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Berufsbildung und Erwachsenenbildung in beiden Teilen Deutschlands | APuZ 50/1969 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 50/1969 Das sowjetische Wiedervereinigungsangebot vom 10. März 1952 Versäumte Chance oder trügerische Hoffnung? Berufsbildung und Erwachsenenbildung in beiden Teilen Deutschlands

Berufsbildung und Erwachsenenbildung in beiden Teilen Deutschlands

Wolfgang Bergsdorf

Seit Anfang der sechziger Jahre findet in der Bundesrepublik eine intensive bildungspolitische Debatte statt, in deren Mittelpunkt die quantitativen und strukturellen Probleme des Schul-und Hochschulwesens stehen Dabei wird immer mehr deutlich, daß das westdeutsche Bildungswesen mit den Folgen einer Bildungsexpansion fertig werden muß, deren Ausmaße von niemandem vorhergesehen wurden. In der Zeit von 1961 bis 1969 stieg die Zahl der Schüler an allgemeinbildenden Schulen trotz geburtenschwächerer Jahrgänge von 6, 7 auf 8, Mill. Während Anfang der fünfziger Jahre nur etwa 30 °/0 der Elfjährigen in Real-schulen oder Gymnasien überwechselten, waren es 1968 in der Mehrzahl der Bundesländer 50 °/o oder mehr. Absolut hat sich die Zahl der Realschüler von 1950 bis 1968 von 238 000 auf 709 000 nahezu verdreifacht, die Zahl der Gymnasiasten hat sich von 666 000 auf 1, 2 Mill, etwa verdoppelt, ohne daß allerdings die Zahlen der Abiturienten und der Abgänger mit Realschulabschluß oder Obersekundareife ähnlich stark angewachsen sind 2). Verdoppelt hat sich jedoch wiederum die Zahl der Studierenden an wissenschaftlichen Hochschulen von 140 000 im Jahre 1952 auf 300 000 im Jahre 1969. Ebenfalls verdoppelte sich im gleichen Zeitraum auch die Zahl der Studenten an höheren Fachschulen von 40 000 auf 90 000.

In diesen Daten der Bildungsexpansion in der Bundesrepublik drückt sich die wachsende Kenntnis über den Wert einer qualifizierten Ausbildung und der Wille breiter Schichten zum Aufstieg durch Bildung aus. Untersuchungen der Kultusministerkonferenz und des Wissenschaftsrates haben ergeben, daß ein Sättigungsgrad der Bildungsexpansion noch nicht abzusehen ist. Die Zahlen der Abiturienten und Studenten dürfte sich bis 1980 noch einmal verdoppeln. Die Bildungsexpansion ist jedoch nicht auf die Bundesrepublik beschränkt, sie charakterisiert vielmehr alle hochentwickelten Industriestaaten. Auch in der DDR nimmt die Zahlen der Studenten zu. Sie wuchs in der Zeit von 1955 bis 1967 von 75 000 auf 107 000 an. Die Zahl der Studierenden im Fernstudium verdoppelte sich, die der Erwerbstätigen, die ein Abendstudium absolvieren, verdreifachte sich

Während in der DDR die berufliche Bildung ebenso wie das allgemeinbildende Schulwesen und das Hochschulwesen von Anfang an zentraler Gegenstand der Reform-und Ausbau-bemühungen war, fand die Debatte über die berufliche Bildung in der Bundesrepublik weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Dies dürfte teilweise daran gelegen haben, daß die berufliche Bildung in der Bundesrepublik nur begrenzt staatlichen Zuständigkeiten unterliegt, teilweise aber auch daran, daß die Bedeutsamkeit dieses Bildungsbereiches bis vor einiger Zeit unterschätzt wurde.

Berufsbildung im Schnittpunkt von Wirtschafts-, Sozial-und Bildungspolitik

Dies änderte sich erst, als die Bundesrepublik 1965/66 in eine schwerwiegende Wirtschaftskrise zu geraten drohte. In der Rezession intensivierte sich die Diskussion über die berufliche Bildung, an der sich nun auch die Öffentlichkeit beteiligte. Berufliche Bildung wird seitdem immer stärker als eine vorrangige gesellschaftspolitische Aufgabe begriffen, die eines der Fundamente der sozialen Sicherheit, des wirtschaftlichen Wachstums und des Lebensstandards ist. Denn die jüngste Rezession hat deutlich gemacht, daß eine wirtschaftliche Krise nicht alle Arbeitsplätze in gleicher Weise gefährdet. Bedroht sind in erster Linie ungelernte und nur schlecht ausgebildete Fachkräfte. Die Arbeits-und Berufswelt hat in den letzten Jahrhunderten und Jahrzehnten einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Nachdem etwa bis zum 18. Jahrhundert Bauern und Handwerker unter der erwerbstätigen Bevölkerung dominierten, begann mit der allmählichen Entwicklung der Technik im 19. Jahrhundert das Industriezeitalter, das den Typus des Industriearbeiters prägte. Im 20. Jahrhundert beschleunigte sich das Tempo des technischen Fort-schrittes und brachte insbesondere in den letzten Jahrzehnten einschneidende Veränderungen der Wirtschaftsstruktur und damit auch der Arbeits-und Berufswelt mit sich. Berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten, die in einer langen und bewährten beruflichen Ausbildung erworben wurden, werden heute wesentlich schneller überholt als noch vor 20 Jahren. Auf die Arbeitnehmer kommen immer neue berufliche Anforderungen und Aufgaben zu. Die Chancen einzelner Berufe auf dem Arbeitsmarkt werden immer unterschiedlicher. Neue Berufe entstehen rascher und traditionelle Berufe sterben aus oder werden unbedeutend

Die Umschichtung der Berufe durch Rationalisierung von Produktionsmethoden hat schon um die Jahrhundertwende begonnen. Seit dem Beginn der fünfziger Jahre beschleunigt sich das Tempo immer stärker. Um 1900 beispielsweise arbeiteten 36 °/o aller deutschen Beschäftigten in der Landwirtschaft und der damals sehr großen Forstwirtschaft. 1950 waren es nur noch ungefähr 25 °/o. Mittlerweile ist dieser Anteil unter lO°/o gesunken, obwohl die Produktion der Landwirtschaft dank verbesserter Anbaumethoden und moderner Maschinen um mehr als 60 °/o angewachsen ist. Nach den Perspektiven des Bundeswirtschaftsministeriums wird der Anteil der in der Land-und Forstwirtschaft in der Bundesrepublik Beschäftigten bis zum Jahre 1980 nur noch etwa 6 °/o betragen.

Jährlich w °/o betragen.

Jährlich werden durch verbesserte und automatisierte Produktionsmethoden in Industrie und Wirtschaft 1, 5 Mill. Arbeitskräfte von ihren Aufgaben freigestellt. Allein in der Metallindustrie mußten 1967 fast 300 000 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz räumen. Während noch vor wenigen Jahren ein Facharbeiter beispielsweise in der Textilindustrie nur drei Webstühle führen konnte, bedient heute ein Mann 80 und mehr Maschinen. Aber nicht nur durch Rationalisierung und Automatisierung, sondern auch durch strukturelle Veränderungen in einzelnen Bereichen der Wirtschaft werden Arbeitnehmer freigestellt. Im Bergbau beispielsweise waren 1958 noch ca. 640 000 Arbeitnehmer beschäftigt. Bis zum Frühjahr 1969 sank ihre Zahl auf 263 000 ab. Das bedeutet einen Rückgang um mehr als 50 %. Die Technisierung und die erkennbaren strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft erlauben relativ sichere Prognosen. So hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaften errechnet, daß beispielsweise in der Textilindustrie sich die Arbeitsplätze um 200 000 bis 400 000 verringern werden. Eine diesem Ausmaß vergleichbare Reduzierung der Arbeitsplätze müsse erwartet werden in der Lederindustrie, in der Fabrikation von Metallwaren und in der Blei-und Zinkerzeugung. Die Europäische Kommission schließt daraus, daß die Anpassung der Arbeitskräfte an die tiefgreifenden strukturellen Änderungen eines der Schlüssel-probleme für die Europäischen Gemeinschaften sein wird. In den nächsten zehn Jahren müsse mindestens jeder Zehnte seinen Beruf wechseln. Dabei stellt sich als eines der Hauptprobleme die Anpassung und Qualifizierung der Arbeitskräfte 5).

Zu den sozialen Aspekten, unter denen eine qualifizierte Berufsausbildung notwendig ist, kommen wirtschaftliche hinzu. Nach in den Vereinigten Staaaten durchgeführten Berechnungen entstammten im Jahre 1965 etwa 40 %• des gesamten Produktionserlöses aus Produkten, die zehn Jahre zuvor noch unbekannt waren. Im Jahre 1980 werden 60 °/o des gesamten Produktionserlöses aus Erzeugnissen gewonnen, die heute noch unbekannt sind. Nach diesen Berechnungen wird zudem die Hälfte der investierten Arbeitskraft auf Arbeitsvorgänge entfallen, die noch nicht erfunden sind 6).

Das bedeutet für die berufliche Bildung die Notwendigkeit einer völligen Neuorientierung. Die Veränderungen in der Wirtschaftsund Arbeitswelt erfordern zunehmend ein neues Berufsdenken und Berufsverhalten. Einen Beruf für das ganze Leben im Sinne von Fertigkeiten, die einmal erlernt, immer benutzt werden können, gibt es heute, wenn überhaupt, nur noch in sehr wenigen Ausnahmefällen; in der Zukunft wird ein solcher Beruf ganz wegfallen. Das Berufsleben wird so immer stärker als ein lebenslanger Lernprozeß charakterisiert werden müssen. Die berufliche Bildung, die dafür die Grundlage zu schaffen hat, gewinnt im Schnittpunkt von Wirtschafts-, Sozial-und Bildungspolitik immer größere Bedeutung.

Wissenschaftlicher Fortschritt und berufliche Mobilität als Orientierungsprinzipien

Wichtigste Konsequenz aus den Einsichten über die strukturellen Wandlungen in der Wirtschaft ist das Postulat, daß sich das Bildungswesen diesen Wandlungen anpaßt. Denn in hochentwickelten Gesellschaften, wie es die Bundesrepublik und die DDR sind, erhält das Bildungswesen immer stärker eine Schlüsselfunktion. Seine Leistungsfähigkeit, die eng mit dem Grad der Anpassung an die wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Wandlungen zusammenhängt, entscheidet über die Qualifikationsstruktur der zukünftigen Arbeitskräfte ebenso wie über das Reservoir qualifizierter Wissenschaftler, von denen wiederum das Tempo des technischen und wissenschaftlichen Fortschrittes abhängt. Bildungspolitische Entscheidungen werden so unmittelbar relevant für die Entwicklung von Wirtschaft und Wissenschaft.

