„Soyez realistes — demandez l'impossible" Parole an einer Seine-Brücke in Paris (Pont Neuf) seit dem Mai 1968
Eine der unerwartetsten Erfahrungen all derjenigen, die Not und Elend des Zusammenbruchs von 1945 erlebt hatten und den mühsamen Aufstieg danach, war es wohl, als die folgende Generation, die bereits wieder in Wohlstand und Sicherheit aufwuchs, alles das, was da neu geschaffen worden war, nicht mehr so sehr als eine großartige Errungenschaft betrachten wollte, sondern über Atembeschwerden darin sich zu beklagen begann. Während die einen im Ausgang sozusagen vom Nullpunkt noch stolz auf die Leistung kollektiver Anstrengung des überlebens schauten, bestritten die anderen dies als Gesichtspunkt heutiger Diskussion. Was sie gegenüber allem Wohlstand und aller Sicherheit bewegte, war ein erschreckender Verlust an Freiheit, die Tatsache, daß sich ein sozialer Rechtsstaat in der Mitte des 20. Jahrhunderts offensichtlich nur auf Kosten der Freiheit seiner Bürger verwirklichen läßt, weil die Gesellschaft selbst sich notwendig darin zunehmend der Ökonomie, der Technik und der Wissenschaft ausliefert. In einer reichlich versorgten und umfassend verwalteten Welt brach plötzlich die Be
1. Die Protestbewegung der Studenten
Die Erscheinung, die dabei zur nachhaltigsten Provokation der Gesellschaft geworden ist, ist jene Protestbewegung der Studenten, die selbst als wichtigstes Mittel des Kampfes eben die Provokation entwickelt hat. Die Gründe für die große Protestbewegung sind so vielfach analysiert worden, daß wir ihnen hier nicht weiter nachzugehen brauchen: Sie reichen vom Zusammenprall der wissenschaftlichen Rationalität mit der traditionellen Struktur unserer Universitäten sowie ihrer umfassender werdenden Aufgaben mit ihrer immer mangelhafter sich erweisenden Ausstattung fürchtung auf, es könne sich unter dem Mantel von Sicherheit und Wohlstand eine fortschreitende Entmenschlichung der Verhältnisse begeben und das Bestehende selbst keine qualitative Veränderung mehr suchen, sondern einzig noch die Stabilisierung seines Bestands. So sah man verwundert, wie das Gefühl der Erstarrung und Verhärtung schließlich dazu führte, daß das Irreguläre und Illegale als treffendstes Mittel einer für notwendig erachteten Aufklärung zur Befreiung ergriffen wurde und daß die Humanisierung der Verhältnisse, auf die man sich fraglos hin zu bewegen glaubte, durch radikale Kritik des Bestehenden zuallererst provoziert werden sollte. über das Unbehagen angesichts der Diskrepanz zwischen demokratischem Anspruch der Gesellschaft und dem tatsächlichen Zustand ihrer Organisation bis hin zu der nachdrücklichen Ausbildung eines ganz eigenen Lebensstils der Jugend
Dennoch scheint es angebracht, von den Anfängen der ganzen Bewegung her für die folgenden Überlegungen drei Momente festzuhalten. Das erste Moment ist, daß es in unserer Gesellschaft nicht nur Grund genug gab für eine Rebellion, daß diese Rebellion vielmehr angesichts der bestehenden sozialpolitischen Verhältnisse kaum ein wirksameres Mittel hätte finden können als eben die Provokation. Das zweite Moment ist, daß Provokation, die ein Kampfmittel sein soll in der Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, in der auf andere Art und Weise kein Gehör zu finden war, keine sehr schöne Sache sein kann; sie muß unbequem, rücksichtslos und verletzend sein, entlarvend, beleidigend und boshaft — sie würde ihren Zweck sonst nicht erfüllen. Beides macht den Umgang mit den rebellierenden Studenten sehr schwer, beides aber geht wohl nicht so sehr zu Lasten der jungen Leute als auf das Konto einer Gesellschaft, die offensichtlich solcher Provokation bedarf, um in Bewegung zu geraten.
Für das dritte Moment ist etwas weiter auszuholen, da es für unser eigenes Unternehmen besonders bedeutsam ist. Die Protestbewegung der Studenten hat sehr schnell den Rahmen hochschulinterner Auseinandersetzungen gesprengt, und mag sie sich nach dem großen Ausbruch im Zusammenhang mit der Beratung und Verabschiedung der Notstandsgesetze seit dem Ende des vergangenen Sommers auch noch so Sehr wieder ganz auf die Universitäten zurückgewandt haben, jeder Versuch ihrer Reduktion erneut auf diesen Bereich wäre nichts als frommer Selbstbetrug.
Für die Studenten hat sich nämlich der Konflikt mit der Universität im Verlauf der Auseinandersetzungen immer deutlicher als ein Konflikt mit der Gesellschaft im ganzen erwiesen. Sie mußten sehr rasch begreifen, daß das Gerangel in der Universität sich um Widersprüche dreht, die keinen isoliert-universitären Charakter haben. Schien die Universität zunächst vielleicht mehr so etwas wie ein Relikt vergangener Zeiten und glaubte man, es würde genügen, sie auf einen ansonsten allgemein schon erreichten Stand der Demokratisierung zu bringen, so machte gerade das Zusammenwirken der gesellschaftlichen Kräfte bei den ganzen Unruhen unübersehbar, wie sehr die Universität in ihrem Rückstand selbst noch zeitgemäß ist und im Grunde nur reproduziert, was mehr oder weniger deutlich die gesamte Wirklichkeit bestimmt
Was die Aktionen der Studenten auf fortgeschrittenem Stand deshalb kennzeichnete, ist die gesamtgesellschaftliche Stoßkraft. Es ging darin nicht mehr so sehr um die spezifischen Interessen innerhalb der Universität, sondern um die Abwehr autoritärer Bestrebungen überhaupt, um die Etablierung wirklich demokratischer Verhaltensweisen, das heißt, es galt, mit der Universität die Gesellschaft zu reformieren, für die diese Universität steht
2. Die begrenzte Regelverletzung
1INHALT
1INHALT
Als die Studenten nach jahrelangem Mühen um die überfällige Hochschulreform einsehen mußten, daß dies — so wie auch andere politische Aktionen gegen offensichtliche Mißstände in der Gesellschaft überhaupt — nichts zu bewirken vermochte, so lange sich alles gesellschaftskonform abspielt, begannen sie — zunächst unterhaltsam und phantasiereich, später immer einfallsloser und verbissener — ihrem Protest eine neue Form zu geben: die Provokation. Sie verlegten sich auf Mittel, die in unserer besonderen Situation, das heißt einem bürokratisierten Herrschaftsapparat in* der Universität und der Gesellschaft gegenüber geeigneter schienen, den nötigen Aufklärungsprozeß als Voraussetzung wirklicher Veränderung des Bestehenden in Gang zu setzen, geeigneter als Eingaben, Vorschläge, Entwürfe und Diskussionen, die insgesamt nicht im geringsten angekommen waren. Da man sich in Universität und Gesellschaft trotz aller Aufforderung nicht wirklich an die Reformarbeit zu machen wußte, mußte man die entscheidenden Kräfte dazu zwingen — mit mehr oder weniger sanftem Druck —, man mußte sie provozieren; man mußte den Leerlauf des Betriebs an den Universitäten und das autoritäre Verhalten der dort Herrschenden aufdecken und das mangelhafte Funktionieren demokratischer Selbstkontrolle — um in all dem die bereits vielfach zur reinen Akklamation erstarrte Teilhabe aller am Geschehen in Staat und Gesellschaft zu aktivieren
