Die Hoffnung auf eine deutsche Revolution
Daß dem Geschehen, das ab 1917/18 in und von dem sowjetkommunistisch gewordenen Rußland seinen Ausgang nahm, innerhalb der Gesamtgeschichte des 20. Jahrhunderts ein hoher Stellenwert zukommt, ist heute kaum mehr als eine Binsenwahrheit. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß sich die Situation im Bildungsbewußtsein und Geschichtsverständnis Europas und der Welt im allgemeinen und Deutschlands im besonderen vor wenigen Jahrzehnten noch ganz anders darstellte. Trotz der Slawenbegeisterung eines Herder und ihrer vielfältigen Nachwirkungen und trotz des von Hegel entworfenen „Kolossalgebäudes Ruß-land" herrschte jedenfalls im deutschen Bereich bis weit nach 1917 ein Geschichtsbild vor, in dem bei unbedingter Dominanz der romanisch-germanischen Welt Osteuropa mehr oder weniger an den Rand der Betrachtung und des Interesses verwiesen wurde. Ein Wandel bahnte sich erst an, als der russische Osten unter sowjetischer Führung die ihm so lange verweigerte Aufmerksamkeit in ungeahnter und bestürzender Weise zu erzwingen begann. Unter dem Druck der politischen Entwicklung seit 1945 erklang immer vernehmlicher und verbreiteter die Forderung nach genauerer Unterrichtung über eine Macht, in deren Schatten wir Heutigen alle leben.
Vor diesem politischen und bildungsmäßigen Hintergrund erfolgt unsere Analyse und Würdigung der sowjetrussischen Haltung gegenüber Deutschland bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges
Deutschland stand von Anfang an im Zentrum der weltrevolutionären Perspektiven, Aspirationen und Hoffnungen, die nach der Überzeugung Lenins, Trotzkijs und der meisten anderen maßgebenden Persönlichkeiten des frühen Bolschewismus der sowjetrussischen Außenpolitik Inhalt und Richtung geben sollten. Bereits bei seiner Rückkehr nach Rußland im Frühjahr 1917 hatte Lenin öffentlich erklärt, daß die Revolution in seinem Lande nur die Initialzündung zu der vor allem vom deutschen Proletariat weiterzuführenden und zu tragenden Weltrevolution sein werde. In der Folgezeit betonte er immer wieder nachdrücklich, der Kommunismus könne sich in Rußland nur behaupten, falls er auch in anderen Ländern siegreich sein werde, wobei er und seine Gefolgsleute in Deutschland den für eine solche Entwicklung besonders wichtigen und auch am ehesten reifen Staat erblickten
gegengesetzte Richtung; lautete doch unmittelbar nach der Oktoberrevolution und zu Beginn des Jahres 1918 die Existenzfrage für das revolutionäre Sowjetregime: Wie können die Mittelmächte, insbesondere die Deutschen, mit denen man nach einem Mitte Dezember 1917 vereinbarten Waffenstillstand Friedensverhandlungen ausgenommen hatte, von einem weiteren militärischen Vorrücken, vor allem von der unmittelbar drohenden Besetzung Petrograds, abgehalten werden? Angesichts des erdrückenden militärischen Übergewichts des Gegners sowie der restlos demoralisierten und in Auflösung begriffenen eigenen Streitkräfte (wozu man selbst entscheidend beigetragen hatte) blieb den Bolschewik! letztlich nichts anderes übrig als die umgehende Verwirklichung der eigenen demagogischen Losung um -„Frieden jeden Preis". Das bedeu tete die Annahme der außerordentlich weitgehenden und harten deutschen Friedens-bedingungen, die auf die Abtretung des gesamten von Truppen der Mittelmächte besetzten Gebietes, einschließlich der Anerkennung einer selbständigen nationalen Republik Ukraine, hinausliefen. Daß es tatsächlich am
Als sich die Anzeichen des deutschen Zusammenbruchs in den ersten Herbsttagen 1918 zu mehren begannen, verfolgten die Kommunisten Rußlands das politische Geschehen in Deutschland mit leidenschaftlichem Interesse. Am 3. Oktober 1918, an jenem Tag, an dem in einer im Grunde schon aussichtslos gewordenen Lage Prinz Max von Baden Reichskanzler wurde, erklärte in einem Brief „an Lenin einige Moskauer Organisationen der Partei"
Angesichts einer solchen Entwicklung, die schon im November bzw. Dezember 1918 in Estland und Lettland sowie im März bzw. Anfang April 1919 in Ungarn und Bayern zur Bildung von Räterepubliken führte, verstieg man sich in der sowjetischen Hauptstadt sogar zu der kühnen Prognose
Die Gefahr außenpolitischer Isolierung
Die hochgespannten Erwartungen der Bolschewisten und der soeben (im März 1919) in Moskau ins Leben gerufenen Dritten (Kommunistischen) Internationale (Komintern) erfüllten sich nicht. Noch bevor im Baltikum die bolschewistische Herrschaft und in Ungarn die Räterepublik Bela Khuns zusammenbrachen, bannte in Deutschland, wo Radek bereits am 12. Februar 1919 inhaftiert worden war, die sozialdemokratische Regierung mit Hilfe regulärer Truppen und sogenannter Freikorps die akute Gefahr einer Bolschewisierung und schaltete das Rätesystem aus, bei dem einiges dafür sprach, daß es „sehr wahrscheinlich letzten Endes in ein der bolschewistischen Ordnung mehr oder weniger angeglichenes System einmünden würde"
