Vorbemerkung
Die nachfolgenden Darlegungen verfolgen in erster Linie didaktische Ziele. Der Verfasser hat sich bemüht, den Lehrern der Gemeinschaftskunde an Gymnasien einige Anregungen zu übermitteln, die bei der Erörterung des Demokratieproblems sich als nützlich erweisen mögen. Hierbei ging er von der Erwägung aus, daß die Gemeinschaftskunde sich nicht — als eine Art Neuauflage der Staatsbürgerkunde der Weimarer Zeit — damit begnügen darf, das bestehende Regierungssystem zu erläutern, wenn nicht gar unkritisch zu rechtfertigen. Im Mittelpunkt einer jeden politikwissenschaftlich ausgerichteten Gemeinschaftskunde muß heute vielmehr der Versuch stehen, auf vergleichender Basis die kennzeichnenden Merkmale der beiden auf deutschem Boden bestehenden Regierungssysteme unvoreingenommen herauszuarbeiten. Dies kann jedoch nicht erfolgen, ohne kritisch die Einwände zu berücksichtigen, die die , Neue Linke'an den Kriterien übt, durch die sich nach ihren eigenen Aussagen die Regierungssysteme der Bundesrepublik Deutschland und der DDR voneinander unterscheiden. Angesichts der lautstarken Verdammung beider Systeme durch die Neue Linke sollte sich der Unterricht in Gemeinschaftskunde weder dazu verleiten lassen, die nach wie vor fundamental wichtigen Unterschiede zwischen den Demokratievorstellungen der BRD und der DDR zu bagatellisie-ren, noch in den Fehler verfallen, durch Über-betonung dieser Differenzen die Herausforderung zu überhören, die in den Attacken gegen traditionelle Demokratievorstellungen, gleichgültig, ob sie westlich oder östlich der Elbe-Werra-Linie vorherrschen, zum Ausdruck gelangen.
A. Die Wahl-und Organisationsprinzipien der BRD und der DDR
A. B. C. D. E. Die Wahl-und Organisationsprinzipien in der BRD und DDR I. II. III. Die Strukturprinzipien der BRD und DDR Die DDR I. II. III. I. II. III. INHALT Freiheit der Wahl ihrer Regierungssysteme Die Konnexinstitute des freien Wahlrechts Die Verfassungsrealität Legitimitätsprinzipien Der Begriff 1. 2. 3. 4. der als Unterscheidungsmerkmal der der Organisationsautonomie BRD demokratischen und Legitimität Verfassungsrechtliche Verankerung der demokratischen Legitimität Autonome und heteronome Legitimitä
A. B. C. D. E. Die Wahl-und Organisationsprinzipien in der BRD und DDR I. II. III. Die Strukturprinzipien der BRD und DDR Die DDR I. II. III. I. II. III. INHALT Freiheit der Wahl ihrer Regierungssysteme Die Konnexinstitute des freien Wahlrechts Die Verfassungsrealität Legitimitätsprinzipien Der Begriff 1. 2. 3. 4. der als Unterscheidungsmerkmal der der Organisationsautonomie BRD demokratischen und Legitimität Verfassungsrechtliche Verankerung der demokratischen Legitimität Autonome und heteronome Legitimitä
I. Freiheit der Wahl als Unterscheidungsmerkmal ihrer Regierungssysteme
Das Bemühen, die Ursachen der Zweiteilung Deutschlands und die Möglichkeit ihrer Über-windung zu begreifen, darf sich nicht darauf beschränken, die außenpolitischen Faktoren aufzuzeigen, die bewirkt haben, daß aus der Demarkationslinie zwischen militärischen Besatzungszonen ein „Eiserner Vorhang" geworden ist, durch den die deutsche Nation in zwei, verschiedenen Weltblöcken angehörige, staatliche Gebilde geteilt ist. Nicht minder wichtig ist es, die kennzeichnenden innerpolitischen Merkmale aufzuzeigen, durch die die Bundesrepublik und die Deutsche Demokrati-sehe Republik sich voneinander unterscheiden. Die Standardantwort auf die Frage, worin der wesenmäßige Unterschied dieser Regierungssysteme zu suchen ist, lautet, daß die Regierung westlich der Elbe-Werra-Linie und der Mauer auf „Freien Wahlen" beruhe, während dies für das Ulbricht-Regime nicht zutreffe. So richtig diese Aussage auch sein mag, so dringend bedarf sie einer vertieften Analyse.
Um einer Wahl das Prädikat „frei" zuzuerkennen, genügt es nicht, daß sie ohne äußeren Druck und Zwang, ohne Fälschung, Betrug und Bestechung durchgeführt wird. Nicht minder bedeutsam ist es, daß den Wahlberechtigten de facto und de jure die uneingeschränkte Möglichkeit gewährt wird, sich ungestört zu Kollektivaktionen zusammenzuschließen, daß den „Parteien" genannten Wählervereinigungen volle Autonomie gewährt wird und daß in den zwischen diesen Parteien ausgetragenen Wahlkämpfen ein fairer Wettbewerb herrscht. Formell unterscheiden sich die Wahlverfahren der BRD und der DDR kaum voneinander. Formell besteht auch in Mitteldeutschland ein Mehrparteiensystem. Der formell bestehenden Befugnis der Bewohner der DDR, an der Bestellung von Abgeordneten der Volkskammer durch Abgabe von Stimmzetteln mitzuwirken, entspricht jedoch nicht die Möglichkeit, sich zwischen verschiedenen Alternativen zu entscheiden, das heißt aber zu „wählen". Der paradoxe Charakter der Abstimmungszeremonien der totalitären Staaten offenbart sich am deutlichsten in der symptomatischen Tatsache, daß sie Wahlen ohne Alternativen sind.
Vom politikwissenschaftlichen Gesichtspunkt aus gesehen, bedeutet Freiheit einer Wahl das kontradiktorische Gegenteil einer als Abstimmung kaschierten Akklamation zugunsten einer de facto Monopolorganisation und deren Agenten.
Freiheit der Wahl erschöpft sich nicht in der ungestörten Ausübung des Wahlrechts. Zur Freiheit der Wahl gehört auch, daß der Wahlberechtigte ein Mitbestimmungsrecht bei der Konzipierung, Formulierung und Propagierung der Alternativlösungen besitzt, die „zur Wahl" stehen. Er darf nicht darauf beschränkt sein zu entscheiden, welchem der aufgestellten Kandidaten der Wähler seine Stimme geben will. Er soll auch einen Einfluß darauf nehmen können, wer als Kandidat aufgestellt wird. Freiheit der Wahl vermag nur dann als geeignetes Kriterium für den unterschiedlichen Charakter des demokratischen Regimes der BRD und des scheindemokratischen Regimes der DDR zu dienen, wenn die Durchführung der einzelnen Wahlen nicht als isolierter Vorgang, sondern als ein Teilausschnitt aus einem kontinuierlichen Prozeß begriffen wird. Freiheit der Wahl bedeutet mehr als Ordnungsmäßigkeit der Wahl; sie bedeutet Überein-stimmung mit den Wertvorstellungen, die untrennbar mit dem Begriff „Freiheit" verbunden sind. Darum reicht es nicht aus, sich auf die Analyse der mehr rechtstechnischen Bestimmungen der Wahlgesetze zu beschränken. Es ist vielmehr unerläßlich, zusätzlich die teils gesetzlich, teils konventionell normierten und sanktionierten Regeln zu berücksichtigen, die dazu berufen sind, in Übereinstimmung mit diesen Wertvorstellungen dem Wahlvorgang seinen spezifisch politischen Gehalt zu geben. Sie werden im folgenden als „Konnexinstitute des Wahlrechts" bezeichnet.
II. Die Konnexinstitute des freien Wahlrechts Konnexinstitute
Alle diese Konnexinstitute eines freien Wahlrechts werden an Bedeutung jedoch überschattet durch die Grundmaxime einer jeden demokratischen Verfassungsordnung: durch das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet nicht nur, daß jedem Staatsbürger das gleiche Wahlrecht zwecks Bestellung von Repräsentanten bei der Ausübung staatlicher und kommunaler Funktionen zusteht; es bedeutet auch, daß jedem Partei-und Verbandsmitglied die gleiche Chance eingeräumt wird, sich innerhalb dieser autonomen Organisationen um Einfluß, Ansehen, Funktionärspositionen und Kandidaturen für öffentliche Ämter zu bemühen und ungehindert allen Tendenzen zur Bildung einer internen Vereinsoligarchie entgegenzutreten. Der Kampf um die Verwirklichung einer echten politischen Demokratie und die Abwehr der Gefahren, die ihr in stets zunehmendem Maße drohen, spielt sich in der Gegenwart weniger auf staatlicher und kommunaler Ebene als vielmehr innerhalb der Parteien und Verbände ab.
Zu den unerläßlich notwendigen Konnexinstituten eines freien Wahlrechts gehören demnach Normen solcher Art, die die Bildung einer Vielzahl von Parteien ermöglichen und die deren genossenschaftlichen Charakter gewährleisten sollen. Einparteienstaat und herrschaftlich strukturierte Partei, Mehrparteienstaat und genossenschaftlich strukturierte Parteien sind korrespondierende Begriffe. Im Gegensatz zu den als autonome Körperschaften organisierten Parteien der BRD ist die SED de facto eine Anstalt des öffentlichen Rechtes
Wenn gegen das Zonenregime der Vorwurf erhoben wird, seine „Wahlen" seien — ungeachtet, ob sie technisch einwandfrei sind oder nicht — nicht „frei", werden die diesem Abstimmungsverfahren zugrunde liegenden und sie ergänzenden Konnexinstitute mit dem Maßstab der BRD gemessen. Letzten Endes reflektieren Konnexinstitute die leitenden Ideen und die Grundprinzipien, die in den Verfassungsgrundsätzen ihren Niederschlag gefunden haben.
Der Bundesgesetzgeber hat die Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik in § 88 des revidierten Strafgesetzbuchs wie folgt definiert: „ 1 . Das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen; 2. die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht; 3. das Recht auf die verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition; 4. die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung; 5. die Unabhängigkeit der Gerichte; 6.der Ausschluß jeder Gewalt-und Willkür-herrschaft." Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu in der Entscheidung vom 22. 10. 1952 ausgeführt: „Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: Die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition."
Die Bundesrepublik versteht sich selbst als freiheitlich-rechtsstaatliche, parlamentarische Repräsentativdemokratie. Ihr freiheitlicher Charakter tritt in § 88 Ziff. 6 StGB, ihr rechtsstaatlicher in § 88 Ziff. 2 und 5 StGB, ihr parlamentarischer in § 88 Ziff. 3 StGB und ihr repräsentativ-demokratischer in § 88 Ziff. 1 StGB in Erscheinung. Auffallenderweise haben weder der Bundesgesetzgeber noch das Bundesverfassungsgericht das Prädikat der BRD als „sozialen" Rechtsstaat in den Katalog der „Verfassungsgrundsätze" ausgenommen (vgl. Grundgesetz, Art. 20 und 28).
Ein abfälliges Urteil über das Wahlverfahren der Zone schließt daher ein Verdikt gegen deren Verfassungsgrundsätze ein — ein Verdikt, das stillschweigend und nur allzu häufig unkritisch von der Überlegenheit der Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik ausgeht.
II. Die Verfassungsrealität der Organisationsautonomie
Es genügt jedoch nicht, darauf zu verweisen, daß im Gegensatz zur DDR in der BRD die rechtliche Möglichkeit besteht, sich der Konnexinstitute zu bedienen, die berufen sind, die Freiheit der Wahlen zu garantieren. Nicht minder wichtig ist es klarzustellen, ob und in welcher Weise von dieser Freiheit in der politischen Realität Gebrauch gemacht wird. Zu den dringendsten Strukturproblemen der Demokratie gehört heute die Frage nach der Realisierung des Postulats, die Staatsbürger vor echte Alternativen zu stellen und den Partei-bürgern wirksamen Einfluß auf das interne Parteigeschehen zu gewähren. Die Kritik an den Wahlen der DDR würde erheblich an Glaubwürdigkeit gewinnen, sobald in der BRD energischer der Tendenz gegenübergetreten wird, a) innerhalb der Parteien einem nur allzu häufig durch Kooptation zusammengesetzten und ergänzten bürokratisch-hierarchischen Apparat alle maßgeblichen Entscheidungen ohne ausreichende Kritik und Kontrolle der Mitglieder zu überlassen; b) die zwischen den Parteien auftauchenden Kontroversen und Konflikte mittels taktischer Manipulationen zu verdecken, anstatt sie durch Kompromisse zu schlichten, die unter maßgeblicher Berücksichtigung der innerhalb und außerhalb der Parlamente geführten öffentlichen Diskussionen zustande kommen sollten. Bilden diese Diskussionen doch in einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie einen essentiellen Bestandteil des das Gesamtsystem kennzeichnenden politischen Konkurrenzkampfes.