Diagnostische und prognostische Einschätzungen der Wissenschaftsentwicklung in der Bundesepublik und in der DDR stimmen weitgehend überein. Westdeutsche und mitteldeutsche Autoren nennen im wesentlichen vier Charakteristika: 1. Stürmisches Wachstum der wissenschaftlichen Kenntnisse und die daraus resultierende Notwendigkeit, das Wissen aufzubereiten, zu speichern und für jeden Interessenten verfügbar zu machen. 2. Zunehmende Differenzierung der Wissensgebiete in neue Disziplinen und Teildisziplinen sowie gleichzeitig eine Integration von Spezialdisziplinen zu neuen Gebieten und Kombinationswissenschaften. Während beispielsweise im Bereich der Naturwissenschaften eine immer stärkere Spezialisierung notwendig ist, werden auf der anderen Seite eine Reihe von Einzeldisziplinen zu neu kombinierten Wissensgebieten (wie Ozeanographie oder Raumplanung) zusammengefaßl. 3. Zunehmende Verkürzung zwischen der wissenschaftlichen Entdeckung oder Erfindung und ihrer Nutzbarmachung für Produktion und Verwaltung. 4. Verwissenschaftlichung der Produktion und zunehmende funktionale Verflechtung des wissenschaftlichen Fortschritts mit der Umsetzung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Produktion

Während diese Prozesse in der DDR mit den Formeln „Wissenschaft als unmittelbare Pro-duktivkraft" und „wissenschaftlich-technische Revolution" gekennzeichnet werden, bezeichnet der in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland übliche Begriff „technischer Fortschritt" die gleichen Sachverhalte.

Der technische Fortschritt führt in der Produktion zu einem immer höheren Grad der Mechanisierung, zur Automation und zum breiten Einsatz von Datenverarbeitungsmaschinen. Dadurch werden tiefgreifende Veränderungen in der Arbeits-und Berufswelt eingeleitet. Der wichtigste Umschichtungsprozeß betrifft das quantitative Verhältnis von ungelernten Arbeitskräften und qualifizierten Fachkräften. Die Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften wird immer geringer und der Bedarf an qualifizierten Kräften steigt ständig. Jedoch wird dieser Umschichtungsprozeß nicht gleichmäßig und nicht gleichzeitig in allen Wirtschaftszweigen verlaufen. „Die Unterschiede zwischen hochmodernen und traditionellen Produktionsformen werden zeitweilig noch verschärft. Eng spezialisierte Berufe werden zurückgedrängt zugunsten breit profilierter Berufe mit erhöhter Einsatzmöglichkeit, gleichzeitig entstehen neue hochqualifizierte Spezialberufe. Immer mehr Berufe verlangen geistige Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit sowie dauernde Lernbereitschaft."

Dieser sich schon abzeichnende Strukturwandel in der Arbeits-und Berufswelt verlangt in beiden Teilen Deutschlands bildungspolitische Entscheidungen, die nicht nur die berufliche Bildung, sondern das gesamte Bildungswesen betreffen. In der DDR wird die Notwendigkeit der Anpassung des Bildungswesens an den Strukturwandel in der Arbeits-und Berufswelt mit dem Stichwort von der „Einheit von Ökonomie und Bildung" bezeichnet. Damit soll umschrieben werden, daß das Bildungswesen in die staatliche Gesamtwirtschaftsplanung eingeordnet werden muß. Gleichzeitig soll deutlich gemacht werden, daß das Bildungsniveau des einzelnen wie das der Gesellschaft die entscheidende Bedingung für den technischen Fortschritt und damit auch für die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft ist

Da das ökonomische System der Bundesrepublik durch die Marktwirtschaft gekennzeichnet ist, hat die auch hier erkannte Notwendigkeit einer Einordnung des Bildungswesens in das Wirtschaftssystem eine anders akzentuierte Bedeutung. Auch hier will die Bildungspolitik Voraussetzungen für den technischen Fortschritt und für eine optimale ökonomische Entwicklung schaffen. Die ökonomische Ziel-projektion soll jedoch nicht über die bildungspolitischen Entscheidungen dominieren, denn man vertraut im ökonomischen Bereich auf das Prinzip des Ausgleichs von Nachfrage und Angebot. Die Bildungspolitik will das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften so breit gestalten, daß jede zukünftige Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt annäherungsweise gedeckt werden kann. Mit dem Instrumentarium der Bildungsforschung und der Bildungsplanung, deren Bedeutung zuletzt von der Kultusministerkonferenz auf ihrer 132. Plenartagung am 9. und 10. Oktober in Bremen unterstrichen wurde soll das Bildungssystem der Bundesrepublik so gestaltet werden, daß einerseits schichtenspezifische Ungleichheiten im Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen abgebaut und der Anteil qualifizierter Absolventen allgemeinbildender Schulen wesentlich vergrößert wird. Andererseits soll im tertiären

Bereich der Berufsausbildung das Prinzip der beruflichen Mobilität, also der Grundsatz der vielfachen Verwendungsmöglichkeit, stärker als bisher zur Geltung kommen. Anders als in der DDR spielen ökonomische Gesichtspunkte bei der Formulierung bildungspolitischer Entscheidungen im Bereich des primären und sekundären Schulwesens keine Rolle. Dies verhindert zwar, daß die Bildungspolitik zur vorweggenommenen Wirtschaftspolitik wird, hat auf der anderen Seite jedoch auch eine Reihe von Nachteilen. So verzichteten die allgemeinbildenden Schulen der Bundesrepublik bisher weitgehend darauf, ihre Schüler systematisch auf die Berufswelt vorzubereiten. Auch Hilfestellung bei der Berufswahl wurde mehr als marginale Aufgabe verstanden, nicht aber als integraler Bestandteil des Aufgabenkatalogs der Schule.

Dennoch kann für beide Teile Deutschlands festgestellt werden, daß den Bildungssystemen zunehmend Schrittmacherfunktion für den technischen und wissenschaftlichen Fortschritt beigemessen wird und die berufliche Mobilität als Orientierungsprinzip eine wachsende Bedeutung erlangt.

Gesellschaftspolitische Zielprojektionen

Während es sich bei den Strukturveränderungen in der Berufs-und Arbeitswelt um Prozesse handelt, die sich relativ unabhängig von dem jeweiligen Wirtschafts-und Gesellschaftssystem entwickeln, treten bei den gesellschaftspolitischen Zielprojektionen, auf die die Bildungspolitik in beiden Teilen Deutschlands ausgerichtet ist, Unterschiede auf. Während die Bildungspolitik in der Bundesrepublik durch die Konkurrenz einer Vielzahl politischer, ideologischer und gesellschaftlicher Interessen und damit durch Kompromisse charakterisiert ist, gilt für die DDR das Prinzip der Einheit von Bildung und Erziehung. „Das Ziel des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems ist eine hohe Bildung des ganzen Volkes, die Bildung und Erziehung allseitig und harmonisch entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten, die bewußt das gesellschaftliche Leben gestalten, die Natur verändern und ein erfülltes, glückliches, menschwürdiges Leben führen. Das sozialistische Bildungssystem trägt wesentlich dazu bei, die Bürger zu befähigen, die sozialistische Gesellschaft zu gestalten, die technische Revolution zu meistern und an der Entwicklung der sozialistischen Demokratie mitzuwirken. Es vermittelt den Menschen eine moderne Allgemeinbildung und eine hohe Spezialbildung und bildet in ihnen zugleich Charakterzüge im Sinne der Grundsätze der sozialistischen Moral heraus."

Damit wird deutlich, daß Bildung, also die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten, immer auch Erziehung zum sozialistischen Menschen sein muß. Schüler, Lehrlinge und Studenten werden so konsequent zur „Liebe zur DDR" und zum „Stolz auf die Errungenschaften des Sozialismus" erzogen. Sie sollen bereit gemacht werden, alle Kräfte der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, den sozialistischen Staat zu stärken und zu verteidigen.

Eine Komplementärfunktion des Bildungswesens in dieser eindimensionalen ideologischen Zielrichtung gibt es in der Bundesrepublik nicht. In der Bundesrepublik bemüht sich das Bildungswesen um die Erziehung auf die Heranbildung eines demokratischen Bewußtseins und um das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Idealtypisches Erziehungsziel ist die Internalisierung des Prinzips „Integration durch Konflikt", also die Anerkennung von Interessengegensätzen und ihrer Konkurrenz als Voraussetzung für den Zusammenhalt der Gesellschaft 12a).

In der DDR wie in der Bundesrepublik gibt es jedoch auch einige gemeinsame gesellschaftspolitische Zielsetzungen, die durch die Bildungspolitik realisiert werden sollen. An erster Stelle steht dabei das Postulat der Chancengleichheit. Sowohl in der DDR wie in der Bundesrepublik ist dieser Grundsatz theoretisch in Verfassungen und Gesetzen verankert. Während jedoch in der Bundesrepublik die materielle Garantie dieses Grundsatzes durch sozio-kulturelle Faktoren unterminiert wird und der Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen schichtenspezifische Unterschiede aufweist, ist die Bildungspolitik der DDR den umgekehrten Weg gegangen. Sie bevorzugte vor allem in den ersten Phasen eindeutig die Angehörigen der unteren Sozial-schichten und praktizierte eine systematische Behinderung der „klassenfremden Elemente". Die Forderung nach gleichen Bildungschancen wurde so zum Instrument einer geplanten sozialen Umschichtung. Erst in den letzten Jahren wurde die planmäßige Diskriminierung von Angehörigen mittlerer und höherer Sozialschichten beim Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen in dem Maße eingeschränkt, wie das Leistungsprinzip an Geltung gewann.

Eine weitere gesellschaftspolitische Zielsetzung, die der Bildungspolitik beider Teile Deutschlands gemeinsam ist, ist das Postulat der Förderung jeder Begabung bis zur größtmöglichen Entfaltung. Während man in der Bundesrepublik diesen Grundsatz durch eine schulorganisatorische Dreigliederung, die auf einer vorgeschalteten gemeinsamen vier-bzw.sechsjährigen Grundschule aufbaut, zu verwirklichen sucht, soll diese Forderung in der DDR dadurch realisiert werden, daß alle Schulpflichtigen die zehnjährige Polytechnische Oberschule besuchen.