Daß es wenig später zu einer neuen Flutwelle weltrevolutionärer Ambitionen und Aktionen Moskaus in bezug auf Deutschland kommen konnte, hing mit der erfolgreichen Gegenoffensive der im Juli 1920 bis nach Warschau vordringenden Truppen der Roten Armee als Antwort auf den von Pilsudski Anfang 1920 zur Wiederherstellung der polnischen Grenzen von 1772 entfesselten Krieg gegen Sowjetrußland zusammen. Nach Lenins ausdrücklichem Willen sollte nunmehr auf dem Wege über Polen die Fackel der Weltrevolution gen Westen und dabei zunächst nach Deutschland getragen und sodann „Europa mit den Bajonetten der Roten Armee auf die Probe gestellt" werden. Bereits Anfang 1920 war die Komintern als neues Instrument der Politik der Sowjetregierung in Deutschland höchst massiv in Erscheinung getreten, als — ausgelöst durch den reaktionären Kapp-Putsch — im März ein roter Aufstand im Ruhrgebiet ausbrach, bei dem eine „Rote Armee" von nahezu 50 000 Mann aufgestellt wurde, und als gleichzeitig die Kommunisten in Thüringen und Sachsen losschlugen und im Vogtland eine Räterepublik ausgerufen wurde. Nachdem diese Aufstandsversuche, die den Eindruck erwecken sollten, als ob Deutschland nun wirklich reif für eine Bolschewisierung sei, im Mai endgültig fehlgeschlagen waren, schaltete Moskau zunächst einmal um und versuchte, auf andere Weise zum Ziel zu gelangen. Denn auf dem Höhepunkt des russisch-polnischen Krieges suchte Lenins Deutschland-experte, Karl Radek, die deutsche Heeresleitung mit lockenden Territorialzusagen für ein militärisches Zusammengehen gegen Polen zu gewinnen
Das berühmte „Wunder an der Weichsel", das heißt der am 14. August 1920 unter Anleitung französischer Militärberater errungene Sieg der Polen über die erschöpften Truppen Tuchatschewskijs und deren nachfolgender Rückzug, machte nicht nur diese hochfliegenden Pläne der Bolschewisten erneut zunichte. Vielmehr wurde gleichzeitig der ersten, eindeutig unter weltrevolutionären Vorzeichen stehenden Gesamtphase der sowjetischen Außenpolitik ein Ende gesetzt, in der Deutschland wiederholt die Rolle eines künftigen Hauptträgers, wenn nicht gar Vollenders der kommunistischen Weltrevolution zugedacht war. Da gleichzeitig die durch die Pariser Verträge herbeigeführte Neuordnung im östlichen Europa ohne Mitwirkung Sowjetrußlands, das auch dem Völkerbund fernblieb, erfolgte und da zunächst weder die gerade souverän gewordenen Staaten Ostmitteleuropas noch die ehemaligen Kriegsverbündeten und Kriegsgegner Rußlands zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Moskau bereit waren, stand Lenin am Ende dieser durch Bürgerkrieg, Kriegskommunismus und weltrevolutionäre Hoffnungen gekennzeichneten ersten Epoche der sowjetrussischen Gesamtgeschichte außenpolitisch völlig isoliert da. Diese Isolierung zu überwinden, wurde nunmehr zu einer der vordringlichsten Aufgaben des jungen Sowjet-staates. Damit begann eine neue Periode der sowjetischen Außenpolitik, die Periode der sogenannten Anpassung, die sich über einen Zeitraum von mehr als eineinhalb Jahrzehnten erstrecken sollte. Auch in ihr nahm Deutschland eine Schlüsselstellung ein. *
Rapallo: Die Phase der ersten diplomatischen Beziehungen
Die sowjetische Deutschlandpolitik ab 1921 offenbart unmißverständlich, was das neue Konzept der „Atempause", der „Anpassung" und der „Übergangszeit" außenpolitisch bedeutete. Nicht von ungefähr hatte die Komintern in ihrer Grußbotschaft an das russische Volk zu Beginn des Jahres 1920 verkündet
„Wir werden auch in Berlin und Warschau, in Paris und London Arbeiter-und Soldatenräte einsetzen, und die Macht der Sowjets wird sich einst über die ganze Welt erstrecken" — gehörte doch zu diesem Zeitpunkt die Bolschewisierung Deutschlands zu den Nahzielen der Politik Lenins. Indessen scheiterten — wie bereits dargelegt wurde — alle diesbezüglichen Unternehmungen. Wohl gelang es Sinowjew auf dem im Oktober 1920 in Halle veranstalteten Parteitag der USPD, diese neben und nach der SPD inzwischen mit fast 5 Millionen Wählerstimmen zweitstärkste politische Partei in Deutschland, zu einer Beitrittserklärung zur Komintern zu bewegen mit dem Erfolg, daß die USPD sich spaltete und sich ihr linker Flügel der KPD anschloß. Als jedoch daraufhin ein im Frühjahr 1921 inszenierter Generalstreik, der die Kommunisten in Deutschland endlich an die Macht bringen sollte, ebenfalls völlig erfolglos blieb, hielt es die Sowjetregierung für angebracht, sich zunächst einmal um eine Normalisierung des russisch-deutschen Verhältnisses auf zwischenstaatlicher Ebene zu bemühen und weitere subversive Aktionen auf etwas längere Sicht zu planen. Man folgte damit einem von Karl Radek schon seit geraumer Zeit vertretenen Standpunkt. Der bolschewistische Deutschland-spezialist war jetzt sogar grundsätzlich und ganz allgemein der Ansicht, daß mit einem nur allmählichen Zerfall der bürgerlich-kapitalistischen Weltordnung gerechnet werden müsse und daß deshalb „Sowjetrußland das Problem, mit den Staaten, die noch kapitalistisch sind, einen modus vivendi zu suchen und zu finden, nicht erspart bleiben" werde
Die erste offizielle Vereinbarung des Sowjet-staates mit der Weimarer Republik war ein
Abkommen vom 19. April 1920 über die Rückführung der beiderseitigen Kriegsgefangenen und Zivilinternierten. Es wurde am 6. Mai 1921 zu einem Handelsabkommen erweitert, das überdies nicht allein die deutsche De-facto-sondern eigentlich auch schon die De-jure-Anerkennung Sowjetrußlands enthielt. Denn es hieß in ihm wörtlich, daß „die Vertretung der RSFSR in Deutschland als die einzige Vertretung des russischen Staates in Deutschland zu betrachten ist"