In welcher Vielfalt von Formen solche Provokationen durchexerziert wurden, ist bekannt:
von den Tomaten, Eiern und Farbbeuteln über gestörte Rektoratsfeiern, gesprengte Vorlesungen, verbotene Plakataktionen bis zur Änderung der polizeilich festgelegten Marsch-richtung bei Demonstrationen, dem Hissen der Fahne des Vietcong und der Anmaßung des politischen Mandats der Studentenschaft — und immer wieder die schon in Berkeley so bewährten Sit-ins — von den schweren Auswüchsen wie Brandstiftung, Zerstörung und Aufruhr ganz zu schweigen. Stets galt es dabei, mit solchen Aktionen und insbesondere durch die fast berechenbare Reaktion der Provozierten darauf, Aufmerksamkeit und Anteilnahme zu erwecken, es zu jenem kritischen Spannungsverhältnis zu bringen, in dem die etablierte Macht sich einfach gezwungen sieht, bestimmte, bis dahin verleugnete oder verschleppte Dinge endlich in Angriff zu nehmen und sie einer zeitgerechten Lösung zuzuführen. Wenn wir heute feststellen, daß dieses erste Ziel der Provokation weithin erreicht worden ist, so mag das nicht als Billigung der genannten Mittel genommen werden; von dem Unbehagen, das diese Mittel verursachen, von dem Unbehagen aber auch an der Gesellschaft, die sie nötig macht, wird noch zu reden sein. Hier geht es zunächst nur darum, einzugestehen, daß der unbestreitbare Erfolg der ganzen Protestbewegung offensichtlich an'dieser Praxis der Provokation hängt, das heißt, daß man nur dadurch etwas erreichte, daß man sich auch „etwas an der Grenze der Legalität" bewegte, jenseits von ihr also
3. Die Wirkung der Provokation
Fragt man nach der Wirkung des Protests, dann muß man eben hiervon ausgehen. Vielleicht ist es gut, dazu nochmals die Berliner Studentenschaft zu hören. In einer Dokumentation über die Krise der Freien Universität, die vom AStA und den Studentengemeinden zusammen mit den politischen Studentengruppen 1966 herausgegeben wurde
Um es mit Marx zu sagen: Provokation ist „Kritik im Handgemenge, und im Handgemenge handelt es sich nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger, ein interessanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu treffen. Es handelt sich darum, (ihm) keinen Augenblick der Selbsttäuschung und der Resignation zu gönnen. Man muß den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Druckes hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert; . . . man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt. Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen."
Darüber, wie auf die gewichtigeren Provokationen der Studenten zunächst reagiert wurde, nicht nur von Polizei und Justiz, sondern auch von Professoren, Parteien und Regierungen, darüber ließe sich manch finstere Reflexion anschließen. Wir scheinen inzwischen jedoch in all diesen Bereichen ein Stück weitergekommen zu sein. Gerade daran zeigt sich, wie heilsam das Ganze war: die Provokationen haben Effekt gehabt; nicht nur den einer Ablösung von Polizeipräsidenten und Rektoren, sondern positiv: durch diesen kritischen Gegendruck von unten wurde der Beginn eines bedeutsamen Wandels erzwungen; es kamen nun nicht nur in den Hochschulen Reformen in Gang, über die man zuvor 20 Jahre lang nur geredet hatte, es kam vielmehr insgesamt zur Auflockerung des erstarrten Gefüges unserer Gesellschaft, zu einer Besinnung, die man beinahe schon nicht mehr für möglich gehalten hätte und die es ihrerseits nun möglich machen müßte, die drängenden Aufgaben unserer Zeit entschiedener, ehrlicher und wirksamer anzupacken als bisher. S.
4. Die Neue Linke
Zu dem aber, was wir an solcher Provokation und ihrem Effekt gelernt haben sollten, gehört auch die Auseinandersetzung mit der Gruppe unter den rebellierenden Studenten, die man die Neue Linke heißt und als deren Theoretiker Herbert Marcuse gilt.
Immer mehr ist ja auf den Höhepunkten der Protestbewegung deutlich geworden, daß man Provokation auch um der Provokation willen treiben kann. Es traten Aktionen in den Vordergrund, denen man im Blick auf Reform-bestrebungen jedenfalls keinerlei Sinn mehr abzugewinnen vermochte — Aktionen, die solchen Sinn sogar ausdrücklich abwiesen. Hierher gehören nicht nur die bekannten Gewalttaten selbst, das Eintreten von Türen, Aufbrechen von Schränken und Zerstören von Akten, das Erzwingen von Polizeieinsätzen und Knüppelhieben, sondern mit vielem anderen mehr der Ruf nach zwei, drei und noch mehr Vietnam sowie das Verlangen nach französischen Mai-Zuständen. Was diese Aktionen von der vorhin angesprochenen Provokation deutlich unterscheidet, ist die Tatsache, daß man hier nicht aus dem Willen handelte, das Bestehende zu verbessern, sondern um seine Ablehnung zu dokumentieren — in der Hoffnung, solcher Ablehnung werde eines Tages tatsächlich einmal der große Umsturz folgen. Man wollte nicht mehr das Bestehende in Bewegung bringen hin auf eine neue Form, in der es neuem Anspruch zu genügen vermöchte, man wollte es entlarven und zerstören und an seine Stelle ein Neues setzen; statt der Arbeit an Reform verschrieb man sich dem Ruf nach Revolution. Der Protest gegen übermächtig scheinende Tendenzen der arbeitsteiligen, auf Verträge gegründeten und rechtlich gesicherten bürgerlichen Gesellschaft verdichtete sich so sehr, daß er nur noch zu zeigen hatte, wie autoritär, repressiv, gewalttätig und verkommen das ganze System ist, so jedenfalls, daß diesem System durch keine Reform aufzuhelfen sei, sondern einzig seine Abschaffung bleibe.
Rudi Dutschke, der als Repräsentant solch extremer Protesthaltung in Deutschland zum Attentatsopfer wurde, hat das auf folgende Formel gebracht: „Unsere Opposition ist nicht gegen einige kleine Fehler des Systems, sie ist vielmehr eine totale, die sich gegen die ganze bisherige Lebensweise des autoritären Staates richtet."
