1. Aktualität der Frage
Je länger die Teilung Deutschlands andauert und in je weitere Ferne die Wiedervereinigung der beiden entstandenen Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen rückt, um so stärker wird der Zeitgenosse das Verlangen spüren, die Politik der Vergangenheit kritisch zu überprüfen, getrieben von dem Gefühl, daß es vielleicht doch einmal eine Wiedervereinigungschance gegeben habe. Nun sind die Teilungen von Staaten als Ergebnis und Ausdruck antagonistischer Machtinteressen und das Verlangen der getrennten Völker nach Wiedervereinigung Erscheinungsformen der internationalen Beziehungen, die sich nicht allein im zwanzigsten Jahrhundert beobachten lassen (man denke nur an die polnische Frage
Gerade in Deutschland, wo sich der Ost-West-Gegensatz in aller Schärfe kristallisierte, trat diese widersprüchliche Situation besonders zutage. Während sich die Siegermächte im Potsdamer Abkommen von 1945 verpflichtet hatten, Deutschland als wirtschaftliche Einheit zu behandeln und gemeinsam zu verwalten, brachen gerade über die Fragen der praktischen Ausführung dieser Bestimmungen die latent vorhandenen Gegensätze zwischen der Sowjetunion und den Westmächten hervor und bewirkten in ihrem Gefolge die Spaltung des besiegten Staates. Zugleich verkündeten aber beide Lager ihren Willen, eine Politik der Wiedervereinigung zu betreiben, dem dann die Politik der „Wiedervereinigung auf friedlicher und demokratischer Grundlage" der DDR und der „Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit" der Bundesrepublik entsprachen. Alle erklärten die Beseitigung der deutschen Teilung zu ihrem wichtigsten Ziel, doch die Wiedervereinigung kam nicht zustande.
Als Chruschtschow 1955 zum erstenmal in aller Deutlichkeit von den beiden deutschen Staaten sprach und darlegte, die DDR werde nicht auf ihre sozialen und politischen Errungenschaften verzichten
Eine Untersuchung über die Bedeutung dieser Note, die ja eine der Grundfragen deutscher Außenpolitik berührt, rechtfertigt sich nicht nur aus rein historischem Interesse, das überdies erst in einigen Jahrzehnten völlige Gewißheit über alle Zusammenhänge erlangen wird, sondern vor allem aus der Überlegung heraus, daß diese Frage allzu leicht einer emotionsgeladenen Betrachtungsweise unterworfen ist. Die Aufgabe der Politikwissenschaft muß es daher sein, die ganze Problematik dieser Frage in allen ihren Aspekten aufzudecken, damit nicht später einmal die „terribles simplificateurs" aus längst Vergangenem eine politische Waffe schmieden, deren Konsistenz nicht in Fakten, sondern in Gefühlen ruht. Auch ein kritisch Urteilender, der zu einem negativen Ergebnis kommt, sollte sich davor hüten, die Vergangenheit nur im milden Glanz der Problemlosigkeit zu sehen; er sollte sich vielmehr die Mehrdeutigkeit jeder wirklich politischen Situation in Erinnerung rufen und mit in sein Urteil einbeziehen.
Nicht nur die Publizistik und Literatur beschäftigten und beschäftigen sich angelegentlich mit der Märznote, auch der deutsche Bundestag griff dieses Thema Jahre später wieder auf.
In der außenpolitischen Debatte vom 23. Januar 1958 beschworen Thomas Dehler und Gustav Heinemann jenen denkwürdigen Schritt Stalins. In seiner sehr stürmisch verlaufenden Rede warf Dehler Bundeskanzler Adenauer vor, er habe alles getan, um die Wiedervereinigung zu verhindern und er habe nie den Willen zur Einheit besessen. Bei seiner Abrechnung mit der Adenauerschen Außenpolitik seit 1949 kam er auch auf die sowjetische Märznote und ihre damalige Aufnahme durch die Regierung zu sprechen. Auf ihrer Basis sei eine „Verhandlungsmöglichkeit" gegeben gewesen. Stalin habe gesamtdeutsche freie Wahlen unter Viermächtekontrolle, Freiheit der Presse, Friedensvertrag, Abzug aller Truppen, nationale Bewaffnung, Rüstungsproduktion mit bestimmten Einschränkungen angeboten, er sei bereit gewesen, als Preis für den Verzicht auf die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und die deutsche Zugehörigkeit zu irgendeiner Militär-allianz die Wiedervereinigung zuzugestehen. Doch Adenauer hätte es am Willen gefehlt, das Mögliche zu tun und eine Chance zu ergreifen
Auf die hier aufgeworfenen Probleme wird an anderer Stelle eingegangen werden. Es geht uns zunächst nur darum zu zeigen, daß . die Frage nach wie vor aktuell ist und nach einer leidenschaftslosen Klärung verlangt. Paul Sethe, der in starkem Maße zur Diskussion um die Sowjetnote beigetragen hat, vermittelt uns sehr plastisch die quälenden Zweifel, ob es 1952 nicht doch zu einem Wendepunkt in der deutschen Geschichte hätte werden können. Er schreibt in einem Leitartikel der „Welt" vom 6. Juni 1956 u. a. : „Noch einmal steigen wie quälende Schatten die Erinnerungen an die Jahre zwische
Jahrelang nannten sie, anders als heute, als Bedingung nur die eine, daß Gesamtdeutsch-land eine militärische Stellung zwischen den Machtblöcken einnehmen müsse. Damals dachte man in peinigender Sorge immer wieder an Bismarcks Wort von dem Rauschen des Mantels, mit dem Gott durch die Geschichte schreite, und an die Aufgabe des Staatsmannes, den Zipfel des Mantels zu ergreifen. Nun ist die Gunst der Stunde vorbei. Die Russen haben die Wasserstoffbombe, sie haben die Raketen, die über die Erdteile hinwegsausen, sie haben eine glänzende internationale Stellung;
anstatt daß sie über den Bug zurückgeworfen worden wären, ist ihre Diplomatie bis zum Nil vorgedrungen. In solcher Lage wollen sie Preise nicht mehr zahlen, in die sie einstmals einzuwilligen versprachen. Die Lage ist düsterer geworden, als sie seit langem war. Aber es ist gut, daß wir es wissen. Helfende Überlegung, rettende Entschlüsse sind nur dem möglich, der seine Wünsche nicht mit der Wirklichkeit verwechselt." 5)
Auch in jüngster Zeit war wieder vpn jener Note die Rede, als Gustav Heinemann in seinem Interview mit der „Stuttgarter Zeitung" ausführte: Adenauer habe in den Jahren 1952/1954 die von sowjetischer Seite unternommenen Anläufe zu einer Regelung auf der Grundlage eines gesamtdeutschen Friedensvertrages mit einer aus freien Wahlen zu bildenden gesamtdeutschen Regierung nicht aufgegriffen 6).
Damit angesichts dieser Streitfrage ein begründetes Urteil abgegeben werden kann, soll zunächst der historische Kontext kurz skizziert werden, in dem der sowjetische Vorschlag zu sehen ist, um dann seine Probleme im einzelnen zu untersuchen.
2. Der historische Hintergrund
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. INHALT Aktualität der Frage Der historische Hintergrund Der Inhalt der Märznote und des anschließenden Notenwechsels Die Interessenlage und die seit praktizierte Politik der Sowjetunion Die Neutralisierung Deutschlands Freie Wahlen sich 1950 Die Ernsthaftigkeit des sowjetischen Angebotes Literatur a) b) c) a) b) c) d) a) b) c) d) a) b) c) d) Interesse — konstituierender Faktor der Politik Ziel des sowjetischen Angebotes Westliche Integrationspolitik und Verhandlungsbereitschaft sowjeti
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. INHALT Aktualität der Frage Der historische Hintergrund Der Inhalt der Märznote und des anschließenden Notenwechsels Die Interessenlage und die seit praktizierte Politik der Sowjetunion Die Neutralisierung Deutschlands Freie Wahlen sich 1950 Die Ernsthaftigkeit des sowjetischen Angebotes Literatur a) b) c) a) b) c) d) a) b) c) d) a) b) c) d) Interesse — konstituierender Faktor der Politik Ziel des sowjetischen Angebotes Westliche Integrationspolitik und Verhandlungsbereitschaft sowjeti
er Notenwechsel zwischen der Sowjetunion ind den Westmächten des Jahres 1952 kann licht isoliert betrachtet und analysiert werden, r muß vielmehr in den politischen Gesamtusammenhang gestellt werden, wie er sich ; eit 1945 im Verhältnis der Siegermächte zu hren Besatzungszonen und der ehemaligen \lliierten untereinander ergeben hat. Die iermächteverwaltung Deutschlands scheiterte in den hartnäckigen Reparationsforderungen ler Sowjetunion und ihren eng damit verbunlenen Versuchen, in den westlichen Besatungszonen wirtschaftlichen und politischen influß (Zentralregierung, Viermächtekontrole des Ruhrgebietes) zu gewinnen, während sie lie eigene Zone abkapselte und in ihr strukurverändernde Maßnahmen einleitete (Bodeneform, Verstaatlichung der Industrie, Fusion ler SPD und KPD zur SED). Auch die Außenninisterkonferenzen der Jahre 1945/47, die inen Friedensvertrag für Deutschland ausirbeiten sollten, blieben erfolglos. Diese nejativen Ergebnisse alliierter Zusammenarbeit waren insgesamt Ausdruck der nicht miteinanler zu vereinbarenden Ziele der Sowjetunion jnd der Westmächte in Europa — eines Gejensatzes, der letztlich in den grundverschielenen Gesellschaftssystemen und in den unerschiedlichen Macht-und Sicherheitsinteressen verankert war.
Jnter dem Eindruck der intransigenten sowjeischen Haltung beschlossen die Westmächte, wenigstens ihre Besatzungszonen zu konsoliiieren. An die Stelle der anfangs praktizierten Politik der wirtschaftlich-politischen Niederaltung Deutschlands traten nun die Bemühunjen, um die wirtschaftlich-politische Stärkung ler westlichen Teile Deutschlands und ihre Einbeziehung in die Verteidigung Westeuropas rasch zu gewährleisten. Während der Wandel der Mächtekonstellation bereits 1946/1947 deutlich wurde (Rede des amerikanischen Außenministers Byrnes vom 6. September 1946 n Stuttgart, Truman-Doktrin vom 12. März 1947, Rede des amerikanischen Außenministers Marshall vom 5. Juni 1947, Gründung des ommunistischen Informationsbüros am 12. September 1947), war die Berlin-Blockade las für alle sichtbare Zeichen des tiefgehenlen Ost-West-Konfliktes. Westdeutschland wurde zum Vorfeld bei der Verteidigung der westeuropäischen Freiheit; auf seinen militärischen Beitrag bei einem etwaigen sowjetischen Angriff konnte nicht verzichtet werden.