Daß der Vertrag, dessen Text kaum mehr als eine Schreibmaschinenseite füllte, trotz dieses keineswegs sensationellen Inhalts dennoch großes Aufsehen erregte, lag einmal an den Umständen, unter denen er zustande kam, und zum anderen an den sich unmittelbar daraus ergebenden psychologischen Wirkungen. Er wurde nämlich in dem Augenblick unterzeichnet, als sich eine von den Westmächten im April 1922 nach Genua einberufene, von Sowjetrußland erstmalig und auch von Deutschland besuchte internationale Wirtschaftskonferenz zur Regelung der Vorkriegs-und Kriegsschulden völlig festgefahren hatte. Wenn Lenin vor ihrer Eröffnung dem XL Parteikongreß der KPR (B) am 27. März 1922 erklärte, „wir gehen nach Genua nicht als Kommunisten, sondern als Kaufleute"
Tatsächlich waren die westlichen Alliierten — England ausgenommen — weder den Russen noch den Deutschen gegenüber zu irgendwelchen Konzessionen bereit. Wenn sie von dem daraufhin hinter ihrem Rücken abgeschlossenen Rapalloabkommen mehr vermuteten, als es tatsächlich enthielt, so müssen ihre Befürchtungen nachträglich immerhin insofern nicht ganz unbegründet erscheinen, als es unabhängig von diesem Abkommen die in ihm mit keinem Wort erwähnten geheimen Kontakte zwischen Roter Armee und Reichswehr gab, die bereits im Winter 1920/21 angeknüpft wurden
Was nochmals den Rapallo-Vertrag selbst angeht, so verschafften sich beide Mächte durch ihn in der damals bestehenden politischen Gesamtkonstellation zweifellos eine gewisse außenpolitische Bewegungsfreiheit und wohl auch gegenseitige Rückendeckung. Im übrigen ist seine Bedeutung im Zeitpunkt des Zustandekommens von beiden Vertragspartnern recht nüchtern beurteilt, jedenfalls nicht überschätzt oder gar glorifiziert worden. Während die deutsche Reichsregierung nicht daran dachte, ihre grundsätzliche und weiterhin eindeutige Westorientierung aufzugeben, ist bei der Sowjetregierung, deren Haltung hier in erster Linie interessiert, zwar eine verständliche Genugtuung — verbunden mit einer spürbaren Hebung des außenpolitischen Selbstbewußtseins — darüber festzustellen, den bisherigen diplomatischen und moralischen Boykott durch das kapitalistische Ausland an einer wichtigen Stelle überwunden zu haben. Indessen würdigte das Zentrale Exekutivkomitee, die damalige oberste Behörde des bolschewistischen Regimes, im Mai 1922 den errungenen Erfolg nur mit der knappen Feststellung, „Verträge dieser Art" seien „der einzig richtige Ausweg aus Schwierigkeiten, Chaos und Kriegsgefahr" und „normal für die Beziehungen der RSFSR zu kapitalistischen Staaten"
Die Rapallo-Politik machte sich indessen bald bezahlt für Sowjetrußland. Nachdem sie im Berliner Vertrag vom 24. April 1926, der die gegenseitige Neutralitätsverpflichtung bei einem Angriff von dritter Seite auf eine der beiden Partner enthielt, ihre erste Fortsetzung fand, veranlaßte sie nach Abschluß des Briand-Kellogg-Paktes vom 27. August 1928 die deutsche Reichsregierung, als Fürsprecherin sowjetischer Interessen in einem internationalen Gremium aufzutreten und sich für die nachträgliche Mitunterzeichnung dieses Vertrages zur Ächtung des Krieges durch die Sowjetunion einzusetzen, den der Kreml als Grundlage und Ausgangspunkt für sein neues außenpolitisches Konzept der kollektiven Sicherheit benutzte.
Stalin hob seinerseits immer wieder das besonders freundschaftliche Verhältnis Sowjetrußlands zur Weimarer Republik hervor. Vor allem lag ihm daran, Deutschland bezüglich seiner Polenpolitik zu beruhigen. Von deutscher Seite geäußerte Befürchtungen, „die Sowjetunion könnte in ihren Verhandlungen oder in irgendeinem Vertrag mit Polen einen Schritt tun, der bedeuten würde, daß die Sowjetunion die Besitzungen und die Grenzen Polens sanktioniert und garantiert", suchte er im Dezember 1931 nicht allein mit dem völlig zutreffenden Hinweis darauf zu entkräften, daß der —-damals noch nicht unterzeichnete — Nichtangriffspakt mit Warschau von 1932 keine solche Garantieerklärung enthalte. Er fügte vielmehr ausdrücklich hinzu: „Wir waren nie die Garanten Polens und werden es nie werden, ebenso wie Polen nicht der Garant unserer Grenze war und es auch nicht sein wird. Unsere freundschaftlichen Beziehungen zu Deutschland bleiben dieselben wie bisher. Das ist meine feste Überzeugung."
Abgesehen von dem von Stalin immer wieder sehr bewußt unterstrichenen sowjetisch-deutschen Interessengleichklang in bezug auf Polen, das heißt im Streben beider nach Revision der durch die Pariser Verträge festgelegten Grenzen Polens, gab es — außer den bereits erwähnten Kontakten zwischen Roter Armee und Reichswehr — eine wirkliche Zusammenarbeit in Gestalt engerer Beziehungen beider Mächte nur auf kommerziellem Gebiet
Insgesamt ist festzuhalten: Das sowjetische Verhältnis zur Weimarer Republik war höchst ambivalent. Während die KPD als zweitstärkste Sektion der Komintern hinter den Erwartungen Moskaus zurückblieb, wurde das „bürgerliche" Deutschland durch und seit Rapallo zum sichersten Eckpfeiler der sowjetischen Außenpolitik.