An dieser Stelle setzt die Kritik der Neuen Linken an dem politischen System der Bundesrepublik ein. Sie behauptet, daß es innerhalb der Parteien und Verbände der BRD keinerlei demokratische Autonomie gibt; sie bestreitet, daß es sie geben kann; sie besteht auf dem Vorwurf, daß es nach den (allerdings geheimgehaltenen) Intentionen der Mitglieder des „establishment" eine solche Autonomie gar nicht geben soll.
Zum Beweis für die Richtigkeit ihrer Thesen weist die Neue Linke auf die Gleichgültigkeit der überwiegenden Mehrzahl der Partei-und Verbandsmitglieder (die ihrerseits nur einen Bruchteil der Gesamtbevölkerung darstellen) an dem internen Organisationsgeschehen hin; sie wird nicht müde, die — nach ihrer Über-zeugung — alles überschattende Bedeutung der Organisations„maschine" für das Organisationsleben darzustellen; sie scheut sich nicht vor dem Vorwurf, die Bürokratien der verschiedenen Organisationen führten in der Öffentlichkeit einen Scheinkampf, um desto besser im geheimen miteinander „kobern" zu können. Denn, so lautet ihr Dogma: die Partei-und Verbandsfunktionäre, gleichwie welcher Couleur, entfalten die alten Banner und schwenken die traditionellen Fahnen, um vergessen zu machen, daß sie alle unter einer Decke stecken.
Die Neue Linke mißt die Parteien und Verbände der Gegenwart an dem Vorbild der SPD vor Ausbruch und der USPD unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges. Die Neue Linke ist eine Erscheinungsform der unbewältigten Vergangenheit der deutschen Arbeiterbewegung. Sie ist dem legendär verklärten Ideal-bild der „Alten Linken" verhaftet, deren Niederlage im Revolutionswinter 1918/19 ihr zum Trauma geworden ist und die sie zu revidieren trachtet.
Ihre Führer und Anhänger übersehen bei diesem Vergleich, daß das politische Interesse der Organisationsmitglieder an internen und externen Organisationsangelegenheiten im Zeitalter einer stabilen Wohlstandsgesellschaft notwendigerweise weniger lebendig ist als im Zeitalter einer von Krisen erschütterten labilen Gesellschaft. Sie verschweigen, daß der Einfluß der Partei-und Verbandsbürokratien um so größer ist, je mehr Sachkunde und Fachwissen zur Erfüllung der Organisationsaufgaben gefordert werden muß. Dies ist aber bei allen Parteien und Verbänden der Fall, die sich nicht in einer Daueropposition zu einem von ihnen prinzipiell abgelehnten Gesellschaftssystem befinden, viel mehr aktiv an dessen Entwicklung teilzunehmen bereit und berufen sind. Sie sind bestrebt, die Einsicht zu vertuschen, daß aktive Mitarbeit einer Vielzahl von Organisationen an der Erfüllung der Gemeinschaftsaufgaben deren Zusammenwirken unerläßlich macht, wobei es prinzipiell keinen allzu großen Unterschied darstellt, ob die zu erzielenden Kompromisse mittels gütlicher Verhandlungen, kritischer Diskussionen, propagandistischer Polemik oder Verwendung zulässiger ökonomischer und sozialer Kampf-mittel zustande kommen.
Die Neue Linke sträubt sich gegen die Erkenntnis, daß auf die Dauer keine Massenorganisation ohne vorherige Planung in Sachund Personalangelegenheiten auskommt — vor allem aber, daß sie unfähig wäre, eine auf lange Sicht ausgerichtete rationale Politik zu betreiben. Rationale Organisationspolitik ist mit dem Postulat unvereinbar, unterschiedslos alle organisatorischen Maßnahmen zur Disposition emotional beeinflußbarer Zufallsentscheidungen von Abstimmungen in Massenversammlungen zu stellen.
Die Polemik der Neuen Linken gegen alle Formen dessen, was sie als „Manipulation" verlästert, ist zumindest insoweit utopisch, als sie mit dem Phantasiegebilde einer Massenorganisation ohne ein festgefügtes organisatorisches Gefüge operiert. Nicht minder phantastisch ist die Vorstellung, es könne eine wirksame Organisationspolitik vorausschauend geplant werden, die nicht vorher in vertraulichen Beratungen erörtert worden ist, und es könne eine erfolgreiche Organisationspolitik durchgeführt werden, wenn die Organisationsleitung darauf verzichtet, die mutmaßliche Reaktion der Mitgliedschaft auf ihr Aktionsprogramm zu eruieren und deren Abstimmungsverhalten propagandistisch zu präparieren.
Wer dem entgegen halten wollte, hier werde der Vornahme von „Manipulationen" das Wort geredet, übersieht, daß nach heutigem Sprachgebrauch in den Begriff „Manipulation" die Vorstellung der Verwendung unlauterer Machenschaften eingeschlossen ist. Von unlauteren Machenschaften kann aber nicht bereits dann die Rede sein, wenn der Funktionskörper einer Partei oder eines Verbandes sich mit Unterstützung des Organisationsapparats bemüht, seine innerverbandliche Machtposition zu verteidigen und zu befestigen. Die Kontinuität der Organisationsleitung stellt ein Aktivum dar, das um so nachdrücklicher in Erscheinung tritt, je energischer es gegen den Ansturm all derjenigen verteidigt werden muß, die eine „circulation des elites" um ihrer selbst willen anstreben. In der richtigen Mischung von Kontinuität und Flexibilität seiner Personalpolitik offenbart sich nicht zuletzt die Lebensfähigkeit eines jeden demokratischen Verbandes. Wer der Arbeiterbewegung ihren hierarchisch-organisierten, bürokratisierten Apparat verleidet oder zerschlägt, liefert sie den Ermessensentscheidungen der staatlichen und Unternehmerbürokratien aus. Hat doch bereits Max Weber die heimlichen Sympathien der Bürokratie für das Rätewesen festgestellt
Die Polemik der Neuen Linken gegen das bestehende Organisationswesen kulminiert in der Forderung nach einer gegen die Gefahren der Manipulierung immunen Volksherrschaft, deren Verwirklichung sie durch Errichtung einer Räteverfassung glaubt erreichen zu können
Ganz abgesehen von allen technischen und organisatorischen Mängeln, mit denen in einer hochentwickelten Industriegesellschaft ein politisches Organisationswesen ohne einen eingespielten und zuverlässigen Apparat behaftet ist, läuft es ständig Gefahr, von straff organisierten politischen Kaderparteien zuerst manipuliert, alsdann gleichgeschaltet und schließlich ausgeschaltet zu werden, wie dies während der großen Französischen Revolution den sections und socits der Pariser Sansculottes seitens des Jacobinerklubs und während der großen Russischen Revolution den Arbeiter-und Soldatenräten seitens der bolschewistischen Partei geschehen ist.
Die Neue Linke, die sich unablässig soziologischer Argumente bedient, um den undemokratischen Charakter der bestehenden Staats-und Gesellschaftsordnung zu enthüllen, hat sich mit ihrem Programm, die Repräsentativ-demokratie durch eine Räteverfassung zu ersetzen, einer Ideologie verschrieben, die einer ernsthaften soziologischen kritischen Analyse nicht standhält. Hat doch Max Weber
Dank ihres Anti-Bürokratiekomplexes ist der Neuen Linken die Geheimhaltung von Fakten, gleichwie welche Art, verhaßt und die Vertraulichkeit aller internen Beratungen suspekt. Es genügt, an die Vorgänge vor der Abwertung des französischen Franc und der Nicht-Aufwertung der deutschen Mark zu erinnern, um zu erkennen, daß das Bekenntnis zum Prinzip der Öffentlichkeit aller staatlicher Hoheitsakte nicht zum Dogma erstarren darf, wenn erfolgreich regiert werden soll.
In dem Publizitätsfetischismus der Neuen Linken erweist sich wohl am offenkundigsten ihr mangelndes Verständnis für die Notwendigkeit politisch-soziologischer Differenzierungen und ihre mangelnde Bereitschaft, ihnen in der politischen Realität Rechnung zu tragen.
Gleichwie man die unmittelbare Bedeutung der Neuen Linken für den Gang der Politik der Bundesrepublik auch einschätzen mag, als ständige Herausforderung gegenüber der Gefahr einer zunehmenden Verhärtung aller am Prozeß der politischen Willensbildung beteiligten Faktoren kann ihr Einfluß gar nicht überschätzt werden. Andererseits darf die Polemik gegen ihre utopische Gedankenwelt nicht dazu führen, daß die Unterschiede zwischen den Regierungssystemen der BRD und der DDR verwischt werden. Die Pervertierung des Prinzips der inner-organisatorischen Verbandsautonomie seitens der Neuen Linken darf nicht dazu führen, daß die Respektierung dieses Prinzips nicht nach wie vor eines der kennzeichnendsten Merkmale des politischen Systems der Bundesrepublik darstellen muß.
Nichts dürfte kennzeichnender für die Strukturverschiedenheit der beiden auf deutschem Boden befindlichen staatlichen Gebilde sein als der Umstand, daß die Attacken der Neuen Linken gegen die Verfassungsordnung der BRD zu einer ernsthaften Selbstkritik geführt haben, während die nicht minder harten Attakken gegen die Verfassungsordnung der DDR ins Leere gestoßen sind.
B. Die Strukturprinzipien der BRD und der DDR
Die nachfolgenden Darlegungen sind dazu bestimmt, im einzelnen die Richtigkeit der Behauptung zu erhärten, daß der unterschiedliche Charakter der auf deutschem Boden bestehenden staatlichen Gebilde nur dann wissenschaft-lieh zu erfassen ist, wenn eine theoretisch befriedigende Antwort auf die Fragen gegeben werden kann, wie in den beiden Teilen Deutschlands a) die Herrschaftssysteme legitimiert, b) die Gesellschaftssysteme strukturiert, c) die Regierungssysteme organisiert, d) die Rechtssysteme garantiert sind. Im Gegensatz zur Deutschen Demokratischen Republik ist das demokratische Herrschaftssystem der Bundesrepublik nicht heteronom, sondern autonom legitimiert, ist sein Gesellschaftssystem nicht an dem utopischen Leitbild eines homogenen, sondern an dem realistischen Modell eines heterogenen Staats-volkes ausgerichtet, ist sein Regierungssystem nicht monistisch, sondern pluralistisch aufgebaut und gelten seine Rechtsprinzipien unverbrüchlich, das heißt aber im Einklang mit den Prinzipien des Rechtsstaats und nicht lediglich unter dem „Vorbehalt des Politischen" nach Maßgabe der Prinzipien einer Diktatur.
Es stehen sich somit zwei idealtypische Staats-gebilde gegenüber, die auf diametral verschiedenen Verfassungsgrundsätzen basiert sind: der Idealtyp des autonom legitimierten, heterogen strukturierten, pluralistisch organisierten Rechtsstaats und der Idealtyp der heteronom legitimierten, homogen strukturierten, monistischen, das heißt aber totalitär organisierten Diktatur.
C. Die Legitimitätsprinzipien der BRD und der DDR
I. Der Begriff der demokratischen Legitimität Legitimität eines Herrschaftssystems bedeutet dessen Selbstrechtfertigung.
„Der Bestand jeder , Herrschaft'... ist selbstverständlich in der denkbar stärksten Art auf die Selbstrechtfertigung durch Appell an Prinzipien ihrer Legitimation hingewiesen."
Das Wesen der demokratischen Legitimität ist nach Max Weber
In der Gegenwart bekennen sich — von wenigen Staaten abgesehen — alle Nationen der Welt zum demokratischen Legitimitätsprinzip. Dies gilt vornehmlich, seitdem der Anspruch der Monarchen, nicht von Volkes, sondern von Gottes Gnaden zur Herrschaft berufen zu sein, nicht mehr glaubhaft erscheint. „Zu den wenigen, durchaus festen Bestandtei -len der gegenwärtigen öffentlichen Meinung demokratischen gehören ihre Grundsätze. Ohne Übertreibung läßt sich sagen, daß es eine andere als die — allerdings verschieden benannte — demokratische Legitimation der politischen Herrschaft in der öffentlichen Meinung der zivilisierten Völker der Gegenwart nicht gibt."