Dutschke zitiert in diesem Zusammenhang
Mit diesem Zitat ist zugleich gegeben, warum man bei dieser Gruppe am treffendsten eben von der Neuen Linken spricht und nicht einfach von neuer Opposition. Der wesentliche Unterschied zum klassischen Marxismus ist nämlich eben die Überzeugung, mit dem ganzen Entfremdungsproblem nur in unmittelbarer Aktion noch fertig werden zu können. Marx selbst war keineswegs so frontal gegen die Industriegesellschaft angerannt, für ihn stand vielmehr fest, daß der Kapitalismus es durch Schaffung neuer Produktivkräfte und durch deren gedankenlose Ausnutzung selbst so weit bringen werde, daß die klassenlose Gesellschaft sich etabliert, das heißt Herrschaft durch Arbeitsteilung mit all ihren Entfremdungserscheinungen eines Tages überwunden wird. Heute, das heißt hundert Jahre danach, ist allzu sichtbar, daß die Tendenz moderner Industriegesellschaft keineswegs dazu führt, Herrschaft abzubauen, ganz gleich, ob diese Industriegesellschaft auf kapitalistisch oder sozialistisch organisierten Produk-tionsmitteln beruht, und die Einsicht in diesen Zusammenhang scheint der Neuen Linken die Notwendigkeit der Revolution zu besagen. Weil liberaler wie sozialistischer Bürokratismus, Sowjetmarxismus also ebenso wie Spätkapitalismus Herrschaft durch Verwaltung vollenden und selbst die Idee noch einer Befreiung von überflüssiger Arbeit und überholtem Zwang unterdrücken, kann man nicht mehr auf eine Krise hoffen, die den Zusammenbruch herbeiführt, man muß auf eine Minderheit setzen, die den Sturz erzwingt
5. Das Denken im Widerspruch
In dieser Konsequenz hat sich die Neue Linke wiederholt mit Nachdruck auf Marcuse berufen, und Marcuse selbst hat seinerseits wie wohl kaum jemand ausgesprochen, was ihre Opposition ist: „Sie ist der Ekel vor der Gesellschaft im Überfluß, das vitale Bedürfnis, die Spielregeln eines betrügerischen und bin tigen Spiels zu verletzen, nicht mehr mitzumachen. Wenn diese Jugend das bestehende System der Bedürfnisse und seine stetig sich mehrende Warenmasse verabscheut, so deshalb, weil sie beobachtet und weiß, wieviel Opfer, wieviel Grausamkeit und Dummheit täglich in die Reproduktion des Systems eingehen. Diese Jungen und Mädchen teilen nicht mehr die repressiven Bedürfnisse nach den Wohltaten und nach der Sicherheit der Herrschaft — in ihnen erscheint vielleicht ein neues Bewußtsein, ein neuer Typus mit einem anderen Instinkt für die Wirklichkeit, fürs Leben und fürs Glück; sie haben die Sensibilität für eine Freiheit, die mit den in der vergreisten Gesellschaft praktizierten Freiheiten nichts zu tun hat und nichts zu tun haben will."
Verständlich wird die Berufung der Neuen Linken auf Marcuse freilich erst dann, wenn man Marcuses Grundthese kennt: daß Vernunft der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenüber wesentlich kritisch ist, „Denken im Widerspruch". Marcuse hat dies von Anfang an vertreten, schon in seiner ersten großen Hegelarbeit von 1932
Denken im Widerspruch — das ging zunächst davon aus, daß es einen Unterschied gibt zwischen dem Wesen oder der Bestimmung einer Sache und ihrem Dasein oder ihrer Gegebenheit und daß die Sache von sich her diesen Unterschied als Widerspruch erkennen läßt, das heißt die Unangemessenheit zu ihrem Begriff offenbart. Philosophisch gehört das in jene große Tradition, die den Gegensatz von Wahrheit und Wirklichkeit entwickelt hat, und für die Wahrheit oder Vernunft stets mehr als die Feststellung bloßer Tatsächlichkeit bedeutet, nach der Wahrheit und Vernunft der Faktizität gegenüber vielmehr so etwas wie Normativität zur Geltung bringt. In Marcuses zweitem, 1941 erschienenen Hegel-buch über „Vernunft und Revolution"
Später formulierte Marcuse diesen Sachverhalt so: „Erscheinung und Wirklichkeit, Unwahrheit und Wahrheit (und wie wir sehen werden, Unfreiheit und Freiheit) sind ontologische Verhältnisse. Diese Unterscheidung gründet nicht im abstrakten Denken, nicht in dessen Fehlbarkeit, sie ist vielmehr in der Erfahrung des Universums verwurzelt, an dem das Denken in Theorie und Praxis teilhat. In diesem Universum gibt es Seinsweisen, in denen die Menschen und Dinge durch sich und als sie selbst sind, und andere, in denen sie es nicht sind — das heißt unter Verzerrung, Beschränkung oder Verneinung ihrer Natur (ihres Wesens) existieren. Die Überwindung dieser negativen Beschaffenheiten ist der Prozeß des Seins und des Denkens. Philosophie hat ihren Ursprung in der Dialektik; das Ganze, worin ihre Rede sich bewegt, antwortet auf die Tatsachen einer antagonistischen Wirklichkeit."
Oder im Blick auf die Schwierigkeiten, die die formale Logik mit solcher Dialektik haben muß: „In der klassischen Logik wurde das Urteil, das den ursprünglichen Kern des dialektischen Denkens ausmacht, in der Form des Satzes , S = p'formalisiert. Aber diese Form verbirgt mehr den grundlegenden dialektischen Satz, der den negativen Charakter der empirischen Wirklichkeit feststellt, als daß sie ihm offenbart. Im Licht ihres Wesens und ihrer Idee beurteilt, existieren die Menschen und Dinge als etwas anderes, als was sie sind; folglich widerspricht das Denken dem, was (gegeben) ist, und setzt seine Wahrheit der der gegebenen Wirklichkeit entgegen. Die vom Denken geschaute Wahrheit ist die Idee. Als solche ist sie im Sinne der gegebenen Wirklichkeit bloße Idee, bloßes Wesen — Potentialität. Die wesentliche Potentialität aber ist nicht gleich den vielen Möglichkeiten, die im gegebenen Universum von Sprache und Handeln enthalten sind; die wesentliche Potentialität ist von einer völlig anderen Ordnung. Ihre Verwirklichung macht die Vernichtung der bestehenden Ordnung notwendig; denn Denken im Einklang mit der Wahrheit ist die Verpflichtung, im Einklang mit der Wahrheit zu existieren ... So erlegt der umstürzende Cha-rakter der Wahrheit dem Denken eine imperativische Qualität auf. Die Logik ist um Urteile zentriert, die als beweiskräftige Sätze Imperative sind — die Kopula ist’ impliziert ein , Sollen'.
Dieser widerspruchsvolle zweidimensionale Denkstil ist die innere Form nicht nur der dialektischen Logik, sondern aller Philosophie, die die Wirklichkeit in den Griff bekommt. Die Sätze, welche die Wirklichkeit bestimmen, behaupten etwas als wahr, das nicht (unmittelbar) der Fall ist; damit widersprechen sie dem, was der Fall ist, und leugnen dessen Wahrheit. Das affirmative Urteil enthält eine Negation, die in der Form des Satzes verschwindet (S = p). Zum Beispiel , Tugend ist Erkenntnis'; . Gerechtigkeit ist derjenige Zustand, in dem ein jeder die Funktion ausübt, für die seine Natur am besten geeignet ist'; . . . , Der Mensch ist frei'; Der Staat ist die Wirklichkeit der Vernunft'.