Die sowjetische Deutschlandpolitik nach 1933: die Phase des wohlwollenden Abwartens
Die sowjetische Deutschlandpolitik hat sich auch nach der nationalsozialistischen Machtergreifung vom 30. Januar 1933 keineswegs schlagartig gewandelt
Tatsächlich wurde der Berliner Vertrag von 1926 im Mai 1933 von beiden Seiten anstandslos verlängert. Während Hitler, der sich bekanntlich vor der Machtübernahme bereits als Bolschewistenfresser gebärdet hatte, auch in seiner sonstigen Haltung der Sowjetunion gegenüber noch vorsichtig abwartend, ja unentschieden blieb, wollte Stalin mit der Zustimmung zur Vertragserneuerung ebenso wie mit dem Nichtangriffsund Freundschaftspakt, den die Sowjetregierung am 2. September 1932 mit dem Italien Mussolinis vereinbart hatte, deutlich seine Auffassung bekunden, daß ideologische Gegensätze politische Abmachungen mit ihr nicht auszuschließen brauchten. Wohl wurde die militärische Zusammenarbeit, die für beide Seiten recht lohnend gewesen war, nach über zehnjähriger Dauer auf sowjetische Veranlassung im September 1933 end-gültig eingestellt; aber Molotow versicherte noch Ende 1933, es gäbe keinen Grund für eine Änderung der sowjetischen Deutschland-politik. Erst das deutsch-polnische Nichtangriffsabkommen vom
Unter dem Eindruck der „deutsch-faschistischen Gefahr" verlängerte die Sowjetunion im Laufe des Jahres 1934 ihre zweiseitigen Nichtangriffsverträge mit Polen, Estland, Lettland und Finnland aus dem Jahre 1932 auf zehn Jahre. Darüber hinaus schloß sie am 2. bzw. 16. Mai 1935 militärische Beistandsabkommen mit Frankreich und der Tschechoslowakei. Andererseits gab sie gleichzeitig, wiederum in einem Rechenschaftsbericht des Regierungschefs Molotow, ihrem unveränderten Wunsch Ausdruck, „auch weiter gute Beziehungen zu Deutschland aufrechtzuerhalten" und „die Beziehungen zu allen Staaten auszubauen, die Staaten mit faschistischem Regime nicht ausgenommen" 26). Das war kaum nur eine politische Floskel ohne realen Gehalt. Der ebenso kaltberechnende wie vorsichtig-mißtrauische Stalin scheint damals, wie Radek einem deutschen Diplomaten anvertraute, in bezug auf Deutschland schwankend und unsicher gewesen zu sein. Und diese Unsicherheit war nicht ganz unbegründet, jedenfalls nicht unverständlich. Während Litwinow bei den Feiern zur Oktoberrevolution am 7. November 1935 mit dem deutschen Botschafter Schulenburg „auf die Wiedergeburt unserer Freundschaft an-stieß
Daß Stalin, wie wiederholt behauptet worden ist, bereits „um das Jahr 1937" ernsthaft an ein (zeitweises) Zusammenspiel mit dem erstarkenden Hitlerdeutschland dachte, läßt sich anhand des bis jetzt zugänglichen Quellen-materials nicht belegen. Schon angesichts dessen, was 1939 Wirklichkeit wurde, darf man eine solche Vermutung natürlich nicht einfach als irreal abtun; schlüssige Beweise für deren Richtigkeit gibt es allerdings, wie gesagt, nicht. Fest steht nur, daß Stalin selbst 1936/37, als die Spannungen zwischen beiden Ländern einen Höchststand erreichten, nicht aufgehört hat, in Berlin wegen einer Verbesserung der offiziellen Beziehungen sondieren zu lassen
Die völlige Funktionsunfähigkeit des sowjetischen Systems der kollektiven Sicherheit zwischen Ost und West erwies sich im Laufe des Jahres 1938, als Hitler nach dem „Anschluß" Österreichs die Sudetenkrise auf den Höhepunkt trieb und die Westmächte am 30. September in das Münchener Abkommen einwilligten. Die sowjetische Regierung hatte zwar Anfang September in Beantwortung einer französischen Anfrage eine englisch-französisch-sowjetische Erklärung, einen Appell an den Völkerbund und die Ausarbeitung eines gemeinsamen Kriegsplanes mit dem tschechischen Generalstab vorgeschlagen. Ihre Prag gegenüber bekundete Bereitschaft zur Einhaltung und Erfüllung des Beistandspaktes von 1935 war jedoch mit dem schwerwiegenden Vorbehalt versehen, daß zunächst Frankreich seinen entsprechenden Verpflichtungen nachkommen müsse; eine weitere Entwertung dieses Hilfsversprechens ergab sich aus der in Moskau natürlich sehr wohl bekannten und in Rechnung gestellten Abneigung Polens und Rumäniens, sowjetische Truppen durch ihre Territorien marschieren zu lassen. Im Grunde wollte auch Stalin 1938 keinen militärischen Konflikt mit Hitler, zumal gerade ausgebrochene Feindseligkeiten mit Japan in Korea und in der Mandschurei die unmittelbare Gefahr einer gleichzeitigen kriegerischen Verwicklung der Sowjetunion mit den beiden stärksten AntiKomintern-Mächten heraufbeschworen. Die Sowjetregierung beschränkte sich daher schließlich auf die Forderung nach Einberufung einer internationalen Konferenz — in der selbstverständlichen Annahme, dazu selbst auch eingeladen zu werden. Gerade das geschah jedoch nicht, weil zu diesem Zeitpunkt weder England noch Frankreich ein stärkeres Mitspracherecht Sowjetrußlands in den mitteleuropäischen Angelegenheiten wünschten. Damit war Litwinows Politik der Anpassung endgültig gescheitert; die Konsequenz, die Stalin daraus zog, erscheint bereits vorweggenommen in dem Ausruf eines sowjetischen Diplomaten beim Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschechoslowakei: „Nun gibt es für uns keine andere Lösung als eine vierte Teilung Polens."