Der Natur der Legitimität, als Selbstrechtfertigung einer Herrschaftsausübung jedweder Art zu dienen, entspricht ihre Eignung zur ideologischen Verhüllung von Herrschaftssystemen, die — nach objektiven Maßstäben gemessen — den Legitimitätsprinzipien nicht entsprechen, auf die sie sich berufen.
In seinem unter dem unmittelbaren Eindruck der Februarrevolution von 1848 im Jahre 1849 veröffentlichten Buch „La Democratie en France" (S. 2) hat der französische Historiker und Staatsmann Franpois Guizot ausgeführt: „So groß ist die Macht des Wortes . Demokratie', daß kein Staat und keine Partei, ohne das Wort . Demokratie'auf ihr Banner geschrieben zu haben, sich zutrauen (oder auch nur glauben) bestehen zu können."
Der Mißbrauch des demokratischen Legitimitätsprinzips ist eine Begleiterscheinung seines Triumphes.
II. Verfassungsrechtliche Verankerung des demokratischen Legitimitätsprinzips
Ein jedes sich demokratisch legitimierende Regierungssystem bekennt sich zu dem Prinzip der Volkssouveränität. In Übereinstimmung mit Art. 1 Satz 2 der Weimarer Verfassung erklären Art. 20 Abs. 2 Satz 1 des Grundge -setzes vom 23. Mai 1949 und Art. 3 (1) der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1948 wortwörtlich übereinstimmend 10a): „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus."
In Übereinstimmung mit Art. 22 der Weimarer Verfassung legen sowohl das Grundgesetz (Art. 38) als auch die Verfassung der DDR (Art. 51 Abs. 2) fest, daß die Abgeordneten in allgemeiner, unmittelbarer, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden. Spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Klausel „allgemeine, unmittelbare, gleiche und geheime Wahlen" zum unbestrittenen, ja geradezu selbstverständlichen Bestandteil aller Verfassungsordnungen geworden, was um so erstaunlicher ist, als der Kampf um die Durchsetzung dieser Prinzipien ein überragend wichtiges Kapitel der politischen Geschichte Europas in dem Zeitalter zwischen dem Ausbruch der Französischen Revolution von 1789 und der Russischen Revolution von 1917 bildet. Der Streit darüber, ob die Parlamentswahlen öffentlich oder geheim abgehalten werden sollen, ist politisch ebenso irrelevant geworden wie die Auseinandersetzungen über das einstmals so heiß umstrittene Problem, ob das subjektive Wahlrecht zwar ohne Einschränkungen jedem Bürger gewährt, seinem Stimmwert nach jedoch differenziert sein solle (allgemeine, aber nicht gleiche Wahlen; Klassenwahlrecht, Beispiel Preußen 1850 bis 1918), oder ob es zwar ohne Differenzierung des Stimmwertes, jedoch lediglich einer eng umgrenzten Gruppe von Staatsangehörigen zustehen solle (gleiche, aber nicht allgemeine Wahlen; Zensuswahlrecht, Beispiel Frankreich 1814— 1848). Zensus-und Klassenwahlrecht sind schlechthin induskutabel geworden, seitdem das Prinzip der demokratischen Legitimität sich universal durchgesetzt hat.
Es kann allerdings nicht übersehen werden, daß lediglich unter der Herrschaft eines Proportionalwahlrechts die Gleichwertigkeit des Stimmrechts voll gewährleistet ist. Besteht doch unter allen Mehrheitswahlsystemen stets die Gefahr, daß bei der Bildung der Wahlkreise durch Wahlkreisgeometrie und andere Machenschaften Minderheiten benachteiligt und die herrschenden Parteien bevorzugt werden. Dieses Problem hat unter den vielgerühmten Mehrheitswahlsystemen Englands und der USA stets und von neuem Anlaß zu ernsthaften politischen und verfassungsrechtlichen Kontroversen gegeben.
Auffallend ist ebenfalls, daß das Merkmal der Unmittelbarkeit der Wahl im 20. Jahrhundert erneut problematisch geworden ist. Es verdient Beachtung, daß sowohl die amerikanische Verfassung von 1787 in ihren Bestimmungen über die Präsidentenwahl als auch die französische Verfassung von 1791 sich zu dem Prinzip der Mittelbarkeit der Wahlen bekannt haben, weil sie übereinstimmend die Bildung politischer Parteien verworfen haben.
Unmittelbare Wahlen sind jedoch nur sinnvoll, wenn politische Parteien bestehen, die die Nominierung der Kandidaten vornehmen und sich für deren Wahl einsetzen. Der Proklamierung des Prinzips der Unmittelbarkeit aller öffentlichen Wahlen liegt das Bekenntnis zur „Gestalt" des Parteienstaats stillschweigend zugrunde. Hieraus erklärt sich einerseits, daß nach der vor fast 150 Jahren erfolgten endgültigen Begründung der amerikanischen politischen Parteien die auch heute noch de jure mittelbare Wahl des Präsidenten der USA sich de facto in eine unmittelbare Wahl verwandelt hat; andererseits macht dieser Umstand verständlich, daß die Verwerfung des Mehrparteiensystems durch die bolschewistische Revolution in der Errichtung eines politischen Rätesystems resultierte, das in seiner ursprünglichen Form (das heißt bis zum Erlaß der Verfassung von 1936) nicht zuletzt durch sein indirektes Wahlsystem gekennzeichnet war. In einem Einparteienstaat ist ein politisches Rätesystem mit indirekter Wahl sinnvoll, ein direktes Wahlverfahren zwischen Kandidaten, die von einer oder auch mehreren Scheinparteien nominiert worden sind, jedoch notwendigerweise eine Farce.
Von aktueller politischer Bedeutung ist die Tatsache, daß (mit Ausnahme der USA, wo die Nominierung der Parteikandidaten unmittelbar durch die Wähler in öffentlichen Wahlen [Vorwahlen, „primaries" ] erfolgt) in allen Mehrparteienstaaten einschließlich der Bundesrepublik die parteiinterne Nominierung in der Regel durch einen Parteitag erfolgt, der sich aus „Delegierten" zusammensetzt, die ihrerseits von den Mitgliederversammlungen gewählt worden sind. Innerparteiliche und zwischenparteiliche Wahlen wenden somit verschiedene Wahlprinzipien an, was sich zuletzt daraus erklärt, daß jede Partei auf das sorgfältigste zu vermeiden sucht, daß sich innerhalb der Partei geschlossene, fälschlicherweise „Fraktionen" genannte kompakte Unterparteiorganisationen bilden. Zu den akutesten Strukturproblemen der modernen Demokratie gehört die Frage, ob nicht die (namentlich durch das Verhältniswahlrecht begünstigte) Tendenz, Parteikandidaten durch mittelbare Wahlen zu bestellen, deren Manipulierbarkeit zu begünstigen vermag.
Die Mittelbarkeit der parteiinternen Wahlen ist geeignet, ein Phänomen leichter verständlich zu machen, das Robert Michels vor mehr als einem halben Jahrhundert als „das eherne Gesetz der Parteioligarchie" bezeichnet hat
III. Autonom und heteronom legitimierte Demokratie
1. „realer" und „wahrer" Volkswille Obwohl die beiden auf deutschem Boden existierenden staatlichen Gebilde bezüglich ihrer demokratischen Legitimität mit ernsthafteren Problemen konfrontiert sind, als sie öffentlich zuzugeben bereit sind, erheben sie übereinstimmend mit größtem Nachdruck den Anspruch, „von Volkes Gnaden" zu sein und den „Volkswillen" zu vollziehen.
Die unkritische Verwendung des Begriffs „Volkswille" vermag zur Verhüllung fundamental unterschiedlicher Legitimitätsprinzipien zu führen, je nachdem, ob man unter Volkswillen einen empirisch feststellbaren, das heißt realen, oder einen deduktiv konstruierten, das heißt imaginären Volkswillen versteht.
Von einem empirisch feststellbaren, realen Volkswillen kann man im doppelten Sinne sprechen: entweder als einem unreflektierten, zumeist spontanen Massenwillen, oder einem sublimierten Volkswillen, der in der Billigung oder Mißbilligung von Entscheidungen und Stellungnahmen verfassungsrechtlich bestellter Organe in Erscheinung tritt. Der Forderung, daß der spontane Massenwille herrschen solle, entspricht die Vorstellung der Stimmungsdemokratie; der Forderung, daß der sublimierte Volkswille aller Staatstätigkeit zugrunde liegen solle, entspricht die Repräsentativdemokratie.
Der deduktiv konstruierte, imaginäre Volks-wille beruht auf der These, daß, sofern ein Volk nicht durch äußere Umstände verderbt ist, sein Wille automatisch auf die Verwirklichung des Gemeinwohls ausgerichtet ist.
Ein Staat, der den Anspruch darauf erhebt, daß alle in seinem Namen und in seinem Herrschaftsbereich ausgeübte Hoheitsgewalt letzten Endes von einem empirisch feststellbaren Volkswillen ausgeht, ist autonom-demokratisch legitimiert; ein Staat, der sich darauf beruft, alle in seinem Namen und in seinem Herrschaftsbereich ausgeübte Hoheitsgewalt entspräche den Ansprüchen, die an einen „aufgeklärten" Volkswillen gestellt werden können, und sei daher in der Lage, einem von außen an ihn angelegten Maßstab Genüge zu tun, ist heteronom-demokratisch legitimiert.
Im Gegensatz zu einer heteronom legitimierten Demokratie, die sich befähigt erachtet und berufen fühlt, ein Gemeinwohl zu verwirklichen, von dem unterstellt wird, daß es vorgegeben, absolut gültig und objektiv erkennbar sei (a priori Gemeinwohl), begnügt sich die autonom legitimierte Demokratie mit dem Anspruch, bestenfalls in der Lage zu sein, im Rahmen und unter Beachtung der allgemein gültigen abstrakten Prinzipien der Gerechtigkeit und der Billigkeit durch Verhandlungen, Diskussionen und Kompromisse zur Förderung des Gemeinwohls durch Lösungen konkreter Probleme beitragen zu können, die, wenn auch keineswegs ausschließlich, doch maßgeblich durch pragmatische Erwägungen bestimmt werden (a posteriori Gemeinwohl). 2. Die autonom legitimierte Demokratie a) Identitäts-und Konsenttheorie Die Berufung auf die autonom legitimierte Theorie der Demokratie darf nicht dahin mißverstanden werden, als ob damit der vulgär-demokratischen These Tribut gezahlt werde, „Demokratie" bedeute, daß „das Volk" sich über alle anfallenden politischen Probleme ein eigenes Urteil zu bilden vermöge und daß es daher dem Parlament lediglich obliege, die bereits getroffenen Entscheidungen des Volkes in Gesetzesform zu artikulieren, damit sie alsdann von der vollziehenden Gewalt konkretisiert werden können. Die Annahme, daß in einer differenzierten Industriegesellschaft ein derartiger Volkswille realiter existiere, ist Poesie. Eine durch Bezugnahme auf den empirischen Volkswillen legitimierte Demokratietheorie hebt sich selber auf, wenn sie mit einer Empirie operiert, die weitgehend fiktiven Charakter trägt. Wie Erich Kaufmann
Die vorstehenden Erwägungen müssen zu der Ablehnung der weitverbreiteten, in Deutsch-land namentlich von Carl Schmitt vertretenen Theorie führen, Demokratie bedeute Identität von Regierenden und Regierten. Diese These geht auf das Demokratieverständnis der klassischen Polis zurück und beherrscht seit der jakobinischen Phase der großen Revolution das französische politische Denken. Radikal zu Ende gedacht, strebt sie die Realisierung des Ideals einer herrschaftslosen „Gemeinschafts " Ordnung an.
Sie steht nicht nur in einem begrifflichen, sondern auch in einem historisch-politisch hoch bedeutsamen Gegensatz zu der seit alters her das englische politische Denken beherrschenden, namentlich während der puritanischen Revolution Levellers An den vertretenen -sicht, daß eine Regierung nur dann legitim sei, wenn sie „with the consent of the people" ausgeübt wird
Nach französischem politischen Denken obliegt es dem Volk, durch ein kontinuierliches Plebiszit zu entscheiden, wie regiert werden soll. „La democratie est le Plebiscite de tous les jours."