Wenn diese Sätze wahr sein sollen, dann stellt die Kopula ist’ ein . Sollen', ein Desiderat fest. Sie verurteilt Verhältnisse, unter denen Tugend keine Erkenntnis ist, unter denen die Menschen nicht die Funktion ausüben, für die ihre Natur sie am ehesten ausgestattet hat, in denen sie nicht frei sind usw. Anders gesagt: die kategorische S-p-Form stellt fest, daß S nicht S ist; S ist bestimmt als ein anderes als es selbst. Die Verifikation des Satzes macht ebenso einen faktischen wie einen gedanklichen Prozeß notwendig: S muß zu dem werden, was es ist. Die kategorische Feststellung verkehrt sich so in einen kategorischen Imperativ; sie stellt keine Tatsache fest, sondern die Notwendigkeit, eine Tatsache zu schaffen."
Dieser Ansatz kritischer Theorie war bei Marcuse ursprünglich mit der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung verbunden, das heißt, Geschichte schien ihm nicht nur gemäß Hegel bestimmt als fortschreitende Bewegung hin auf Freiheit, er erhoffte sich vielmehr mit Marx die Etablierung des Reichs der Freiheit durch die Überwindung der kapitalistischen Welt
Die Erfahrung mit dem Sowjetsystem allerdings hat nun die Hoffnung gründlich zuschanden gemacht, auf dem dort eingeschlagenen Weg die ersehnte Befreiung des Menschen erreichen zu können. In seinem Buch über „Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus" schreibt Marcuse 1957 deshalb: „Die Unterschiede zwischen den ersten Jahren der bolschewistischen Revolution und dem voll entwickelten stalinistischen Staat liegen auf der Hand. Sie stellen sich sogleich dar als das beständige Anwachsen von Totalitarismus und autoritärer Zentralisation, als das Anwachsen der Diktatur nicht des Proletariats und der Bauernschaft, sondern über sie. Aber wenn das dialektische Gesetz des Umschlags von Quantität und Qualität je anwendbar war, dann auf den Übergang vom Leninismus (nach der Oktoberrevolution) zum Stalinismus. Die (Verzögerung'der Revolution im Westen und die Stabilisierung des Kapitalismus bewirkten qualitative Veränderungen in der Struktur der Sowjetgesellschaft."
Es ist also unübersehbar geworden, daß auch in den sozialistischen Staaten durch die fort-schreitende Industrialisierung Herrschaftsformen restituiert werden, unter denen die Herstellung menschlicher Freiheit nicht mehr ohne weiteres möglich ist und Manipulation das Bewußtwerden der Unfreiheit verhindert: „Dem grundlegenden Unterschied zwischen der westlichen und der sowjetischen Gesellschaft geht eine starke Tendenz zur Angleichung parallel. Beide Systeme zeigen die allgemeinen Züge der spätindustriellen Zivilisation: Zentralisation und Reglementierung treten an die Stelle individueller Wirtschaft und Autonomie; die Konkurrenz wird organisiert und rationalisiert. Es gibt eine gemeinsame Herrschaft ökonomischer und politischer Bürokratien; das Volk wird durch die Massenmedien der Kommunikation, die Unterhaltungsindustrie und Erziehung gleichgeschaltet. Wenn diese Mittel sich als wirksam erweisen, dann ließen sich die demokratischen Rechte und Institutionen durch die Verfassung garantieren und ohne die Gefahr ihres Mißbrauchs gegen das System aufrechterhalten. Verstaatlichung, die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, bedeutet an sich noch keinen wesentlichen Unterschied, solange die Produktion über die Köpfe der Bevölkerung hinweg zentralisiert und kontrolliert wird. Ohne die Initiative und Kontrolle von unten durch die unmittelbaren Produzenten ist Verstaatlichung bloß ein technisch-politisches Mittel, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, die Entwicklung der Produktivkräfte zu beschleunigen und sie von oben zu kontrollieren (zentrale Planung) — mehr ein Wechsel in der Herrschaftsweise, eine Modernisierung der Herrschaft, als eine Voraussetzung, sie abzuschaffen."
Das Denken im Widerspruch steht damit aber vor einer neuen Situation; es kann nicht mehr schlicht auf den Fortschritt des Sozialismus setzen, seine Negation muß jetzt vielmehr den Bestand des Ganzen treffen, das heißt, es wird radikal: was die fortgeschrittene Industriegesellschaft unserer Tage in Ost und West gleichermaßen bestimmt, ist die Tatsache, daß die ihrer Organisation immanente Logik instrumenteller Vernunft jede Reflexion auf den inneren Widerspruch verhindert und gegenstrebige Bewegungen, die zur Verwandlung der Gesellschaft führen könnten, nicht mehr zum Zuge kommen läßt. Das System der Herrschaft stabilisiert sich kontinuierlich eben dadurch, daß es das Auseinandertreten innerer Widersprüche in sich gegenseitig negierende und dadurch Bewegung provozierende Positionen ständig überholt. „Die Differenz zwischen gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnissen verschwindet, denn die Individuen haben als ihre eigenen Bedürfnisse und deren Befriedigung genau diejenigen Bedürfnisse, welche die Gesellschaft haben muß, um sich als Gesellschaft der Unfreiheit zu reproduzieren.
In dieser Gesellschaft kommt ein Menschentyp auf, der nicht mehr nein sagen kann, zumindest nicht mehr nein sagen will. Diese geschlossene Gesellschaft ist zugleich eine totale Gesellschaft; Fortschritt, Wachstum und Reichtum reproduzieren die Abhängigkeit des Menschen vom Apparat. Die technologische Rationalität wird zum Mittel der Herrschaft, das heißt zum Mittel, bestehende, aber veraltete Existenzformen aufrechtzuerhalten. Die steigende Produktivität, deren die Gesellschaft fähig ist, wird nicht zur Befriedigung des Kampfes ums Dasein verwendet, sondern zu dessen Intensivierung und Perpetuierung."
So aber wird nicht nur deutlich, wie es eben die Erfahrung der mit den technischen Zügen der spätindustriellen Zivilisation sich ausbreitenden Unfreiheit ist, die das Denken im Widerspruch nun negativer werden läßt. Es liegt darin auch der Hinweis, warum es zugleich utopischer werden muß, wenn es überhaupt die Bewegung hin auf Befreiung noch soll ausdrücken können.
6. Der Begriff der Utopi
Was „utopisch" dabei näherhin meint, mag ein Hinweis auf die Geschichte des Begriffs verdeutlichen. Daß Utopie etwas mit Kritik zu tun habe, ist nichts, was erst an den Utopien unserer Tage sichtbar wird, und auch in bezug auf die vergangenen Utopien nichts, was wir erst heute entdecken. Wenn man den Begriff der Utopie vielmehr so nimmt, wie er sich in der Neuzeit entwickelt hat, also ganz grob etwa von Bildern einer besseren Gesellschaft her, dann ist vielmehr festzuhalten, daß Utopien in irgendeiner Form immer zugleich Gegenbilder waren und sind. Die Vorstellung dessen, was nicht ist und was vorgestellt wird als ein solches, das sein sollte — diese Vorstellung verhält sich negativ zu dem, was ist, das heißt, sie impliziert einen kritischen Bezug zur Beschaffenheit der Wirklichkeit, an deren Stelle sie jenes andere als das Bessere setzt.