Seit Anfang der sechziger Jahre wird das Egalitätsprinzip durch den Gedanken der Leistungsauslese modifiziert. Man beginnt in verstärktem Ausmaß Spezialklassen und Spezial-schulen für Hochbegabte in den einzelnen Fachrichtungen einzurichten

Berufsorientierende Elemente im allgemeinen Schulwesen

Zu dem umfangreichen Aufgabenkatalog des allgemeinbildenden Schulwesens sowohl in der Bundesrepublik wie auch in der DDR gehört die Berufsorientierung. Darunter soll eine Orientierung über allgemeine Arbeitsbedingungen, über ausgewählte Berufe und über die Ausbildung für Grundberufe verstanden werden. Die zunehmende Bedeutung der beruflichen Mobilität in der modernen Industriegesellschaft hat die terminologische Unterscheidung zwischen allgemeiner Bildung und spezieller Bildung weitgehend aufgehoben. Wenn der Begriff Allgemeinbildung überhaupt noch einen Sinn haben soll, so können darunter nicht nur Sprachen, Realien und Mathematik verstanden werden, dann gehört auch die Hinführung zur Berufs-und Arbeitswelt dazu. Im westdeutschen Schulwesen soll die Berufs-orientierung als Schwerpunkt in den Abschlußklassen der allgemeinbildenden Schulen geleistet werden. So enthalten beispielsweise die Pläne aller Bundesländer für das 9. Schuljahr vor allem drei Aufgaben: Neben der Festigung des Leistungswissens und der Vorbereitung auf das politische, soziale wie kulturelle Leben soll im 9. Schuljahr eine Einführung in die Arbeitswelt angeboten werden

Obwohl sich die Kultusministerkonferenz seit geraumer Zeit um eine Vereinheitlichung der Richtlinien für die Gestaltung des berufs-orientierenden Unterrichts in den Abschlußklassen der Hauptschule bemüht, wird diese Aufgabe in den einzelnen Bundesländern vorläufig noch unterschiedlich gelöst. Als Unterrichtsprinzip wird die Hinführung zur Arbeitswelt lediglich in Berlin, Hessen und Rheinland-Pfalz charakterisiert. Die Mehrzahl der Bundesländer betrachtet diese Aufgabe als einen Themenkreis, der anderen Themenkreisen neben bzw. nachgeordnet ist. überall wird jedoch als Ziel die „Hilfe der Berufsfindung" oder das Führen zur „Berufswahlreife" ver-standen. Dabei sollen die individuellen Interessen, Neigungen, Fertigkeiten und Fähigkeiten bewußt gemacht werden, grundlegende Kenntnisse von Rechten und Pflichten des berufstätigen Menschen sollen vermittelt, allgemeine Einsichten in Wirtschaftszweige und Betriebe sowie deren Stellung im Gesamt des Wirtschaftsgefüges sollen gewonnen werden

Starke Unterschiede gibt es zwischen den einzelnen Bundesländern bei den des -Formen be rufsorientierenden Unterrichtes. In einer Reihe von Bundesländern machen die Abschlußklassen der Volksschulen Betriebserkundungen und Besichtigungen, um den Schülern Gelegenheit zu geben, sich einen persönlichen Eindruck von der Arbeitswelt zu verschaffen. In jüngster Zeit wird Großstädten wie Berlin und Bochum mit Schülerpraktika experimentiert, die etwa drei Wochen dauern und eine intensivere Auseinandersetzung mit der Berufswelt erlauben. Diese Schülerpraktika werden in der Industrie, in Lehrwerkstätten, aber auch im Groß-und Einzelhandel sowie in sozialen Einrichtungen abgeleistet. Als eine der wichtigsten Aufgaben der neu strukturierten Hauptschule wird die Hinführung zur Arbeits-und Berufswelt bezeichnet. Dazu soll das Unterrichtsfach Arbeitslehre eingerichtet werden, das auf praktischer Grundlage aufbaut und den Schüler zur selbständigen Berufswahl fähig macht. Die bisherigen Versuche haben gezeigt, daß die Unterrichtsmittel in dem Fach Arbeitslehre noch unzureichend sind und zumeist auch die Lehrer auf diese neue Aufgabe pädagogisch und didaktisch unvorbereitet sind.

Berufsorientierende Elemente im westdeutschen Schulwesen sind vorläufig nur spuren-haft anzutreffen. In letzter Zeit wird jedoch die Forderung nach einem sinnvollen Über-gang von der Schule zur Arbeitswelt und damit nach einer wesentlichen Intensivierung der Berufsvorbereitung immer lauter. Um dies zu erreichen, wird von den Kulturpolitikern aller Parteien eine Verlängerung der Vollzeitschulpflicht auf zehn Jahre vorgeschlagen. Das 10. Pflichtschuljahr soll dann dazu benutzt werden, die Schüler mit der Arbeitswelt vertraut zu machen und ihnen die Berufswahl zu erleichtern. Bei der Diskussion über das 10. Schuljahr zeichnet sich als Ergebnis ab, das zusätzliche Jahr vor allem als Berufsgrundschuljahr zu charakterisieren. Wo das Berufsgrundschuljahr angesiedelt werden soll, ob im Bereich des allgemeinbildenden Schulwesens oder in dem berufsbildenden Schulwesen, ist noch ungeklärt. Mit Sicherheit kann jedoch angenommen werden, daß das Berufsgrundschuljahr zunächst nicht als 10. Pflichtschuljähr, sondern übergangsweise als Angebot eingerichtet wird.

Der polytechnische Unterricht im Umbruch

Im Unterschied zur Bundesrepublik werden die Schüler allgemeinbildender Schulen in der DDR schon sehr früh und sehr intensiv auf die Berufswelt vorbereitet. Wesentlicher Bestandteil des Unterrichts in allen Schuljahren ist seit 1958 die polytechnische Bildung. Mit dem Prinzip . polytechnische Bildung und Erziehung'wird versucht, eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Erziehung und gesellschaftlicher Entwicklung, von Schule und Leben zu geben. Die polytechnische Bildung und Erziehung soll die heranwachsenden Menschen mit den Bedürfnissen des Lebens als künftige Erwachsene in der Gesellschaft vertraut machen. Unterricht und Arbeit sollen hier in eine enge Verbindung miteinander gebracht werden, um eine allseitige Entwicklung der Persönlichkeit zu fördern.

Anders als beispielsweise die politischen . Klassiker'Thomas Morus und Tomaso Campanella, die ebenfalls eine enge Verbindung zwischen Unterricht und Arbeit verlangten, gaben Marx und Engels diesem Postulat einen neuen Inhalt. Während die Utopisten zumeist den Unterricht mit landwirtschaftlicher oder handwerklicher Arbeit verbanden, gingen Marx und Engels von der großen Industrie aus. Nur wenn die Heranwachsenden schon sehr früh mit den Arbeitsbedingungen und Arbeitsvorgängen in Technik und Industrie vertraut gemacht würden, bestünde eine realistische Chance, daß der Mensch zum Herrn der Technik und der Produktion wird

Unter polytechnischer Ausbildung verstand Karl Marx in seiner „Instruktion an die Delegierten des provisorischen Zentralrates über einzelne Fragen" von 1866 „eine Bildung, die mit Grundprinzipien aller Produktionsvorgänge bekanntmacht und gleichzeitig dem Kinde oder Halbwüchsigen die Fertigkeit gibt, die einfachsten Werkzeuge aller Produktionszweige zu handhaben"

Schon die sechs-bis achtjährigen Kinder werden in der Unterstufe der polytechnischen Oberschule der DDR unmittelbar produktionsbezogen und berufsvorbereitend angeleitet. Im Bildungsgesetz von 1965 werden dafür als inhaltliche Schwerpunkte festgelegt: „Im Werk-und Schulgartenunterricht der Unterstufe sind elementare technische, technologische und ökonomische Kenntnisse zu vermitteln sowie einfache technisch-konstruktive Fähigkeiten und Arbeitsfertigkeiten zu entwickeln. Die Schüler erhalten einen ersten Überblick über die Wirtschaft des Heimatkreises." Schon hier wird deutlich, daß anders als in der Bundesrepublik schon von vornherein die allgemeine, die polytechnische und die berufsvorbereitende Erziehung und Bildung miteinander verknüpft wird.

Mit zunehmendem Alter wird das Prinzip des polytechnischen Unterrichtes stärker zur Geltung gebracht. Für die Klassen 4 bis 6 der lOklassigen allgemeinbildenden polytechnischen Oberschule, der Regelschule in der DDR, legt das Bildungsgesetz fest: „In der Mittelstufe beginnt der naturwissenschaftliche, gesellschaftswissenschaftliche und fremdsprachliche Unterricht. . . . Entsprechend dem höheren körperlichen und geistigen Reifegrad sind die Schüler eingehender mit dem gesellschaftlichen Leben, der Arbeit, der Wissenschaft, Technik und Kultur vertraut zu machen. Der wissenschaftliche Unterricht, die größere gesellschaftliche Aktivität der Schüler, ihre Einbeziehung in die produktive Arbeit . . . müssen für die staatsbürgerliche Erziehung und für die Entwicklung einer sozialistischen Einstellung zur Arbeit genutzt werden ... Im Werk-und Schulgartenunterricht sind einfache technische, agrobiologische und ökonomische Kenntnisse zu vermitteln und Fähigkeiten des ökonomischen Denkens auszubilden. Das technische Denken ist zu fördern, technische und technologische Sachverhalte sind zunehmend mathematisch-naturwissenschaftlich zu durchdringen. Grundlegende Arbeitsfertigkeiten sind weiter auszubilden." In der Mittelstufe beginnt eine systematische Berufsaufklärung. Entsprechend den Forderungen des Bildungsgesetzes lernen die Schüler die wichtigsten Berufe ihrer Wirtschaftsregion und der gesamten Volkswirtschaft kennen und werden so auf die spätere Berufswahl vorbereitet. Von besonderer Bedeutung, so bestimmt das Bildungsgesetz, ist. „die Orientierung der Mädchen auf technische und landwirtschaftliche Berufe".

In der Oberstufe der polytechnischen Oberschule, also den Klassen 7 bis 10, sollen Grundlagen für die praktische Tätigkeit, eine verantwortungsbewußte Berufsentscheidung und die weiterführende berufliche und wissenschaftliche Ausbildung gelegt werden. Im Bildungsgesetz werden als inhaltliche Schwerpunkte des Unterrichts in der Oberstufe festgelegt: „Im polytechnischen Unterricht sind die Schüler systematisch mit den wissenschaftlich-technischen, technologischen und politisch-ökonomischen Grundlagen der sozialistischen Produktion vertraut zu machen. Die praktische Tätigkeit wird stärker auf die Bedienung moderner Maschinenanlagen und Geräte orientiert. Die polytechnische Ausbildung erfolgt in sozialistischen Betrieben. In den Klassen 9 und 10 erhalten die Schüler einen berufsvorbereitenden polytechnischen Unterricht oder eine berufliche Grundausbildung. Durch den engen Kontakt zwischen den Schülern und den Kollektiven der Werktätigen und durch die selbständige, verantwortliche Ausführung von Produktionsaufgaben ist die sozialistische Einstellung zur Arbeit in besonderem Maße zu entwickeln."

Damit wird deutlich, daß der Produktionsunterricht innerhalb der polytechnischen Erziehung und Bildung eine zentrale Stellung einnimmt. In der DDR absolvieren die Schüler von der 7. Klasse an pro Woche einen Unterrichtstag in der Produktion (UTP). Er soll allen Schülern ein einheitliches System von Grundkenntnissen und Grundfertigkeiten vermitteln. Hauptform der Vermittlung von Grundkenntnissen und Fertigkeiten in der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion sind die Grundlehrgänge, die in den einzelnen Klassen absolviert werden. Sie werden ergänzt durch das Fach „Einführung in die sozialistische Produktion in Industrie und Landwirtschaft", das von Betriebsangehörigen und Lehrern gemeinsam im Betrieb erteilt wird. In polytechnischen Kabinetten werden den Schülern Anschauungsmaterial, Produktionspläne, technische Zeichnungen, Produktionsmodelle, Experimentiergeräte und Fachbücher usw. zur Verfügung gestellt.