Eine funktionierende freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie geht daher von der Notwendigkeit und Wünschbarkeit der Divergenz in tunlichst vielen Einzelfragen und der Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit der Konvergenz in allen Grundfragen aus. Sie verwirft und bekennt sich gleichzeitig zum Consensus omnium, je nachdem, wie wichtig für die physische Existenz und die moralische Integrität der Nation zu sein vermag, was zur Diskussion steht.
Wird eine allumfassende Konvergenz für wünschenswert und das Bekenntnis zu offen in Erscheinung tretenden und öffentlich auszutragenden Divergenzen für verdammenswert gehalten, dann ist zumindest seiner Tendenz nach ein Staat faschistisch. Wird jede Art von Konvergenz als Verhüllungsideologie für verdammenswert und das Bekenntnis zu einer allumfassenden Divergenz als Ausdruck eines „aufgeklärten" gesellschaftlichen Denkens für wünschenswert gehalten, dann ist eine Gesellschaft nach anar zumindest -ihrer chistisch. Der anarchistische Charakter der Neuen Linken offenbart sich in ihrer fast manisch nennenden Opposition gegen den leisesten Versuch, die Notwendigkeit eines Minimums von Konsens anzuerkennen, vielmehr ihn bereits als Ausdruck des Faschismus zu diffamieren. Ihr potentiell faschistischer Charakter kommt in dem Anspruch zutage, sich eine letzte Entscheidung darüber vorzubehalten, ob und welchen der divergierenden Gruppen Toleranz gewährt werden solle. Die Regierungssysteme der westlichen Demokratien beruhen auf einer List der Vernunft. Erst auf Grund der Hypothese, daß es einen allumfassenden Volkswillen nicht zu geben vermag, gewinnen die für eine jede westliche Demokratie grundlegend wichtigen Verfassungsinstitutionen, wie freie Wahlen, autonome Parteien, Opposition, Mißtrauensvotum usw., ihr spezifisch politisches Verständnis und die politischen Freiheitsrechte ihren realen Gehalt. Auf die Dauer können diese Verfassungsinstitutionen jedoch nur dann befriedigend funktionieren, wenn die ihnen zugrunde liegenden Verfassungsprinzipien von einem einheitlichen Volkswillen getragen werden.
Bei der Fällung konkreter politischer Entscheidungen kommen in einer autonom legitimierten Demokratie den aus einem absolut gültigen Wertsystem abgeleiteten Maximen politischen Handelns bestenfalls modifizierende, korrigierende und annullierende Bedeutung zu; in einer heteronom legitimierten Demokratie mögen sie eine inspirierende und dirigierende Funktion ausüben. c) Konsenttheorie und Vertrauenskredit der Regierung Insoweit die Kritik der Neuen Linken in Abrede stellt, daß die Regierung auf einem einheitlichen, allumfassenden Volkswillen beruhe, rennt sie offene Türen ein. Insoweit sie in Zweilei stellt, daß ausreichende Gewähr dafür besteht, daß die Ausübung der Regierungsgewalt unter einem parlamentarischen Regierungssystem „mit der Zustimmung des Volkes" erfolge, wirft sie ernsthafte Probleme auf, deren Aufzeigung allerdings durchweg nicht originell ist, vielmehr auf die Kritik zurückgeht, die an dem Verfassungssystem der Weimarer Republik von der Rechten geübt worden ist.
Wenn von der radikalen Demokratie gesagt worden ist, ihre höchste Tugend sei das Mißtrauen, beruht die Repräsentativdemokratie auf dem Vertrauenskredit, den eine jede als Treuhänderin des Volkes bestellte Regierung solange beanspruchen die kann, als sie sich -ses Vertrauens nicht unwürdig gezeigt hat. Der für die ordnungsgemäße Führung einer jeden parlamentarischen Regierung unerläßlich notwendige Vertrauenskredit tritt in der Verfassungsübung in Erscheinung, dem Vertrauensmann der parlamentarischen Mehrheit das Amt des Regierungschefs anzuvertrauen. Dies erfolgt in der Erwartung, daß er und die von ihm geleitete Regierung sich schon allein deshalb um einen fairen Ausgleich der divergierenden Interessen und Ideologien bemühen, um bei den nächsten Wahlen ihre plebiszitäre Bestätigung und den Sieg ihrer Partei sicherzustellen.
Die autonom demokratische Legitimierung der Bundesrepublik erfolgt in der Gegenwart sehr viel weniger durch die traditionellen Normen des Verfassungsrechts, die aus der Periode des Mißtrauens zwischen Regierung und Regierten stammen, als vielmehr durch die Verfassungsbräuche und Verfassungsübungen, die durch die tagtägliche Kooperation von Regierung und Parteien auf der einen Seite und Ministerialbürokratie und Interessengruppen auf der anderen Seite entstehen und die berufen und geeignet sind, die Vertrauenssphäre zu schaf-13 fen, die das Zeitalter der kollektiven Demokratie kennzeichnet.
Dies bedeutet jedoch nicht, daß — obwohl sie an Bedeutung verloren haben — die Normen des Verfassungsrechts bedeutungslos geworden seien.
Die autonome Legitimierung der parlamentarisch organisierten Demokratie sollte nach der der Weimarer Verfassung und dem Bonner Grundgesetz (Art. 67) zugrunde liegenden Verfassungstheorie dadurch gewährleistet werden, daß der Regierungschef durch Verfassungsnormen wirksam daran gehindert wird, den Vertrauenskredit zu überziehen, der ihm durch seine Wahl zum Chef der Exekutive eingeräumt worden ist. Das auch heute noch allerdings abgeschwächt bestehende Recht des Parlaments, den Bundeskanzler zum Rücktritt zu zwingen, das heißt durch die Androhung eines Mißtrauensvotums zu gewährleisten, daß die Regierung eine Politik betreibt, die im Einklang mit den Vorstellungen und Wünschen der gewählten Volksvertreter steht, hat zunehmend an Bedeutung verloren, seitdem die Fraktionsdisziplin dem Chef der Regierung in seiner Eigenschaft als Parteichef ermöglicht, die Kontrolle des Parlaments über die Regierung durch eine Kontrolle der Regierung über das Parlament zu ersetzen.
Das Postulat, daß die Regierung mit der Zustimmung der Regierten zu erfolgen habe, ist auch nicht schon dadurch garantiert, daß dem vom Volk unmittelbar gewählten Parlament das Gesetzgebungs-und Budgetrecht (Art. 70 u. Art. HO GG) zusteht, die Volksvertretung daher theoretisch nach wie vor das fast uneingeschränkte Recht besitzt, nach freiem Ermessen zu bestimmen, was rechtens sein soll und wie die Einnahmen und Ausgaben des Staates geregelt werden sollen. Es ist ein Gemeinplatz der politischen Wissenschaft, daß in einer parlamentarischen Demokratie in stets zunehmendem Maß die Gesetze und der Haushaltsplan regelmäßig vom Parlament im Einklang mit den von der Regierung eingebrachten Vorlagen erlassen werden, ohne daß das Parlament allzu viele Änderungen vornimmt, wobei zugegeben werden mag, daß Ausnahmen die Regel bestätigen.
Die Vorstellung, das Parlament könne durch Androhung einer Ablehnung des Budgets die Regierung zwingen, sich seinem Willen zu fügen, mag für den Verfassungshistoriker interessant sein; sie ist für den Verfassungspolitiker uninteressant geworden, seitdem der einzige dahingehende Versuch von Bismarck in der „Konflikts" periode zum Scheitern gebracht worden ist.
Die namentlich von Max Weber gehegte Hoffnung, die von ihm empfohlenen Untersuchungsausschüsse könnten sich als geeignete Instrumente erweisen, um dem Parlament eine wirksame Waffe gegen die Regierung und namentlich gegen die Bürokratie zu verschaffen und derart zu einer autonomen Legitimierung des demokratischen Regierungssystems maßgeblich beizutragen, hat sich lange Zeit nicht erfüllt. Es könnte als ein Treppenwitz der deutschen Parlamentsgeschichte anmuten, daß die Neue Linke es war, der es gelang, mittels eines Untersuchungsausschußverfahrens den Berliner Regierenden Bürgermeister Albertz und seinen Innensenator Büsch zu stürzen und den Gang der Berliner Hochschulpolitik maßgeblich zu beeinflussen. Malgre lui schien der Berliner APO den Beweis erbracht zu haben, daß die traditionellen Verfassungsinstitutionen der parlamentarischen Demokratie doch nicht notwendigerweise so wirkungslos zu sein brauchen, wie die außerpalamentarische Opposition es darzustellen pflegt (vgl. Art. 44 GG). d) Konsenttheorie und Opposition Dies ändert nichts an der Richtigkeit der These der Neuen Linken, daß die für eine jede autonome Legitimierung der Demokratie zentral wichtige Möglichkeit einer wirksamen Opposition ernsthaft gefährdet ist, wenn sie sich in einer hoffnungslos schwachen Position gegenüber einer übergroßen Koalition befindet. Gegen den Versuch der Neuen Linken, die parlamentarische durch eine außerparlamentarische Opposition zu ergänzen und zu verstärken, lassen sich im Prinzip weder verfassungsrechtliche noch verfassungspolitische Bedenken erheben. Wurde doch bereits zu einer Zeit, als von „APO" noch nicht die Rede war, im Fischer-Lexikon Band „Staat und Politik" die außerparlamentarische Opposition als eine besondere Erscheinungsform der „Opposition im weiteren Sinne" angesprochen, deren Zulässigkeit anerkannt wurde, „gleichgültig ob sie sich hierzu parlamentarischer oder sonstiger Methoden bedient"
Verwandelt sich jedoch eine außerparlamentarische Opposition in eine außerparlamentarische Obstruktion, ist sie bestrebt, die autonome Legitimierung der Demokratie dadurch zu vereiteln, daß sie sich vornehmlich gegen das Minimum von Konsens wendet, das für das Funktionieren gerade der parlamentarischen Demokratie unentbehrlich ist, dann untergräbt sie die Basis ihrer eigenen Existenz. Die Verfassungsinstitution der Opposition — diese originellste und fruchtbarste „Erfindung" der modernen Verfassungsgeschichtte — ist dazu berufen, den in einer differenzierten Gesellschaft wirksamen Divergenzen Ausdruck zu verleihen. Eine Opposition, die nicht zur Obstruktion entarten soll, setzt die Bejahung einer Gesellschaftsordnung voraus, die gleicherweise von ihren Bürgern die Anerkennung eines Minimums an Konvergenz fordert und ihnen gestattet, ja es geradezu von ihnen fordert, daß sie ihre Divergenzen offen austragen.
Keine Theorie der Demokratie kommt über die Tatsache hinweg, daß das deutsche demokratische Denken nach wie vor von der dem Vulgärdemokratismus zugrunde liegenden Hypothese eines einheitlichen Volkswillens und dem hieraus abgeleiteten Postulat beherrscht wird, diesen hypostatisierten einheitlichen Volkswillen zur Grundlage des gesamten demokratischen Regierungssystems und Regierungsprozesses zu machen. Unter der Zwangsvorstellung leidend, daß „Volksherrschaft" und positive Einstellung zu dem differenzierten Charakter der Gesellschaft unvereinbar miteinander sind, neigt der Vulgärdemokratismus dazu, entweder die Augen vor der Diskrepanz zu verschließen, die zwischen der Ideologie des Vulgärdemokratismus und der ihm korrespondierenden Soziologie besteht, notfalls das Vorliegen einer solchen Divergenz totzuschweigen; oder er verzweifelt an der Möglichkeit der Realisierung einer autonomen, genuin demokratischen Ordnung und verschreibt sich der Lehre, nur ein zwar demokratisch gewählter, aber mit autokratischen Befugnissen ausgestatteter Führer sei imstande, diese vor dem Verfall zu retten; oder er glaubt, dem Dilemma dadurch entgehen zu können, daß er seine ganze Energie daransetzt, die Faktoren zu beseitigen, die (seiner Überzeugung nach) in erster Linie für den heterogenen Charakter der Gesellschaft verantwortlich sind. „Die Politikwissenschaft sollte sich gleicherweise davor hüten, der Realisierung politischer Utopien und der Eliminierung politischer Visionen als Schrittmacherin zu dienen. Sie sollte sich bewußt sein, daß der Mensch zwar in der Vorstellung das Modell einer gerechten Sozialordnung zu erfassen, in der Realität jedoch nicht zu verwirklichen vermag. Aus der Einsicht in die Möglichkeiten, die ihr gewährt, und in die Grenzen, die ihr gesetzt sind, ergibt sich der wissenschaftliche und politische Beruf der Wissenschaft von der Politik."
