gewisse Vermittlung oder Lösung zwischen den bisher bekannten Polen der politischen Bildungsarbeit geschaffen werden solle, zwischen der — unbefriedigenden — rein informativen Faktenkunde auf der einen und der — wahrscheinlich gefährlichen — Gesinnungsbildung auf der anderen Seite.
Dr. Müller griff noch einmal das Thema Mitbestimmung auf. Die Frage nach der Menschenwürde — eine der von Professor Hilligen genannten Kategorien — spiele im praktischen Alltag in den Betrieben eine große Rolle. Das Interesse des Kapitaleigners entscheide durchweg über die Tüchtigkeit des Managers, und das könne dazu führen, daß Fragen der Personalleitung als zweitrangig angesehen würden und das Interesse an vordergründig verstandener wirtschaftlicher Effektivität alle anderen Gesichtspunkte zurückdränge. Die politische Bildung müsse die Hinführung auf eine Zusammenschau der verschiedenen Faktoren und Gesichtspunkte sowie die Beachtung der Menschenwürde dabei als eine ihrer zentralen Aufgaben betrachten. Fragen der Organisation in den Betrieben, ob zum Beispiel der Mitarbeiter als Partner ernst genommen oder nur Subordination von ihm verlangt werde, hätten in der Konsequenz zweifellos mit Verwirklichung von Menschenwürde zu tun.
Professor Hennis zog in Zweifel, daß man zur Beurteilung dieser Zusammenhänge den Gesichtspunkt der Menschenwürde heranziehen müsse.
Dr. Messerschmid räumte ein, es lasse sich darüber streiten, wie hoch die Subsumtionsschwelle anzusetzen sei. Aber eine Zurückführung auf solche Höchstbegriffe sei doch wohl möglich und sinnvoll.
Dr. Müller meinte noch ergänzend, die Gesamt-ordnung der Institutionen müsse sich entscheidend nach der Frage richten, wie sie sich auf das menschliche Zusammengeordnetsein auswirkten. Ohne Zweifel hätten in einer Industriegesellschaft nicht nur die gesetzlichen, sondern auch die betrieblichen Ordnungen enorme Auswirkungen. Alle Mitmenschlichkeit werde erstickt, wenn die Ordnungen so seien, daß das Böse belohnt und das Gute bestraft werde. Wenn der Rücksichtslosigkeit eine Chance gegeben werde, so setze sie sich auch zwangsläufig durch. Die Grundfrage'der gesellschaftlichen Ordnung sei, wie das Leiden unter den Institutionen auf ein Minimum reduziert werden könne. Aus diesem Grunde könne die Frage der Menschenwürde bei der Behandlung von Institutionen in der politischen Bildung nicht ausgeklammert werden.
Professor Hennis erklärte dazu, ihm liege eine solche Absicht völlig fern. Er halte es aber für falsch, die Bemühungen der politischen Bildung insgesamt unter den Begriff der Menschenwürde zu subsumieren, weil auf diese Weise die Grenze zwischen Politik und nicht mehr politischem, sondern despotischem Zustand verwischt werde. Diese Grenze allein könne als Maßstab für Verletzung von Menschenwürde gelten und für die Rechtfertigung von Widerstand und Revolution. Der Unterschied zwischen dem Normälbereich der Politik — Verbesserung der Institutionen, Verbesserung des menschlichen Klimas — und dem Widerstands-fall dürfe nicht aus dem Blick geraten.