Es ist umstritten, ob die sowjetischen Politiker wirklich expansionistische Absichten hatten, die über den osteuropäischen Raum hinausgriffen. Eine Tatsache ist jedoch, daß die Sowjetisierungsmaßnahmen in den osteuropäischen Staaten und die systematische Ausschaltung aller prowestlichen Kräfte in jenen Regierungen (Prager Staatsstreich vom Februar 1948) sowie die erwähnte sowjetische Deutschlandpolitik es den Westmächten geraten erscheinen ließ, sich gegen die denkbare Möglichkeit einer politisch-militärischen Offensive der Sowjetunion zu versichern. Die Frage einer westdeutschen Wiederbewaffnung wurde seit 1948/49 diskutiert
Es ging jetzt nur noch um die Frage, wie das Erfordernis der Sicherheit durch Westdeutschland mit der Notwendigkeit der Sicherheit vor Deutschland in Einklang gebracht werden konnte. Im Kommunique der New Yorker Außenministerkonferenz (12. bis 18. September 1950) wurde bereits ein westdeutscher Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung Europas als „Gegenstand des Studiums und Meinungsaustausches" ausdrücklich erwähnt
Nicht nur auf militärischem, auch auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet bestand von Anfang an für die Bundesrepublik ein enges Junktim zwischen sich ausweitender Selbstbestimmung und stärkerer Bindung an den Westen. Das Streben der Bundesrepublik nach Souveränität und das Verlangen der Westmächte nach Partnerschaft und Kontrolle durch Integration standen in einem funktionalen Verhältnis zueinander. Dies zu betonen, ist wichtig, um die nachfolgenden Reaktionen auf die sowjetischen Angebote einordnen zu können. Die Verhandlungen über den EVG-Vertrag, eng gekoppelt mit dem Deutschland-vertrag, der an die Stelle des seit dem 21. September 1949 in Kraft getretenen und am 6. März 1951 revidierten Besatzungsstatut treten sollte, erwiesen sich als langwierig 10), waren aber schließlich erfolgreich. Im Frühjahr 1952 lagen die Verträge unterschriftsfertig vor. In diesem entscheidenden Augenblick, als die Früchte mühsamer diplomatischer Arbeit des Westens endlich zur Reife gebracht waren, ließ Stalin den Regierungen der Vereinigten Staaten, Englands und Frankreichs seine berühmte Note überreichen
3. Der Inhalt der Märznote und des sich anschließenden Notenwechsels
In ihrer Note 11) schlug die Sowjetregierung den Westmächten vor, die Frage eines Friedensvertrages mit Deutschland zu erwägen und auf einer Konferenz „unter unmittelbarer Beteiligung Deutschlands, vertreten durch eine gesamtdeutsche Regierung", auszuarbeiten.
Einen eigenen Entwurf stellte sie zur Diskussion.
Um das Wiederaufleben des deutschen Militarismus und einer deutschen Aggression zu verhindern, so wurde ausgeführt, sollte ein Friedensvertrag mit Deutschland abgeschlossen werden, der „die Entwicklung Deutschlands als eines einheitlichen, unabhängigen, demokratischen und iriedliebenden Staates in Übereinstimmung mit den Potsdamer Beschlüssen fördern" 12) würde. Die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands sollte einhergehen mit dem Abzug aller Besatzungsstreitkräfte, und zwar spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des Friedensvertrages. Deutschland müsse sich verpflichten, „keinerlei Koalitionen oder Militärbündnisse einzugehen, die sich gegen irgendeinen Staat richten, der mit seinen Streitkräften am Krieg gegen Deutschland teilgenommen hat"
Der weitere Notenaustausch kreiste um folgende Themen: Freie Wahlen, Status einer gesamtdeutschen Regierung vor einem Friedensvertrag, Handlungsfreiheit nach dem Friedensvertrag, Verfahrensfragen.
In der Note war zwar von der Bildung einer gesamtdeutschen Regierung, die den Willen des deutschen Volkes ausdrücken sollte, die Rede, freie Wahlen wurden jedoch nicht erwähnt. In ihrer Antwortnote vom 25. März 1952 stellten die Westmächte diese Frage in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen. Eine gesamtdeutsche Regierung könne nur auf der Grundlage freier Wahlen in ganz Deutschland geschaffen werden, deren Voraussetzung, nämlich individuelle und nationale Freiheit des deutschen Volkes, von einer Untersuchungskommission der Vereinten Nationen zuvor überprüft werden müsse.
Diese Frage hatte bereits zuvor die Vereinten Nationen beschäftigt. Auf Anregung der durch die Bundesregierung übermittelten Forderung des Bundestages vom 27. September 1951
In ihrer Note wiesen die Westmächte auch darauf hin, daß eine ins einzelne gehende Diskussion über einen Friedensvertrag erst dann sinnvoll und möglich sei, wenn die genannten Voraussetzungen geschaffen und eine freie gesamtdeutsche Regierung gebildet worden sei, die an den Verhandlungen teilnehmen sollte. Die Westmächte lehnten das Koalitionsverbot für den zukünftigen deutschen Staat ab, der gesamtdeutschen Regierung sollte es freistehen, sowohl vor wie nach dem Abschluß eines Friedensvertrages „Bündnisse einzugehen, die mit den Grundsätzen und Zielen der Vereinten Nationen in Einklang stehen". Die Aufstellung von nationalen Streitkräften bezeichneten sie als „einen Schritt zurück".
In ihrer Antwort vom 9. April 1952 griff die Sowjetunion die Wahlfrage auf und bezeichnete die Erörterung der Frage der Durchführung freier gesamtdeutscher Wahlen als notwendig. Sie lehnte allerdings eine UN-Kommission ab, da dies eine gemäß Art. 107 der Charta nicht zulässige Einmischung der Vereinten Nationen in deutsche Angelegenheiten sei. Dagegen könne diese Überprüfung von einer Kommission vorgenommen werden, „die von den vier in Deutschland Besatzungsfunktionen ausübenden Mächten zu bilden wäre".
Mit Befriedigung stellten die Westmächte in ihrer Antwortnote vom 13. Mai 1952 fest, daß die Sowjetregierung nunmehr grundsätzlich mit freien Wahlen in ganz Deutschland einverstanden sei. Die erforderlichen Voraussetzungen für freie Wahlen müßten allerdings in allen Teilen Deutschlands bestehen, am Wahltage selbst, davor und danach. Eine lediglich aus Mitgliedern mit unmittelbaren Verantwortlichkeiten in Deutschland zusammengesetzte Kommission „wäre gleichzeitig Richter und Partei. Die Erfahrung während der Zeit der Vier-Mächte-Kontrolle in Deutschland läßt darauf schließen, daß eine solche Kommission nicht in der Lage wäre, zu zweckdienlichen Entscheidungen zu gelangen . . . Dies wäre ein Rückschritt, der mit der konstitutionellen Entwicklung in der Bundesrepublik nicht in Einklang stehen würde". Die Westmächte erklär-ten sich bereit, Vorschläge für eine unparteiische Untersuchungskommission (anstelle der UN-Kommission) zu prüfen, machten aber zur Bedingung, daß sie Aussicht bieten müßten, die baldige Durchführung freier Wahlen zu fördern, und daß sie selbst die Überzeugung gewinnen müßten, daß „die sowjetische Haltung die Verhandlungen nicht wieder ergebnislos machen wird". Angesichts der nach dem Krieg mit den Sowjets gemachten Erfahrungen, aber auch in Erinnerung an die Pariser Vorkonferenz (5. März bis 22. Juni 1951), die nach 74 Sitzungen ergebnislos abgebrochen werden mußte, weil sich die stellvertretenden Außenminister der Vier Mächte nicht über die Tagesordnung für eine Außenministerkonferenz einigen konnten
Am 24. Mai 1952, also unmittelbar vor der für den 26. bzw. 27. Mai festgelegten Unterzeichnung des Deutschland-und des EVG-Vertrages, antwortete die Sowjetregierung. Sie warf den Westmächten vor, den Friedensvertrag mit Deutschland verschleppen und die Spaltung des Landes aufrechterhalten zu wollen und wiederholte ihre schon seit 1950 bekannten Thesen von dem „Komplott zwischen den revanchelüsternen herrschenden Kreisen Westdeutschlands und der nordatlantischen Staatengruppe". Dessenungeachtet schlug sie vor, unverzüglich gemeinsame Beratungen über die Fragen des Friedensvertrages, der Wiedervereinigung und der Bildung einer gesamtdeutschen Regierung zu beginnen. Sie blieb dabei, daß eine Viermächtekommission objektiv und unvoreingenommen die notwendigen vorbereitenden Prüfungen vornehmen könnte und ging auch nicht von ihrer Forderung nach nationalen Streitkräften ab. Ein Zurücktreten von der in der ersten Note erhobenen Forderung, nach der Gesamtdeutschland sich keiner gegen einen friedliebenden Staat gerichteten Koalition anschließen dürfe, schien sich aus dem Satz zu ergeben, daß „eine gesamtdeutsche Regierung, die den Friedensvertrag unterzeichnet, alle Rechte besitzen wird, über die die Regierungen anderer unabhängiger und souveräner Staaten verfügen". In Wirklichkeit behielt sich natürlich die Sowjetunion vor, die Grenzen dieser Souveränität im Friedensvertrag festzusetzen.
In ihrer dritten Note vom 10. Juli 1952 unterstrichen die Westmächte ihre Auffassung, daß eine Wiedervereinigung Deutschlands nur durch freie Wahlen zu erzielen sei und daß als wesentlicher erster Schritt dazu die für derartige freie Wahlen erforderlichen Voraussetzungen festgestellt werden müßten. Ihr Vorschlag lautete, zur Lösung dieser praktischen Frage eine Konferenz einzuberufen, die über die Zusammensetzung und Funktion einer mit jener Aufgabe betrauten Untersuchungskommission beraten sollte. Die Wiederherstellung des Viermächtekontrollsystems zu diesem Zweck wurde zurückgewiesen, da es nur „die augenblicklichen Meinungsverschiedenheiten der vier Mächte über die in der Bundesrepublik, in der sowjetischen Zone und in Berlin bestehenden Verhältnisse widerspiegeln könnte".