Durch die Verbindung von Allgemeinbildung, polytechnischer Bildung und Erziehung in den polytechnischen Oberschulen der DDR unterscheidet sich diese Schule grundsätzlich von den allgemeinbildenden Schulen in der Bun-desrepublik. Die polytechnische Oberschule kann nicht mehr als allgemeinbildende Schule im Sinne vergleichbarer Schultypen in der Bundesrepublik bezeichnet werden.

In den letzten Jahren wurde die polytechnische Bildung in der DDR wie auch in anderen osteuropäischen Ländern stark kritisiert. Es wurde von Lehrern und Politikern eingewandt, daß sie die Leistungen in den übrigen Fächern beeinträchtige und nicht die beabsichtigten Erfolge zeige. Im Mittelpunkt der Kritik standen Umfang und Form des Produktionsunterrichtes. Auch wenn man bei der Revision der polytechnischen Bildung in der DDR am Produktionsunterricht grundsätzlich weiterhin festhielt, wurde er in den letzten Lehrplänen dennoch stärker systematisiert und auf berufliche Grundausbildung ausgerichtet. Angestrebt wird eine Zusammenfassung auf zwei Grundlehrgänge, und zwar auf den Lehrgang Industrie für die Vorbereitung auf Berufe der Industrie und auf den Grundlehrgang Landwirtschaft

Im Rahmen dieser Revision wurde auch das Konzept für die Oberstufe der Oberschule modifiziert. Während das Bildungsgesetz für die Oberstufe der Oberschulen das Zusammenwirken von allgemeiner und beruflicher Bildung vorsah und in der 9. und 10. Klasse die Schüler einen berufsvorbereitenden polytechnischen Unterricht oder eine berufliche Grundausbildung erhalten sollten, wurde Anfang 1966 die Aufgabe der Oberschule neu umrissen. Sie soll ihren Schülern nun eine „umfassende allseitige Grundlagenbildung" vermitteln, die „ein sicheres Fundament für eine Form der Spezialbildung bietet, wie sie sich in der Regel erst der allgemeinen Schule anschließt"

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß in den allgemeinbildenden Schulen der Bundesrepublik die Schüler nur unzureichend auf. die Beruf-und Arbeitswelt vorbereitet werden. Berufsorientierende Elemente sind zwar vorhanden, wirken aber aufgestülpt. Von einer Integration der Berufsorientierung in den Aufgabenkatalog der allgemeinbildenden Schulen kann faktisch nicht die Rede sein. Die bildungspolitische Entwicklung verläuft in Richtung einer wesentlichen Intensivierung der berufsorientierenden Elemente. Insbesondere der Plan eines 10. Vollzeitschuljahres in Form eines Berufsgrundschuljahres und die verstärkten Bemühungen um eine Präzisierung der Inhalte und eine Didaktik der Arbeitslehre sind vielversprechende Ansätze, die erwarten lassen, daß diese Situation überwunden wird. Auf der anderen Seite bereitet die polytechnische Oberschule in der DDR ihre Schüler sehr intensiv auf die zukünftige Berufs-und Arbeitswelt vor. Das fächerübergreifende Prinzip der polytechnischen Erziehung und Bildung und starke berufsvorbereitende, gleichzeitig aber auch berufslenkende Elemente machen den Schüler schon sehr früh mit den Bedingungen der Arbeitswelt vertraut. Umfang und Methoden der berufsvorbereitenden Erziehung in der Oberschule der DDR, insbesondere der umfangreiche Produktionsunterricht, wurden seit 1966 modifiziert, weil darunter die Allgemeinbildung gelitten hatte. Die allgemeinbildende Funktion der Oberschule wird seitdem als Voraussetzung und Fundament für die berufliche Bildung stärker betont.

Während also in der Bundesrepublik die Entwicklung auf eine Verstärkung der Berufs-orientierung in der Schule hinzielt, können in der DDR umgekehrte Tendenzen festgestellt werden. Die bisher sehr umfangreiche und intensiv betriebene Berufsorientierung wird eingeschränkt, um der allgemeinbildenden Funktion einen größeren Spielraum zu verschaffen.

Das duale System der Berufsausbildung in Deutschland

Gemeinsames Kennzeichen des beruflichen Ausbildungswesens in beiden Teilen Deutschlands ist das sogenannte duale System. Die berufliche Ausbildung findet sowohl im Betrieb wie in der Schule statt. Anders als in den meisten Ausbildungssystemen des Auslandes wird der berufstheoretische Unterricht von einer Pflichtberufsschule geleistet, während die praktische Ausbildung im Betrieb stattfindet. Auf der Grundlage staatlich anerkannter „Ordnungsmittel" für Lehrberufe wirken Ausbildungsbetrieb und Berufsschulen bei der Berufsbildung zusammen.

Dennoch gibt es Unterschiede zwischen beiden Teilen Deutschlands im guantitativen Verhältnis zwischen diesen beiden institutionellen Formen der beruflichen Ausbildung. Während in der Bundesrepublik 88 °/o aller berufsschulpflichtigen Jugendlichen ihre Ausbildung im Rahmen des dualen Systems absolvieren, erhält rund die Hälfte aller aus der allgemeinen Schulpflicht entlassenen Schüler in der DDR berufstheoretische Kenntnisse in der all-gemeinen Berufsschule. Die andere Hälfte besucht eine Betriebsberufsschule und genügt damit der Berufsschulpflicht. Die seit 1948 arbeitenden Betriebsberufsschulen sind staatliche Bildungsstätten, die in sozialistische Betriebe eingegliedert sind. Sie unterstehen dem für die Leitung des Betriebes verantwortlichen Organ. Berufstheoretische und berufspraktische Ausbildung liegen hier also in einer Hand. Die Betriebsberufsschulen können deshalb nicht mehr zu den Institutionen des dualen Systems gerechnet werden.

Die Probleme der Berufsausbildung werden in der DDR durch das „Gesetzbuch der Arbeit" (1963), das „Jugendgesetz" (1964) und durch das „Bildungsgesetz" (1965) geregelt. Danach hat jeder junge Mensch das Recht auf Berufsausbildung, die nach einheitlichen staatlichen Grundsätzen durchgeführt wird und die für alle in der Systematik der Ausbildungsberufe festgelegten Berufe erfolgt Das System der Berufsausbildung in der DDR soll für die Volkswirtschaft, vor allem für ihre führenden Zweige, einen qualifizierten sozialistischen Facharbeiternachwuchs heranbilden, der in der Lage ist, „im Berufe hochwertige Qualitätsarbeit zu leisten und aktiv an der Durchsetzung der technischen Revolution mitzuwirken" Die Berufsausbildung erfolgt in zwei Phasen. In der ersten Phase wird dem Jugendlichen eine berufliche Grundausbildung gegeben, auf der die spezielle Facharbeiter-ausbildung als zweite Phase aufbaut. In der beruflichen Grundausbildung erwirbt sich der Jugendliche grundlegende Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für verwandte Berufe charakteristisch sind. Allgemein technische und handwerkliche Fähigkeiten werden dabei ebenso vermittelt wie Informationen über die Organisation der Arbeit und der Produktion, über allgemeine Technologie und Ökonomie des jeweiligen Wirtschaftszweiges

Die zweite Phase der Ausbildung dauert in der Regel ein Jahr, in dem sich der Jugendliche Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten aneignet, die für die volle Beherrschung eines Ausbildungsberufes unter den Bedingungen der modernen Produktion notwendig sind. Die spezielle Facharbeiterausbildung wird unter Produktionsbedingungen im Betrieb durchgeführt Es gibt in der DDR 455 Ausbildungsberufe für Absolventen der 10. Klasse und 239 Ausbildungsberufe für Absolventen der 8. Klasse. In der Bundesrepublik beträgt die Gesamtzahl der Ausbildungsberufe 531 Diese Zahlen, die für das Jahr 1968 gültig waren, sind mittlerweile sowohl in der Bundesrepublik wie in der DDR zurückgegangen. In beiden Teilen Deutschlands werden die Ausbildungsberufe überprüft, um wirtschaftliche und technische Wandlungen sowie bildungspolitische und berufspädagogische Aspekte zu berücksichtigen. Die bestehenden Ausbildungsberufe werden reduziert zugunsten von inhaltlich neu gefaßten und breiter angelegten Berufsbildern. Erleichtert wurde diese Reduzierung durch die Konzentration der Lehrlinge auf eine zunehmend geringere Anzahl von Ausbildungsberufen. In der Bundesrepublik werden „etwa die Hälfte aller Lehrlinge und Anlernlinge in 10, zwei Drittel in 20, drei Viertel in 30, vier Fünftel in 40 und fünf Sechstel in 50 Berufen ausbebildet" Am stärksten besetzt sind heute die kaufmännischen Lehrberufe (Einzelhandelskaufmann, Kaufmann im Groß-und Außenhandel, Industriekaufmann, Bankkaufmann).

Das Konzept der Stufenausbildung

Auch die Konzentration der Lehrlinge auf eine immer stärker abnehmende Zahl von Lehrberufen legt es nahe, die Ordnung der Berufe für die Erstausbildung zu vereinfachen. Vereinfachen bedeutet hier nicht, die Gesamtzahl der Ausbildungsberufe auf ein Minimum zu reduzieren, denn „damit würde der Übergang von der Allgemeinbildung zur Berufsausbildung, der gegenwärtig vielen jungen Menschen in der Bundesrepublik Schwierigkeiten bereitet, zwar erleichtert, zugleich aber der nachfolgende Wechsel von der Berufsausbildung zur Erwerbstätigkeit erschwert Zweckmäßiger erscheint darum die allgemeine Durchsetzung dessen, was man meist als Stufenausbildung bezeichnet. Gemeint ist damit eine gründliche Einführung in einen Berufsbereich, dem sich als zweite Phase eine breite Grundausbildung und als dritte Phase eine Spezialausbildung anschließt.