Wo in der Philosophie der Gegenwart aber der Begriff Utopie auftaucht, enthält er nicht nur ein Moment, das das Bestehende negiert, da ist er vielmehr so ursprünglich mit dem verbunden, was Kritik besagt, daß Utopie sich selbst als Kritik versteht. Dazu muß man sich klarmachen, daß nach den großen Renaissance-Utopien, mit denen der Begriff der Utopie aufkam, zunächst etwas als Utopie bezeichnet wurde nicht so sehr von seinem Inhalt her, nicht etwa wegen seiner Ausrichtung auf ein Besseres, sondern wegen seiner Zugehörigkeit zur Gattung der Staatsromane, Utopie also eine bestimmte literarische Form war. Demgegenüber
Mit der Reflexion auf diese Intention aber, die Utopie fürderhin zur Utopie machen soll, verliert der Begriff den Charakter des Deskriptiven und erlangt analytischen Sinn: Utopie avanciert entgegen einem verbreitet spöttischen Gebrauch des Wortes zur Kategorie der kritischen Theorie gesellschaftlicher Wirk-lichkeit. Konnte auch bislang schon eine Sziallehre, die kritisch sein sollte, in ihrer Kritik utopisch sein, sofern Utopie das Bild einer gerechteren, freieren und friedlicheren Ordnung ist, so war der Begriff der Utopie deshalb nicht ihr eigenes Instrument — zum Instrument wird er vielmehr erst in der Gegenwart, mit Ernst Bloch
Stellt man derart den Zusammenhang von Utopie und Kritik in den Mittelpunkt, so ist hier ein Wort zu Karl Marx zu sagen, der im Kommunistischen Manifest ja seine eigenen Vorläufer im negativen Sinn der Utopie zeiht. Marx nimmt dabei zwar auf, daß die Vorstellungen der Frühsozialisten das Leid und das Elend der gesellschaftlichen Wirklichkeit widerspiegeln und aus der Erfahrung von Leid und Elend menschlichere Verhältnisse suchen. Doch moniert er, daß ihre Vorstellungen einer besseren Ordnung der Gesellschaft der bestehenden schlechten nur unmittelbar gegenüber gestellt sind und nennt eben dies den utopischen Charakters ihres Denkens. Noch abgesehen von der Intention benutzt Marx den Begriff der Utopie für das Verfahren, insofern sich der Wunsch nach einer besseren Ordnung der Gesellschaft bei den Frühsozialisten darin erschöpft, dem so Bestehenden einfach das mehr oder weniger ausgemalte Bild idealer Zustände entgegenzuhalten. Die Einsicht in die antagonistische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft aber, wie sie mit der fortgeschritteneren Entfaltung der kapitalistischen Produktionskräfte immer deutlicher wird, scheint es Marx zu erlauben, dieses Bild des Besseren nun in einer Analyse der schlechten Gegenwart selbst zu gewinnen. Aus der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft liest er eine „objektiv-geschichtliche" Tendenz zur Überwindung ihres Widerspruchs, das heißt ihres Klassencharakters: In der materialistischen Dialektik zeigt sich der Widerspruch un-ter dem Aspekt seiner aus ihm selbst heraus notwendigen Lösung. Oder, wie es im Kommunistischen Manifest heißt: „nicht mehr Aushekkung vermittels der Phantasie eines möglichst vollkommenen Gesellschaftsideals, sondern Einsicht in die Natur, die Bedingungen und die sich daraus ergebenden allgemeinen Ziele des vom Proletariat geführten Kampfes"
Die für Marx leitende Intention einer Befreiung des Menschen aber, dies, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes und verächtliches Wesen ist", das wird knapp hundert Jahre danach gegen die Wirklichkeit des Sozialismus von Ernst Bloch unter dem Begriff des utopischen Bewußtseins eingeklagt, unter dem Begriff einer „prozeßhaft-konkreten Utopie als methodischem Organ für das Neue"
Hier nun soll Utopie gegen die Erstarrung in neuen Machtstrukturen und gegen das Stecken-bleiben in ungemäßer Realisierung jenen Vorgriff auf das Reich der Freiheit artikulieren, der das eigentlich Revolutionäre bei Marx scheint, und ohne den alle Veranstaltung des Sozialismus in bloßer Technik und erdrückender Bürokratie verkümmert. Angesichts all der Unfreiheit, die sich dort eingestellt hat, wo man die Freiheit zu verwirklichen schien, bedarf es — wie Bloch sagt — der Utopie als einer „Kritik, die über einen nächsten Fünf-Jahres-Plan hinausgeht" und „das Wohin und Wozu der ganzen Freiheitsbewegung" betrifft
Die entscheidende Verschärfung des Zusammenhangs von Utopie und Kritik aber geschieht eben bei Marcuse. Bloch hat zwar gegen die etablierte Herrschaft des Sowjetsystems die Intention der Utopie zur Geltung zu bringen versucht, doch hat er zugleich die dort bestehende Unfreiheit als Übergang angenommen und entschuldigt. Auf dem Ost-Berliner Freiheitskongreß 1956 etwa war von ihm zu vernehmen, daß „gerade um eine Freiheit, wie die Welt sie noch nicht gesehen, zu erwerben, im sozialistischen Ubergangsstadium an manchen Viertelsfreiheiten vorübergehend gespart werde", die die bürgerliche Gesellschaft in ihrem liberalen Zustand schmücken
Für Marcuse aber ist — wie oben gezeigt — der Gedanke des Reichs der Freiheit eben angesichts der Erfahrung sozialistischer Wirklichkeit auch im Osten nicht mehr als systemimmanente Kritik zu artikulieren; er steht gegen das System gegenwärtiger Gesellschaft überhaupt und nimmt, gemessen an dessen Bestand, notwendig die Form der Utopie an. Jetzt ist „Freiheit nur denkbar als die Realisierung dessen, was man heute noch Utopie nennt"
Ich gebe wiederum zu bedenken, daß es historische Situationen geben könnte, in denen die sogenannte eschatologische Ansicht nicht nur die realistischen Möglichkeiten der gegebenen Periode erhellt, sondern auch das Ausmaß, in dem diese Periode die Verwirklichung jener Möglichkeiten hinauszögert, verzerrt und hemmt."