Darauf entgegnete die Sowjetunion am 23. August 1952 bei eindeutiger Verhärtung ihrer Position, eine internationale Kommission mache Deutschland nur zum Untersuchungsobjekt und sei folglich eine „Beleidigung der deutschen Nation", die seit über hundert Jahren Parlamentarismus mit allgemeinen Wahlen und organisierten politischen Parteien kenne. Ähnlich hatte sich auch schon der sowjetische Außenminister Wyschinski vor der UN-Vollversammlung geäußert, als er davon sprach, man könne Deutschland nicht wie eine rückständige Kolonie behandeln
Am 23. September 1952 wiederholten die Westmächte, daß eine Konferenz von dem einzigen Punkt auszugehen habe, nämlich „von der Organisierung freier Wahlen". Vor der Abhaltung von Wahlen könne weder eine gesamtdeutsche Regierung gebildet noch Deutschland vereinigt werden. Darauf antwortete die Sowjetunion nicht mehr. Die sowjetische Offerte wirft mehrere wesentliche Probleme auf, die wir im folgenden näher betrachten wollen: 1. Die Interessenlage und die seit 1950 praktizierte Politik der Sowjetunion; 2. die Frage der Neutralisierung Deutschlands;
3. die Frage der freien Wahlen;
4. die Frage nach der Ernsthaftigkeit des sowjetischen Angebotes.
4. Die Interessenlage und die seit 1950 praktizierte Politik der Sowjetunion
a) Interesse — konstituierender Faktor der Politik In der Politik wird nichts verschenkt. Eine einmal errungene strategische, wirtschaftliche oder politische Position, die der subjektiven Vorstellung von Sicherheit und Überlegenheit entgegenkommt, wird nicht ohne zwingenden Grund aufgegeben, es sei denn, man errechne sich aus einem zeitweiligen Verlust einen um so größeren Gewinn für später. Dies entspricht der Aufgabe jeder Regierung, die Interessen des eigenen Staates zu vertreten. Unter Interesse ist dabei mit Arnold Bergstraesser „die der Bildung des politischen Willens zugrunde liegende Sorge um Gegenwart und Zukunft der Daseinsstruktur des außenpolitisch vertretenen Volks-und Gesellschaftskörpers"
Damit ist noch nichts über die Chance der Wiedervereinigung und der ganzen damit zusammenhängenden Problematik ausgesagt, nur die Feststellung ist getroffen, daß die März-note einen instrumentalen Charakter besaß. Mit ihr war über den eigentlichen Inhalt hinaus eine bestimmte Absicht verbunden, die der Ministerpräsident der DDR, Otto Grotewohl, in seiner Regierungserklärung vom 14. März 1952 eindeutig aussprach: „In den ersten Kommentaren der westlichen Regierungskreise wie auch der amerikahörigen Presse wird die Note und der Entwurf der Sowjetregierung als ein . Manöver'bezeichnet, das den Zweck verfolgt, die Eingliederung Westdeutschlands in die . europäische Integration', den Geheralvertrag und die Errichtung einer faschistischen Wehrmacht in Westdeutschland zu verhindern. Aber
das ist doch kein Manöver, sondern der offen und ehrlich geäußerte Wille der Sowjetregierung."
Das Bestreben, die Einbeziehung der Bundesrepublik in den Westen zu verhindern, um dadurch eine effektive Integration Westeuropas unmöglich zu machen, fügt sich nahtlos in die seit Lenin verfolgte Linie der sowjetischen Außenpolitik, jeden Zusammenschluß von Staaten in Europa, dem die Sowjetunion selbst nicht angehört, als aggressiv und gegen sie gerichtet zu betrachten
Die bereits erwähnte Diskussion um einen deutschen Wehrbeitrag, die deutliche Tendenz, die Bundesrepublik enger an den Westen zu binden und der mit der Unterzeichnung des Nordatlantikpaktes (4. April 1949), der Errichtung des Europarates (4. Mai 1949) sowie der Verkündung des Schuman-Plans (9. Mai 1950) klar zutage tretende Wille der Westmächte nach enger Kooperation auf militärischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet veranlaßte die Sowjetunion, ihrerseits ein strategisches Konzept für ihre Außenpolitik zu formulieren, mit der Zielsetzung, die genannte Entwicklung zu unterlaufen. Das schwächste Glied in der Kette der Westmächte sah sie in der Bundesrepublik, die aufgrund ihrer exponierten Position, vor allem aber wegen der ungelösten nationalen Frage das erfolgversprechendste Betätigungsfeld für die sowjetische Politik zu sein schien. Als Hebel dazu diente die Parole der deutschen Einheit für den innerdeutschen Gebrauch und die Warnung an die Adresse der westeuropäischen Staaten vor dem „revanchelüsternen deutschen Militarismus". „Deutscher Militarismus" und „deutsche Einheit" waren diametral entgegengesetzte Begriffe des politischen Instrumentariums, mit dem die Sowjetunion ihre Ziele zu erreichen gedachte. „Remilitarisierung" bedeutete Krieg, „Friedensvertrag und Wiedervereinigung" bedeuteten Friede. In diesem Sinn äußerte sich Grotewohl am 8. Mai 1952: „Jeder Deutsche wird vor die Entscheidung gestellt, entweder Abschluß eines Friedensvertrages der vier Großmächte mit Deutschland — das ist der Friede; oder Adenauers Generalkriegsvertrag — das ist die Aufrichtung der Militärdiktatur in Westdeutschland und bedeutet erhöhte Kriegsgefahr, Bruderkrieg und einen dritten Weltkrieg."
Vereinigungspolitik. Zwischen den Erfolger und Mißerfolgen der westlichen Integrationspolitik und der sowjetischen Verhandlungsbereitschaft bestand eine Wechselbeziehung
Nachdem die französische Nationalversammlung am 25. Oktober 1950 den Pleven-Plan mit großer Mehrheit angenommen hatte, schlug die Sowjetregierung am 3. November vor, der Rat der Außenminister solle über die Durchführung der Entmilitarisierung Deutschlands beraten
September 1950) verwies nicht nur darauf, daß die Frage eines deutschen Verteidigungsbeitrages im Rahmen einer internationalen Streitmacht untersucht werde, es unterstrich auch ausdrücklich, daß die Beschlüsse der Konferenz einen wesentlichen Schritt vorwärts zur Wiederaufnahme Deutschlands in die Gemeinschaft Westeuropas darstellten
pte mit ihrem Höchstangebot, mit dem sich ie Sowjetunion zum erstenmal selbst ein-haltete, als die Verträge im Frühjahr 1952 nterschriftsfertig waren. Wie Gerhard Wetg ausführt, war anscheinend bereits im erbst 1951 in Moskau ein spektakulärer Wieervereinigungsvorschlag erwogen worden, er vermutlich verschoben worden war, als ie EVG-Verhandlungskrise vom Winter 351/52 zunächst keine Fortschritte in der rage des deutschen Verteidigungsbeitrages rwarten ließ
bn August 1953 bis Juli/August 1954 blieb ie Sowjetunion in allen entscheidenden Fraen unnachgiebig. In dieser Zeit wurden Roert Schuman in Frankreich und Alcide de lasperi in Italien gestürzt; in der Bundes-publik stand die Wahl zum zweiten Bunestag bevor; die europäische Einigung schien icht voranzukommen. Im Juli und August lachte die Sowjetregierung wiederum Vorchläge zur Schaffung eines europäischen Sinerheitspaktes und zur Deutschlandfrage, als ie Ratifizierungsdebatte in der französischen lationalversammlung in ihr entscheidendes tadium trat
Die Evidenz eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen der Ab-und Zunahme der sowjetischen Verhandlungsbereitschaft in der Deutschlandfrage und dem Mißerfolg und Erfolg im Prozeß der europäischen Einigung kann nicht bestritten werden. Unter diesem Aspekt erscheint dann die Märznote nicht als ein einmaliges, völlig aus der Linie sowjetischer Außenpolitik herausfallendes Ereignis, sondern vielmehr als eine besondere Spielart eben dieser Politik, eine Variante, die in Inhalt und beabsichtigter Wirkung der besonderen Situation im März 1952 entsprach.
Betrachten wir die sowjetische Deutschland-politik seit 1950, vor allem wie sie sich im Gewände der Initiativen der SED gestaltete, zusammen mit der seit Anfang des Jahres 1952 die DDR-Presse beherrschenden, groß angelegten Propagandaaktion für einen Friedensvertrag mit Deutschland
Es wäre natürlich ein Fehlschluß, wollte man bereits aus der Tatsache des in dem hier überblickten Zeitraum konstant verfolgten Zieles der sowjetischen Außenpolitik — nämlich einen Machtzuwachs des Westens durch die Eingliederung der Bundesrepublik zu verhindern — folgern, die Märznote sei bedeutungslos und ohne echte Chance für eine Regelung der deutschen Frage gewesen. Es ist durchaus denkbar, daß bei gleichem Ziel die dafür eingesetzten Mittel bzw. die Kompromißbereitschaft in der Deutschlandfrage unterschiedlich sein konnten. Boris Meissner hebt in diesem Sinn die interne Machtverschiebung im obersten Führungskreis der Sowjetunion noch zu Stalins Zeit hervor: Vom Herbst 1951 bis Frühjahr 1952 stützte sich Stalin vor allem auf Berija und Malenkow; seit April 1952 war eine Schwächung der Stellung Berijas festzustellen, die eine unmittelbare Stärkung Chruschtschows sowie der mit ihm verbundenen Richtung zur Folge hatte und zu einer Verhärtung der sowjetischen Deutschlandpolitik führte
Für unsere Analyse der Märznote muß folgendes festgehalten werden: Unter Berücksichtigung der theoretischen Möglichkeit, daß Stalin zum damaligen Zeitpunkt geneigt war, die nationalen deutschen Interessen stärker zu berücksichtigen — über die damit verbundene Frage der Ernsthaftigkeit seines Angebotes wird weiter unten zu sprechen sein —, ergibt sich aus der in diesem Kapitel skizzierten Strategie der sowjetischen Außenpolitik, daß kein verantwortlicher Politiker ohne weiteres jene Offerte für bare Münze nehmen konnte und durfte, weil der instrumentale Charakter der sowjetischen Deutschlandinitiativen immer wieder deutlich hervorgetreten war. Das im Gefolge der Ost-West-Auseinandersetzung entstandene Mißtrauen (auf beiden Seiten) konnte nicht durch einen aufsehenerregenden diplomatischen Schritt beseitigt werden. Der Politiker muß sich bei einem solchen Ereignis an Indizien halten und seiner Verantwortung gemäß entscheiden und handeln, ohne absolut sichere Kenntnis von den Absichten der Gegenseite zu haben. Was der Historiker später einmal unter günstigen Umständen als unveränderbare Vergangenheit zu rekonstruieren vermag, bietet sich dem Politiker als gestaltbare, aber darum auch ungewisse und risiko-reiche Zukunft dar.