Die Einführung in Berufsbereiche bzw. „Grundberufe" als erste Phase der Stufenausbildung deckt sich trotz der terminologischen Gleichheit nicht mit der Einführung von „Grundberufen" in der DDR. Während in der Bundesrepublik die Stufenausbildung vorläufig noch experimentell erprobt und dazu kürzlich die gesetzlichen Grundlagen geschaffen wurden haben im September 1968 in der DDR die volkswirtschaftlichen Schwerpunktbetriebe der Metallindustrie, Metallurgie und des Bau-wesens mit der Ausbildung von 8000 Lehrlingen in den ersten fünf Grundberufen begonnen. Diese sind Metallurgie für Stahlerzeugung, Metallurgie für Stahlformung, Zerspannungsfacharbeiter, Baufacharbeiter und Facharbeiter für Datenverarbeitung Im September 1969 wurde damit begonnen, weitere Grundberufe auf dem Gebiet der Starkstrom-technik, auf dem Gebiet der Wartung, Reparatur, Bedienung und Montage von Datenverarbeitungs-, Regelungs-und Büromaschinen einzuführen. Es ist vorgesehen, daß 1980 etwa 70 bis 80% der in die Berufsausbildung eintretenden Schulentlassenen einen Grundberuf erlernen und der Grundberuf damit eine dominierende Stellung im System der Berufsausbildung der DDR einnehmen wird.

Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Einführung von Grundberufen wurden mit den „Grundsätzen für die Weiterentwicklung der Berufsausbildung als Bestandteil des einheitlichen sozialistischen Bildungssystems" im Sommer 1968 geschaffen In den Grundsätzen wird festgestellt, daß der Prozeß der wissenschaftlich-technischen Revolution und die daraus resultierende Arbeitsteilung eine neue Art von Ausbildungsberufen notwendig mache. Mit dem Grundberuf sollen die mathematisch-naturwissenschaftlichen, technischen, produktions-organisatorischen und ökonomischen Grundlagen verwandter Produktions-und Arbeitsprozesse sowie insbesondere neue Technologien und Arbeitsverfahren den Auszubildenden vermittelt werden.

Von den traditionellen Lehrberufen unterscheidet sich der neue Grundberuf in der DDR durch eine neue Bestimmung des Ausbildungsinhaltes. Er wird definiert mit Hilfe der „Prognose und Perspektive von Wissenschaft, Technik, Technologie, Produktion, sozialistischer Demokratie und Kultur" und von „gleichen und ähnlichen technischen und technologischen Produktions-und Arbeitsprozessen, jedoch weniger von gleichen Werkstoffen und Arbeitsprozessen" Charakteristisch für den Grundberuf ist eine inhaltliche und organisatorische Gliederung für die grundlegende Ausbildung, deren Niveau wesentlich höher angesetzt wird als in den herkömmlichen Lehrberufen. Grundsätzlich sollen deshalb auch nur

Absolventen der 10. Klasse der polytechnischen Oberschule zur Ausbildung in Grund-berufen zugelassen werden. Ein weiterer Unterschied der Grundberufe zu den herkömmlichen Lehrberufen in der DDR besteht in der Ausweitung der berufstheoretischen zu Lasten der praktischen Ausbildung. Diese Schwerpunktverlagerung ist nicht nur für die Berufsausbildung der DDR charakteristisch, sondern eine internationale Erscheinung und kennzeichnet auch die Tendenz in der Bundesrepublik. Die Ursache dafür sind die zunehmende Verwissenschaftlichung der Produktionsprozesse und die fortschreitende Mechanisierung und Automatisierung der Produktion. Auch in der Bundesrepublik wird seit einiger Zeit diskutiert, ob und in welchem Umfang der Berufs-schulunterricht ausgeweitet werden kann. Das größte Hindernis für eine Ausweitung ist der Lehrermangel. 1957 konnte nahezu in der Hälfte aller Berufsschulen noch nicht einmal die gesetzlich vorgeschriebene Mindestzahl von acht Wochenstunden erteilt werden

Auch der Deutsche Bildungsrat plädiert in seinen „Empfehlungen zur Verbesserung der Lehrlingsausbildung", die sich im wesentlichen mit der betrieblichen Lehre beschäftigen, für eine Erweiterung des theoretischen Unterrichts in der Berufsschule. Zunächst müsse der Unterricht auf mindestens zwölf Wochenstunden als kontinuierlicher Teilzeitunterricht oder als Blockunterricht erweitert werden. Die Schüler müßten in leistungsfähigen Berufsschulzentren konzentriert werden, um so auch die Organisation der Klassen nach beruflichen Merkmalen (Fachklassenbildung) zu erleichtern. Als Maßnahme gegen den Mangel an Berufsschullehrern wird empfohlen, die Aufgaben auf Lehrkräfte unterschiedlicher Vorbildung zu verteilen und so eine stärkere vertikale Differenzierung des Lehrkörpers zu erreichen. Entscheidend für die Berufsausbildung ist nach Ansicht des Bildungsrates eine tiefgreifendere Reform der betrieblichen Lehre. Charakteristisch für die Lehrlingsausbildung der Bundes-republik sei eine erhebliche Unterschiedlichkeit in den Anstrengungen und Leistungen der Lehrer. Als Hauptmängel bezeichnet der Bildungsrat: „Viele Lehrlinge werden in den Betrieben unvollständig ausgebildet. Die Ursachen dafür sind in der Einseitigkeit der Einrichtungen und Arbeitsprogramme der Lehrfirmen zu suchen, die in vielen Fällen nicht durch eine Ausbildung in anderen Ausbildungsstätten kompensiert wird. Vielfach sind die nötigen Einrichtungen vorhanden, auch werden berufs-typische Arbeiten in der Lehrfirma ausgeführt, die Lehrlinge werden aber nur einseitig beschäftigt oder in unvertretbarem Umfang zu unqualifizierten Routine-, Hilfs-und Nebentätigkeiten herangezogen . . .

Die Ausbildung vieler Lehrlinge entspricht nicht pädagogischen Erfordernissen. Sie ist nicht systematisch angelegt und wird folglich auch nicht planmäßig durchgeführt . . .

Die Lehrlinge werden durch nebenberufliche Ausbilder ausgebildet, die infolge ihrer sonstigen Tätigkeit nicht genug Zeit haben, sich hinreichend um die Jugendlichen zu kümmern. Uber den Nachweis pädagogischer Qualifikation verfügen nicht einmal alle Ausbilder im Hauptberuf."

Unterschiede der staatlichen Strukturen

Ziel der Reform der Berufsausbildung muß nach Ansicht des Bildungsrates eine Vereinheitlichung und Anhebung des Niveaus der Lehrlingsausbildung sein. Diesem Ziel stellen sich in der Bundesrepublik anders als in der DDR erhebliche Schwierigkeiten entgegen. Sie sind Folgen der unterschiedlichen Organisationsstruktur der Berufsausbildung in den beiden Teilen Deutschlands. In der DDR ist der Staat für die Berufsausbildung in vollem Umfang verantwortlich, da politische und wirtschaftliche Führung identisch sind. Bei der besonderen Betonung der Kaderpolitik in einer Planwirtschaft liegt die höchste Kompetenz für die Berufsausbildung in der DDR konsequenterweise bei dem Organ, das den gesamten Wirtschaftsablauf steuert. Die staatliche Planungskommission ist so in letzter Instanz auch für die Planung und Durchführung der Berufsausbildung verantwortlich. Bei seiner Arbeit kann es sich auf das Deutsche Institut für Berufsausbildung stützen, dessen Aufgabe vor allem in der Entwicklung der Berufspädagogik und der Definition von Ziel, Inhalt, Organisation und Methoden der Berufsausbildung liegt.

Das Deutsche Institut für Berufsausbildung in Berlin unterstand bis 1966 dem Minister für Volksbildung und wurde dann mit der Staatlichen Plankommission als nachgeordnetes Organ kurzgeschlossen. Das Institut erhielt die Bezeichnung „Staatliches Amt für Berufsausbildung beim Ministerrat der DDR". Seine Aufgabe ist nun im wesentlichen die Koordinierung der Berufsausbildung mit dem Industrieministerium, dem Landwirtschaftsrat und anderen zentralen Staatsorganen. Die Fachministerien bleiben jedoch voll verantwortlich für die Berufsausbildung ihres Bereiches.. Außerdem wurde das Staatliche Amt für Berufsausbildung beauftragt, einen bilanzierten Planvorschlag für die Berufsausbildung zu erarbeiten, der Grundlage für die Entscheidungen der staatlichen Planungskommission ist

Im Gegensatz zur DDR entspricht dem dualen System der Berufsausbildung in der Bundesrepublik eine getrennte Zuständigkeit. Während für die berufstheoretische Ausbildung die Berufsschulen und damit der Staat verantwortlich ist, wird die berufspraktische Ausbildung in den Betrieben geleitet. Organisation und Kontrolle der betrieblichen Ausbildung unterliegen den Selbstverwaltungsorganen der Wirtschaft, also den Industrie-und Handelskammern bzw.den Handwerkskammern. Sie nehmen auch die Prüfungen ab. Mit Hilfe von einheitlichen Ordnungsmitteln (Berufsbild, Berufsbildungsplan, Prüfungsanforderungen) soll sichergestellt werden, daß die Berufsausbildung in den Betrieben einheitlichen Bedingungen entspricht und zu vergleichbaren Leistungen führt. Grundlegend ist das Berufsbild, für das die Berufsbezeichnung, die Ausbildungsinhalte und -Zeiten festgelegt werden.

Auf staatlicher Ebene sind für die Berufsbildung in der Bundesrepublik nicht die Länder, sondern der Bund verantwortlich. Im Rahmen der Bundesregierung liegt die Zuständigkeit hierfür beim Bundesministerium für Wirtschaft und beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Das Berufsbildungsgesetz von 1969 hat der Bundesregierung als Beratungsgremium den Bundesausschuß für Berufsausbildung zur Verfügung gestellt. Er setzt sich aus je sechs Beauftragten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, fünf Beauftragten der Länder sowie einem Beauftragten der Bundesanstalt für Arbeit zusammen.

Neben seiner Funktion, die Bundesregierung in allen grundsätzlichen Fragen der Berufsbildung zu beraten, wurden ihm folgende Aufgaben gestellt: „ 1. Auf eine Weiterentwicklung der Aus-und Fortbildung der Ausbilder hinzuwirken, 2. Grundsätze für Eignung der Ausbildungsstätten und für die Durchführung von Ausbildungsmaßnahmen außerhalb der Ausbildungsstätte aufzustellen, 3. Vorschläge für die Ordnung, den Ausbau und die Förderung der Berufsausbildung, der beruflichen Fortbildung und der beruflichen Umschulung zu erarbeiten, 4. Grundsätze für die Beratung und Überwachung der Ausbildungsstätten zu entwickeln und 5. die Zusammenarbeit zwischen der betrieblichen, der schulischen und der überbetrieblichen Berufsbildung zu fördern."

Bundesregierung und Bundesausschuß können sich bei ihren Entscheidungen und Beratungen auf die Arbeit des ebenfalls durch das Berufsbildungsgesetz gegründeten Bundesinstitutes, für Berufsforschung stützen. Dieses Institut soll als bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts errichtet werden. Es hat die Aufgabe, „ 1. die Grundlage der Berufsbildung zu klären, 2. Inhalt und Ziele der Berufsbildung zu ermitteln, 3. die Anpassung der Berufsbildung an die technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung vorzubereiten."