Was Marcuse damit meint, verdeutlicht er unter dem Titel einer „Befreiung von der Überflußgesellschaft" 1969 so: „Die neuen Bedürfnisse und Befriedigungen haben eine ausgesprochen materielle Basis. Sie sind nicht aus der Luft gegriffen, sondern sie ergeben sich logisch aus den technischen, materiellen und geistigen Möglichkeiten der entwickelten Industriegesellschaft . . ., die jede Art von Askese, die gesamte Arbeitsdisziplin, auf der die jüdisch-christliche Moral beruht, seit langem zum Anachronismus gemacht hat. . . . Diese neue, unerhörte und nicht vorausgesehene Produktivität läßt die Vorstellung von einer Technologie der Befreiung zu . . .: Solche phantastischen und in der Tat eindeutig utopischen Tendenzen wie die Konvergenz von Technik und Kunst, die Konvergenz von Arbeit und Spiel, die Konvergenz von dem Reich der Notwendigkeit und dem Reich der Freiheit. Nicht mehr dem Diktat des kapitalistischen Profitstrebens und seiner Rentabilität unterworfen, nicht mehr dem Diktat des Mangels, der von der kapitalistischen Gesellschaftsordnung unaufhörlich reproduziert wird, würde und könnte die gesellschaftlich notwendige Arbeit, die materielle Produktion sich zunehmend verwissenschaftlichen. Technisches Experimentieren, Wissenschaft und Technologie würden und könnten zum Spiel mit den bisher verborgenen, systematisch versteckten und blockierten Möglichkeiten von Gesellschaft und Natur werden.
Darin kommt einer der ältesten Träume aller radikalen Theorie und Praxis zu sich selbst. Damit würde die schöpferische Phantasie und nicht nur die Rationalität des Leistungsprinzips zur Produktivkraft für die Umformung der sozialen und naturgegebenen Welt. Es käme eine Realität auf, die das Werk und das Medium der sich entwickelnden Sensibilität und Sensitivität des Menschen wäre.
Und auf die Gefahr hin, daß man mich auslacht, füge ich hinzu: es wäre dies eine ästhetische Realität — die Gesellschaft als Kunstwerk. Das ist heute die größte Utopie, die radikalste Möglichkeit von Befreiung. Was heißt das, konkret ausgedrückt? Es geht hier nicht um private Sensitivität und Sensibilität, sondern um Sensitivität und Sensibilität, schöpferische Phantasie und Spielfähigkeit als Produktiv-kräfte zur Transformation der Gesellschaft. Als solche würden sie zum völligen Um-und Neubau unserer Städte und zur Wiederherstellung des freien Landes führen; zur Wiedergewinnung der Natur, nachdem die technologische Gewalt verschwunden und die destruktive Macht der kapitalistischen Industrialisierung gebrochen sein wird, zur Schaffung eines inneren und äußeren Spielraums der Stille, der individuellen Autonomie und Gelassenheit; zur Beseitigung des Lärms, der kulturellen Hörigkeit, der zwanghaften Haufenbildung, des Schmutzes und der Häßlichkeit."
7. Das Kriterium kritischer Theorie
Es ist nun gar keine Frage, daß an Marcuses scharfsinnigen Analysen der gegenwärtigen Gesellschaft sehr viel zu lernen ist, zu lernen gerade von dem her, was die reale Möglichkeit bezeichnet, auf die sich die Utopie des Denkens im Widerspruch bezieht: alle die ungenutzten, ja mißbrauchten technisch-wirtschaftlichen Fähigkeiten einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft, wo z. B. ein nicht geringer Teil der Arbeit eigentlich überflüssig wäre und wo man mit einem anderen Teil der Arbeit Bedürfnisse aufzwingt, um Überproduktion rentabel zu machen. Was Marcuse angesichts des Trends zum Totalitarismus, der nun einmal einer hochentwickelten Industriegesellschaft zu eigen zu sein scheint
Diese Frage führt uns auf den entscheidenden Punkt. Denn es ist nicht nur so, daß eine solch neue Gesellschaft damit keineswegs schon sichtbar ist und Stück für Stück noch ausgearbeitet werden müßte
Genau damit aber gibt das Denken die Einsicht in die Notwendigkeit der geschichtlichen Vermittlung preis, eine Einsicht, die seit Hegel zum unverlierbaren Bestand kritischer Theorie gehören müßte
8. Das befriedete Dasein
Wie wenig das aber in bezug auf das befriedete Dasein der Fall ist, zeigt sich sofort, wenn man einmal sammelt, was sich bei Marcuse als Umriß dieses Endzustands findet. Weder wird da gezeigt, wie das befriedete Dasein aussehen wird, noch wie man zu ihm gelangen soll. Was Marcuse im Blick darauf fordert, ist entweder derart, daß es wirklich keiner Revolution bedarf, es zu erreichen, sondern nur ein bißchen mutigere Vernunft, oder aber so, daß auch keine Revolution helfen wird, es in seiner hehren Allgemeinheit und leeren Erhabenheit zu vollbringen; etwa die Freisetzung des Eros, die Befreiung von Schuld und Angst, die Etablierung von Sinnlichkeit, Spiel und Sang oder gar die Überwindung von Zeit und Tod. Der Vorblick auf das, was sein soll und auf das hin das Bestehende verneint wird, überspringt in solchem Vorblick auf das Ende die realen Möglichkeiten derart gründlich, daß er zu einer Utopie im schlechten Sinn des Wortes wird, zu einem bloßen Gegenbild des Bestehenden, das von außen an dies herangetragen wird
Gewiß gibt es ungenutzte Fähigkeiten, die als reale Möglichkeit angesprochen sind und auf die sich der Gedanke vom befriedeten Dasein bezieht. Aber kann man sie tatsächlich für ausreichend halten, die Verwirklichung des Entwurfs einer heilen Welt zu gestatten und allen Hunger und alle Not, alle Arbeit und alle Repression aufzuheben? Läßt nicht der Über-schwang solchen Ziels gerade jene Mittel noch unscheinbarer werden, als sie für das Bestehende und in diesem ohnehin schon sind? Zwar versichert Marcuse: „Eine Gesellschaft ohne Krieg, ohne Grausamkeit, ohne Brutalität, ohne Unterdrückung, ohne Dummheit, ohne Häßlichkeit — daß eine solche Gesellschaft möglich ist, daran zweifle ich überhaupt nicht, wenn ich mir die heutigen technischen, wissenschaftlichen und psychologischen Bedin-gungen ansehe."
Die unmittelbare Folge dieses „Rückfalls von einer mit der geschichtlichen Praxis verbundenen Theorie in abstraktes, spekulatives Denken, von der Kritik der politischen Ökonomie zur Philosophie"
Während für eine von der Reflexion auf die Notwendigkeit geschichtlicher Vermittlung bestimmte kritische Theorie alles an der Überzeugung von der Möglichkeit einer Weiterbildung des Bestehenden hängt hin auf die Wirklichkeit menschlichen Miteinanders, in der mehr Vernunft als gegenwärtig ist, bleibt dem Denken im Widerspruch so nur der Glaube an die revolutionäre Umwälzung mit einem Schlag. Die kritische Theorie hält zur Abwehr jeder Apologie des Bestehenden als auch jeder Beschwörung von Utopie daran fest, daß nicht entworfen wird, wie alles sein soll, wenn das was ist, nicht zureicht, das heißt, daß man auf die mögliche Vernunft gesellschaftlicher Verhältnisse mit jenen kleinen Schritten zugeht, die Unrecht und Unterdrückung als solche bezeichnen und das Wissen um das Falsche verbreiten, damit sich im Bestehenden das Rechte kläre. Um nicht mißverstanden zu werden Nicht darum geht es, einfach innerhalb des Gegebenen bloß Verbesserungen zu suchen, die fälligen Schönheitsreparaturen etwa, währenddessen der Bau selbst, Struktur und Rahmen unverändert bleiben, sondern darum, für einen neuen Bau, für andere Strukturen und einen größeren Rahmen eben den Ausgang im tatsächlich Gegebenen zu suchen; nicht totale, sondern bestimmte Negation.