5. Die Neutralisierung Deutschlands
Der entscheidende Gedanke des sowjetischen Friedensvertragsentwurfes war die Heraus-lösung der Bundesrepublik aus jeglichem Bündniszusammenhang mit dem Westen und ihre bewaffnete Neutralität. Zwei Fragen müssen dabei geklärt werden:
1. Wie ist das Angebot nationaler Streitkräfte zu verstehen?
2. Lag eine Neutralisierung Deutschlands damals im Bereich der Möglichkeiten? a) Nationale Streitkräfte und deutsche Neutralität in kommunistischer Sicht Das Zugeständnis nationaler Streitkräfte bedeutete eine besonders auffallende Wende in der sowjetischen Konzeption, nachdem zuvor die völlige Entmilitarisierung der Bundesrepublik ständig gefordert und die DDR immer als beispielhaft im Sinne des Potsdamer Abkommens dargestellt wurde. Die plötzliche Rehabilitierung des „deutschen Soldaten" im Verein mit dem Vorschlag nach nationalen Streitkräften für Deutschland war ein Appell an den deutschen Nationalismus, auf dessen Ansprechbarkeit und Kraft Stalin baute.
Nationale Streitkräfte wurden als Attribut echter staatlicher Souveränität beschrieben und damit auch gerechtfertigt. Damit nicht zu vereinbaren schienen allerdings die mit unverminderter Intensität fortgesetzten Angriffe gegen deutsche Streitkräfte und Soldaten, die in einer Europaarmee eingegliedert wären. Die „Prawda" äußerte sich am 12. März 1952 in einem Leitartikel dazu in der Weise: „Die Erhaltung der Spaltung Deutschlands dient lediglich den Friedensfeinden, denn sie schafft eine günstige Grundlage für die Wiedergeburt des deutschen Militarismus und für neue Revanche-und Aggressionsversuche von seiner Seite. Die Tatsachen zeigen, daß in den Westzonen Deutschlands die revanchelüsternen militaristischen Kräfte erneut ihr Haupt heben. Hier betätigen sich schon wieder die kriegslüsternen Ruhrmagnaten, diese unwandelbaren Inspiratoren und Organisatoren der deutschen Aggression. Hier sind erneut die Generale der ehemaligen Hitlerarmee auf der Bildfläche aufgetaucht, die darauf rechnen, unter der Flagge einer Teilnahme Westdeutschlands an der sogenannten . Europa-armee'die deutsch-faschistischen Streitkräfte wiederherzustellen. Die Gefahr einer Wiedergeburt des deutschen Militarismus, der zweimal einen Weltkrieg entfesselt hat, ist nicht beseitigt, da die entsprechenden Bestimmungen der Potsdamer Konferenz immer noch nicht erfüllt sind. Der Friedensvertrag mit Deutschland muß gewährleisten, daß jede Möglichkeit für die Wiedergeburt des deutschen Militarismus und der deutschen Aggression beseitigt wird."
Dieser scheinbare Widerspruch findet seine Erklärung, wenn wir einige authentische Interpretationen von kommunistischer Seite heranziehen. Nach den Ausführungen des Außenministers der DDR, Georg Dertinger, bedeutete die Aufstellung einer nationalen deutschen Armee keineswegs eine Gefahr für die Nachbarn Deutschlands, sondern im Gegenteil eine zusätzliche Garantie. Ein „demokratisches" Deutschland, in dem die Wurzeln jedes „Imperialismus und Revisionismus" ausgerottet sind, lasse sich nicht mehr für kriegerische Zwecke gegen andere Mächte mißbrauchen: „Man fragt, wie eine solche Bereitschaft in Einklang zu bringen sei mit der Kritik an den westdeutschen Remilitarisierungsabsichten. Auch hier wird bewußt verschwiegen, daß die Bereitschaft für die Errichtung nationaler Streitkräfte mit der Entwicklung und Sicherung einer demokratischen und friedliebenden Ordnung korrespondiert, da die innere Verfassung dieses neuen Deutschlands alle Kräfte eines Revisionismus, Chauvinismus, Imperialismus und Neofaschismus in den Wurzeln ausgerottet haben wird. Es liegt auf der Hand, daß es ein wesentlicher Unterschied ist, ob eine Militärmacht einem friedliebendem Volke oder einer imperialistischen und faschistischen Staats-führung anvertraut ist ... Wo Demokraten sind, kann kein Unfriede herrschen, wo Militaristen und Chauvinisten am Werke sind, gibt es keine Konstruktion, die die Anwendung der Gewalt auf die Dauer verhindern könnte."
Im Prager Rundfunk gab der tschechische Kommentator Vesely folgende Erklärung: „Die Sowjetregierung schlägt . . . vor, Deutschland eine Verteidigungsarmee zu erlauben. Welcher Unterschied ist zwischen einer Verteidigungsarmee und einer Angriffsarmee? Eine Angriffsarmee ist eine Armee, die den Imperialisten dient, eine Armee, die für Eroberungszwecke aufgestellt wurde. Eine Verteidigungsarmee dagegen ist eine Armee, die dem Volke dient und die das Vaterland gegen Angreifer verteidigt. Mit anderen Worten, wie es unser Verteidigungsminister gesagt hat, Waffen in den Händen der imperialistischen Ausbeuter bedeuten einen Krieg, Tod und Verderben. Waffen in den Händen der Friedenskämpfer machen eine Kriegführung unmöglich und bedeuten die wirkliche Waffenruhe."
Getreu der Leninschen Feststellung, daß der moderne Militarismus das Resultat des Kapitalismus ist, hob auch der damalige stellvertretende Ministerpräsident der DDR, Walter Ulbricht, hervor, daß Militär nicht einfach Militär sei, sondern daß der Charakter des Staates den Charakter der Armee bestimme: „Militaristisch sind jene Kräfte, die im Dienste der Rüstungsmillionäre, Bankherren und Großagrarier für die Zwecke der Unterdrückung des eigenen Volkes und der Durchführung aggressiver Ziele gegen andere Völker organisiert werden. Die Besonderheit des Militarismus in Westdeutschland besteht darin, daß er das werktätige Volk Westdeutschlands unter die Knute der amerikanischen und englischen Okkupanten pressen will. Der westdeutsche Militarismus ist der Todfeind der nationalen Interessen des deutschen Volkes, denn er steht im Dienste der Machthaber der USA, die Westdeutschland in ihr Kriegsaufmarschgebiet verwandeln und die westdeutschen Söldner als Kanonenfutter benutzen wollen. Militär ist also nicht einfach Militär. Entscheidend ist das Wesen der Staatsmacht, ob das Volk bestimmt, oder, wie in Westdeutschland, die Rüstungsmillionäre und Wehrwirtschaftslührer Hitlers. Von großer Bedeutung ist auch, wer die bewaffneten Kräfte führt. Sind es, wie in Westdeutschland, die alten Militaristen, oder sind es in einem künftigen einigen demokratischen Deutschland die besten Söhne des werktätigen Volkes, die als Offiziere der nationalen Armee ihre Heimat schützen. Von großer Bedeutung ist es, mit wem der Staat verbunden ist. Gehört er dem großen Weltfriedenslager an oder gehört er zur Staaten-gruppe des Atlantikpaktes?"
Bei diesen Bemühungen, eine dialektische Verbindung zwischen der Werbung für nationale deutsche Streitkräfte und der Agitation gegen eine Europaarmee mit deutschen Kontingenten herzustellen, offenbart sich die diesem Vorschlag zugrunde liegende Zielvorstellung: Nationale Streitkräfte werden deshalb ungefährlich sein, weil sie fest mit dem „Weltfriedenslager" verbunden und in einem Staat aufgestellt sind, in dem das Volk und nicht die Rüstungsmillionäre entscheiden und in dem alle üblen, sich aus dem Kapitalismus ergebenden Kräfte, vom Revisionismus bis zum Neofaschismus, beseitigt sein werden. Diese Verteidigungsarmee in den Händen der „Friedenskämpfer" wird dann die Wiedergeburt des deutschen Militarismus unmöglich machen. Zum „Weltfriedenslager" gehörten aber nach sowjetischer Lesart nur die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Staaten. „Friedenskämpfer" waren all die, die im Sinne der kommunistischen Ideologie handelten.
Die Neutralität Deutschlands sollte demnach eine prosowjetische Neutralität sein und seine innere Verfassung sollte der der DDR entsprechen, denn dort allein war die Regierung vom Vertrauen des Volkes (im Unterschied zur Bundesrepublik) getragen, wie Grotewohl an anderer Stelle ausführte
Zu dem gleichen Ergebnis kam auch der damalige jugoslawische Außenminister Kardelj auf dem VI. Parteikongreß der jugoslawischen KP im November 1952: „Die zweitwichtigste Quelle der heutigen Spannung ist die Deutschland-frage. Auch hier tritt die Sowjetpolitik in einer heuchlerischen Rolle auf, wobei sie die westliche Welt gerade mit den Losungen in Furcht versetzt, deren Verwirklichung sie selbst am wenigsten zu gestatten bereit wäre. Die Sowjetpolitik tritt mit Losungen von einer Einigung Deutschlands auf. Die Form jedoch, die sie für eine Einigung Deutschlands vorschlägt, zeigt deutlich, daß diese Einigung entweder ganz Deutschland unter den Einfluß der Sowjetregierung bringen soll, oder daß die Teilung endgültig bleibt. Da die sowjetischen Machthaber immerhin so klug sind, einzusehen, daß sie in der heutigen Phase nicht erwarten können, sich ganz Deutschland einstecken zu dürfen, geht ihre ganze Politik darauf aus, die endgültige Teilung Deutschlands festzulegen. Dies ist natürlich innerhalb Deutschlands und auch im Ausland unpopulär. Daher schreit die Sowjetunion der ganzen Welt die Ohren voll von der Notwendigkeit einer Einigung Deutschlands und tut praktisch alles nur Mögliche, damit es nicht zu dieser Einigung kommt.