Professor Kuhn bezeichnete das von Professor Hilligen entwickelte Kategorien-System als insofern „verführerisch", als es einen einheitlichen Gesichtspunkt zur Überwindung der Punktualität von Fragestellungen anbiete. Er selbst sehe den Begriff Menschenwürde in diesem Zusammenhang lieber ersetzt durch den Freiheitsbegriff --in dem klassischen Sinne, daß der freie Mensch für sich da sei. Von diesem transzendenten Gesichtspunkt aus werde nun von Professor Billigen das Gesellschaftsganze als ein System der Verteilung gesehen, wobei im Verteilen immer die Freiheit bzw. Menschenwürde das leitende Prinzip sei. Dieser Ansatz diene dem einheitlichen Durchdenken, aber auch dem Durchstrukturieren der Gesellschaft. Unter diesem Aspekt sei die von Professor Bracher vollzogene Scheidung der politischen Bildung von der politischen Praxis nicht durchzuhalten. Es geschehe aber etwas sehr Gefährliches, wenn das große Wort Menschenwürde für den schlichten Begriff Freiheit gesetzt werde, weil damit eine Totalisierung des politischen Gleichheitsgesichtspunkts eingeführt werde, die Zerstörend wirken müsse, sowohl für den sozialen Frieden wie für die politische Wirklichkeit überhaupt. Das lasse sich illustrieren an der Frage der Drittelparität. Jeder Mensch sei in Zusammenhänge verwickelt, die er nicht verstehe, und er lasse das über sich ergehen; ohne das Ausstellen von „Blankovollmachten" könne man gar nicht existieren. Wenn man eine Einrichtung wie die Universität unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde betrachte, verliere man aus dem Auge, was sie eigentlich sei, nämlich eine Schule, in der die Schüler zwar wichtiger seien als die Lehrer, wo aber die Lehrer notwendigerweise den Ausschlag gäben in allen Regelungen, die das Leben dieser Schule bestimmten. Bei menschlichen Zusammenschlüssen komme es darauf an, daß das, was durch sie geleistet werden solle, möglichst gut geleistet werde. Wenn aber dabei die Kategorie der Menschenwürde die herrschende sei, so führe das zur Totalisierung eines an sich guten Prinzips, das in seiner Anwendung durch andere Prinzipien notwendig eingeschränkt werden müsse. Das System von Professor Billigen leide also unter einer zu engen Bestimmung des Prinzips und schließe sich damit nach seiner Meinung an eine destruktive Strömung an, die auf eine Durchrationalisierung des Lebens unter zu eng gefaßten Prinzipien hinziele, wobei nicht ins Schema passende Institutionen, wie die Universitäten, einfach überrannt würden.
Franklin Schultheiß betonte, vom Standpunkt der Praxis der politischen Bildungsarbeit aus sei es nur zu begrüßen, daß ihr ein Struktur-prinzip angeboten werde und damit ein Weg, auf dem man über das hinaus, was die Einzel-wissenschaften bereitstellen könnten, an das spezifisch Politische herankommen könne. Die Frage, in welche Worte man die Abstrakta fasse, stehe dabei wohl nicht so sehr im Vordergrund. Ihm scheine allerdings, daß die in der kürzlich verabschiedeten Empfehlung der Kommission zur politisch bildenden Tagungsarbeit u. a. enthaltene Zielsetzung „Förderung der Erkenntnis des eigenen Standortes und der eigenen Interessen im Rahmen der Gesamtgesellschaft" in dem von Professor Billigen vorgeschlagenen Strukturschema zu kurz komme. Seine Frage sei daher, ob die Analyse nach diesem Schema nicht dazu führe, die objektiven Sachzusammenhänge überzubewerten gegenüber den subjektiven, historisch und sozialpsychologisch zu untersuchenden Elementen.
Professor Billigen wies zu den Ausführungen von Professor Kuhn darauf hin, daß er in seinem Kurzreferat deutlich unterschieden habe zwischen der Kategorie einer zu verteidigenden Menschenwürde, bei der das von Professor Bennis genannte Widerstandsrecht eine Rolle spiele, und der Kategorie einer durch allmähliche Überwindung der ihr entgegenstehenden Bindernisse zu entwickelnden Menschenwürde. Wenn von drohender Durchrationalisierung gesprochen werde, so sei zu bemerken, daß diese doch gerade heute vorhanden sei. Und sie bringe ein nicht kalkulierbares Ele-. ment mit sich, das nur dann als ungefährlich bezeichnet werden könne, wenn man unterstelle, daß Studenten und Arbeiter an der Gesamteffizienz ihrer Institution oder ihres Betriebes nicht interessiert seien. Sobald man diese Annahme in Frage stelle, werde deutlich, wie in einer Gesellschaft, die aus der Armut gekommen sei, unter den Bedingungen der modernen Industrialisierung die Beteiligung der weniger Privilegierten an den neu geschaffenen Möglichkeiten, aber auch Verantwortung und Gefahren in steigendem Maße notwendig und realisierbar sei. Das sei ein ganz anderer, der eigentlich politische Innovationsaspekt. Dieser bleibe jedoch immer gebunden an die Schranken, die von dem ersten — defensiven — Begriff der Menschenwürde gezogen seien. Im übrigen gehe es ihm bei den drei vorgeschlagenen Kategorien — defensive Menschenwürde, herzustellende Menschenwürde, Konflikt — lediglich um den Versuch, das Minimum dessen zu definieren, was unter Demokratie zu verstehen sei: rechtsstaatlicher Schutz, Möglichkeit der Mitbestimmung und Möglichkeit der Alternative.