Zu dem aber vermag sich das Denken im Widerspruch nicht mehr zu bekennen. Ganz ausdrücklich hat Marcuse vielmehr auf dem Prager Hegelkongreß 1966
Weil der Fortschritt unserer Tage also einen Stand erreicht hat, wo das noch immer verbreitete Unrecht und die noch immer praktizierte Unterdrückung weitgehend überflüssig geworden sind und die Gesellschaft sich dennoch weigert, in Richtung auf das befriedete Dasein vorwärtszugehen, scheint Marcuse deshalb schlicht „die große Weigerung" am Platz, die absolute Opposition, das Nicht-mehr-Mitmachen
Was von der Tradition der Philosophie her, auf die sich das Denken im Widerspruch bezieht, zu dieser totalen Negation des Bestehenden und zur Flucht in die Utopie zu sagen wäre, findet sich in Hegels unnachsichtigem Wort gegen das leere Sollen: „Das Allgemeine im Sinn der Vernunftsallgemeinheit ist auch allgemein in dem Sinne, . . . daß es sich als das Gegenwärtige und Wirkliche darstellt, ohne darum seine Natur zu verlieren. ... Was allgemein gültig ist, ist auch allgemein geltend: was sein soll, ist in der Tat auch, und was nur sein soll, ohne zu sein, hat keine Wahrheit. .. . Denn die Vernunft ist eben diese Gewißheit, Realität zu haben."
9. Die Funktion der totalen Negation
Von dem, was beim Versuch einer Umsetzung der großen Weigerung in den Aktionen der Neuen Linken zum Vorschein kommt, wird noch zu sprechen sein. Ziehen wir hier zunächst aus dem bisherigen für Marcuses Theorie selbst den Schluß, denn es liegt auf der Hand, daß diese Theorie mit der Wendung in die totale Negation nicht nur am äußersten Ende utopischen Denkens in der Gegenwart steht, sondern daß der von Marcuse im Begriff der Utopie als Kritik namhaft gemachte Zusammenhang mit dem Problem der geschichtlichen Vermittlung vielmehr zugleich eben eine ganze eigene Kritik bedingt, durch die Theorie, die kritisch um die Notwendigkeit der geschichtlichen Vermittlung weiß. Und von ihr her ist zu sagen, daß Utopie aller Behauptung des konkreten Charakters zum Trotz eben aus dieser Radikalität, die die totale Negation bewegt, ihren Entwurf nicht mehr so begründen kann, daß mit dem Bedürfnis nach dem Wandel der Verhältnisse wirklich auch zugleich dessen Möglichkeit sichtbar wird. Die Utopie, die aus der Erfahrung des bestehenden Widerspruchs heraus unvermittelt zur Notwendigkeit seiner Aufhebung kommt, bleibt vielmehr theoretisch, sie kann nicht eigentlich praktisch werden, weil sie sich ausdrücklich gegen jenen Grundsatz praktischer Philosophie heute kehrt, nach dem das Ziel vernünftigen Handelns nur eine im sozialen Zusammenhang selbst angelegte Möglichkeit sein kann. Welches sollte der praktische Wert einer Rede vom real Möglichen sein, wenn diese Rede mit ihrer eigenen Auslegung sich selbst der Chance begibt, befreiende Tendenzen im Wirklichen zu entdecken?
Die Hoffnung dieser Utopie hat deshalb auch nichts zu tun mit dem, was im Widerspruch des Bestehenden nun wirklich selbst liegt und was wahrhaft kritische Theorie für politische Praxis zu erhellen sucht. Sie meint eine Welt, in der nicht nur weniger Armut und weniger Zwang ist, weniger Herrschaft und weniger Gewalt, sondern die Welt des Heils schlechthin, das Ende jeglicher Herrschaft und Gewalt; ein Ende also, das überhaupt nicht auf dem Weg der Vermittlung zu erreichen ist, zu dem es vielmehr des Sprungs als des „totalen Bruchs zwischen der alten und der neuen Gesellschaft"
Marcuse hat einmal — die Verschärfung und Radikalisierung des Denkens im Widerspruch zur totalen Negation verdeutlichend — von der „geschichtlichen Absurdität" gesprochen, „die in der Tatsache liegt, daß die Welt nach der Niederlage des Faschismus nicht zusammenbrach, sondern in ihre früheren Formen zurückfiel, daß sie nicht den Sprung ins Reich der Freiheit unternahm, sondern die alte Einrichtung in Ehre wiederherstellte"
Solche Feststellung intendiert zunächst weder den Verzicht auf Kritik, noch die Verteidigung dessen, wogegen diese steht. Sie bringt nur zum Ausdruck, daß ein Denken, das so negativ und utopisch geworden ist, daß es die totale Negation des Bestehenden darstellt, jene Kritik nicht leisten kann, deren es zur Fortbildung des Bestehenden bedarf, soviel auch immer für diese Kritik an ihm zu lernen sein mag. Vielleicht kann diese Feststellung darüber hinaus auch deutlich machen, daß über die Wirkung von Utopie als Kritik letztlich die Reflexion utopischen Bewußtseins auf seine eigenen Grenzen befindet. Meint die Vorstellung dessen, wie alles sein soll, ein Ziel, zu dem vom Bestehenden her kein Weg führt denn radikaler Bruch allein —, dann wird sie wirken, je weniger sie auf unmittelbaren Vollzug dringt und sich statt dessen darauf beschränkt, das Bewußtsein zunehmender Unfreiheit zu aktualisieren, um es mit dem inneren Ziel allen Fortschritts von Technik und Wissenschaft zu konfrontieren, dem Ziel, das noch immer die je größere Freiheit des Menschen ist, „Die Utopie" — so sagt Leszek Kolakowski in den Gedanken über die , Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein'— „ist auch dann reale Kraft, wenn sie eine Utopie ist"
Vielleicht verdient unter diesem Gesichtspunkt Marcuses Gedanke des befriedeten Daseins in unserer Zeit des Umbruchs noch mehr Aufmerksamkeit, als ihm der Versuch seiner direkten Erfüllung schenken kann. Denn bedenkt man, in welchem Ausmaß der technische Fortschritt die Welt der Arbeit zu verwandeln begonnen hat und daß wir in der Tat „morgen" alle anders leben werden, weil elektronische Datenverarbeitung, Atomphysik und Molekularbiologie nicht nur das Verhältnis des Menschen zur Natur, sondern sein Verhältnis zu sich selbst und zu seines gleichen ganz neu bestimmen —, dann dürfte totale Negation wohl auch gerade bei dem helfen, was sie sich selbst versagt: bei der Arbeit für erreichbare Ziele, die einmal die weitere Veränderung unserer Gesellschaft vermitteln könnten. Denn es gibt in der Tat Dinge, die erst mit ihrer Verneinung sichtbar werden und zu deren Verneinung es des entschiedensten Willens zur Befreiung bedarf
10. Der Vollzug der großen Weigerung