. . . Ihre zweite Parole ist ein neutrales, unbewaffnetes Deutschland. Vor allem muß betont werden, daß ein neutrales Deutschland ein praktisch undurchführbarer Gedanke ist. Der grundsätzliche Gegensatz in der heutigen Welt duldet im Herzen Europas, also in Deutschland, kein Vakuum, kein Niemandsland. . . . Außerdem ist Deutschland keine Schweiz. Es ist ein großes Volk im Herzen Europas mit einem ungeheuren Wirtschaftspotential, das nicht umhin kann, in der internationalen politischen Arena eine selbständige Rolle zu spielen. Ein solches Deutschland aber stünde den sowjetischen hegemonialen Absichten als Hindernis im Wege, das weiß man in Moskau sehr gut, doch ebensowenig denkt man dort daran, ein demokratisches, neutrales Deutschland auf dem Wege der tatsächlichen demokratischen Wiedervereinigung zu schaffen. — Zwar spricht man von einem solchen Deutschland, doch geschieht dies, weil man in Moskau weiß, daß die westeuropäischen Länder diese Lösung aus dem einfachen Grunde nicht akzeptieren, weil sie kein Vertrauen in eine solche . Neutralität'haben."
Der genannte tschechoslowakische Kommentator bemerkte, die Sowjetunion habe Interesse an der Demokratisierung Deutschlands, was sie durch ihre Politik in Ostdeutschland bewiesen habe
Walter Ulbricht machte in anderem Zusammenhang detaillierte Angaben darüber, wie die politische Infrastruktur eines zukünftigen Gesamtdeutschland auszusehen habe. Seine Äußerungen datieren zwar vom 17. September 1953, aber es besteht kein Grund für die Annahme, daß die hier vorgetragenen, die Vorstellungen der SED sehr präzise und unzweideutig wiedergebenden Ausführungen im Jahre 1952 noch keine Gültigkeit gehabt hätten: „Deutschland muß ein einheitlicher, friedliebender, demokratischer, unabhängiger Staat sein. Im Interesse der Erhaltung des Friedens ist es notwendig, die amerikanischen Stützpunkte in Westdeutschland zu liquidieren und das Land an die Bauern zurückzugeben. Im Interesse der Sicherung der friedlichen Entwicklung werden die Bergwerke, die Hütten-werke und großen Chemiebetriebe, die im Besitze der Kriegstreiber sind, entschädigungslos in die Hände des Volkes übernommen. Im Interesse der Arbeiterschaft muß das reaktionäre Betriebsverfassungsgesetz außer Kraft gesetzt werden. Die Gewerkschaften sollen volle Freiheit ihrer Betätigung erhalten. Den Arbeitern, Angestellten und Beamten wird das volle Mitbestimmungsrecht in den Betrieben und auf allen Gebieten der Wirtschaft garantiert. Das Recht auf Arbeit wird verwirklicht. Durch den Abschluß von Außen-handelsverträgen wird die Produktion für den friedlichen Bedarf erhöht und die Arbeitslosigkeit beseitigt. .. . Die Steuergesetzgebung wird nach sozialen Gesichtspunkten geändert. Im Interesse der Bauern ist in den Dörfern Westdeutschlands die demokratische Entwicklung zu sichern. Eine gerechte Bodenreform ist durchzuführen. Der Boden der Großagrarier und Gutsbesitzer über 100 Hektar ist den Umsiedlern sowie den Klein-und Mittelbauern kostenlos zu übergeben. Die Lebensbedingungen der Landarbeiter sind entsprechend den Bestimmungen des Landarbeiterschutzgesetzes in der DDR zu verbessern. Für die Kleinbauern sind die Steuern und die Pachtzinsen herabzu-setzen. Aus dem Staatsapparat sind die Kriegsverbrecher und Kriegstreiber und früheren Mitglieder der SS zu entfernen. Die Gleichberechtigung der Frau im Familienrecht, im staatlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben wird gesetzlich garantiert. Frauen erhalten für gleiche Arbeit gleichen Lohn wie die Männer. Zur großzügigen Förderung der Jugend im Beruf, beim Studium, in der Ferien-und Freizeitgestaltung und im Sport wird ein Gesetz zur Förderung der Jugend geschaffen werden, das der gesamten deutschen Jugend die vollen demokratischen Rechte garantiert. Wir schlagen vor, daß in der Arbeiterschaft in Westdeutschland und in den Gewerkschaften diese Vorschläge für die Wiedervereinigung zur Aussprache gestellt werden."
Die Sowjetunion hätte nur einer deutschen Neutralität zugestimmt, die einer Ausdehnung ihres Einflußbereiches gleichgekommen und folglich keine Neutralität im objektiven Wortsinn gewesen wäre. Die immer wieder beschworene „völlige Harmonie" der Interessen des deutschen und sowjetischen Volkes
Die Auffassung von der möglichen Vermittlerrolle eines neutralen Deutschlands zum damaligen Zeitpunkt geht an den Realitäten vorbei. Zwischen Regierung und Opposition bestand eine weitgehende Übereinstimmung darüber, daß die Neutralisierung Deutschlands keine Lösung der anstehenden Probleme bringen konnte. Kurt Schumacher bezeichnete in einer Presseerklärung vom 14. Februar 1951 die übliche Diskussion über eine deutsche Neutralisierung als einen nicht unwichtigen Bestandteil der politischen und psychologischen Taktik der Sowjetunion mit dem Ziel der Schwächung und Lähmung der demokratischen Kräfte in Westdeutschland. Denn für die Neutralisierung eines geeinten Deutschlands fehlten die tatsächlichen Voraussetzungen. Jeder dahin zielende Versuch sei praktisch dem Mißbrauch durch den Kommunismus ausgesetzt. Die politische Neutralisierung eines geeinten Deutschlands, die auf eine von den Angelsachsen und den Sowjetrussen in ihrem eigenen Interesse gewollten Übereinkunft beruhe, sei ein Faktor, den zu schaffen oder den zu verhüten nicht in der Macht der Deutschen stehe. Eine solche Neutralisierung würde für das deutsche Volk den stärksten Zwang zur höchsten Wachsamkeit und Anpassung seiner demokratischen Kräfte bedeuten
Unter dem Eindruck der zweiten Sowjetnote modifizierte Schumacher seine Haltung in der Weise, als er Adenauer aufforderte, seinen Einfluß bei den Westmächten geltend zu machen, damit diese Frage auf einer Viermächtekonferenz untersucht würde
Der zur damaligen Zeit nicht selten anzutreffende Neutralismus vieler Deutscher entsprang nicht nur dem verständlichen Wunsch, von den Stürmen der politischen Auseinandersetzungen in der Welt verschont zu bleiben, er hatte auch einen Aspekt, den man als die Negativform eines imperialistischen Nationalismus bezeichnen könnte. Diese „Allesoder-Nichts-Haltung" führte zu der Alternative: wenn Deutschland über die anderen Völker nicht herrschen kann, dann solle es sich ganz auf sich selbst zurückziehen. Die Ablehnung politischer Partnerschaft und der Bereitschaft, mit den anderen Mächten in ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit zu treten, wurde dann mit der vagen Hoffnung auf Wiedervereinigung erklärt und gerechtfertigt.
Aber auch die Westmächte waren nicht bereit, das Risiko eines neutralen Deutschland einzugehen, das nach Abzug aller Besatzungstruppen leicht dem sowjetischen Einfluß erlegen wäre und damit das Mächtegleichgewicht wiederum zuungunsten des Westens verändert hätte. Andererseits hätte eine eigene nationale Streitmacht der Deutschen vor allem in Frankreich starke Befürchtungen hervorgerufen. Gerade dort war der „Rapallo-Komplex" keineswegs völlig überwunden. Es stand für alle französischen Parteien fest, daß Deutschland keine nationalen Streitkräfte mehr bekommen dürfe. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Märznote äußerte sich der ständige Vertreter Frankreichs bei der NATO zu diesem Problem: „Ein demokratisches Deutsch-land würde in dem Augenblick zu bestehen aufhören, in dem es wieder von einer nationalen Armee beherrscht wird. Deshalb waren wir durch die letzten sowjetischen Vorschläge so außerordentlich überrascht, weil diese im Endergebnis zum Wiedererstehen einer deutschen Nationalarmee und zur Rehabilitierung der Nazigenerale und damit zur Wiedergeburt des alten Militarismus führen müßten.“
Es wäre nicht realistisch gewesen, den Westmächten nahezulegen, in Verhandlungen mit der Sowjetunion eine bindungslose Unabhängigkeit, „das Arkanum unserer klassischen Politik und Verheißung für unsere Wirtschaft"
Dem immer wieder erhobenen Vorwurf gegen den blassen Realismus, der sich keine Mühe mache, über das Bestehende hinaus zu gelangen, der keine mit undogmatischem Handeln versehene Phantasie einsetze, um das Unmögliche weniger unerreichbar zu machen, muß entgegengehalten werden, daß Politik nicht nur der Leidenschaft, sondern auch des Augenmaßes im Sinne Max Webers bedarf. Beide Postulate müssen in einem sinnvollen Verhältnis zueinander stehen. In der damaligen Situation war es angebracht, sehr viel Augenmaß zu haben — und hierin trafen sich wieder alle verantwortlichen Politiker in Regierung und Opposition, trotz ihrer unterschiedlichen Reaktion auf die Märznote —, denn die Ungewißheit des möglichen Gewinnes war allen wohl bewußt.
Auch der amerikanische Publizist Walter Lippmann konnte für sich dieses Augenmaß in Anspruch nehmen. Zum einen sah er die Gefahr, daß die amerikanische Politik der Atlantischen Allianz dem nationalen Interesse Deutschlands zuwiderlaufen könnte, daß die Maßnahmen für die Verteidigung Westeuropas nicht die Teilung Deutschlands überwinden, sondern gerade aus deren Andauern funktionieren würden. Zum anderen erkannte er aber auch, daß in der sowjetischen Offerte die Gefahr enthalten war, daß das weitere Schicksal der deutschen Wiedervereinigung ganz an die Sowjetregierung übertragen würde, und daß sich die deutsche Politik aus dieser Erkenntnis heraus zur Neuorientierung gezwungen sähe und es auch tun würde. Einzig ein französisch-deutsch-polnisches Einvernehmen schien ihm eine Lösung dieses Dilemmas. Nur ein solches Konzept erachtete er als geeignete Voraussetzung dafür, daß nach dem Rückzug aller Besatzungstruppen ein wiedervereinigtes Deutschland nicht das Gleichgewicht in Europa bestimmen könnte und somit für eine der beiden Großmächte zum strategischen Vorteil würde. Allerdings war sich Lippmann wohl bewußt, daß diese Bedingungen für eine echte Lösung schwer zu erreichen waren und darüber hinaus viel Zeit benötigten
Solche differenzierenden Überlegungen, die die deutsche Frage in einen gesamteuropäischen, allen Interessen Rechnung tragenden Zusammenhang brachten, setzten auf beiden Seiten die Bereitschaft voraus, ganz neue Wege einzuschlagen, für die die damalige Zeit offensichtlich noch nicht reif war. Wie oben dargelegt wurde, hatte die Sowjetunion weit kurzfristigere Ziele; auch die Westmächte räumten der Konsolidierung ihrer Positionen Prioritätsrechte ein, die wiederum die zunehmende Selbstbestimmung der Bundesrepublik ermöglichten. Der Ost-West-Gegensatz und das daraus resultierende tiefgreifende Mißtrauen überschatteten in der politischen Praxis* jener Jahre alle solchen Überlegungen, wie sie etwa Lippmann vorbrachte.