Die Phase der expansiven Außenpolitik
Ab 1939 datiert eine neue Periode sowjetischer Außenpolitik. Ihr bestimmendes Merkmal war die von Stalin eingeleitete, durchgeführte und vollendete imperialistische Expansion der Sowjetmacht. An ihrem Anfang stand eine fast zweijährige Partnerschaft mit dem nationalsozialistischen Deutschland
Die veränderte außenpolitische Orientierung der Sowjetregierung zeichnete sich erstmals deutlich ab in der sogenannten „Kastanienrede" Stalins vom 10. März 1939 vor dem XVIII. Parteikongreß der KPdSU. Darin hieß es, die Sowjetunion werde sich nicht von Kriegsprovokateuren in einen Konflikt hineinziehen lassen, „die es gewohnt sind, sich von anderen die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen"
Gewiß hatten derartige offizielle und offiziöse Stellungnahmen auch den Zweck, die englischen und französischen Verhandlungspartner unter Druck zu setzen und sie womöglich zu weitergehenden Zugeständnissen zu bewegen. Als dann, hervorgerufen durch die bedrohliche Verschärfung der deutsch-polnischen Spannungen und die von Hitler bewußt heraufbeschworene allgemeine Kriegsgefahr, die westliche Bereitschaft zu Zugeständnissen an die Sowjetunion im Laufe des Sommers tatsächlich wuchs, als vom 12. August 1939 an alliierte Militärverhandlungen in Moskau stattfanden und als schließlich am 22. August der französische Missionschef den Russen die Einwilligung seiner Regierung in das von ihnen geforderte Durchmarschrecht durch Polen und Rumänien mitteilte, machte Verteidigungsminister Woroschilow als Leiter der sowjetischen Delegation sofort die ausdrückliche Zustimmung dieser beiden Staaten zur unabdingbaren Voraussetzung für das endgültige Zustande-kommen der geplanten Militärallianz, die dann, wie er vieldeutig hinzufügte, wohl unterzeichnet werden könne, sofern „sich die politischen Umstände nicht inzwischen geändert hätten"
Genau dafür aber hatte Hitler inzwischen gesorgt. Einen ersten konkreten Ansatz zur deutsch-sowjetischen Annäherung boten seit der Jahreswende 1938/39 laufende Verhandlungen über eine Ausweitung des beiderseitigen Handelsverkehrs, der seit 1936 mit Hilfe kurzfristiger Verrechnungsabkommen abgewickelt und in Gang gehalten wurde. Nachdem Hitler am 28. April 1939 die vier Wochen zuvor ausgesprochene englische Garantie der polnischen Grenzen mit der einseitigen Auf-kündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrages vom Januar 1934 beantwortet hatte, dessen Spitze eindeutig gegen Sowjetrußland gerichtet gewesen war, wurde am 20. Mai in einer Unterredung Molotows mit dem deutschen Botschafter Schulenburg die Frage einer Verbesserung nicht nur der wirtschaftlichen, sondern auch der politischen Beziehungen zwischen Moskau und Berlin aufgeworfen. Weil Hitler zunächst in London wegen einer politischen Übereinkunft im Sinne eines erneuten britischen Appeasement sondieren ließ, dauerte es freilich noch zwei weitere Monate, ehe in einem inoffiziellen, aber hochbedeutsamen Gespräch, das deutsche und sowjetische Diplomaten am 26. Juli in einem Berliner Restaurant führten, der Plan einet Aufteilung Ostmitteleuropas Gestalt gewann.
Alles weitere ging dann sehr rasch und reibungslos vonstatten. Am 3. August deutete Schulenburg Molotow gegenüber die deutsche Bereitschaft zur Berücksichtigung des sowjetischen Interesses in Lettland und Estland an. Die Sowjetregierung gab ihrerseits am 11. August die offizielle Zusage, entsprechend dem Wunsch der deutschen Regierung Reichsaußenminister von Ribbentrop in Moskau zu direkten politischen Verhandlungen zu empfangen. Deren Beginn — von sowjetischer Seite war kein Termin genannt worden — wurde auf Drängen Hitlers, der sich mit einem Telegramm an Stalin persönlich einschaltete, mehrfach vorverlegt. Dazwischen fand am 19. August in Moskau die Unterzeichnung eines umfangreichen Handels-und Kreditabkommens statt, demzufolge Sowjetrußland eine Anleihe von 180 Millionen Reichsmark zum Bezug deutscher Maschinen und Industrieeinrichtungen erhielt. Als Ribbentrop am 23. August auf dem Luftwege in der sowjetischen Hauptstadt eintraf, waren die Würfel bereits gefallen. Stalin entschied sich gegen die Westmächte und für ein Zusammengehen mit Deutschland, weil Hitler im entscheidenden Augenblick bedenkenlos und ohne Zögern der Einbeziehung Finnlands, Estlands und Lettlands sowie Bess13 arabiens und vor allem der einen Hälfte Polens bis zur „Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San" in die sowjetische Einflußund Macht-sphäre zustimmte. Die entsprechenden vertraglichen Bestimmungen enthielt der noch am 23. August von Molotow und Ribbentrop unterzeichnete deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt nebst dem dazugehörigen geheimen Zusatzprotokoll. Damit war das Schicksal Polens besiegelt.
Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939
Für die Zeitgenossen, welcher Nation sie auch angehören mochten, war die plötzliche, noch dazu so weitgehende vertragliche Übereinkunft zwischen zwei (angeblichen) politischen Todfeinden zweifellos ein sensationelles Ereignis und für viele zugleich ein Schock, zumal es beide Partner meisterhaft verstanden hatten, die Verhandlungen bis zum letzten Augenblick völlig geheimzuhalten.
Im historischen Rückblick fällt es gewiß leichter, das Zustandekommen des Paktes zu erklären, die Motive und Sachverhalte, die ihm zugrunde lagen, zu verstehen. Wir wollen und müssen, uns hier freilich darauf beschränken, den Vorgang in den Gesamtzusammenhang der sowjetischen Außenpolitik unter Stalin einzu-ordnen.
Um das Ergebnis thesenhaft vorwegzunehmen: Das Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland stellt keinen Bruch in dem Gesamtgefüge der sowjetischen Deutschland-und Außenpolitik dar. Abgesehen davon, daß im Grunde zu keiner Zeit eine ernsthafte ideologische Auseinandersetzung zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus stattgefunden hat, war (und ist) selbst schärfste ideologische Gegnerschaft nie ein Hindernis für das außen-politische Zusammengehen Sowjetrußlands mit Staaten, die bei sich selbst die kommunistische Partei und ihre Anhänger rücksichtslos bekämpf(t) en und verfolg(t) en. Bezogen aut die sowjetische Deutschlandpolitik nach 1933 heißt das: „. . . nicht die Unmenschlichkeit des Faschismus, sondern Hitlers sowjetfeindliche Außenpolitik bestimmte die Einschätzung"
Jeglichen innerkommunistischen Widerstand gegen das Paktieren mit den Faschisten aber hatte Stalin mit Hilfe der gerade abgeschlossenen großen Säuberungen beseitigt, die sich auf dem Wege über den gefügigen Handlanger Komintern auch auf die anderen kommunistischen Parteien der Welt erstreckten. Nicht zufällig wurden dabei die polnischen und die deutschen Kommunisten besonders schwer betroffen; die KP Polens mußte es 1938 sogar hinnehmen, als verräterische Agenten-partei deklariert und aufgelöst zu werden. Und das war keineswegs alles. Nach dem Abschluß des Molotow-Ribbentrop-Paktes erhielten die kommunistischen Parteien in Europa die Anweisung, nach der Parole „Nieder mit dem imperialistischen Krieg!" den Kampf der Westmächte gegen Deutschland zu verurteilen und deren Abwehrbereitschaft gegen die nationalsozialistische Aggression zu schwächen. Zwar verlor man daraufhin zahlreiche Anhänger, aber die Masse der Funktionäre in den einzelnen kommunistischen Par-teien und erst recht in der Komintern blieb absolut linientreu und machte selbst diesen Kurs mit, weil ihn Moskau befohlen hatte. Als Ergebnis ist daher festzuhalten: Was jetzt noch allein im internationalen Kommunismus zählte, was das Denken und das Handeln aller kommunistischen Parteien diktatorisch bestimmte, war der skrupellose Machtegoismus des Sowjetstaates, verkörpert im Willen und in der Person Stalins.
Zugleich ist dies wohl der wichtigste Faktor bei der Beantwortung der Frage nach dem Stellenwert des Vertrages vom 23. August 1939 im Gesamtgebäude der Außenpolitik Stalins. Denn: Veranlaßte nicht letztlich dieser spezifische Machtegoismus, diese imperialistische Staatsräson, die Sowjetregierung dazu, die vielleicht einmalige Gunst der Stunde zur Verwirklichung eines Zieles zu nutzen, das die volle Wiederherstellung der Grenzen des Zarenreiches beinhaltete, das man unter Lenin in der Phase des Kriegskommunismus vergeblich zu erreichen sich bemüht hatte und dessen Realisierung noch vor Jahrefrist in weiter Ferne zu liegen schien? Gerade unter diesem Gesichtspunkt erscheint es angebracht, sich nochmals den Kurs der sowjetischen Politik gegenüber dem NS-Regime bis 1939 zu vergegenwärtigen. Er läßt sich — nach den bisherigen Darlegungen — abschließend so umreißen: Nicht die Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933, sondern erst der deutsch-polnische Nichtangriffspakt vom 26. Januar 1934 bewirkte jene Wendung der sowjetischen Außenpolitik, deren offizielles und erklärtes Ziel nunmehr — jedenfalls zeitweise — in der Eindämmung der faschistischen Gefahr bestand. Stalins Fehleinschätzung des deutschen Faschismus blieb indessen erhalten. Die Alleinschuld des Dritten Reiches an der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges steht außer Frage; aber es war Stalin, der durch den Pakt vom 23. August 1939 diese Kriegsentfesselung überhaupt bzw. endgültig ermöglichte.
Vieles spricht dafür, daß Hitler von vornherein nur an temporäre Konzessionen gegenüber der Sowjetunion gedacht hat. Es mag auch zutreffen, daß Stalin gelegentlich, so bereits bei den Verhandlungen mit Ribbentrop im August 1939, derartige Befürchtungen in bezug auf Hitlers Rußlandpolitik hegte. Irreführend ist jedoch jene bekannte Erklärung, die er am 3. Juli 1941, kurze Zeit nach dem deutschen Überfall, in einer Rundfunkansprache vor der Bevölkerung der UdSSR und der Weltöffentlichkeit abgab: „Wir sicherten unserem Lande für eineinhalb Jahre den Frieden und erhielten auf diese Weise die Möglichkeit, unsere Kräfte zur Abwehr vorzubereiten."