Das berufsbildende Schulwesen

Mit dem Ende der allgemeinen Schulpflicht beginnt in beiden Teilen Deutschlands die Berufsschulpflicht, soweit der Jugendliche keine weiterführende allgemeinbildende Schule besucht. In der DDR dauert die Berufsschulpflicht generell bis zum Abschluß der Lehrausbildung. Absolventen der 8. Klasse der Oberschule müssen beim Eintritt in eine Berufsausbildung eine zweijährige Berufsschulpflicht absolvieren. Nicht berufsschulpflichtig sind Absolventen der 10. Klasse sowie Jugendliche, die das Ziel der 8. Klasse der Oberschule nicht erreichen und keinen Lehrvertrag abschließen. Die Betriebe sind hier gehalten, Qualifizierungsverträge abzuschließen. In der Bundesrepublik unterliegen alle Jugendlichen bis zum Erreichen des 18. bzw. 21. Lebensjahres der Berufsschulpflicht. 1965 besuchten insgesamt 1, 78 Mill. Schüler eine der 2128 öffentlichen und privaten Berufsschulen. Private Berufsschulen gibt es in der Bundesrepublik nür 140. Ihre Zahl hat seit 1950 stark abgenommen. Das gleiche gilt für die Zahl der Berufsschulen insgesamt. 1950 gab es im Bundesgebiet insgesamt noch 6767 Berusschulen Bis zum Jahr 1967 ist diese Zahl auf 1783 zurückgegangen In der DDR gab es 1967 insgesamt 1172 Berufsschulen, in denen 0, 5 Mill. Jugendliche unterrichtet wurden.

Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR hat die Berufsschule nicht nur die Aufgabe, ihren Schülern berufstheoretische Kennt-B nisse zu vermitteln, sie soll ebenso die Allgemeinbildung erweitern. Die Berufsschule steht so im Mittelfeld zwischen der allgemeinbildenden und der Fachschule. Sie knüpft damit an die Tradition des deutschen Berufsschulwesens an, das G. Kerschensteiner, der häufig als der „Vater der Berufsschule" bezeichnet wird, zu Beginn dieses Jahrhunderts geprägt hat. In den Berufsschulen der DDR beträgt das Verhältnis von allgemeinbildendem und berufs-theoretischem Unterricht im ersten Lehrjahr 14: 7, im zweiten und dritten Lehrjahr 8 : 6. Allgemeinbildende Fächer sind Mathematik, deutsche Sprache und Literaturgeschichte, Staatsbürgerkunde und Sport. In der Bundesrepublik beträgt das Verhältnis zwischen allgemeinbildendem und berufstheoretischem Unterricht in der Berufsschule durchschnittlich 4 : 5. Anders als in der DDR ergibt sich hier also ein Übergewicht des berufstheoretischen Unterrichts. Allgemeinbildende Fächer sind Politische Bildung und Wirtschaftskunde, Deutsch und meist auch noch Religion.

In der Bundesrepublik haben Absolventen der allgemeinbildenden Schulen im Gegensatz zur DDR die Möglichkeit, berufliche Bildung auch außerhalb der Betriebe in den sög. Be-rufsfachschulen zu erhalten. Es gibt in der Bundesrepublik ca. 2000 Berufsfachschulen, darunter 600 private, die 170 000 Jugendliche in ein-bis dreijährigem Vollzeitunterricht auf Berufe vorbereiten. Die Berufsfachschule ist eine Wahlschule, der Besuch ist also freiwillig. Die dort absolvierte Zeit wird auf die Lehre angerechnet. Es gibt eine Fülle von unterschiedlichen Formen, so z. B. Berufsfachschulen für landwirtschaftliche Berufe, für industrielle und handwerkliche Berufe, für technische Berufe, für Handels-, Verwaltungs-und Gaststättenberufe, für Haushalt und Kinderpflege und andere Frauenberufe sowie Berufsfachschulen für künstlerische Berufe. Allen ist die Verbindung von praktischer Ausbildung und Theorie sowie allgemeinbildendem Unterricht gemeinsam.

Als Voraussetzung wird entweder der Hauptschulabschluß oder die Mittlere Reife verlangt. Am stärksten ist die zweijährige Handelsschule verbreitet, deren Abschluß, außer in Bayern, mit der Mittleren Reife gleichgestellt wird. Von besonderer Bedeutung sind die höheren Berufsfachschulen, die als Zugangsvoraussetzung den Realschulabschluß (Mittlere Reife) verlangen. Dazu gehören die höhere für Handelsschule, Berufsfachschule naturwissenschaftlich und medizinisch-technische Assistenten, Frauenfachschulen und die Schulen für künstlerische Berufe.

In enger Verbindung mit der Berufsschule arbeitet in der Bundesrepublik die Berufsaufbauschule. Sie gehört zu dem berufsbezogenen Zweiten Bildungsweg und gibt Jugendlichen während und nach Abschluß der Berufsausbildung die Möglichkeit, eine auf den Beruf bezogene Allgemeinbildung und eine vertiefte fachtheoretische Ausbildung zu erlangen. Sie ist ebenfalls eine Wahlschule; die Mindeststundenzahl von 1500 wird entweder in drei Halbjahren Vollzeitunterricht oder in sechs bis sieben Halbjahren Teilzeitunterricht absolviert. Verbindliche Unterrichtsfächer sind die berufsbezogenen Fächer sowie eine moderne Fremdsprache, Naturwissenschaften, Mathematik und politische Bildung. Ihr Abschlußzeugnis verleiht die Fachschulreife und ist Voraussetzung für den Besuch höherer Fachschulen, der Ingenieurschulen und anderer weiterführender Bildungseinrichtungen. 1967 besuchten 57 000 Schüler Berufsaufbauschulen, davon 20 °/o Vollzeitschulen. Seit Anfang der sechziger Jahre zeigen die Besucherzahlen eine steigende Tendenz. Dies deutet darauf hin, daß die Berufsaufbauschule, die es in Deutschland seit 1938 gibt, eine echte „Marktlücke" schließt und eine zunehmend wichtigere Bedeutung erhält.

Bindeglied zwischen dem Hochschulwesen und dem berufsbildenden Schulwesen sind in beiden Teilen Deutschlands die Fachschulen. Sie werden in der DDR dem Hochschulwesen im weiteren Sinn zugerechnet, während sie in der Bundesrepublik augenblicklich noch dem berufsbildenden Schulwesen zugeordnet werden. In der Bundesrepublik werden in den Fach-schulen Hauptschüler und Realschüler mit einem Berufsabschluß der ersten Stufe, also einem Gesellen-, Gehilfen-und Facharbeiter-brief, in zwei bis vier Semestern auf eine gehobene Tätigkeit vorbereitet. Es gibt eine Fülle von unterschiedlichen Formen, z. B. Techniker-und Meisterschulen, Schulen für Verkehrs-und Verwaltungsberufe, landwirtschaftliche, soziale oder forst-und gartenbauliche Berufe. Zu den Fachschulen in der Bundesrepublik werden auch die Akademien gerechnet, die einen gehobenen Berufsabschluß vermitteln. Sie setzen den Realschulabschluß und eine abgeschlossene Berufsausbildung bzw. ein Praktikum voraus. Die Ausbildung dauert fünf bis sechs Semester. Wichtigste Formen der Akademien sind die Ingenieur-und Wirtschaftsakademien. Bei einem qualifizierten Abschluß kann die fachgebundene Hochschulreife verliehen werden.

Im Bereich des Fachschulwesens der DDR wird keine Unterscheidung zwischen Fach-schulen und Akademien bzw. höherer Fach-schule getroffen. Zum Fachschulwesen werden hier Ingenieurschulen und andere wissenschaftliche Fachschulen gerechnet. Beide Gruppen sind als Einrichtungen der höheren Fachausbildung im Sinne des Bildungsgesetzes von 1965 gekennzeichnet. Charakteristisch für das Fachschulwesen beider Teile Deutschlands ist eine Standortverlagerung der Fachschule in Richtung auf die Hochschule. In der DDR wurden eine Reihe von Ingenieurschulen in Ingenieurhochschulen umgewandelt oder als Polytechnische Institute den Universitäten zugeordnet. In der Bundesrepublik zeichnet sich eine ähnliche Tendenz ab. In dem Abkommen der Ministerpräsidenten der Bundesländer vom 31. Oktober 1968 wurde als Eingangsvoraus-Setzung für diese Bildungseinrichtungen eine zwölfjährig allgemeinbildende Schulbildung postuliert. Die letzten beiden Jahre dieser Vorbildung sollen in der Fachoberschule absolviert werden, die zwar ebenfalls allgemeinbildenden Charakter hat, aber berufspraktisch orientiert ist. Die Fachoberschulen, die zu Beginn des Schuljahres 1969/70 in den Bundesländern eingeführt werden, schaffen die Voraussetzung für eine Aufwertung der Fach-schulen zu Fachhochschulen. Die Fachhochschu-len sollen nach den Vorstellungen der Kulturpolitiker aller Parteien dem Hochschulbereich zugeordnet werden. Strittig ist vorläufig noch die Frage, welche Fachschulen zum Hoch-schulbereich gerechnet werden sollen und welche Formen der Kooperation zwischen Fachhochschulen und Hochschulen im engeren Sinne geschaffen werden müssen.

Strukturwandel der Erwachsenenbildung

Neben dem allgemeinbildenden Schulwesen und den Institutionen der beruflichen Bildung gibt es sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR als weiteren Bereich des Bildungswesens die Institutionen der Erwachsenenbildung. Die Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands ging hier unterschiedliche Wege. Während in der DDR zunächst die Erwachsenenbildung unter politisch-gesellschaftlichen Vorzeichen stand und primär die Aufgabe hatte, die nationalsozialistische Vergangenheit zu klären und zur aktiven Teilnahme am politischen Leben zu führen, knüpfte die Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik unmittelbar an die Tradition der Weimarer Republik an.

Die Erwachsenenbildung entstand in Deutschland durch die sozialen Bemühungen verschiedener Organisationen gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ausgehend von den liberalen Auffassungen, bei denen die Reife des Bürgers für eine Selbstgestaltung des politischen Lebens und seines eigenen Schicksals im Vordergrund stand, wurde die Erwachsenenbildung bald zu einem der Hauptarbeitsgebiete sozialistischer und christlich sozialer Bewegungen. In beiden Richtungen überwogen politisch emanzipatorische Elemente. Sie wurden jedoch schon sehr bald ergänzt durch karitativ und religiös ausgerichtete Zielsetzungen, insbesondere im Vorfeld der beiden großen Konfessionen. Eine derartige politische oder konfessionelle Bindung wurde von der im Jahre 1871 gegründeten „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“ abgelehnt. Sie erstrebte Zugang zu den Bildungsgütern für das „einfache Volk", um die als Bedrohung empfundene Radikalität der sozialistischen Arbeiterbewegung abzuwehren.