Die Westmächte bestanden auf dem Recht eines einheitlichen Deutschlands, Bündnisse einzugehen, und zwar in der Gewißheit, daß dies eine prowestliche Orientierung zur Folge hätte. Die Sowjetunion forderte den Abzug aller Besatzungstruppen und die Neutralisierung Deutschlands durch einen Friedensvertrag, der für eine zukünftige gesamtdeutsche Regierung verpflichtend gewesen wäre, wiederum in der Gewißheit, daß dies eine pro-sowjetische Orientierung einleiten würde. In Anbetracht der im damaligen internationalen System vorherrschenden Machtstruktur konnte die primäre Absicht beider Seiten, ein vereintes Deutschland in den eigenen Einflußbereich zu ziehen, von beiden Seiten wiederum erfolgreich verhindert werden: „Die Machtrealitäten erlaubten keiner der beiden Seiten über ihre Interpretation dessen hinauszugehen, was eine gerechte Lösung des deutschen Problems sei."
Das Ergebnis dieser Überlegungen bestätigt die Beurteilung von Hans Buchheim, der schreibt: „Ein Land vermag prinzipielle politische Neutralität nur dann auf die Dauer zu bewahren, wenn es entweder einen so großen Machtfaktor bildet, daß es ihm gleich sein kann, ob die anderen ihm vertrauen, oder aber wenn es das unbedingte Vertrauen der Weltöffentlichkeit besitzt, wie etwa die Schweiz. In jedem anderen Fall läuft der Versuch, prinzipiell neutral zu sein, letzten Endes doch darauf hinaus, daß man dem Einfluß einer anderen Macht erliegt. Daher wäre, ganz gleich, was die Deutschen selbst gewollt hätten, eine Neutralisierung Gesamtdeutschlands für die Westmächte unannehmbar gewesen. Denn entweder wäre dieses Deutschland ziemlich schwach geblieben, dann wäre es dem Druck der Sowjetunion ausgeliefert gewesen, zumal die sowjetische Regierung das Neutralitätsangebot bereits so formuliert hatte, daß es auf eine Einbeziehung Gesamtdeutschlands in ihren Einflußbereich hinauslaufen mußte, oder aber dieses Deutschland wäre sehr stark geworden, dann hätten sich die Alliierten fragen müssen, wozu sie eigentlich den Zweiten Weltkrieg geführt haben, wenn am Ende wieder ein starkes und tatsächlich völlig unabhängiges Deutschland gestanden hätte, dem sie nach wie vor mißtrauten, das aber erneut nationalsozialistische Machtpolitik hätte treiben können. Die gleiche Überlegung galt, soweit es um wirkliche Neutralität ging, auch für die Russen. Chruschtschow hat später einmal gesagt, die Sowjetunion werde zwar immer stark genug sein, die Einhaltung des österreichischen Staatsvertrags zu erzwingen, ein wiedervereinigtes Deutschland dagegen könne man nicht mit einem Stück Papier'binden."
6. Freie Wahlen
a) Kritik am westlichen Beharren auf freien Wahlen Die Frage der freien Wahlen in Gesamt-deutschland, die in der Märznote noch nicht ausdrücklich erwähnt wurde, stand im Mittelpunkt des sich anschließenden Notenaustausches zwischen der Sowjetunion und den Westmächten. Das Beharren des Westens auf freien Wahlen als erster Schritt zur Wiedervereinigung, der vor Beginn der Friedensvertragskonferenz hätte, sowie die Forderungen zu einem unabhängigen nach Überwachungsgremium dieser Wahlen trafen später auf harte Kritik. Gustav Heinemann erklärte in der schon erwähnten Bundestagsdebatte, daß die Parole „zuerst freie Wahlen" genau den Weg zu diesen Wahlen verschließen mußte. Paul Sethe bezeichnete diese Losung als unpolitisch, da sie völlig das Wesen jeder diplomatischen Verhandlung verkenne, die darauf hinziele, den Partner nicht bloßzustellen, sondern zu einem Einverständnis zu bewegen und zu einer Unterschrift zu bringen. Seiner Meinung nach hätte das Sicherheitsinteresse der Sowjetunion weit stärker berücksichtigt werden sollen. Aus diesem Grund hätte mit der Sowjetunion zuerst über den Preis verhandelt werden müssen, den sie für die Aufgabe ihres deutschen Herrschaftsbereiches forderte oder bekommen sollte. Nachdem man sich über diese Frage geeinigt hätte, hätte das Gespräch über freie Wahlen beginnen sollen
Die hier geäußerte Kritik läßt sich auf folgende Formel bringen: Das Verlangen nach freien Wahlen als Voraussetzung von Verhandlungen war die Trumpfkarte des Westens, um die Sowjetunion in die Defensive zu drängen und zur gleichen Zeit die eigenen Pläne ungestört zu vollenden. b) Einheit und Freiheit Man wird Sethe Recht geben, wenn er davon spricht, daß sich die Kunst der Diplomatie dadurch auszeichnet, sich in die Vorstellungswelt anderer Mächte hineinzuversetzen, um auf diesem Wege die eigenen Interessen um so sicherer zu realisieren. Aber dies gilt für alle Parteien. In der damaligen Situation wollte vor allem die Sowjetunion „etwas" und machte ein entsprechendes Angebot, das aber eben bei dieser für Deutschland wesentlichen Frage kein Entgegenkommen zeigte. Wäre die oft angeführte Sicherheitsangst der Sowjetregierung wirklich so groß gewesen, daß sie ernsthaft bereit gewesen wäre, auf ihren deutschen Herrschaftsbereich zu verzichten, um dadurch die westlichen Verteidigungsanstrengungen als überflüssig zu enthüllen, so hätte es an ihr gelegen, durch eine intensive diplomatische Tätigkeit hier Klarheit zu schaffen.
Es ist keineswegs einzusehen, warum ein Staat wie die Sowjetunion eine wichtige strategische Position mit der Überlegung aufgeben sollte, daß dies ihrer Sicherheit diene. Eine rein deutsche Armee konnte objektiv gesehen für die Sowjetunion nicht weniger beunruhigend sein als die in einem übernationalen Rahmen eingebundenen deutschen Kontingente, es sei denn, sie wünschte ihren Einfluß in Deutschland ständig geltend zu machen — und dies war, wie wir gezeigt haben, tatsächlich ihre Absicht.
Sethe nennt an einer anderen Stelle den 12. August 1953, den Tag der ersten russischen Wasserstoffbombenexplosion, als die Wende in der Geschichte der jüngsten Entwicklung der Wiedervereinigung. Seither sei die Sowjetunion nicht mehr bereit gewesen, den Preis für die Befriedigung ihres Sicherheitsverlangens zu zahlen, weil sich ihr Selbstbewußtsein gestärkt hätte
Das Problem der freien Wahlen ist nicht im Vorfeld politischer Entscheidungen angesiedelt, wie Erdmenger meint, es ist nicht nach der jeweiligen taktischen Erfordernis auswechselbar, sondern es berührt das politische Selbstverständnis des deutschen Volkes. Wäre es nicht umgekehrt eine Zumutung gewesen, „auf eine frei gewählte, mithin auch frei abwählbare und somit politische Freiheit belassende Regierung verzichten zu sollen — es sei denn, wir hätten noch immer nicht gelernt, die politische Freiheit höher einzuschätzen als die nationalstaatliche Einheit"
Die von Otto Grotewohl am 15. September 1951 der Bundesregierung vorgeschlagene „Gesamtdeutsche Beratung der Vertreter Ost-und Westdeutschlands" zur Durchführung freier Wahlen nannte Kurt Schumacher eine neue Variante der seit Beginn des Jahres vorgenommenen Umgruppierung der ganzen kommunistischen Strategie und Taktik. Das Ziel des erstrebten Friedensvertrages sei die Schaffung Sowjetdeutschlands, die dominierende Rolle der Sowjets bei der internationalen Kontrolle der Ruhr und die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als endgültige Friedensgrenze. Um nicht in den Verdacht zu geraten, als seien die alliierten Bestrebungen zur westeuropäischen Integration wichtiger als die deutsche Einheit, dürfe man an der neuen Situation nicht einfach vorbeigehen, sondern müsse der anderen Seite klar sagen, was man unter Freiheit für Deutschland verstehe. Das ostdeutsche Angebot sei solange ohne Bedeutung, als die Sowjetunion sich nicht bereit erklärt habe, die Freiheit der Wahlen anzuerkennen. Freie Wahlen erforderten, daß praktisch die Freiheit der politischen Parteien und der Presse schon vorher ohne Risiko gegeben sein müsse, einschließlich der absoluten Verfügungsfreiheit einer dafür eingesetzten internationalen Organisation, am besten der UNO
Bereits zuvor hatte der Bundestag am 9. März 1951 in einer Entschließung, der nur die KPD und Vertreter rechtsradikaler Splittergruppen nicht zustimmten, freie Wahlen als Ausgangspunkt einer Wiedervereinigung bezeichnet und unmißverständlich den Charakter des erstrebten Gesamtdeutschlands definiert: „Grundlage dieser Einheit ist der Aufbau des Rechtsstaates in freier Selbstbestimmung, der jedem Einwohner Deutschlands die volle persönliche staatsbürgerliche Freiheit und Gleichheit sichert. Wir wollen, daß ganz Deutschland ein Rechtsstaat ist, in dem freie Menschen ohne Furcht in Verantwortlichkeit füreinander leben, kein Zwangsstaat einer herrschenden Partei mit ihrem politischen, wirtschaftlichen und geistigen Terror."
In der Märznote finden sich in diesem Zusammenhang zwei wichtige Punkte. Einerseits sollten den demokratischen Parteien und Organisationen freie Betätigung gewährleistet sein.