Nach dem sofortigen Inkrafttreten des Paktes vom 23. August, der, entgegen Hitlers, aber keineswegs entgegen Stalins Erwartung, England und Frankreich nicht von der Erfüllung ihres Beistandsversprechens gegenüber dem von Deutschland angegriffenen Polen abzuhalten vermochte, ging Stalin rasch und energisch an die Verwirklichung und Vermehrung der ihm vom nationalsozialistischen Deutschland gebotenen, ja sogar garantierten neuen Möglichkeiten zur Expansion der sowjetischen Macht.
Dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen (am 17. September 1939) bis zur sogenannten Curzon-Linie von 1919 folgte im deutsch-sowjetischen Grenzund Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939, der bei einem zweiten Moskaubesuch Ribbentrops zustande kam, die deutsche Zustimmung zur Einbeziehung auch Litauens in die sowjetische Einflußzone. Die unter stärksten Druck gesetzten drei baltischen Staaten büßten, da niemand sie mehr wirksam zu schützen vermochte, schnell immer mehr an Selbständigkeit ein und wurden schließlich im Juli 1940 als Sowjetrepubliken der UdSSR einverleibt, während Rumänien in Erfüllung eines Ultimatums des Kreml vom 26. Juni 1940 nicht nur Bessarabien, sondern auch die Nordbukowina an die Sowjetunion abtreten mußte
Darüber hinaus versuchte man vom deutschen Partner, der als Gegenleistung für die zeitweise Überlassung seines Kreutzers „Lützow" und für technische Hilfe beim Bau bzw. Umbau sowjetischer Kriegsschiffe bis zum September 1940 in der Nähe von Murmansk einen eigenen Marinestützpunkt unterhalten durfte, nach dessen erster Niederlage im Luftkrieg über England (August 1940) weitere Zugeständnisse bezüglich einer Ausdehnung der sowjetischen Machtsphäre auf dem Balkan und im Ostsee-bereich zu gewinnen. Auch als Hitler dies in direkten Gesprächen, die er am 12. und 13. November 1940 mit dem nach Berlin eingeladenen Molotow führte, kategorisch ablehnte, nachdem bereits zuvor eine deutsche Militärmission ostentativ nach Rumänien entsandt worden war, blieb Stalin um die Aufrechterhaltung korrekter, ja möglichst guter Beziehungen zu Deutschland bemüht, die sich vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet anfänglich sehr vielversprechend entwickelt hatten.
In zwei weiteren Wirtschaftsabkommen vom Februar 1940 und Januar 1941 war eine erneute starke Ausweitung des beiderseitigen Warenverkehrs auf einen Gesamtumfang von 800 Millionen Reichsmark festgelegt worden, wovon vor allem der deutsche Partner durch den Bezug von Getreide (in einem Jahr fast 1 Million Tonnen!), Erdöl, Baumwolle, Phosphaten, Eisenerz, Roheisen, Platin u. a. m. profitierte. Obwohl die deutschen Gegenlieferungen an Industrieerzeugnissen von Anfang an alles andere als pünktlich erfolgten, bald immer mehr abnahmen und zuletzt praktisch ganz aufhörten, sorgte Stalin im. Frühjahr 1941 dafür, daß die Sowjetregierung, die im Spätsommer 1940 wegen des deutschen Verzugs ihrerseits mit einem Lieferungsstopp gedroht hatte, ihre Verpflichtungen aus den Handelsverträgen wieder genau erfüllte. Ende April ließ er Berlin durch den nach dort reisenden Botschafter Schulenburg sogar noch das Ange-bot unterbreiten, im kommenden Jahr 5 Millionen Tonnen Getreide nach Deutschland zu exportieren.
Das im Frühjahr und Frühsommer J 941 ganz offenkundige sowjetische Bemühen, „alles (zu) vermeiden, was Deutschland hätte verärgern können"
Stalin tat dies alles, weil er einen militärischen Konflikt mit Hitler unter allen Umständen vermeiden und statt dessen die weitere kriegerische Selbstzerfleischung der kapitalistischen Mächte (natürlich einschließlich des nationalsozialistischen Deutschland) in aller Ruhe abwarten wollte. Auch die Massierung starker und schneller Verbände der Roten Armee an der Westgrenze der UdSSR diente — darüber sind sich heute wohl alle Sachverständigen einig — nicht aggressiven, sondern defensiven Zwecken Deutschland gegenüber. Die Aktion sollte dazu beitragen, die deutsche Führung von einem eventuell geplanten Angriff auf die Sowjetunion abzuhalten. Darüber hinaus — das war vielleicht entscheidend — scheint Stalin, nicht zuletzt nach Unterzeichnung des sowjetisch-japanischen Nichtangriffsvertrages vom 13. April 1941, der ihn selbst von einer möglichen Zweifrontenbedrohung befreite, fest davon überzeugt gewesen zu sein, daß Hitler von sich aus keinen Zweifrontenkrieg beginnen werde.