Die heteronom legitimierte Demokratie beruht auf den Thesen: 1. daß der Mensch von Natur aus gut sei und daß die Verwirklichung des bonum commune bisher stets an der herrschaftlichen Struktur der Eigentumsordnung und an der fehlerhaften Einsicht in die Natur der menschlichen Gesellschaft gescheitert sei; 2. daß es einen oder mehrere Menschen gibt, die fähig und berufen sind, das bonum commune zu erkennen, obwohl der Mehrheit ihrer Mitmenschen diese Fähigkeit abgeht; 3. daß die Mehrheit der Menschen durch ausreichende Erziehung und Aufklärung dazu gebracht werden könne, das richtig interpretierte Gemeinwohl als Ausdruck ihres eigenen Willens anzuerkennen; 4. daß, gleichgültig, ob sie die Mehrheit oder Minderheit der Bevölkerung ausmachen, Menschen, die sich dagegen sträuben, ihr falsches, auf Förderung des Eigennutzes gerichtetes Bewußtsein aufzugeben, und sich der Verwirklichung des Gemeinwohls widersetzen, zur Unterordnung ihres Individualwillens unter den Gemeinschaftswillen gezwungen werden müssen; 5. daß auf die Dauer der heteronom legitimierte „wahre" Volkswille sich nur behaupten kann, wenn die Faktoren beseitigt werden, die dafür verantwortlich waren, daß der Volkswille verderbt werden konnte und jederzeit der Gefahr einer erneuten Verderbnis ausgesetzt ist. b) Die bedeutsamsten Erscheinungsformen der heteronom legitimierten Demokratie 1. Rousseau Die Lehre der heteronom legitimierten Demokratie geht auf die vermutlich einflußreichste politische Schrift der Neuzeit, auf Jean Jacques Rousseaus Contrat Social zurück. Rousseau drückte seine Zweifel an der Realisierung der Möglichkeit einer autonom legitimierten Demokratie aus, von der er glaubte, sie sei eine Staatsform für Engel, aber nicht für Menschen. „Wie" — so fragte er — „soll eine blinde Menge, die oft nicht weiß, was sie will, weil sie selten weiß, was für sie gut ist, von sich aus ein so großes Werk wie ein System der Gesetzgebung ausführen?"
Um so bereitwilliger wurde dieser Gedanke jedoch von seinem Meisterschüler Maxime Robespierre ausgenommen, der sich selber als „incorruptible" bezeichnete. Er erachtete sich frei von selbstsüchtigen Motiven und Zielen und glaubte sich in der Lage, aus den Maximen der Vernunft die Regeln eines allgemein gültigen „richtigen" Zusammenlebens der Menschen ableiten zu können. Robespierre be-kannte sich zu dem Gedanken, daß der Weg zur Freiheit über die Erziehungsdiktatur gehe. Ihr müßten alle diejenigen unterworfen werden, die sich der Forderung widersetzten, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mach den Geboten des heteronom legitimierten „wahren" Volkswillens zu regeln, vornehmlich aber alle, die sich dem Irrglauben hingeben, unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen sei ein autonom legitimierter Volkswille in der Lage, den Zustand der Unfreiheit zu überwinden. Das letztere sei erst möglich, wenn durch gewaltsame Beseitigung der Institutionen, die die große Masse der Menschen in Aberglauben und Unwissenheit gehalten haben, sichergestellt sei, daß der „wahre" Volkswille allgemein anerkannt und befolgt wird. Aus dem Bestreben, den realen durch den „wahren" Volkswillen zu ersetzen, entstand das Terror-regime der Jakobiner. 3. Der Marxismus Die Unterdrückung der Jakobinerherrschaft hat jedoch nicht bewirkt, daß der Gedanke der heteronom legitimierten Demokratie aus dem politischen Bewußtsein verschwunden ist. Im Gegenteil: Er hat eine erstaunliche Lebenskraft bewiesen und taucht stets dort auf, wo es gilt, im Zeichen der Demokratie eine Diktatur zu rechtfertigen.
Gewechselt haben jedoch die Gründe, auf die sich die Interpreten des heteronom gesetzten Gemeinwohls zur Rechtfertigung ihres Anspruchs beriefen, dem „wahren“ Volkswillen zum Durchbruch zu verhelfen. Dem göttlich inspirierten legislateur Rousseaus, dem durch die ratio erleuchteten Robespierre folgte der von der Vorsehung begnadete charismatische Führer; sie alle übertrifft der wissenschaftlich gebildete Gelehrte, der befähigt ist, durch Auf-deckung der Bewegungsgesetze der Gesellschaft zu erkennen, was erforderlich ist, um den historisch notwendigen Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit zu vollziehen.
Der Staatslehre des Marxismus liegt die Annahme zugrunde, daß das Volk seit alters her durch seine Machthaber bewußt in Aberglauben, Irrtum und Unwissenheit gehalten und ! daß es durch Zwang, Betrug, Hypnose und Reklame in einen Zustand der geistigen Hörigkeit versetzt worden ist, der es ihm unmöglich macht, zum Bewußtsein seiner selbst zu gelangen. Auf Grund dieser These muß das höchste Gebot einer jeden Politik sein, zwecks Verwirklichung der menschlichen Emanzipation diesen Zustand der Entfremdung
Da angeblich die Beherrschung des Diamat dazu befähigt, die geschichtsnotwendigen „richtigen" Entscheidungen zu treffen, steht letzteren der Primat gegenüber allen mit ihnen divergierenden, autonom entstandenen Willensäußerungen des Volkes (und selbst seiner revolutionären Avantgarde des Proletariats) zu. Der autonom entstandene „falsche" muß vor dem heteronom auferlegten „richtigen" Volkswillen so lange zurücktreten, bis das Volk durch Beseitigung der Klassenherrschaft in die Lage versetzt wird, automatisch zu wollen, was historisch notwendig ist. Aufgabe der „Diktatur des Proletariats" soll es sein zu bewirken, daß dem Volk sein „wahrer" Wille nicht mehr heteronom auferlegt werden muß, sondern autonom von ihm erkannt und verwirklicht werden kann.
Nach der heteronom demokratischen Legitimitätstheorie ist die dem angestrebten apolitischen Gesellschaftssystem zugrunde liegende Ordnung gerechtfertigt, wenn sie dem Postulat Genüge tut, optimal mit einem von außen an sie herangetragenen, als verbindlich angesehenen Denkmodell der tunlichst reibungslos funktionierenden Befriedigung legitimierter menschlicher Bedürfnisse übereinzustimmen. 4. Der Nationalsozialismus Unter dem Vorwand, Sprachrohr der Rassen-seele zu sein, offenbarte der „Führer" den Massen ihre historische Mission und zwang sie zu wollen, was die „Vorsehung" für das deutsche Volk geplant hatte. Er bediente sich zu diesem Zweck manipulierter Plebiszite, deren kennzeichnendes Merkmal darin zu finden ist, den Willen des Diktators als Ausdruck einer heteronom legitimierten demokratischen Entscheidung zu rechtfertigen, das heißt, das Volk zu veranlassen, sich zu seinem wahren, vom Führer authentisch interpretierten Willen zu bekennen.
Um den Gedanken einer heteronom legitimierten Demokratie zu verwirklichen, bedarf es einer monopolistischen Massenorganisation, die gleichzeitig dazu berufen ist, die Massen der der propagierten politi von Richtigkeit -schen Ziele so intensiv zu überzeugen, daß sie bereit sind, sie als Ausfluß ihres eigenen Willens anzuerkennen und bei der Unterdrükkung jeglicher Art Konkurrenzorganisation mitzuwirken, die geeignet ist, die Verwirklichung dieses Zieles in Zweifel zu stellen. 5. Die Neue Linke Erwin K. Scheuch hat in seinem Aufsatz über das Gesellschaftsbild der Neuen Linken
IV. Repräsentative und plebiszitäre Demokratie
In der Bundesrepublik kommt die demokratische Legitimierung der Staatsgewalt in den Eingangsworten des § 80 Ziff. 1 StGB zum Ausdruck, daß oberster Verfassungsgrundsatz das Recht des Volkes sei, die gesamte Staatsgewalt „in Wahlen und Abstimmungen", das heißt mittelbar durch repräsentative Methoden („in Wahlen") oder unmittelbar durch plebiszitäre Methoden („in Abstimmungen")
auszuüben. Die Tatsache, daß sowohl in Artikel 20 Abs. 2 GG als auch in § 80 Ziff. 1 StGB die Wahlen an erster und die Abstimmungen erst an zweiter Stelle aufgeführt sind, läßt bereits den Schluß zu, daß im System des Grundgesetzes der Schwerpunkt demokratischer Legitimität auf der Verwendung der repräsentativen Methode liegt. Volksentscheide spielen im Grundgesetz nur eine völlig untergeordnete Rolle. Im Bund sind sie auf die Frage der Neugliederung der Länder (Art. 29 GG) beschränkt. Eine Minderheit der Landes-verfassungen kennt den Volksentscheid überhaupt nicht; die Mehrheit der Landesverfassungen verwendet ihn lediglich in relativ engen Grenzen.
Das Grundgesetz knüpft bewußt nicht an Demokratievorstellungen an, die dem Modell der antiken Polis, dem in Neu-England anzutreffenden townmeeting und der Verfassung einiger Schweizer Kantone entsprechen. Die dem Demokratieverständnis breiter Kreise zugrunde liegende Vorstellung, eine Repräsentativverfassung sei lediglich ein Substitut der wahrhaft demokratischen Plebiszitärverfassung und könne nur mit pragmatischen Erwägungen gerechtfertigt werden, steht im offenkundigen Gegensatz zu dem System und dem Wortlaut des Grundgesetzes und der ihnen zugrunde liegenden demokratischen Theorie.
In ihrer extremen Form befürwortet die plebiszitäre Demokratie, daß die Gesetzgebung tunlichst unmittelbar durch das Volk mittels Volksbegehren und Volksentscheid ausgeübt wird. Soweit sie aus pragmatischen Gründen glaubt, auf Parlamente nicht verzichten zu können, fordert sie, daß die Abgeordneten an ein imperatives Mandat gebunden und jederzeit abberufbar sein sollen. Sie verwirft das Gewaltenteilungsprinzip, die Unabhängigkeit der Justiz, eine zentralisierte Staatsgewalt, stehende Heere und das Verfassungsinstitut eines lebenslänglich angestellten Berufsbeamtentums. Ihre klassische theoretische Darstellung findet sich im dritten Abschnitt von Karl Marx'Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich". Diese Schrift, die maßgeblich zu dem Kult um die Kommune von 1871 beigetragen hat, hat einen entscheidenden Einfluß auf Lenins Staats-denken ausgeübt. Sie bildet die Grundlage von Lenins Broschüre „Staat und Revolution", die am Vorabend der Oktoberrevolution entstanden ist und deren Verlauf maßgeblich beeinflußt hat. Marx'„Bürgerkrieg in Frankreich" und Lenins „Staat und Revolution" bilden das Alte und Neue Testament, auf denen die Staatstheologie der Neuen Linken aufgebaut ist.
Der Kult, der mit der Kommune von 1871 getrieben wird, hat die Erinnerung an die Kämpfe überschattet, die während der Großen Revolution in den Jahren 1793/94 um die Verwirklichung einer radikalen plebiszitären Demokratie geführt worden sind. In ihrer Endphase spielten sie sich zwischen den Jakobinern und einer ultra-radikalen antijakobinistischen Opposition ab, deren Kern die von Robespierre weitgehend liguidierten enrages bildeten. Sie haben Cohn-Bendit und seinen Anhängern im Mai 1968 nicht nur ihren Namen hinterlassen, sondern auch ihre Ideologie vererbt
Gänzlich unabhängig hiervon ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten von Amerika in der praktischen Politik der Gedanke der plebiszitären Demokratie besonders markant in der „populistischen" Bewegung einiger westlichen und südlichen Staaten sowie insbesondere im mittleren Westen in Erscheinung getreten
Die gleicherweise unerwartete und hochbedeutsame, in Gestalt der Demoskopie in Erscheinung tretende Neubelebung plebiszitärer Tendenzen war zwar in den USA im Zeitpunkt des Erlasses des Grundgesetzes bereits voll entwickelt, in Deutschland jedoch lediglich in Ansätzen in Erscheinung getreten. Die Demoskopie findet in dem Grundgesetz keine Erwähnung. Praeter constitutionem hat sie sich in der Verfassungswirklichkeit inzwischen so stark durchgesetzt, daß sie als ein Institut der „lebenden Verfassung" angesprochen werden kann, das an Bedeutung zahlreiche Institute der „geschriebenen Verfassung" weit in den Schatten stellt.