Sie sollten das Recht haben, über ihre inneren Angelegenheiten frei zu entscheiden, Tagungen und Versammlungen abzuhalten, Presse-und Publikationsfreiheit zu genießen. Andererseits wurden diese Rechte durch folgenden Satz eingeschränkt: „Auf dem Territorium Deutschlands dürfen Organisationen, die der Demokratie und der Sache der Erhaltung des Friedens feindlich sind, nicht bestehen." Damit gedachte sich die Sowjetunion eine Rechtsgrundlage zu schaffen, um jederzeit in die inneren Angelegenheiten Deutschlands eingreifen zu können, wenn sie dies für nötig hielt.
An freien Wahlen konnten also nur solche Organisationen teilnehmen, die „friedliebend und demokratisch" waren. Im Wahlgesetzentwurf der Volkskammer vom 9. Januar 1952 lautete der entsprechende Punkt: „Alle demokratischen Parteien, Organisationen und Vereinigungen haben die gleiche Freiheit für ihre Betätigung. Sie haben das Recht der Aufstellung von Kandidaten für die Nationalversammlung und die volle Freiheit der Wahl-agitation."
Betrachtet man wiederum die Regierungserklärung Grotewohls vom 14. März 1952, so bekommt jener Satz ein deutliches Relief. Da Grotewohl zufolge die Bundesrepublik auf dem Wege zur Militärdiktatur war, ergab sich daraus die Notwendigkeit, gewisse Veränderungen durchzuführen, damit die freie Tätigkeit der demokratischen Parteien wirklich gewährleistet würde, so wie dies seiner Darstellung entsprechend in der DDR der Fall sei:
„Es ist doch für uns alle klar, daß der Militarismus und der Revanchegeist, der in Westdeutschland sein Haupt erhebt, sich jetzt schon wieder auf dem Wege des Angriffs auf die demokratischen Freiheiten des deutschen Volkes befindet. Die verfassungsfeindlichen Handlungen des Bonner Kanzlers Adenauer, der hinter dem Rücken des deutschen Volkes mit den Oberkommissaren Verhandlungen über den Abschluß eines versklavenden und kriegerischen Generalvertrages führt, die Verfolgungen der Anhänger des Friedens und der Demokratie in Westdeutschland zeugen von der Entwicklung zu einer offenen Militärdiktatur. Das zeigt uns aber auch, wie notwendig die Errichtung eines wirklich friedliebenden Deutsch-land ist, in dem allen deutschen Bürgern demokratische Freiheiten und die Gleichberechtigung ohne Unterschied der Rassen, des Geschlechts oder der Religion gewährleistet sind und in dem die freie Tätigkeit der demokratischen Parteien und Organisationen sowie die Presse-und Verlagsfreiheit gesichert sein muß. Von selbst versteht sich, daß ferner Maßnahmen getroffen werden müssen, die die Tätigkeit von Organisationen, die der Demokratie und der Sache der Erhaltung des Friedens feindlich sind, ausschalten."
Die Alternativmöglichkeiten sahen demnach folgendermaßen aus: Entweder gingen die Westmächte von ihrer Forderung nach einer unabhängigen Kontrollinstanz für die Wahlen nicht ab, dann bedeutete dies, daß die Sowjetregierung die angebotenen freien Wahlen nicht stattfinden lassen würde, denn sie konnte eine Desavouierung ihrer bisherigen Politik in der DDR durch deren Bürger vor den Augen der Welt nicht hinnehmen, oder die Westmächte akzeptierten eine Viermächtekontrolle, dann hätte die Sowjetregierung zumindest für ihre eigene Zone bestimmt, welche Parteien zugelassen würden und wie ihre Zusammensetzung auszusehen hätte; es hätte sich die Farce einer freien Wahl abgespielt. Die Zwischenlösungen und schillernden Übergänge, die sonst gerade das Wesen der Diplomatie ausmachen, konnten hier nicht zur Wirkung gebracht werden, da sich in der Wahlfrage die nicht überbrückbaren Gegensätze zwischen den beiden Lagern kristallisierten. Eine Lösung konnte es nur geben, wenn eine der beiden Großmächte auf die eigenen Forderungen verzichtet hätte. Wir haben gezeigt, daß dies nicht der Fall war.
Es besteht kein Grund anzunehmen, daß sich die kommunistische Vorstellung von freien Wahlen in dem hier überblickten Zeitraum verändert hätte. Die Ausführungen Grotewohls sprechen bereits eine beredte Sprache. Sollten auch angesichts dieser Erklärung noch Zweifel bestehen, dann ist ein Artikel des Kultusministers der DDR, Johannes R. Becher, vom 15. Februar 1954 geeignet, sie gänzlich zu zerstreuen. Er nannte die Wahlen in Westdeutschland „Wahlen besonderer Art", die man nicht als frei bezeichnen könne, da sich die Wahlmaschinerie, der umfangreiche, vielschichtige Propagandaapparat, im Besitz der herrschenden Klasse befinde: „Selbstredend kann unter solchen Umständen in Westdeutschland von freien Wahlen nicht die Rede sein, solange nicht alle diejenigen Kräfte von der Vorbereitung und der Durchführung der Wahlen ausgeschaltet sind, die keineswegs ein Interesse daran haben, daß die wirk liche 85a) Volksmeinung durch die Wahlen zum Ausdruck kommt, sondern nur das eine Interesse, daß durch diese Wahlen ihre Herrschaft ein scheinbar demokratisches Gepräge erhält. Der demagogische Charakter der westdeutschen Wahlen ist für jeden, der hinter die Kulissen sieht, offenbar." Becher fordert demgegenüber „wirklich" freie Wahlen, bei denen alle die genannten kapitalistischen Bestandteile fehlen oder, wie er es ausdrückt, bei denen „alle solche eine freie Volksentscheidung störenden Elemente ausgeschaltet werden". Dafür sollten die „wirklich demokratischen Organisationen" für die Wahlen verantwortlich sein. „In der Deutschen Demokratischen Republik können wir von derartigen Entstellungen der freien Meinungsäußerung anläßlich von Wahlen nicht sprechen. Durch die Enteignung des Großgrundbesitzes und die Entmachtung der Kriegsverbrecher und des Monopol-kapitals ist die Grundlage zu wirklich freien Wahlen geschaffen. Wir stehen nicht an, uns mit solchen wahrhaft freien Wahlen für Gesamtdeutschland einverstanden zu erklären. Wenn die Garantie gegeben ist, daß das deutsche Volk wirklich so wählt, wie es seinen Interessen entspricht, wenn die deutschen Menschen wahrhaft frei wählen, dann kann es keinem, der sein deutsches Vaterland von ganzem Herzen liebt, um das Wahlresultat bange sein. Diese Wahlen allerdings werden anders ausfallen, ganz anders als diejenigen, die Herr Adenauer und der deutsche Imperialismus für wünschenswert halten."
Im Lichte solcher Erläuterungen verlieren die im ersten Teil dieses Kapitels angeführten Argumente, wonach das westliche Beharren auf freien Wahlen falsch gewesen sei, viel von ihrer Wirklichkeitsbezogenheit. Freie Wahlen, so wie sie in einem demokratischen Staatswesen üblich sind, hätten zum damaligen Zeitpunkt auf jeden Fall das Ende der kommunistischen Herrschaft in der DDR bedeutet — und das auf eine besonders aufsehenerregende Weise. Auch wenn die Wahlen erst am Ende der Verhandlungen gestanden hätten, nach der Festlegung des zukünftigen Status Deutschlands, hätte sich die Sowjetunion den Prestigeverlust durch ein freies Votum nicht leisten können. Es ist vorstellbar, daß eine Großmacht aus freien Stücken auf eine bisher verteidigte Position verzichtet und sich zurückzieht, es entspricht jedoch keineswegs den Gepflogenheiten von Großmächten, sich die politische Niederlage durch Wahlzet-* tel in aller Öffentlichkeit bestätigen zu lassen. Diese Überlegungen, aber vor allem auch die zitierten authentischen Interpretationen kommunistischer Politiker unterstreichen die damals gegebene Unmöglichkeit, freie Wahlen in ganz Deutschland durchzuführen. Von freien Wahlen aber Abstand nehmen, das heißt der Verzicht auf die Freiheit um der Einheit willen, das konnte aus dem politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik und ihrer demokratischen Parteien nicht zur Diskussion stehen.
7. Die Ernsthaftigkeit des sowjetischen Angebotes
Weder die Frage der Neutralisierung Deutschlands noch die der freien Wahlen trafen in der Bundesrepublik auf grundsätzlich konträre Beurteilung. Der eigentliche Streitpunkt zwischen den Parteien lag darin, ob Stalins Angebot nicht doch eine Wiedervereinigungschance nach den Vorstellungen der deutschen Politiker enthielt. a) Unterschiedliche Beurteilung Während Gustav Heinemann die Märznote als eine ernst zu nehmende Verhandlungsgrundlage bezeichnete und hinzufügte, er glaube in politischen Dingen gar nichts, aber er sei bereit auszuprobieren
Diese zum damaligen Zeitpunkt von Adenauer an den Tag gelegte mangelnde Bereitschaft, die Gegenseite, ihre Interessen und Schwächen abzutasten — die zentrale Aufgabe jeder Außenpolitik —, sei, so meint Karl Dietrich Bracher, Ausdruck einer negativen Abwehr schon im Vorfeld des Notenkrieges gewesen und Beweis für eine Politik „der starken, starren Defensive" und für „das unbewegliche, juristisch und institutionell verankerte Festhalten an einer einzigen Wiedervereinigungsstrategie, die doch gerade positive Stärke, Initiative, Befreiungsversuche mit politischen Mitteln verlangt hätte" 89a).
Nachdem die Sowjetregierung in ihrer zweiten Note angeboten hatte, die Frage der Durchführung freier gesamtdeutscher Wahlen zu erörtern und die Prüfung ihrer Voraussetzungen einer Viermächtekommission zu übertragen, kam die Sozialdemokratische Partei zu der Überzeugung, daß dieses Angebot aufgegriffen und auf seine Echtheit hin überprüft werden müßte. Kurt Schumacher schrieb am 22. April 1952 an Adenauer, es dürfe nichts unversucht bleiben, um festzustellen, ob die Sowjetnote eine Möglichkeit biete, die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit durchzuführen. Dazu seien Vier-Mächte-Verhandlungen notwendig. „Wenn sich dabei herausstellen sollte, daß auch nach den letzten Noten der Sowjetregierung nicht die Möglichkeit gegeben ist, durch eine Vier-Mächte-Übereinkunft die Voraussetzung für freie Wahlen in den vier Zonen und Berlin zu gewährleisten, dann wäre doch auf jeden Fall klargestellt, daß die Bundesrepublik keine Anstrengung gescheut hat, um eine sich bietende Chance zur Wiedervereinigung Deutschlands und Befriedung Europas auszunützen."