Weitere Impulse gingen von der Idee der „Universitätsausdehnung" aus, die von England übernommen wurde. Danach sollte die Wissenschaft an der Volksbildung durch populäre Darstellung gesicherten Wissens beteiligt werden.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg erhielt die Erwachsenenbildung eine neue entscheidende Akzentuierung, die bis heute in beiden Teilen Deutschlands nachwirkt. Nach dänischem Vorbild setzte die Volkshochschulbewegung ein.

Sie wollte insbesondere der Landbevölkerung während der Wintermonate Fortbildungsmöglichkeiten bieten. Mit der Entstehung der Volkshochschule und beeinflußt durch die Jugendbewegung erhielt die Erwachsenenbildung eine neue Richtung. Die unkritische Verbreitung von Volksbildung sollte überwunden und durch eine gestaltende Volksbildung ersetzt werden. Charakteristisch für die Erwachsenenbildung sollte die Selbstbestätigung des Hörers und seine intensiven Mitarbeit werden.

Die in rascher Folge entstehenden Volkshochschulen vereinigten sich 1927 zu einem Verband auf Reichsebene, dem Vorläufer des Deutschen Volkshochschulverbandes, der 1968 1200 Volkshochschulen mit 5000 Nebenstellen in allen Städten und Kreisen der Bundesrepublik unterhält.

Das heutige System der Erwachsenenbildung ist nach Wolfgang Schulenburg die Resultante der oben skizzierten historischen Grundtypen. Erster Grundtyp sei die transitorische Erwachsenenbildung. Schulenburg versteht sie als eine Aufgabe, die dann erfüllt ist, wenn ihr Ziel, beispielsweise die Alphabetisierung in Entwicklungsgebieten, erreicht ist. Ein zweiter Grundtyp ist die kompensatorische Erwachsenenbildung. Sie hat die Aufgabe, bestimmten Bevölkerungsgruppen und Personen, deren Bildungsmöglichkeiten in der Jugend eingeschränkt waren, Nachhol-und Ausgleichsangebote bereitzustellen. Charakteristische Beispiele hierfür sind die Arbeiterbildungsvereine im 19. Jahrhundert und die Institutionen des sogenannten zweiten Bildungsweges. Den dritten Grundtyp nennt Schulenburg die komplementäre Erwachsenenbildung, die sich zur Aufgabe gemacht hat, den Erwachsenen in hochindustrialisierten Gesellschaften Angebote zur Weiterbildung zu geben

Mit unterschiedlichem Tempo entwickelt sich die Erwachsenenbildung in beiden Teilen Deutschlands auf diesen Grundtyp zu. In ihm kommen jene vier Aufgaben der Erwachsenenbildung zur Geltung, die im gegenseitigen Zu-sammenwirken der Erwachsenenbildung neuen Typs ihr Gesicht prägen. Das sind erstens Information, zweitens berufliche Weiterbildung, drittens Lebenshilfe und viertens Entspannungs-und Freizeithilfe.

Allein die Volkshochschulen hatten im Jahre 1968 1, 8 Mill. Kursusteilnehmer und 6 Mill. Besucher an Einzelveranstaltungen zu verzeichnen. Etwa die Hälfte des Bildungsangebotes der Volkshochschulen ist heute berufsbezogen. Die Verwaltungs-und Wirtschaftsakademien widmen sich erfolgreich ausschließlich der beruflichen Qualifizierung. Auch die Erwachsenenbildungseinrichtungen der Sozieipartner sind überwiegend berufsorientiert. Damit wird deutlich, daß sich die Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik in einem tiefgreifenden Strukturwandel befindet. Immer stärker begreift sie sich als Einrichtung zur beruflichen Qualifizierung. Die Einrichtungen der Erwachsenenbildung werden somit der Notwendigkeit der lebenslangen Weiterbildung — orientiert an der konkreten beruflichen Situation des Menschen — gerecht. Diese Möglichkeiten werden vor allem von der jüngeren Generation genutzt. Heute sind mehr als die Hälfte aller Erwachsenen, die an Volkshochschulveranstaltungen teilnehmen, 18 bis 25 Jahre alt,

Das System der Erwachsenenqualifizierung

Wesentlich ausgeprägter als in der Bundesrepublik ist in der DDR die Funktion der Erwachsenenbildung als Institution der Fortbildung. Sie ist in der DDR zunächst ein Instrument der Qualifizierung.'Hauptziele der Volkshochschulen sind: einmal „in Komplex-lehrgängen auf Schulabschlüsse verschiedener Formen vorzubereiten und sodann die langfristigen Qualifizierungsvorhaben der Betriebsakademien und Betriebsschulen zu koordinieren" Damit wird deutlich, daß die Erwachsenenqualifizierung in der DDR auf zwei Säulen ruht. Einerseits auf der Volkshochschule, die es in jedem der 220 Kreise der DDR gibt, und andererseits auf dem System der Betriebsschulen. Während die Volkshochschulen neben der beruflichen Qualifizierung auch die Aufgabe haben, auf Abschlüsse allgemeinbildender Schulen vorzubereiten, und so mit der Funktion von Abendrealschulen und Abendgymnasien in der Bundesrepublik vergleichbarsind beschränkt sich die Aufgabe der Betriebsakademien auf die fachliche Erwachsenenqualifizierurig.

Die Betriebsakademien entstanden zu Beginn der sechziger Jahre als Betriebsschulen, die von allen größeren Betrieben zur beruflichen Weiterbildung ihrer Arbeitnehmer in eigener Regie unterhalten wurden. Sie widmen sich vorwiegend, der systematischen beruflichen Qualifizierung und führen außerdem kurzfristige produktionsorientierte Kurse durch, die durch die Einführung neuer Maschinen und Technologien notwendig werden. Neben den Betriebsakademien gibt es Dorfakademien mit gleicher Funktion, die jedoch aus der Volkshochschule-entstanden sind

Volkshochschulen und Betriebsakademien bieten den an einer Qualifzierung Interessierten ein Stufensystem der Ausbildung für jeden

Beruf an. Es besteht aus neun gestaffelten Qualifizierungsabschnitten, deren Anforderungen sich aus den jeweiligen Berufsbildern und Arbeitsplatzanalysen ergeben. Jede Stufe ist durch folgende allgemeine Merkmale charakterisiert:

A 1: Produktionsarbeiter für eine oder mehrere Tätigkeiten, A 2: Erweiterung der Grundkenntnisse, A 3: Facharbeiter mit staatlicher Facharbeiterprüfung,

A 4: Facharbeiter mit Spezialkenntnissen, A 5: Meister der volkseigenen Industrie, A 6: Techniker, A 7: Ingenieur, A 8: Diplomingenieur, A 9: Weiterbildung für Hoch-und Fachschul-. kader

Die Betriebsakademien bieten in der Regel nur die Qualifizierungsabschnitte A 1 bis A 4 an. Die weiterführenden Abschnitte werden von den Fachschulen organisiert, die an allen grö-ßeren Betriebsakademien Außenstellen eingerichtet haben. Ihre Inhalte und Prüfungsbedingungen werden für alle Qualifizierungsabschnitte zentral festgelegt, ihre Einhaltung von der Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) als übergeordneter Instanz kontrolliert. Die A-Qualifizierung wird durch weitere Systeme ergänzt. Die B-Qualifizierung orientiert sich stärker an den Erfordernissen des jeweiligen Betriebes und bietet Kenntnisse für spezielle Tätigkeiten, für die es keine verbindlichen Berufsbilder gibt. Die C-Qualifizierung besteht aus einem Angebot an allgemeinbildenden Kursen, die nur teilweise auf den Beruf zugeschnitten sind

Damit wird deutlich, daß die Erwachsenenbildung in der DDR anders als in der Bundesrepublik überwiegend als ein Instrument der Weiterbildung sowohl in beruflicher als auch in schulischer Hinsicht charakterisiert werden kann. Die nicht berufsbezogenen Aufgaben der Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik, die hier immer noch einen breiten Raum einnehmen, werden in der DDR durch die „kulturelle Massenarbeit" erfüllt. Darunter werden „alle Formen der kulturellen, erzieherischen und kulturell bildenden Arbeit" verstanden, die „bestimmte Erziehungsziele besitzen und eine bestimmte Bildung vermitteln, jedoch nicht mit allgemeinverbindlichen Lehrprogrammen arbeiten bzw. nicht mit allgemein verbindlichen Prüfungen abschließen." Die kulturelle Massenarbeit in der DDR greift jedoch über den Bereich der Erwachsenenbildung hinaus. In diese Kulturarbeit werden auch Jugendliche und Kinder durch Jugendorganisationen einbezogen.

Dennoch kann als gemeinsames Merkmal der Erwachsenenbildung in beiden Teilen Deutschlands eine zunehmende Tendenz zur beruflichen Facharbeiterqualifizierung festgestellt werden. Sie ist in der Bundesrepublik vorläufig erst in Ansätzen erkennbar, während sie in der DDR zu einem alle anderen Aufgaben der Erwachsenenbildung dominierenden System von Qualifizierungsangeboten geführt hat.

Unterchiedlich ist jedoch nicht nur das Selbstverständnis der Erwachsenenbildung in der DDR und in der Bundesrepublik, sondern auch ihre Organisation. Wenn in der Bundesesrepublik das System der Erwachsenenbildung noch nicht durch die Funktion der beruflichen Weiterqualifizierung charakterisiert ist, so liegt dies nicht zuletzt daran, daß hierbei der nicht-staatliche Charakter der Erwachsenenbildung Schwierigkeiten bereitet. Denn die Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik hat sich im staatsfreien Raum angesiedelt und wird von einer pluralistischen Vielfalt der Träger durchgeführt. Berufliche Qualifizierung setzt jedoch die staatliche Anerkennung von Examina und Zeugnissen voraus, die die privat organisierten Institutionen der Erwachsenenbildung nicht anbieten können. Um diese Schwierigkeit zu überwinden, erproben die Volkshochschulen in der Bundesrepublik z. Z. ein vielversprechendes Zertifikatssystem. Auch wenn damit keine staatliche Prüfung bescheinigt werden kann, so erfreuen sich die Inhaber dieser Zertifikate dennoch einer zunehmenden Förderung durch die Wirtschaft.

Diese kodifizierten Leistungsnachweise können jedoch solange keine Alternative oder Ergänzung staatlicher Examina sein, wie ihnen die staatliche Anerkennung fehlt. Ziel der Trägerorganisationen der Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik ist deshalb, ihre für erfolgreich absolvierte berufsbezogene Kurse ausgestellten Zertifikate staatlich anerkannt zu sehen. Dieses Ziel ist allerdings nur dann realistisch, wenn die Trägerorganisationen dem Staat auch Einflußmöglichkeiten auf die Prüfungsanforderungen einräumen.