Von einem verfassungsrechtlich geregelten Plebiszit unterscheidet sich eine demoskopische Umfrage vor allem dadurch, daß 1. in einem Plebiszit die zu beantwortenden Fragen von gesamtpolitisch verantwortlichen Verbänden und nicht von privaten Geschäfts-unternehmen formuliert werden;
2. in einem Plebiszit jeder Bürger berechtigt ist, an einer politischen Entscheidung mitzuwirken, während bei einer Meinungsumfrage einige Personen aufgefordert werden, zu einer mehr oder weniger kontroversen Materie Stellung zu nehmen; 3. in einem Plebiszit jeder Bürger Gelegenheit hat, sich vor seiner Stimmabgabe ausreichend zu informieren, während bei einer Meinungsumfrage ohne jede Vorbereitung aus dem Stegreif geantwortet werden soll; 4. in einem Plebiszit das Verfahren gesetzlich geregelt und das Abstimmungsergebnis von Amts wegen kontrolliert wird, während Meinungsumfragen formlos durchgeführt werden.
Zu den drängenden Strukturproblemen der Gegenwart gehört die Frage, ob und bis zu welchem Grade die Mitglieder der Regierung und des Parlaments, die Manager der Parteien und Verbände und die an der Bildung der öffentlichen Meinung führend beteiligten Journalisten, Rundfunk-und Fernsehreporter sich bei Wahrnehmung ihrer öffentlichen Funktionen durch Rücksichtnahme auf die Ergebnisse der Meinungsumfragen maßgeblich bestimmen lassen.
D. Das soziale Substrat der Regierungssysteme der BRD und der DDR
I. Die Politologie des „Volks" begriffs Die landläufige Definition, Demokratie sei Herrschaft des Volkes unter maßgeblicher Berücksichtigung des Freiheits-und Gleichheitsprinzips, ist politikwissenschaftlich sinnvoll nur, wenn Klarheit über den Begriff „Volk" gewonnen ist.
Unter „Volk" kann verstanden werden: 1. eine historisch gewachsene, organische Einheit, das heißt eine transpersonalistische „Gestalt" mit einem eigenen einheitlichen Willen, in dem sich entweder der durch seine Einmaligkeit ausgezeichnete „Volksgeist" manifestiert oder eine volonte generale zur Entstehung gelangt; 2. die Summe der zwar in einem einheitlichen Staate lebenden, im übrigen aber weitgehend isolierten Individuen, die bestrebt sind, in niemals abbrechenden, rationale Argumente verwertenden Auseinandersetzungen und Diskussionen zu einer einheitlichen Meinung über alle öffentlichen Angelegenheiten zu gelangen, das heißt aber „a government by public opinion" zu errichten; 3. eine amorphe Masse von Angehörigen eines politischen Verbands, in dem mittels einer manipulierten, die moderne Reklame-technik verwertenden Massenbeeinflussung ein durch den Konformismus der Lebensgewohnheiten und Denkweisen gekennzeichneter consensus omnium hergestellt wird, dessen charakteristische politische Ausdrucksform die acclamatio ist; 4. die Angehörigen der in den verschiedenartigsten Körperschaften, Parteien, Gruppen, Organisationen und Verbänden zusammengefaßten Mitglieder einer differenzierten Gesellschaft, von denen erwartet wird, daß sie sich jeweils mit Erfolg bemühen, auf kollektiver Ebene zu dem Abschluß entweder stillschweigender Übereinkünfte oder ausdrücklicher Vereinbarungen zu gelangen, das heißt mittels Kompromissen zu regieren.
Eine politikwissenschaftliche Klärung des „Volks" begriffs ist nicht zuletzt deshalb unerläßlich, weil sie den Schlüssel zum Verständnis einer jeden demokratischen Parteienlehre bietet.
Stark vereinfachend kann gesagt werden, daß der erste der oben entwickelten Volksbegriffe konservativem, der zweite liberalem, der dritte faschistischem und der vierte pluralistischem Staatsdenken entspricht, wozu nur am Rande zu vermerken ist, daß die moderne Rousseau-Forschung die traditionelle Vorstellung, der Prophet der volonte generale sei ein revolutionärer und deshalb notwendigerweise antikonservativer Staatsdenker gewesen, weitgehend aufgegeben hat.
Die von Gustav Radbruch kurz vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte rechtsphilosophisch fundierte Lehre der „transpersonalen" und „individualistischen" Parteien
Im Zeitalter des Massen-und pluralistischen Staats hat die romantische Vorstellung, der Volkswille stelle die Emanation des „Volksgeistes" dar, ebenso an Überzeugungskraft verloren wie die rationalistische Vorstellung, der Volkswille vermöge sich automatisch aus dem Prozeß der Bildung der öffentlichen Meinung herauszukristallisieren. Beide Theorien müssen in der Gegenwart vornehmlich dazu herhalten, durch Verwendung einer demokratischen Terminologie zur Rechtfertigung politischer Grundeinstellungen zu dienen, deren Ideologien aus der vordemokratischen Epoche in die Gegenwart herübergerettet werden sollen: Die Volksgeistlehre ist dazu berufen, das aristokratisch-konservative Staatsdenken, die Theorie der „public opinion" ist dazu berufen, das extrem-liberale Staatsdenken des laisserfaire lebendig zu erhalten. Zwar spuken die Vorstellungen, das Volk sei entweder eine „transpersonale" organische Einheit oder eine Summe isolierter Individuen, noch im unreflektierten politischen Denken der Gegenwart; im reflektierten politischen Denken sind sie jedoch längst durch die realistische Vorstellung in den Hintergrund gedrängt, daß in unserer Zeit das Volk auf der politischen Bühne auf die Rolle einer amorphen Masse beschränkt sei, wenn es ihm nicht gelingt, sich unter Berücksichtigung seiner mannigfaltigen Differenzierungen kontinuierlich als Einheit neu zu formieren. Das Gegensatzpaar Konservatismus — Liberalismus hat zunehmend an Bedeutung für das Verständnis grundlegender politischer Probleme verloren und ist weitgehend durch das Gegensatzpaar Totalitarismus —Pluralismus verdrängt worden.
Vom Blickpunkt einer idealtypisch homogen strukturierten Gesellschaft aus gesehen trägt ein jedes Mehrparteiensystem, weil es geeignet erscheint, die einheitliche „Volksgemeinschaft" zu zersetzen, einen desintegrierenden Charakter. Hieraus erklärt sich nicht zuletzt der Ruf nach dem Einparteienstaat und die Forderung nach der gewaltsamen Unterdrückung aller konkurrierenden Parteien, was im Ergebnis der Errichtung einer Diktatur gleichkommt.
Vom Blickpunkt einer idealtypisch heterogen strukturierten Gesellschaft aus gesehen trägt ein jegliches Mehrparteiensystem, weil es die zahllosen Gruppen und Grüppchen in einige wenige Parteiblöcke einfügt, integrierenden Charakter und macht dergestalt eine parlamentarische Regierung überhaupt erst möglich.
Nur unter Berücksichtigung einer realistischen Einstellung zu dem Phänomen der heterogenen Struktur unserer Gesellschaft wird die symptomatische Bedeutung der Verfassungsbestimmung voll verständlich, die besagt, daß die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken (Art. 21 GG). Indem das Grundgesetz sich weder zu dem Gedanken bekennt, unsere Demokratie beruhe auf einem vorgegebenen einheitlichen Volkswillen noch die Bildung eines solchen einheitlichen Volkswillens anstrebt, vielmehr das Prinzip verkündet, der Volkswille habe sich stets von nenem im dialektischen Prozeß antagonistischer Fräfte zu bilden, bekennt es sich zu den C. undprinzipien der pluralistischen Staatstheorie. Das Grundgesetz ist bestrebt, aus der heterogenen Not eine pluralistische Tugend zu machen.
In einer pluralistischen Demokratie sind die Parteien mehr als Sprachrohre eines nicht-artikulierten Massenwillens; sie sind zusätzlich und vor allem Clearinghäuser der artikulierten Gruppenwillen.
II. Homogen und heterogen strukturierte Demokratie
Solange das politische Denken sich an dem Antagonismus zwischen konservativen und liberalen Ideologien ausgerichtet hatte, war die für die Gegenwart fundamental wichtige Frage, ob es wünschenswert sei, die Verwirklichung des Idealtypus eines mehr homogen oder eines mehr heterogen strukturierten Herrschaftssystems anzustreben, noch nicht profiliert in das öffentliche Bewußtsein getreten. Man glaubte sich ihrer Erörterung durch den Hinweis auf den dualistischen Charakter von Staat und Gesellschaft entziehen zu können. Wenn auch mit gewissen politisch, wirtschaftlich und sozial nicht unwesentlichen Nuancierungen, bekannten sich Konservative und Liberale gleicherweise zu dem homogenen nationalen Machtstaat und zu der heterogen auf Differenzierung des Privateigentums basierenden privatkapitalistischen Gesellschaftsordnung. Die Vorstellung, daß sich aus dem Dualismus von homogen strukturiertem Staat und heterogen strukturierter Gesellschaft Spannungen entwickeln könnten, die die Errichtung einer Volksherrschaft auf die Dauer unmöglich zu machen geeignet seien, war nur bei den radikalen Flügelgruppen vorhanden. Von dem Dogma ausgehend, nur in einer völkisch homogenen Nation sei Volksherrschaft möglich, befürworten die Anhänger der Lehre, der maßgebliche Integrationsfaktor einer jeden Nation sei die rassische Gleichheit ihrer Bürger, die Ausschaltung, wenn nicht gar Vernichtung aller „Artfremden".
Andererseits bildet die Annahme, daß das allein maßgebliche Merkmal einer heterogenen Gesellschaft deren Aufspaltung in antagonistische Klassen sei, die Basis für das Dogma, daß in einer klassengespaltenen Gesellschaft bestenfalls eine „formale" Demokratie verwirklicht werden könne. Hieraus wird alsdann die Forderung abgeleitet, durch Beseitigung der Klassenherrschaft zur Begründung einer klassenlosen Gesellschaft als essentiellem sozialen Substrat einer „wahren" Demokratie zu gelangen. Dieses Postulat kann nach der marxistisch-leninistischen Theorie und nach geschichtlicher Erfahrung nur gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung und mittels (zumindest vorübergehender) Suspendierung der grundrechtlich garantierten Freiheitsrechte und des rechtsstaatlichen Prinzips der unverbrüchlichen Geltung der Rechtsordnung, das heißt auf dem Wege der Diktatur verwirklicht werden. Glauben nach errungenem Sieg die Gralshüter der „wahren" Demokratie Anlaß zu der Befürchtung zu haben, die Homogenität der Gesellschaftsordnung könne mittels Verwendung des freien Wahlrechts und seiner Konnexinstitute in Frage gestellt werden, so dürften sie nicht zögern, Relikte und Ansätze einer „formalen" Demokratie zu beseitigen — notfalls mit Unterstützung von Panzern sozialistischer Schwesternationen, wie das Beispiel der Tschechoslowakei schlüssig bewiesen hat.
Da die Identifizierung von homogen strukturierter Gesellschaftsordnung und „wahrer" Demokratie die Mißachtung der Grundprinzipien einer „formalen" Demokratie, insbesondere des für jede „formale" Demokratie fundamental wichtigen, auf freien Wahlen basierenden Mehrheitsprinzips, einschließt, kann die „wahre" Demokratie nicht autonom, sondern lediglich heteronom legitimiert werden. In einer idealtypischen „wahren" Demokratie bilden die Homogenität ihrer gesellschaftlichen Struktur und die Heteronomie ihrer Legitimität korrespondierende Begriffe.
Wo immer die öffentliche Meinung der Ansicht huldigt, die „wahre" Demokratie solle mit einem Heiligenschein versehen und der „formalen" Demokratie eine Narrenkappe aufgesetzt werden, kann mit Sicherheit vorausgesagt werden, daß die Diktatur auf dem Marsch ist.