Nach Schumacher sollten die Kommunisten nicht mehr länger mit der Einheitsparole operieren können, sondern dazu gebracht werden, ihre Karten auf den Tisch zu legen. Um dies zu erreichen, schien ihm eine Viermächtekommission (bei der allerdings gewährleistet sein müßte, daß keine deutsche Partei benachteiligt oder bevorzugt werden könnte) akzeptabel. Der SPD-Vorsitzende stellte also keineswegs die Behauptung auf, daß das sowjetische Angebot eine wirkliche Wiedervereinigungschance biete, sondern er regte nur eine Prüfung an, um eindeutig feststellen zu können, was die Sowjetregierung wirklich wollte. Die Unterzeichnung der beiden Vertragswerke sollte daher solange zurückgestellt werden, bis absolute Gewißheit über die sowjetische Absicht bestünde. „Die Wahrheit wirklich mit äußerster Klarheit festzustellen'1
Adenauer sprach sich zwar auch für eine Prüfung durch Verhandlungen aus, aber nicht um den Preis eines Unterzeichnungsstopps der Verträge: „Ich jedenfalls werde alles tun, was in meinen Kräften steht, um jede irgendwie vorhandene gesamtdeutsche Chance auszunutzen. Aber niemand kann von mir erwarten, daß die Bundesregierung heute auf ihre Europapolitik verzichtet, oder daß sie sich damit einverstanden erklärt, eine gesamtdeutsche Regierung vor ihrem Bestehen auf einen solchen Verzicht festzulegen."
Natürlich stößt eine theoretische Überlegung auf wenig Schwierigkeiten, die davon ausgeht, daß die Vertragsunterzeichnung einige Zeit hätte aufgeschoben werden müssen, während der die wahren Absichten der Sowjetunion in Viermächteverhandlungen hätten erkundet werden können. Die sowjetischen Politiker hätten sich damit unter dem Zwang befunden, eine deutliche Sprache zu sprechen. Flätte sich ihr Angebot als Bluff oder als unbefriedigend erwiesen, dann hätte man zwar einige Zeit verloren, aber dafür die Gewißheit eingehandelt, keine Chance versäumt zu haben. Die Verträge hätten dann immer noch, und jetzt mit gutem Gewissen, unterzeichnet werden können. Dies ist natürlich eine ganz und gar unpolitische Überlegung, die die spezifische Situation, in der jene Entscheidung zu treffen war, überhaupt nicht beachtet.
Es ist ein Irrtum, zu glauben, im politischen Bereich gäbe es eine objektive Wahrheit, wie etwa in der Mathematik, die ungeachtet, ob man sie sucht oder nicht, existiert, die es also nur zu finden gilt, um völlige Gewißheit zu erlangen. So ergibt das Produkt zweier negativen Größen eine positive, ganz gleich, ob der mit dem Problem Beschäftigte darauf kommt oder nicht. In der Politik allerdings kann man nicht davon ausgehen, daß die Lösung eines Problems bereits a priori feststeht. Sie kann bereits schemenhaft vorgegeben sein, ihre greifbare Gestalt gewinnt sie jedoch erst im Verlaufe des politischen Prozesses unter dem Einfluß von jeweils ganz unterschiedlich wirksamen Faktoren, wie Interesse, Grundüberzeugung, Verhandlungsführung.
Auf unseren konkreten Fall bezogen soll dies besagen: Die objektive Wahrheit über Stalins Absicht konnte gar nicht gefunden werden. Vielmehr hätten Verhandlungen die Aufgabe gehabt, Stalin auf eine unzweideutige Aussage festzulegen, wie er es mit freien Wahlen im westlichen Sinn halte. Niemand aber, der in Verhandlungen vorgibt, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, welches er in Wahrheit gar nicht erstrebt, kann gezwungen werden, dies expressis verbis zu erklären. Die geforderte Aussage besteht aus einem Kern des unabänderlichen Willens und umstandsbezogener Erwägungen. Daraus ergibt sich, daß die sowjetischen Politiker auf jeden Fall versucht hätten, mit einer klaren Äußerung zu den vorgelegten Fragen möglichst lange hinter dem Berg zu halten, um ein Höchstmaß an Entgegenkommen durch den Verhandlungspartner zu erreichen. Nur so wäre ja für sie eine Konferenz sinnvoll gewesen. Die Konferenz hätte sich in die Länge gezogen, ganz nach sowjetischem Belieben; der westeuropäische Integrationsvorgang wäre in den Hintergrund des öffentlichen Interesses gerückt — er hätte Anziehungskraft und Anhänger verloren. Ein Nach-* lassen auf der Integrationsebene hätte jedoch sofort eine Schwächung auf der Wiedervereinigungsebene zur Folge gehabt, da die Sowjetunion dann schon einen Teil ihres Zieles erreicht hätte und demgemäß ihren eigenen Preis herabdrücken konnte. Die Möglichkeit, zur gleichen Zeit auf beiden Ebenen zu agieren, bestand nicht, weil die Sowjetunion ja gerade die Einbeziehung der Bundesrepublik in den Westen verhindern wollte, weil aber auch die Westmächte nicht bereit sein konnten, die Integration nur pro forma weiterzutreiben, um sie dann zur gegebenen Zeit wieder rückgängig zu machen. c) Die Dimension des Risikos Hinzu kommt noch ein weiterer Punkt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß das Interesse der Westmächte eindeutig auf die Konsolidierung Westeuropas gerichtet war, nachdem sich eine Lösung der Deutschland-frage in Zusammenarbeit mit der Sowjetunion als unmöglich erwiesen hatte. Wenn Adenauer versucht hätte, nach den langwierigen Verhandlungen mit den Westmächten plötzlich eine zweigleisige Politik zu treiben, so hätte dies sofort das immer noch latent Vor-hände Mißtrauen geweckt. Die Westmächte waren entschlossen, Deutschland die Freiheit zur Schaukelpolitik nicht zuzugestehen. Wenn daher von einer bundesrepublikanischen „Politik der Einbahnstraße"
Man könnte an dieser Stelle einwenden, daß die Westmächte 1959 im sogenannten Herter-Plan zwei der ehemaligen sowjetischen Forderungen aufnahmen (Einsetzung eines gemischten deutschen Ausschusses und einer Überwachungskommission entweder zusammengesetzt aus UN-Personal oder Vertretern der Vier Mächte zusätzlich deutscher Mitglieder) und von der zuvor immer vertretenen Priorität freier Wahlen Abstand nahmen
Die Behauptung von der stärkeren Berücksichtigung der nationalen deutschen Interessen durch Stalin in jener Zeit ist in mehrfacher Hinsicht anfechtbar. Zwar antwortete Stalin bei einem Interview am 31. März 1952 auf die Frage, ob er den gegenwärtigen Zeitpunkt für eine Vereinigung Deutschlands geeignet halte, daß er dieser Meinung sei
Die Märznote muß auch im Zusammenhang mit den der UNO vorgelegten sowjetischen Abrüstungsvorschlägen vom 19. März 1952 gesehen werden, in denen das gleichzeitige Verbot der Atomwaffen und die proportionale Herabsetzung der konventionellen Streitkräfte um ein Drittel (im Laufe eines Jahres) gefordert wurden
Die von Meissner angeführten diplomatischen Schritte der Sowjetunion gegenüber Norwegen, Italien, der Türkei, der Schweiz und Schweden
Wenn Stalin in seiner Schrift vom sicheren Wiederaufstieg Deutschlands sprach, so dachte er mit großer Wahrscheinlichkeit an Westdeutschland. Er schrieb: „Es fragt sich, welche Garantien es gibt, daß Deutschland und Japan nicht wieder auf die Beine kommen, daß sie nicht versuchen werden, aus der amerikanischen Knechtschaft auszubrechen und ein selbständiges Leben zu führen? Ich denke, solche Garantien gibt es nicht. Daraus folgt aber, daß die Unvermeidlichkeit von Kriegen zwischen den kapitalistischen Ländern bestehen bleibt."
Es ist schließlich nicht einzusehen, wieso die unbestreitbar konstruktivere Deutschlandpolitik Berijas und Malenkows unmittelbar nach dem Tode Stalins — einer Phase, in der es, wie wir aus einer Rede Chruschtschows aus dem Jahre 1963 wissen
Diese diplomatischen Zeichen wurden von westlicher Seite sogleich verstanden. Der Präsident der Vereingten Staaten, Eisenhower, deutete an, daß er in der sowjetischen Haltung eine gewisse Lockerung zu bemerken glaubte
Wenn Klaus Erdmenger das Gefüge der Außenpolitik in der Bundesrepublik als so starr und ohne Möglichkeit der Korrektur bezeichnet, weil die Bundesregierung und Koalition einseitig auf die der Bundesrepublik förderliche westliche Integrationspolitik fixiert, die Opposition aber eindeutig nach rückwärts festgelegt gewesen sei
Wer allerdings den mathematischen Beweis im Bereich des Politischen fordert, wird auch mit unserer Argumentation nicht zufrieden sein. Ihm muß jedoch entgegengehalten werden, daß es absolut theoretische Gewißheit in einer originär politischen Situation überhaupt nicht geben kann — einer Situation, in der sich mehrere Entscheidungsmöglichkeiten anbieten, die unter dem Gesichtspunkt von Risiko und Chance gegeneinander abgewogen werden müssen. Die Folgen des nicht gewählten Weges lassen sich nicht verstandesmäßig erfassen; ihre Irrelevanz ist daher auch nicht schlüssig zu beweisen. Der Bereich des theoretisch Denkbaren ist immer größer „als der Bereich dessen, was sich praktisch als Unmöglichkeit erweisen läßt. Jemand, der in seiner Jugend durchs Examen gefallen ist, kann im Alter immer eine theoretische Kausalkette entwikkeln, wonach er Landesgerichtsdirektor geworden wäre, wenn er nur seinerzeit das Examen bestanden hätte; kein Mensch ist in der Lage, ihm diese theoretische Möglichkeit mit absoluter Gewißheit zu widerlegen. Es ist dieses . Niemandsland'zwischen theoretisch möglicher Behauptung und dem schlüssig Widerlegbaren, in dem sich politische Illusionen und historische Legenden anzusiedeln pflegen."
Literatur
Achminow, Herman: Die sowjetische Deutschlandpolitik in den Jahren 1952/53: Einwände und Ergänzungen, in: Osteuropa, 14. Jg. 1964, H. 4, S. 251— 257.
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