Damit wird eine der Kernfragen in der Reform der Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik angeschnitten. Sie besteht in dem Problem, inwieweit der pluralistische Charakter einer staatsfreien Erwachsenenbildung beschnitten werden muß, um das vorhandene System für die berufliche Weiterbildung fruchtbar zu machen. Auf diese Fragen haben Politiker und Träger der Erwachsenenbildung vorläufig noch keine Antwort gegeben. Auch in den kulturpolitischen Programmen der Parteien sucht man vergeblich nach klaren Stellungnahmen. Gleichzeitig wird jedoch immer deutlicher, daß die berufliche Weiterbildung und Umschulung zu einer der wichtigsten Aufgaben einer modernen Sozial-und Bildungspolitik wird. Somit stellt sich die politische Aufgabe, das vorhandene System der Erwachsenbildung für diese Aufgabe wesentlich stärker zu nutzen, als es bisher geschehen ist.

Bilanz

Zusammenfassend lassen sich bei der Bildungspolitik in den Bereichen berufliche Bildung und Erwachsenenbildung in beiden Teilen Deutschlands eine Reihe von übereinstimmenden Tendenzen feststellen. Gemeinsam wird der Versuch gemacht, das berufliche Bildungswesen und das System der Erwachsenenbildung den Erfordernissen einer industriellen Gesellschaft anzupassen. Sowohl in der Bundesrepublik wie auch in der DDR wird versucht, die Bildungspolitik in diesen Bereichen an den Betriebs-und volkswirtschaftlichen Erfordernissen zu orientieren. Charakteristisch dafür ist insbesondere die Reform der Berufsausbildung und der Strukturwandel im Bereich der Erwachsenenbildung. Die traditionelle Meisterlehre wird in beiden Teilen Deutschlands abgelöst durch eine Ausbildung in Phasen. Um die berufliche Mobilität zu verbessern und gleichzeitig Voraussetzungen für eine spätere Spezialisierung zu schaffen, soll die berufliche Ausbildung sowohl Bundesrepublik in der wie auch in der DDR mit einer breit angelegten Einführung in die Berufsbereiche beginnen. Im Verlauf des Ausbildungsganges schreitet dann die Spezialisierung voran. Dabei wird angestrebt, eine Festlegung auf bestimmte Berufe oder berufliche Tätigkeiten zeitlich möglichst weit hinauszuschieben.

Charakteristisch für beide Teile Deutschlands ist ebenso ein neues Selbstverständnis der Erwachsenenbildung. Sie wird immer stärker als ein Instrument der beruflichen Qualifizierung verstanden. Während eine Verlagerung des Schwergewichtes auf die berufliche Fortbildung bei der Erwachsenenbildung in der Bundesrepublik vorläufig erst in Ansätzen erkennbar ist, wird Erwachsenenbildung mit Erwachsenenqualifizierung in der DDR weitgehend gleichgesetzt.

Das unterschiedliche Tempo der Strukturveränderungen in den Bereichen berufliche Bildung und Erwachsenenbildung erklärt sich aus den unterschiedlichen organisatorischen Bedingungen. Berufsbildung und Erwachsenenbildung sind in der Bundesrepublik weitgehend der Verantwortlichkeit des Staates entzogen. Die berufspraktische Ausbildung ist Aufgabe der Betriebe und wird von den Selbstverwaltungsorganen der Wirtschaft kontrolliert. Die Erwachsenenbildung ist im staatsfreien Raum angesiedelt und wird von einer pluralistischen Vielfalt von Trägern organisiert. der Bei der Identität politischen und wirtschaftlichen Führung liegen in der DDR Organisation und Kontrolle von Berufsbildung und Erwachsenenbildung in einer Hand. Reform-konzeptionen sind hier sehr viel rascher zu verwirklichen. Ein Vergleich in der Leistungsfähigkeit der Systeme in beiden Teilen Deutschlands ist schwierig, weil sich sowohl in der Bundesrepublik wie auch in der DDR Berufsbildung und Erwachsenenbildung im Umbruch befinden. Das sollte Fachleute und Politiker in beiden Teilen Deutschlands nicht daran hindern, die Reformkonzepte und Reformmaßnahmen in dem jeweils anderen Teil aufmerksam zu verfolgen und davon zu lernen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. hierzu: Wolfgang Bergsdorf, Hochschul-und Wissenschaftspolitik im geteilten Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 1/69 vom 4. Jan. 1969; Schulpolitik in beiden Teilen Deutschlands, a. a. O., B 13/69 vom 29. März 1969.

  2. Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (Hrsg.), Kulturpolitik der Länder 1967— 1968, Bonn 1969, S. 372 ff.

  3. Deutscher Bundestag, Vergleichende Darstellung des Bildungswesens im geteilten Deutschland, 4. Aug. 1969, Drucksache V/4609, S. 35.

  4. Vgl. hierzu: Josef Stingl, Bildungspolitik — Fundament der sozialen Sicherung, in: Manfred Abelein (Hrsg.), Berufsbildung — Fortbildung — Erwachsenenbildung, Kulturpolitische Schriftenreihe, Heft 3, Bonn 1969, S. 4 ff.

  5. A. a. O.

  6. Vgl. hierzu: Hartmut Vogt, Bildung für die Zukunft, Göttingen 1967, S. 13 ff., sowie vergleichende Darstellung . . ., a. a. O., S. 6.

  7. Vergleichende Darstellung . . ., a. a. O.

  8. A. a. O.

  9. A. a. O.

  10. „Die Welt" vom 11. Okt. 1969.

  11. § 1 des Gesetzes über das „Einheitliche sozialistische Bildungssystem" vom 25. Februar 1965, zitiert nach: Dokumente zur Bildungspolitik in der Sowjetisch Besetzten Zone, ausgewählt und kommentiert von Siegfried Baske und Martha Engel-bert, Bonn und Berlin 1966, S. 390 f.

  12. Vgl. Wolfgang Bergsdorf, Schulpolitik, a. a. O., S. 30.“

  13. Vgl. hierzu: H. Backhaus, Das 9. Schuljahr, Heidelberg 1963; sowie Rosemarie Nave-Herz, Vorberuflicher Unterricht in Europa und Nordamerika, Berlin 1966. Das 9. Schuljahr wurde in der Mehrzahl der Bundesländer Anfang der sechziger Jahre eingeführt (Hamburger Abkommen vom 28. Okt. 1964). Als letztes Land führte Bayern das 9. Schuljahr mit Beginn des Schuljahres 1969/70 ein.

  14. W. Voelmy, Die Hinführung der Schüler zur Berufs-und Arbeitswelt in der Volksschuloberstufe, Frankfurt a. M. 1965, S. 23.

  15. Helmut Klein, Polytechnische Bildung und Erziehung in der DDR, Hamburg 1962.

  16. Zitiert nach Siegfried Baske, Polytechnische Bildung und Erziehung, in: Peter Christian Ludz (Hrsg.), Studien und Materialien zur Soziologie der DDR, Köln und Opladen 1964, S. 187 f.

  17. Bildungsgesetz, a. a. O., § 14, 2.

  18. A. a. O., § 15, 1 und 2.

  19. A. a. O., § 16.

  20. Rosemarie Nave-Herz, a. a. O., S. 105.

  21. Margot Honnecker, in: Deutsche Lehrerzeitung, Sonderausgabe vom 11. Juni 1968.

  22. Bildungsgesetz, a. a. O., § 32, vgl. hierzu auch Hartmut Vogt, a. a. O.

  23. Bildungsgesetz, a. a. O., § 32.

  24. A. a. O„ § 33.

  25. A. a. O.

  26. Vergleichende Darstellung, a. a. O., S. 28.

  27. Wolfgang Lempert, Die Konzentration der Lehrlinge auf Lehrberufe, Berlin 1966, S. 59.

  28. A. a. O., S. 81.

  29. Das Berufsbildungsgesetz wurde vom 5. Deutschen Bundestag am 12. Juni 1969 angenommen. § 26 als Kann-Bestimmung sieht vor, daß die Ausbildungsordnung „sachlich und zeitlich besonders geordnete, aufeinander aufbauende Stufen der Berufsausbildung" festlegt.

  30. Vergleichende Darstellung, a. a. O., S. 32, sowie Hartmut Vogt, Neue Wege der Berufsausbildung in der DDR, in: Deutschland-Archiv 1/68, S. 791.

  31. Gesetzesblatt der DDR, 1968 Teil I, Nr. 12 vom 14. Juni 1968.

  32. Egon Lass, Disponible Facharbeiter durch Ausbildung in Grundberufen, in: Berufsbildung Nr. 5/1968, S. 229.

  33. Bildungsplanungsbericht der Bundesregierung, Bundestagsdrucksache V/2166, S. 34.

  34. Deutscher Bildungsrat, Empfehlung der Bildungskommission zur Verbesserung der Lehrlingsausbildung (Bonn 1968), S. 28.

  35. A. a. O„ S. 15 ff.

  36. Vergleichende Darstellung, a. a. O., S. 26 f.

  37. Berufsbildungsgesetz, a. a. O., § 51.

  38. A. a. O„ § 60.

  39. Kultusministerkonferenz (Hrsg.), Berufsbildende Schule 1950— 1965, Statistisches Material, Bonn 1968.

  40. Vergleichende Darstellung, S. 29.

  41. Wolfgang Schulenburg, Erwachsenenbildung, in: Hans-H. Groothoff (Hrsg.), Pädagogik, Frankfurt/M. 1964, S. 68 f.

  42. Joachim Knoll und Horst Siebert, Erwachsenenbildung — Erwachsenenqualifizierung, Heidelberg 1968, S. 27 f.

  43. Horst Siebert, Erwachsenenbildung im „einheitlich sozialistischen Bildungssystem" der DDR, in: Bildung und Erziehung, 3/1969. Welche Bedeutung die Volkshochschulen als Nachholformen des allgemeinbildenden Schulwesens haben, wird daraus deutlich, daß trotz der 10jährigen Schulpflicht 25 9/0 aller Jugendlichen die Oberschule nach der 8. Klasse verlassen. Nur 18 °/o legen die Abschlußprüfung der 12. Klasse ab, erwerben also auf dem direkten Weg die Hochschulreife. Vgl. Neues Deutschland, 31. 8. 1967.

  44. Horst Siebert, a. a. O.

  45. A. a. O.

  46. A. a. O.

  47. Edgar Jahn, Technische Revolution und kulturelle Massenarbeit, Berlin (Ost) 1965, S. 36.

Weitere Inhalte

Wolfgang Bergsdorf, Referent im Kulturpolitischen Büro der CDU/CSU in Bonn und Redakteur des „Kulturpolitischen Informationsdienstes", Studium der Politischen Wissenschaften und Soziologie in Bonn, Köln und München, Autor bildungs-und wissenschaftspolitischer Beiträge für Rundfunkanstalten, Wochenzeitungen und Zeitschriften (vgl. auch: Hochschul-und Wissenschaftspolitik im geteilten Deutschland. Eine vergleichende Darstellung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1/69 v. 4. 1. 1969, und: Schulpolitik in beiden Teilen Deutschlands, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 13/69 v. 29. 3. 1969).