Die leidenschaftliche Polemik der Neuen Linken gegen die „formalen Demokratien" in all ihren Erscheinungsformen erklärt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, daß nirgendwo in der Welt die Umwandlung einer heterogenen in eine homogene Gesellschaft mit dem Stimmzettel beschlossen worden ist. Gerade weil eine tunlichst reibungslos sich betätigende „formale Demokratie" die sicherste Garantie der heterogenen Gesellschaft dargestellt hat und darstellt, vermochte sie, solange sie sich ungestört betätigen konnte, das Aufkommen eines omnipotenten Staates zu verhindern. Die These der Neuen Linken, eine formaldemokratisch strukturierte Gesellschaft ende -— wie das Beispiel des Nationalsozialismus beweise — automatisch im Faschismus, ist falsch, weil sie übersieht, daß die Weimarer Formaldemokratie lange aufgehört hatte, reibungslos zu funktionieren, bevor Hitler an die Macht kam.
Die vor einer Generation namentlich in Links-kreisen gängige Behauptung, es bestehe eine Symbiose zwischen Spätkapitalismus und Faschismus, verallgemeinerte unzulässigerweise eine vorübergehende Situation. Die Verfechter dieser Theorie
Es ist durchaus verständlich, daß während der großen Depression die Widerstandskraft des Kapitalismus unterschätzt worden ist. Es ist jedoch unverantwortlich, Argumente unkritisch zu wiederholen, die durch die Geschichte widerlegt sind.
III. Pluralismus und Totalitarismus
Es bedurfte der Erschütterungen des Ersten Weltkrieges und der bolschewistischen und faschistischen Revolutionen, um zu bewirken, daß die „Gestalt" des totalen Staates, sei es als Ideal, sei es als Schreckgespenst, in das politische Bewußtsein breiterer Kreise der Bevölkerung eindrang. Etwa gleichzeitig wurde die Rolle entdeckt, die Verbände — gleich welcher Art — im Prozeß der politischen Willensbildung zu spielen geeignet sind, und die latenten Gefahren erkannt, die aus der mit Hilfe politischen Druckes geltend gemachten Wahrnehmung kollektiver Interessen zu entstehen vermögen. Wenn auch nicht dem Namen, so doch der Sache nach wurde das Phänomen des Pluralismus eine der meistbeachteten politischen Erscheinungen einer Zeit, in der die „pressure groups" sich anschickten, die Parteien mehr und mehr in den Hintergrund zu drängen.
Hatte in der Zeit der Auflösung der Weimarer Republik die Angst vor der latent stets vorhandenen, desintegrierenden Wirkung des Pluralismus nicht unwesentlich zu dem Ruf nach dem „totalen Staat" beigetragen, so bot sich nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus der Gedanke fast automatisch an, den Pluralismus als Mittel zur Überwindung des Totalitarismus zu verwenden. Auf der bitteren Erfahrung fußend, daß jedem totalen Staat das Streben nach Errichtung einer homogen strukturierten Gesellschaft immanent ist, entdeckten die Gegner des Massenstaats und die Befürworter eines Neo-Pluralismus die Bedeutung, die der heterogene Charakter einer Gesellschaft für Freiheit und Recht zu haben vermag. Sie konnten insoweit an die Erfahrung anknüpfen, die allenthalben diesseits des Eisernen Vorhangs während des letzten halben Jahrhunderts mit dem erfolgreich durchgeführten Unterfangen gemacht worden ist, die Arbeiterschaft gerade dadurch in Staat und Gesellschaft zu integrieren, daß den Gewerkschaften ermöglicht wurde, in einer heterogen strukturierten Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung als Träger kollektiver Interessen in Erscheinung zu treten.
Dieser Vorgang ist symptomatisch für das Bestreben der westlichen Demokratien, die Mitwirkung ihrer Bürger in Staat und Gesellschaft gerade auf den Gebieten besonders wirksam auszugestalten, die nicht sosehr im Bereich der „großen Politik" als vielmehr im Alltag des wirtschaftlichen und sozialen Lebens in Erscheinung treten. Sie ist für alle Gemeinwesen von hervorragender Bedeutung, die die beste Gewähr für das reibungslose Funktionieren einer lebendigen Demokratie in der Errichtung und Ausgestaltung tunlichst enger, vornehmlich — aber keineswegs ausschließlich — auf kollektiver Ebene zu verwirklichender Kontakte zwischen dem Staat und seinen Bürgern erblicken. Von der Erfahrungstatsache ausgehend, daß in der modernen Industriegesellschaft das Individuum gegenüber den öffentlichen und sozialen Gewalten einen ausreichenden Schutz nur finden und auf deren Entscheidungen einen wirksamen Einfluß nur ausüben kann, wenn es als Glied einer autonomen Kollektivorganisation handelt, haben sowohl die Weimarer Verfassung als auch das Grundgesetz die Koalitionsfreiheit in ihrer doppelten Form -— das heißt als individuelles Freiheits-und kollektives Betätigungsrecht — unter erhöhten Verfassungsschutz gestellt. Sie ist verfassungsrechtlich nicht nur gegenüber dem Staat und seinen Organen, sondern auch gegenüber Privatpersonen gewährleistet — oder, wie die Verfassungsjuristen dies ausdrücken: sie ist ein Grundrecht „mit Dritt-wirkung" (Art. 9 Abs. 3 GG; Art. 159 und Art. 165 Abs. 1, letzter Satz Weimarer Verfassung). Niemand sollte verkennen, daß auf dem besonders heiklen Gebiet der Einflußnahme der Verbände auf Gesetzgebung und Verwaltung die Versuchung zur Ausübung ökonomischer und sozialer Machtpositionen besonders groß ist; niemand sollte versuchen, Mißstände zu vertuschen, die in Vergangenheit und Gegenwart durch die vielgeschmähte „Herrschaft der Verbände" in Erscheinung getreten sind. Nur ist es eine gleicherweise unzulässige Methode und ein allzu billiges Verfahren, über Institutionen und Verfahrensweisen schon allein deshalb den Stab zu brechen, weil die Möglichkeit ihrer Pervertierung besteht.
Die übliche Verketzerung der wirtschaftlichen und sozialen Verbände als „Interessenhaufen", „Pressure Groups" und „Lobbies" reflektiert die Befangenheit breitester Kreise der Bevölkerung in obrigkeitsstaatlichem, wenn nicht gar totalitärem Denken. Sie bekunden hierdurch ihre mangelnde Bereitschaft, sich von der Vorstellung zu lösen, ein „guter Staat" müsse dem Modell einer Gemeinschaft entsprechen, in dem der weise Gesetzgeber in der Lage ist, den Gemeinnutz zu verwirklichen — allerdings nur, nachdem er vorher die Götzendiener des Eigennutzes aus dem Aller-heiligsten des Staatstempels vertrieben hat. Sie machen sich im allgemeinen keine Gedanken darüber, wie der allweise Gesetzgeber ohne jedwede Konsultation mit den Repräsentanten der Partikularinteressen in der Lage sein soll, ausfindig, zu machen, z. B. welche Regelung der Mehrwertsteuer, welche Konzeption eines Verkehrsplans, welche mittelfristige Finanzplanung mit ihren unzähligen Sozialproblemen am besten dem „Gesamtinteresse" entspricht. Sie lieben es nicht, daran erinnert zu werden, daß es von alters her zum politischen Handwerk aller Alleinherrscher gehört hat, ihr Herrschaftsmonopol mit dem Argument rechtfertigen, kraft sie seien charismatischer ausersehen, ein Begnadung a priori vorgegebenes Gemeinwohl zu erkennen, zu interpretieren und zu verwirklichen.
Es blieb den Tyrannen des 20. Jahrhunderts vorbehalten, ihre Alleinherrschaft hinter dem doppelten Schleier von Wahlen ohne Alternativen und von gleichgeschalteten Verbänden ohne innerer Autonomie zu verbergen.
Wer bereit ist, in der Deutschen Arbeitsfront und dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) typische Erscheinungsformen totalitärer, und deshalb unfreier Regime zu erblicken, sollte nicht zögern, die autonomen wirtschaftlichen und sozialen Interessenverbände als typische Erscheinungsformen einer pluralistischen und deshalb freien Demokratie anzusprechen.
Der Pluralismus ist die Staatstheorie des Reformismus. Er lehnt implicite die These ab, daß der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit, dessen Existenz er nicht in Zweifel zieht, mit geschichtlicher Notwendigkeit dazu führen muß, daß er in der klassenlosen Gesellschaft „aufgehoben" wird. Der Pluralismus erblickt in diesem Antagonismus vielmehr eine besonders markante und politisch überragend bedeutsame Erscheinungsform einer die gesamte industrielle Massengesellschaft durchziehenden von Interessengegen Kette -sätzen, die nur dann nicht zur Desintegration von Staat Gesellschaft führen geeignet und zu sind, wenn den Verbänden nicht verwehrt ist, sie offen auszutragen, und dem Staat die Möglichkeit gewährt ist, bei ihrer — sei es kurzfristigen, sei es langfristigen, sei es kontinuierlichen — Schlichtung mitzuwirken.
Pluralistisches Staatsdenken beruht auf der optimistischen Hypothese, eine lebensfähige politische Demokratie könne auch bei Verzicht auf die Verwendung der utopischen Krücken eines allumfassenden consensus omnium und eines allgemein gültigen bonum commune funktionieren. Heterogen strukturierte Demokratie und ein allumfassender consensus omnium sind ebensowenig in Einklang miteinander zu bringen wie autonom legitimierte Demokratie und ein allgemein gültiges bonum commune. Die Absage an den Gedanken eines allumfassenden consensus omnium schließt aber ebensowenig die Bejahung der Möglichkeit eines partiellen consensus omnium aus, wie die Verwerfung der Idee eines a priori gültigen bonum commune etwas darüber besagt, ob es nicht angängig ist, sich um die Verwirklichung eines a-posteriori-Gemeinwohls zu bemühen.
Die Annahme, es sei jemals in sozialen der Realität möglich, den Idealtypus eines allumfassenden consensus omnium restlos zu verwirklichen, ist ebenso unrealistisch wie die Behauptung, in einer klassengespaltenen Gesellschaft sei die Divergenz der Meinungen, Zielsetzungen und Wertvorstellungen jeweils so groß, daß der Gedanke eines irgendwie gearteten consensus omnium notwendigerweise den Charakter einer Ideologie tragen müsse. In Wirklichkeit haben wir in jeder differenzierten Gesellschaft zwischen einem kontroversen Sektor ohne einen generellen Konsens und einem nichtkontroversen Sektor mit einem generellen Konsens zu unterscheiden
Unablässig ist die pluralistische Demokratie von der Gefahr bedroht, entweder durch Über-betonung der sie kennzeichnenden sozialen Spannungen die Reaktion eines bösartigen Despotismus in Gestalt eines Neo-Faschismus hervorzurufen oder aber durch eine auf ein Erlahmen dieser Spannungen zurückzuführende allgemeine politische Lethargie und Apathie in einem wohlwollenden Despotismus zu erstarren, wie ihn Tocqueville vorausgeahnt hat
Das vielleicht schicksalsschwerste politische Strukturproblem unserer Periode besteht darin, Vorsorge zu treffen, daß die nicht zuletzt durch die Entwicklung der modernen Massenmedien progressiv zunehmende Isolierung der Bürger zu deren totaler Vermassung führt, die weder organisatorisch gewappnet noch ideologisch vorbereitet sind, den Tendenzen zur Errichtung eines totalen Staates ausreichend wirksamen Widerstand entgegenzusetzen. Allen Widerständen zum Trotz muß darauf bestanden werden, daß das allein wirksame Palliativmittel gegen diese Gefahr in dem Auf-und Ausbau ausreichend akzentuierter, gesamtpolitisch verantwortungsbereiter und verantwortungsbewußter autonomer Gruppen und Parteien zu suchen ist, denen die Aufgabe zufällt, als demokratisch strukturierte „pouvoirs intermediaires"
Der nicht-kontroverse Sektor, dessen Existenz sich unschwer empirisch nachweisen läßt, beruht auf einer im Kollektivbewußtsein — und vor allem im kollektiven Unterbewußtsein — wirksamen Tradition, die bewirkt, daß zahlreiche Fakten, Verhaltensweisen, Beurteilungsmaßstäbe, Institutionen und soziale Gebilde als selbstverständlich hingenommen werden, obwohl sie vormals heiß umstritten gewesen sein mögen und in anderen Ländern heute noch umstritten sind. Zu ihnen gehören (um nur einige Beispiele herauszugreifen) das fundamental wichtige Prinzip, daß Mehrheit entscheidet, die Gleichheit vor dem Gesetz, das allgemeine, geheime, gleiche, direkte Wahlrecht, das Prinzip der Sozialversicherung, die Neutralität des Staates in allen religiösen Fragen, die Unzulässigkeit der Folter, die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren, die Schulpflicht, die Unentgeltlichkeit des Schulunterrichts, die Zivilehe u. a. m.