In der weiteren Aussprache ging es zunächst noch einmal um die Frage, ob im Binblick auf ein praktikables kategoriales Schema die Verwendung des Begriffs Menschenwürde angemessen und geeignet sei. Die von Professor Hennis und von Professor Kuhn geäußerten Bedenken faßte Dr. Messerschmid dahin zusammen, daß befürchtet werde, der Bereich des politischen Prozesses, der Regelungen, die gefunden werden könnten, werde unerträglich eingeengt, wenn man die Schwelle, jenseits der das Wort Menschenwürde angebracht sei, zu niedrig ansetze. Es bestehe dann die Gefahr, daß man sofort, wenn Regelungen aus irgendeinem Grunde nicht möglich erschienen, auf den Begriff Menschenwürde rekurriere und „Revolution" mache.
Dr. Müller und Professor Bracher vertraten die Auffassung, das Prinzip Menschenwürde habe als Grundkategorie den Vorteil, daß es — im Gegensatz etwa zum mehr „eindimensionalen" Freiheitsbegriff — der Komplexität der Probleme gerecht werden könne. Menschenwürde umfasse Freiheit und Verantwortung zugleich. Professor Hilligen wies ergänzend darauf hin, daß man die — auf Entwicklung angelegte — Kategorie Menschenwürde auch in ganz pragmatischem Sinn fassen könne. Die Feststellung, daß sich eine Polarisierung abspiele, zwinge auch ohne Berücksichtigung von „Brüderlichkeit" oder „Partnerschaft" zur Beachtung dieses Prinzips. Die Frage sei offen, ob nicht z. B. durch ein Nachgeben in Fragen der Mitbestimmung der Studenten das Klima und die Möglichkeiten der Arbeit an der Universität erheblich verbessert werden könnten.
Professor Horkheimer gab noch zu erwägen, daß es sehr schwer sei, die Universität mit einem modernen Betrieb zu vergleichen, weil hier Begriffe wie Bestimmung, Gehorsam, Abhängigkeit eine radikal andere Bedeutung hätten. In einem Großbetrieb sei die Situation eines Direktoriumsmitglieds — in bezug auf die von Professor Hilligen genannten Kategorien — gar nicht so sehr verschieden von der einer Sekretärin. Die Arbeit werde so weit von der Sache her diktiert, daß es vorwiegend darum gehe, den objektiv gestellten Bedingungen einigermaßen gerecht zu werden. Die Sekretärin gehorche also mehr den Apparaturen als ihrem Chef, und der Direktor habe gar nicht mehr in einem früheren Sinne zu bestimmen. Bei der Universität sei das ganz anders, da sie von ihrem jetzigen Zustand über den bürgerlichen hinüber erst in den modernen kommen müsse. In vielen großen Betrieben sei es heute schon sehr schwer, von persönlichen Abhängigkeiten zu sprechen und die Frage zu beantworten, was Mitbestimmung eigentlich heiße. Der Begriff Menschenwürde gewinne so in Beziehung auf die Tätigkeit innerhalb der produktiven Sphäre einen ganz anderen Sinn, als er ihn vor fünfzig Jahren oder früher gehabt haben könne.
Dr. Messerschmid brachte als weiteren Gesichtspunkt die Frage nach der Bedeutung des Wohlstands in die Debatte. Diese Frage sei für die politische Bildung wie für die Politik von großer Wichtigkeit. Das Problem sei mit dem steigenden Ausmaß der Industrialisierung verknüpft. Nach 1945 hätten die Verantwortlichen in ständiger Beobachtung der Entwicklung der Produktion und des Ausbaus der Apparaturen mühsam lernen müssen, daß es in der Gesellschaft Zwänge gebe, denen man sich fügen müsse, daß aber dadurch andererseits auch neue Freiheitsräume entstanden seien. Nun sei immer wieder der Wohlstand als das entscheidende Programm der Parteien bezeichnet worden. Wohlstand um des Wohlstands willen stelle aber keine akzeptable Gesellschaftskonzeption dar. Dies sei auch das Grundbewußtsein der heute feststellbaren Rebellion. Die vorhandene Schizophrenie könne nicht dadurch geheilt werden, daß man sie nicht berühre. Eine Lösung könne etwa in folgender Richtung gesucht werden: Die Gesellschaft reagiere bei der geringsten Rezession äußerst empfindlich. Offensichtlich sei es so, daß ohne Wohlstand, ohne Vergrößerung der Produktion und des Sozialprodukts eine Menge von Fragen unlösbar werde. So könne beispielsweise Entwicklungshilfe nur bei wachsendem Wohlstand geleistet werden; das gleiche gelte für die Bildungsaufgaben, für die riesige Mittel erforderlich seien. Wenn Wohlstand in diesem Sinne aufgefaßt werde, so sei er nicht nur eine materialistische Konzeption, sondern gehe weit darüber hinaus. Sogar die proletarische Zukunftskonzeption stimme weitgehend mit diesem Wohlstandsaspekt überein. Es erhebe sich daher die Frage, was getan werden könne, um der Erhöhung des Sozialprodukts einen Sinn zu geben, indem man das sich ausbreitende Ressentiment gegenüber der „Wohlstandsgesellschaft" abbaue. „Wohlstand mit schlechtem Gewissen" könne viele Möglichkeiten verbauen, die noch nicht genutzt würden, aber vorhanden seien.