Das Verhältnis Deutschland—Sowjetunion seit dem 22. Juni 1941
Als der zu einem Zweifrontenkrieg wohl schon seit dem schnellen Ende des Frankreichfeldzuges entschlossene großdeutsche Führer dieses Risiko dennoch einging und am 22. Juni 1941 den Befehl zum überfallartigen Angriff auf den bisherigen Bundesgenossen gab, geriet das zuvor zwar gewarnte, aber nur unvollkommen vorbereitete sowjetische Regime unter den vernichtenden Offensivschlägen der deutschen Wehrmacht im Sommer und Herbst 1941 an den Rand der militärischen Katastrophe. Den rettenden Umschwung führten herbei: Der von Stalin geschickt entfachte und ausgenutzte, durch Hitlers brutale Besatzungspolitik geförderte nationale bzw. sowjetpatriotische Widerstandswille der Bevölkerung gegen die deutschen Eindringlinge, der sehr frühe Beginn und die außerordentliche Strenge des ersten Kriegswinters, der Fehler einer deutschen Winteroffensive gegen Moskau, die am 6. Dezember 1941 den ersten großen sowjetischen Gegenangriff auslöste, sowie nicht zuletzt die allmählich einsetzenden und rasch zunehmenden Materiallieferungen der USA, die aufgrund des amerikanischen Leih-Pacht-Programms zur Unterstützung der Kriegsgegner Deutschlands erfolgten. Der militärische Umschwung zugunsten der Sowjetunion schien zwar durch die deutsche Sommeroffensive von 1942 noch einmal in Frage gestellt zu sein, war jedoch seit Anfang 1943 mit dem für die Deutschen vernichtenden Ausgang der Schlacht von Stalingrad endgültig gesichert. Fortan galt Stalins erfolgreiches Bemühen nicht nur der — im Verein mit den Westmächten tatsächlich vollzogenen — Niederringung Deutschlands, die mit dessen bedingungsloser Kapitulation am 8. Mai 1945 endete, sondern zugleich auch der Sicherung und Vergrößerung des sowjetischen Imperiums, wobei der durch den Pakt mit Hitler ermöglichte und bis 1941 erreichte Besitzstand und Einflußbereich die selbstverständliche Basis für weitere Ausdehnungsbestrebungen abgab.
Welche Haltung aber nahm — so ist abschließend zu fragen — die Sowjetregierung während des Krieges gegenüber der nationalen und staatlichen Zukunft Deutschlands ein? Die Antwort läßt sich aus drei offiziellen Verlautbarungen Stalins zwischen 1942 und 1945 recht gut ablesen
Auf dem Hintergrund bzw. im Zusammenhang mit der allgemeinen politischen und militärischen Entwicklung ergibt sich daraus folgendes Bild: Ende 1942 ging die Sowjetregierung offenkundig davon aus, die Integrität eines antifaschistischen Deutschland als einer nationalstaatlichen Einheit zu wahren. In diesem Sinne war man während des Frühjahrs und Sommers 1943 unter den deutschen Kriegs-gefangenen agitatorisch und propagandistisch tätig. Als dann die USA und Großbritannien, nicht zuletzt unter dem sie nie ganz verlassenden Alpdruck einer möglichen deutsch-sowjetischen Separatverständigung, der UdSSR auf der Moskauer Außenministerkonferenz vom Oktober 1943 weit entgegenkamen, schwenkte die sowjetische Seite kurzfristig auf eine scharf antideutsche Linie der interalliierten Solidarität ein, die neben einer Eliminierung des deutschen Potentials auch die staatliche Zerstückelung des Landes in sich schloß. Der erneute Kurswechsel der sowjetischen Politik vom Frühjahr 1945 im Sinne einer Rückwendung zu ihrer ursprünglichen Haltung vom Herbst 1942 hatte seine Ursache einmal in der spürbaren Verschlechterung der Beziehungen der Sowjetunion zu den angelsächsischen Mächten nach der Konferenz von Jalta; vor allem aber in dem — in diesem Ausmaß bislang wohl auch nicht von Stalin erwarteten — weiten Vordringen sowjetischer Truppen auf deutsches Territorium. In eindeutiger Abkehr von dem Plan einer Zerstückelung Deutsch-lands faßte die sowjetische Führung nunmehr u. a.den Beschluß, den Aufbau eines gesamtdeutschen Parteiensystems in die Wege zu leiten; darüber hinaus ließ sie am 25. Juli 1945, das heißt vor Abschluß der Potsamer Konferenz, insgeheim sogenannte „deutsche Zentralverwaltungen" ins Leben rufen, „die zwar nur innerhalb der Sowjetzone tätig werden konnten, aber doch zugleich als administrative Gerippe für eine künftige gesamtdeutsche Zentralbehörde gedacht waren"
Die seitherige sowjetische Deutschlandpolitik hat zumindest vier deutlich voneinander abhebbare Phasen durchlaufen (1945— 1948/49, 1948/49— 1953, 1953/54— 1958, 1959 bis heute). Dabei ist aus dem ursprünglich entschiedenen Befürworter der nationalstaatlichen Einheit Deutschlands (selbstverständlich eines kommunistischen bzw. auf alle Fälle eines neutralistischen, das heißt sowjetkommunistischem Einfluß unterworfenen Deutschland, aber immerhin eines einheitlichen Deutschland) der Verfechter und Protektor der Zweistaatentheo-rie und -praxis, das heißt der Zementierung der Spaltung Deutschlands auf der Basis des gegenwärtigen machtmäßigen Status quo in der Weltpolitik geworden. Das wiederum mag ein zumindest zeitweises Zurückstecken der sowjetischen Nachkriegsziele und -ambitio-nen in bezug auf Deutschland bedeuten. Denn es geht Moskau augenblicklich und wahrscheinlich auch in absehbarer Zukunft wohl nicht mehr um die Schaffung eines kommunistischen Gesamtdeutschlands als Basis und Sprungbrett für eine Sowjetisierung Gesamt-europas, sondern um die Bewahrung und Sicherung dessen, was von diesem Deutschland seit 1945 zum sowjetischen Herrschafts-und Einflußbereich gehört. Selbst wenn man darin mehr als einen nur temporären Bruch mit bisherigen Leitsätzen sowjetischer Expansionspolitik sehen sollte, bleibt deren innere Kontinuität insgesamt durchaus erhalten. Das soll heißen: Deutschland kam und kommt als Subjekt und als Objekt der Weltpolitik im Denken und Handeln der führenden Gestalten und Gestalter der Geschicke Sowjetrußlands durchgängig zentrale Bedeutung zu. Deutschland war und ist daher einer der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis der Außenpolitik der europäischen Vormacht des Kommunismus überhaupt.