So fundamental wichtig für ein rechts-und staatsphilosophisch vertieftes Verständnis einer jeden gesellschaftlichen Ordnung es auch ist, sich mit dem Problem der „Geltung" dessen auseinanderzusetzen, was hier als allgemein anerkannter Wertkodex bezeichnet worden ist, muß es in diesem Zusammenhang doch genügen, auf seine Wirksamkeit hinzuweisen, ohne in eine Erörterung des Phänomens „Naturrecht" einzutreten. Auch wer die „Geltung" eines jeden Naturrechts — gleichgültig, ob es transzendental oder rational legitimiert wird — leugnet, kann sich an dessen Gebote dennoch gebunden erachten, weil sie einen essentiellen Bestandteil unseres Kulturerbes darstellen. Wenn es in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes heißt, daß es unzulässig sei, die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze durch verfassungsänderndes (geschweige denn durch einfaches) Bundesgesetz zu berühren, besagt dies nicht zuletzt, daß das in Art. 1 Abs. 2 GG ausgesprochene Bekenntnis des deutschen Volkes zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" die Bejahung eines allgemein verbindlichen Wertkodex einschließt. Es ist radikalen Ideologie-Enthüllungs-Fetischisten unbenommen, in einem solchen Wertkodex nicht mehr und nichts anderes als den überbau einer ständigen Wandlungen unterworfenen sozialen Realität zu erblicken. Nur sollte, wer die Fundamente unserer Grundrechtsordnung verneint, nicht gleichzeitig von sich behaupten, daß er auf dem Boden der Verfassung steht.
Die Anerkennung eines allgemein gültigen Wertkodex ist unerläßlich, um dem demokratischen Staat die ihm obliegende Funktion zu ermöglichen, stets dann regulierend einzugreifen, wenn keine Gewähr dafür besteht, daß aus dem Parallelogramm der ökonomischen, sozialen und politischen Kräfte eine Resultante hervorgeht, die den Minimalerfordernissen einer wirtschaftlich tragbaren und sozial erträglichen Lösung der anfallenden Probleme entspricht. Nur wenn der Staat sich dieser Aufgabe nicht entzieht, besteht eine Chance, daß in einer differenzierten Gesellschaft ein a-posteriori-Gemeinwohl verwirklicht werden kann.
Pluralismus darf nicht mit einer Wiederbelebung von „laisser fair" auf kollektiver Ebene gleichgesetzt werden. So bedeutsam für das Funktionieren einer pluralistischen Demokratie auch ist, daß das rechtsstaatliche Erbe des 19. Jahrhunderts nicht zu Schaden kommt, so deutlich sollte doch betont werden, daß, um auf die Dauer in ihrer Existenz gesichert zu sein, eine pluralistisch organisierte Demokratie eines sozialen Rechtsstaats bedarf.
E. Der Soziale Rechtsstaat
Ein Gemeinwesen, das sich bewußt in den Dienst der Aufgabe stellt, ein vorgegebenes Gemeinwohl zu verwirklichen, kann weder zulassen, daß die Austragung von Gruppengegensätzen dieses Ziel gefährdet, noch kann es dulden, daß „aus reinen Rechtsgründen" von dem Wege abgewichen wird, der allein verbürgt, daß die homogene „Volksgemeinschaft" sich stets und von neuem in dem Bemühen integriert, die ihm vorgeschriebene Mission zu erfüllen. Zwar kommt auch eine „totalitäre Demokratie" ohne eine Rechtsordnung nicht aus. Sie spricht dem Recht jedoch keinen Eigenwert, sondern ausschließlich eine pragmatische Bedeutung zu Bei einer Diskrepanz zwischen den Normen des positiv gesetzten Rechts und den aus dem Missionsauftrag abgeleiteten Geboten der materialen „Gerechtigkeit" muß in jeder heteronom legitimierten politischen Ordnung die formale Rationalität des Rechts gegenüber dessen materialer Rationalität zurücktreten. Noch niemals ist ein heteronom legitimierter Staat über Paragraphen gestolpert. In ihm gilt das Recht nicht unverbrüchlich. Ein Staat, in dem das Recht lediglich unter dem Vorbehalt des Politischen gilt und daher ohne Einschränkung zur Disposition des Inhabers der politischen Macht steht, ist eine Diktatur.
Ein Gemeinwesen, das seine Legitimität auf den Anspruch gründet, seine Bürger seien berufen und befähigt, kraft autonomer Entscheidung kontinuierlich einen Ausgleich zwischen den divergierenden Gruppeninteressen herzustellen, muß der formalen Rationalität des Rechts einen Eigenwert zusprechen. Ist doch die wirksame Wahrnehmung von Kollektivinteressen nur solange möglich, als die Koalitionsfreiheit als individuelles Freiheitsrecht und kollektives Betätigungsrecht ebenso unverbrüchlich gesichert ist, wie die Konnexinstitute eines freien Wahlrechts garantiert sind. Nur wo die ausreichende rechtsstaatliche Sicherheit besteht, daß frei verhandelt werden kann, ist zum mindesten die äußere Gewähr dafür gegeben, daß die fairen Kompromisse zustande kommen, die der pluralistischen Demokratie ihr spezifisches Gepräge geben. Für eine jede autonom legitimierte Demokratie stellen Verfahrensnormen mehr als beliebig manipulierbare technische Regeln dar, deren man sich lediglich solange bedient, wie dies der eigenen Sache förderlich ist. Ein Volk, das sich den Luxus leistet, autonom zu bestimmen, wie sein Schicksal ausgestaltet sein soll, das das Risiko eingeht, darauf zu vertrauen, daß das Gemeinwohl unter Berücksichtigung und durch den Ausgleich der Partikularinteressen erreicht werden kann, muß bereit sein, hierfür einen Preis zu zahlen. Wenn das für eine jede pluralistische Demokratie essentielle Bekenntnis zur unverbrüchlichen Geltung der positiven Rechtsordnung mehr als ein Lippenbekenntnis darstellen soll, müssen die Normen des positiven Rechts auch auf die Gefahr hin respektiert werden, daß ihre Anwendung im Einzelfall zu Entscheidungen zu führen vermag, die gegen die Gebote der Billigkeit verstoßen. Die in Deutschland so erschreckend weit verbreitete Neigung, den Organen der Rechtspflege stets dann „formalistisches" Rechtsdenken vorzuwerfen, wenn die gesetzestreue Anwendung des positiven Rechts zu Ergebnissen führt, die dem Laienverstand nicht ohne weiteres einleuchten, offenbart eine höchst bedenkliche Neigung, eine „Kadi-Justiz" zu bejahen, die dem Rechtsdenken autokratischer Herrschaftssysteme konform ist.
Eine autonom legitimierte Demokratie darf sich nicht damit begnügen, die Existenz der verschiedenartigen Gesellschaftsgruppen anzuerkennen und dafür Sorge zu tragen, daß sie in den Prozeß der politischen Willensbildung eingeschaltet werden. Sie muß (will sie nicht Gefahr laufen, zur Ideologie der wirtschaftlich und sozial prädominierenden Gruppen zu entarten) in Rechnung stellen, daß als isolierte Individuen die Mitglieder dieser Gruppen über extrem unterschiedliche Machtpositionen und Einflußmöglichkeiten verfügen. Abstrahiert man von den Chancen, die in der sozioökonomischen Realität die Angehörigen der verschiedenen Klassen tatsächlich auszuüben in der Lage sind, verschließt man seine Augen vor der Tatsache, daß Gleichheit des politischen Wahlrechts und Gleichheit vor dem Gesetz allein nicht genügen, um die Ungleichheit der sozialen Startsituation zu eliminieren, so läuft man Gefahr, gewollt oder ungewollt die Argumente all derer zu unterstützen, die den demokratischen Rechtsstaat als eine Attrappe denunzieren, hinter der sich die Herrschaft des Monopolkapitals verbirgt. Wie hoch man auch immer das Verdienst einschätzen mag, das der liberale Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts sich im Kampf gegen fürstliche Willkür und bürokratischen Absolutismus erworben hat, sollte man doch nicht verkennen, daß er, weil er sich einer individualistischen Gesellschaftsphilosophie verschrieben hatte, an der „sozialen Frage" scheitern mußte und tatsächlich auch weitgehend gescheitert ist.
Hieraus ergibt sich aber für den Staat die Notwendigkeit, dem übermäßigen Einfluß oligopolistischer, wenn nicht gar monopolistischer Träger sozioökonomischer Macht entgegenzutreten. Nicht minder bedeutsam ist für den Staat, dafür Sorge zu tragen, daß der Einfluß all der Bevölkerungskreise nicht zu kurz kommt, die außerstande sind, zwecks Wahrung ihrer Interessen ausreichend machtvolle Verbände zu bilden und funktionsfähig zu erhalten. Ein jeder Versuch, „die soziale Frage" einer Lösung näherzubringen, muß das Bemühen einschließen, aut kollektiver Ebene zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen eine Waffengleichheit zu begründen, deren Fehlen maßgeblich zum Scheitern des liberalen Rechtsstaats des 19. Jahrhunderts beigetragen hat.
Sozialer Rechtsstaat bedeutet, 1. daß nur solche Gesetze erlassen und erzwungen werden dürfen, die den im Grundrechtskatalog niedergelegten Grundsätzen einer materiellen Gerechtigkeit entsprechen; 2. daß Gesetze, die diesen Mindestforderungen genügen, . unverbrüchlich'durchgeführt werden;
3. daß die Einhaltung der Prinzipien des materiellen und formellen Rechtsstaats ausnahmslos gerichtlicher Nachprüfung unterliegt; 4. daß das Bekenntnis zum Rechtsstaat nicht als politische Entscheidung zugunsten einer bestimmten, einseitig das individuelle Interesse betonenden Wirtschafts-und Sozialauffassung interpretiert werden darf;
5. daß die Leitideen rechtsstaatlichen Denkens sich nicht nur auf das Verhältnis des Individuums zu öffentlichen, sondern auch auf sein Verhältnis zu sozialen Gewalten beziehen
[2] R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1966.
[3] Th. Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland (Die Wissenschaft von der Politik. Bd. 1), 2. überarb. und erw. Ausl. Köln/Opladen 1965.
[4] E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 3. veränd. Ausl. Stuttgart 1968.
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[6] C. J. Friedrich, Demokratie als Herrschafts-und Lebensform, Heidelberg 1959.
[7] E. Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: Parlament und Regierung im modernen Staat, Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, H. 16, Berlin 1958, S. 9— 73.
[8] A. Grosser, Die Bonner Demokratie, Düsseldorf 1960.
[9] J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962.
[10] H. -H. Hartwich (Hrsg.), Politik im 20. Jahrhundert, Braunschweig 1964.
[11] K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts in der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 1967.
[12] M. Hättich, Demokratie als Herrschaftsordnung, Köln 1967.
[13] O. Hintze, Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. von Gerhard Ostreich, 2. erw. Ausl. Göttingen 1962.
[14] O. Kirchheimer, Politik und Verfassung, Frankfurt a. M. 1964.
[15] K. Kluxen (Hrsg.), Parlamentarismus (Neue wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 18), Köln/Berlin 1967.
[16] M. G. Lange, Politische Soziologie, Berlin/Frankfurt a. M. 1961.
[17] G. Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe 1958.
[18] K. Loewenstein, Der britische Parlamentarismus. Entstehung und Gestaltung, Reinbek 1964. [19] K. Loewenstein, Verfassungslehre (Political Power and Governmental Process), übers, von Rüdiger Boerner, Tübingen 1959.
[20] S. Mampel, Die volksdemokratische Ordnung in Mitteldeutschland, Frankfurt a. M. /Berlin 1963.
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[22] G. Sartori, Democratic Theory (Democrazia e definizione), Detroit 1962.
[23] J. L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie (TheOrigins of Totalitarian Democracy), übers, von Efrath B. Kleinhaus, Köln/Opladen 1961.
[24] Der Weg in die Diktatur 1918— 1933. Zehn Beiträge v. Theodor Eschenburg u. a. Eine Sendereihe im 3. Programm des Norddeutschen Rundfunks, München 1962.