Manfred Klein meinte dazu, das Problem liege darin, daß man den Wohlstand in der politischen Bildung immer nur zu verteidigen habe. Das sei aber nicht etwas Voranführendes und Gestaltendes, mit dem man ein breiteres Interesse wecken könne. Professor Rothfels wandte ein, daß diese Verteidigung ja nur notwendig werde, solange Wohlstand nicht in der von Dr. Messerschmid aufgezeigten Weise verstanden werde. Im übrigen bewege ihn — so wichtig kategoriale Begriffsklärungen auch seien — doch immer die Frage nach einer Grundkonzeption der politischen Bildung überhaupt, auf welche soziale, innen-und außenpolitische Zielsetzung also sie angelegt sein solle. Eine solche Zielvorstellung von der angestrebten Gesellschaftsverfassung müsse vorhanden sein; mit dem Aufzeigen von Alternativen sei es noch nicht getan, so sehr natürlich die „Offenheit" zum Erziehungscharakter der politischen Bildung gehöre. Die Bedrohungen von rechts und links blieben Anlaß zu großen Sorgen, und wenn politische Bildung einen Auftrag habe, so den, eine Linie zu zeigen, die in sich standhaft und nicht der Gefahr der Aushöhlung und der Wegziehung des Substrates ausgesetzt sei.
Dr. Messerschmid wies im Zusammenhang mit diesem Gedanken auf die immer wieder aufgestellte Behauptung hin, die bundesdeutsche Politik sei von jeher konzeptionslos, es gebe keinen Vorentwurf zu einer „menschenwürdigen" Zukunft, und ohne einen solchen Vorentwurf könne keine vernünftige Politik gemacht werden. Dagegen müsse man fragen, ob das, was wider Erwarten seit 1945 erreicht worden sei, sozusagen nur im Windschatten der Weltpolitik als Zufallsprodukt entstanden sei oder ob nicht beträchtlich mehr dahinter stecke. Wenn in diesem Sinn der Wohlstand zugleich genossen und perhorresziert werde, dann sei in der Tat ein schiefes Verhältnis zur gesamten Politik der Bundesrepublik konstatierbar.
Dr. Termin bemerkte zu dem von Professor Rothfels Gesagten, die Praktiker der politischen Bildungsarbeit hätten die Notwendigkeit einer Grundkonzeption schon früh als sehr dringend empfunden. In zahlreichen und intensiven Bemühungen habe man sich mit dieser Frage auseinandergesetzt; zu einer gültigen Lösung sei es jedoch nicht gekommen. Unter diesen Umständen müßten die gestellten Aufgaben pragmatisch angegangen werden. Die Frage nach einer Gesamtvorstellung von Politik und Gesellschaft sei zur Zeit nicht beantwortbar.
Professor Hennis vertrat hierzu die Auffassung, daß eine solche Gesamtkonzeption überhaupt nicht realisierbar sei. Sie widerspreche einfach dem Wesen von Politik, die ja die ständige Reaktion auf Lagen sei und nicht Ausführung eines theoretischen Programms. Heute lasse sich beispielsweise auch Innenpolitik nicht ohne Rücksichtnahme auf die Nachbarn machen; was jenseits der eigenen Grenzen geschehe, könne man nicht beeinflussen und folglich auch nicht einprogrammieren. Der Entwurf eines Gesamtkonzepts der politischen Bildung — wie ihn vielleicht auch die Bundesregierung von der Kommission erwarte — scheine ihm daher nicht möglich zu sein.
Professor Kuhn machte auf zwei Punkte aufmerksam, die nach seiner Ansicht zu Störungen geführt hätten. Erstens: Die gesamte Publizistik der Presse und der sonstigen Massenmedien diene nicht dazu, den Blick auf die Tatsache zu lenken, daß der Staat immer auch den Charakter einer Notgemeinschaft habe. Durch Festhalten und Verteidigen der vorhandenen Grundordnung werde man vor dem Sturz in den Abgrund bewahrt. Das werde nicht gesehen. Der Staat repräsentiere auch ein Müssen und dürfe Gehorsam erwarten. Zweitens: Gleichheit werde immer eine Gleichheit mit Ungleichheiten sein. Ungleichheit wachse nicht nur heran aus Traditionen, sondern beruhe auf zwei Grundtatsachen, die jeder Staat respektieren müsse: auf der Verschiedenheit der Anlagen und auf der Verschiedenheit der Funktionen. Selbst die anzustrebende Gleichheit der Chancen sei nur absolut zu setzen bei Auflösung der Familie. Diese Grundtatsachen müßten in Rechnung gestellt werden, wenn nicht die Gesamtperspektive verzerrt werden solle.
Professor Hilligen legte dar, daß es bei seiner zweiten Menschenwürde-Kategorie darum gehe, dauernd zu definieren, welche Möglichkeiten zur Herstellung von Chancengleichheit es gebe. Sein ganzes Modell sei natürlich zu sehen unter der — von Dr. Messerschmid angesprochenen — Voraussetzung einer fortwährend ihr Sozialprodukt maximierenden Gesellschaft, eine Voraussetzung, die, von Katastrophenfällen größten Ausmaßes abgesehen, als feststehend angenommen werden könne. Im Zusammenhang mit dem wachsenden Sozialprodukt stelle sich natürlich ständig die Frage: für wen? Die Motivation vom Standort des einzelnen komme damit ins Spiel.
Franklin Schultheiß stellte die Zwischenfrage, ob nicht die Fähigkeit zur Erkenntnis dessen, was im Interesse des einzelnen liege, durch Tradition und Vorurteile weitgehend gestört sei. Professor Hilligen erwiderte, daß diese Bedingungen zu berücksichtigen seien und immer wieder gefragt werden müsse, was für bestimmte Gruppen notwendig sei, womit dann gleichzeitig ihre spätere politische Beteiligung motiviert werden könne. Dabei stehe im Hintergrund die Frage, was von diesen Gruppen im Grunde gewollt werde. Es gebe Wunschvorstellungen, die zwar zunächst auf Konsum, darüber hinaus jedoch auch auf andere Lebensbedürfnisse gerichtet seien. Damit sei die Frage gestellt, wie die Bundesrepublik mit ihren Voraussetzungen die entsprechenden Lebensmöglichkeiten für den einzelnen schaffen könne. Ohne ein Stück Utopie gehe es dabei nicht ab. Aber die politische Bildung müsse die großen Chancen des Wohlstands in diesem weiten Sinne ins Blickfeld rücken.
Franklin Schultheiß kam zurück auf die Ausführungen von Professor Kuhn mit der Feststellung, daß die Formulierung der Abstrakta keinen Grund zum Widerspruch biete. In der konkreten Bildungsarbeit sehe der Punkt allerdings ganz anders aus. Der Hinweis auf den Staat als Notgemeinschaft und darauf, daß es neben Gleichheit immer Ungleichheit gebe, werde vielfach benutzt, um konkrete Fälle von Privilegienverteilung abzusichern und zu rechtfertigen. Die fatale Neigung, auf diese Weise vorhandene Konflikte abzutöten, sei so stark verbreitet, daß bei aller Anerkennung der abstrakten Forderungen der Hinweis notwendig erscheine, daß diese Formulierungen nicht dazu führen dürften, das Fragen nach den konkreten sozialen und politischen Verhältnissen zu verdächtigen. Dieses Fragen sei bei uns nicht ausgeprägt und nicht selbstverständlich; da gerade liege der Mangel.
Dr. Tormin knüpfte daran an und betonte, es komme entscheidend darauf an, ob die Begriffe, von denen man ausgehe, als statisch oder als veränderbar und veränderungsbedürftig angesehen würden. Für die politische Bildung dürften nicht feststehende Größen wie , Staat'oder wie . immer vorhandene Ungleichheit'als solche zur Grundlage gesetzt werden. Die Kategorien-Methode von Professor Hilligen biete einen Ansatzpunkt dazu, die Dinge als dynamisch, als veränderbar aufzufassen. Nur da eigentlich könne man von Bildung sprechen, wo immer wieder in Frage gestellt werde und wo nicht nur davon ausgegangen werde, daß gewisse unveränderbare Gegebenheiten zu beachten und hinzunehmen seien. Dabei müsse zugegeben werden, daß derjenige, der Veränderung proklamiere, mit Recht gefragt werde, mit welchem Ziel und mit welchen Vorstellungen er das tue.
Professor Bracher nahm gleichfalls zu den Thesen von Professor Kuhn Stellung und ging dabei insbesondere auf das Problem der Gleichheit ein. Professor Kuhn habe ein weitgehend statisches Modell entworfen und nicht zufällig gesagt, es müsse immer Ungleichheit geben. Das Schema der Ungleichheit der Anlagen auf der einen und der Funktionen auf der anderen Seite sei diskutierbar, aber es sei weitgehend abstrakt. Er stimme mit dem in verschiedener Form in der Diskussion geäußerten Gedanken überein, daß ein gewisser grundlegender Katalog in der politischen Bildung im Auge behalten werden müsse. Dazu werde er allerdings das von Professor Hilligen genannte Prinzip der Menschenwürde rechnen, mit dem die Veränderbarkeit und die Aufforderung zur Veränderung oder Anpassung zum Ausdruck komme. Das ganze Kategorien-System werde rein formal und unwirksam sein, wenn nicht das Zentralproblem für die Bevölkerungskreise und für die Generation, an die sich die politische Bildung richte, miterfaßt sei, nämlich das der Annäherung an die Gleichheit der Chancen. Wie solle die Frage der Schulreform gelöst werden ohne Einbeziehung dieser Fragen? Natürlich gebe es Verschiedenheit der Anlagen, aber kein Mensch könne das konkret fassen. Wenn man das Argument der Ungleichheit der Anlagen verwende, ohne sofort die Frage der Ungleichheit der Chancen damit zu verbinden, so sei die Gefahr der Verfälschung des Problems gegeben.
Franklin Schultheiß betonte nochmals, der abstrakte Gehalt dessen, was Professor Kuhn gesagt habe, könne nicht bestritten werden. Es gehe nur um die Art und Weise, wie dieses Abstrakte vielfach auf konkrete Fälle politischer Macht-und Privilegienverteilung angewandt werde, um diese selbst mitzuverteidigen. Dieser vor allem in den Schulen übliche Stil der politischen Bildung, ein ideales, statisches Gebäude von Demokratie zu entwerfen und die Unzulänglichkeiten einfach als system-widrig darzustellen, habe ja zu der Reaktion geführt, daß die Studenten mit den Unzulänglichkeiten nicht fertig würden und das System als ganzes radikal ablehnten.
Professor Kuhn erklärte in Erwiderung auf die vorangegangenen Diskussionsbeiträge, man müsse sich der Entscheidung stellen, ob der Staat ein allgemein menschliches Phänomen sei, das sich in der Geschichte verwirklicht habe, oder aber, ob man einen Zustand der Über-staatlichkeit ins Auge fassen wolle, den die Menschheit einmal erreichen werde. Der zweite Standpunkt sei der des Marxismus. Die Entscheidungsfrage laute also, ob man politische Bildung als Bildung für eine Staatenwelt verstehe oder als Vorbereitung auf das vielleicht bevorstehende Absterben des Staates. Was die Frage der Begabungen angehe, so sei er genauso wie Professor Bracher vollkommen ablehnend gegenüber einem Begriff der Begabung als feststellbarer, statischer Anlage. Begabung und Schicksal des Menschen ließen sich gar nicht trennen. Aber hier gebe es eine Gefahr, nämlich die des Fehlgedankens, —-durch eine vollendete Konstruktion der Gesell-I schäft lasse sich dieses Schicksal ausschalten. 1
Dr. Messerschmid beschloß die Aussprache mit i dem Hinweis, daß zwar viele Fragen offen ge-: blieben seien, das Kolloqium aber doch zahl-I reiche neue Erkenntnisse gebracht habe. Der Vorsitzende dankte allen Teilnehmern, insbesondere den Gästen, für ihre sachbezogenen n und wertvollen Diskussionsbeiträge.