Was die Aufforderung zur großen Weigerung aber jenseits solch möglicher Aufklärung für die gesellschaftlich-politische Praxis besagt, und das heißt, wie wenig solche Utopie, in der sich die Kritik zur totalen Negation verdichtet, wirklich zur Änderung des Bestehenden führt, — das zeigt sich am Verhalten derer, die wie der radikalere Flügel der Neuen Linken nach einem Wort Marcuses sich bewußt „außerhalb des demokratischen Prozesses" bewegen und auf die zusammen mit dem „Substrat der Geächteten und Außenseiter, der Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und Farben, den Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen"
Zwar ist das Verhältnis der Neuen Linken zu Marcuse und zu seiner Theorie des befriedeten Daseins nicht mehr so ungebrochen wie zu Beginn. Doch zeichnet sich ein großer Teil der Bewegung noch immer gerade dadurch aus, daß er in der Attitüde siegessicherer Revolution die große Weigerung vollzieht
Weil man das Bedürfnis nach Überwindung der gegebenen Herrschaftsverhältnisse an die Aufhebung der Herrschaft von Menschen über Menschen überhaupt knüpft, kann man in bezug auf das Bestehende zu keiner wirksamen Praxis mehr finden, und so begnügt man sich statt dessen mit einer Revolte, deren Radikalismus nur beweist, wie theoretisch sie ist. Die Erfahrung der Unterdrückung durch die bestehende Herrschaftsordung ist bereits zur Theorie einer Negation von Ordnung überhaupt geworden, und was bleibt, sind blinde Aktionen, die an Anarchismus gemahnen. Einerseits fehlt hier jedes Verständnis für die Leistungen der arbeitsteiligen Industriegesellschaft so gut wie für die Institutionen des liberalen Rechtsstaats das Verständnis insbesondere auch dafür, daß man nicht die positiven Seiten der Entwicklung haben kann, ohne ihre entfremdenden Konsequenzen tragen zu müssen. Andererseits entwickelt auch der Vollzug der großen Weigerung keine Vorstellung dessen, was an die Stelle des Verneinten treten soll; was man radikaldemokratische Gesellschaft nennt, ist eine Idylle, aber keine Alternative. Will einer im Ernst glauben, es könne genügen, bestimmte Formen der gegenwärtigen Herrschaft und des gegenwärtigen Eigentums aufzuheben, um zu einer von Ehrgeiz, Habsucht und Schwachheit befreiten Gemeinschaft glücklicher Menschen zu kommen? Die Empfehlung herrschaftsfreier direkter Demokratie, die es den Bürgern erlaube, ihre zeitweiligen Vertreter direkt zu wählen und abzuwählen, wie sie es auf der Grundlage. eines gegen jedwede Form von Herrschaft kritischen Bewußtseins für erforderlich halten, diese Räteromantik vergangener Zeiten ist unpolitisch, weil sie die Bedingungen des Lebens in der hochindustrialisierten nicht zur Kenntnis Gesellschaft nimmt.
Das Bewußtsein der großen Weigerung tritt zwar aus dem gesellschaftlich-politischen Kontinuum, aber nur um sich noch mehr in dieses zu verstricken, denn es verliert den Bezug zur Vernünftigkeit der Praxis, die für direkte Aktion voraussetzt, daß das Ziel nur eine im sozialen Zusammenhang selbst angelegte Möglichkeit sein kann. Gewiß kann man auch diese Voraussetzung noch ignorieren und die Bestimmung von Mittel und Zweck einer Handlung als „die vornehmste Variante des zwischen Quietismus und Zynismus schwankenden Opportunismus" bezeichnen „in einer weltgeschichtlichen Situation, in der die einlösbaren, ja historisch überfälligen Ansprüche politischer Vernunft in den Metropolen nicht unmittelbar zweckrationale Praxisfelder eröffnen"
Kaum ein Wort beschwört die Neue Linke so wie „kritische Reflexion", und nichts mangelt ihr mehr als nüchterne Einsicht in das, was ist; eine Einsicht, die keineswegs das Bestehende so akzeptiert, wie es ist und wie es sich selbst gern als das Dauernde gibt; eine Einsicht, die aber für die Fortbildung dieses Bestehenden festhält, daß es keine Vernunft in gesellschaftlich-politischen Verhältnissen heute gibt ohne Freiheit der Diskussion, auch wenn dabei etwas anderes herauskommt, als man selbst erwartet hat; ohne Toleranz der anderen, auch wenn diese anderen die Mehrheit sind und man in der Minderheit bleibt; und ohne Skepsis gegenüber jedem Entwurf eines Endziels, auch wenn der sich durch Hellsichtigkeit auszeichnet in Bezug auf die Mängel des Bestehenden.
Der Mangel an Wirklichkeitssinn, der den Verlust der Einsicht in die Notwendigkeit geschichtlicher Vermittlung begleitet, drückt sich besonders stark in der Wendung zur Dritten Welt aus. Dutschke hat darauf hingewiesen, daß „jede radikale Opposition gegen das bestehende System, das uns mit allen Mitteln daran hindern will, Verhältnisse einzuführen, unter denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressive Arbeit führen können, heute notwendigerweise global sein" muß
11. Das Problem der Gewalt
Nichts macht im übrigen den totalen Charakter dieser Negation deutlicher als die Tatsache, daß der Appell zur Aufhebung der Ordnung des Bestehenden nicht umhin kann, ausdrücklich Gewalt einzuschließen. Marcuse selbst hat nachdrücklich davon gesprochen, daß „die gewaltlose Gesellschaft die Möglichkeit einer geschichtlichen Stufe bleibt, die erst zu erkämpfen ist"
Dennoch, das sollten wir uns eingestehen, liegt auch in solcher Rede mehr an erschütternder Wahrheit, als wir uns das bis vor den Osterunruhen des Jahres 1968 etwa in der fraglosen Übereinkunft einer Absage an die Gewalt gemeinhin zugestanden haben. Aber es bleibt daneben, daß die Entwicklung der Protestbewegung gerade im letzten Jahr es selbst überaus dringlich gemacht hat, hier die nötige Unterscheidung zu treffen, und das heißt, nicht nur aus taktischen Erwägungen sich gegenwärtig in den „Metropolen" noch auf gewaltlose Aktionen zu beschränken
Zugegeben, daß jenseits offensichtlicher Gewalttaten die Frage nach der Gewalt meist sehr schwierig ist, denn der Übergang zur Gewaltsamkeit ist fließend; es beginnt nicht mit Steinen und Stahlstangen, mit Zerstörung und Brandstiftung —, auch die bewährten Sit-ins sind oft an der Grenze, von vielen anderen „Regelverletzungen" ganz zu schweigen. Aber die Erfahrung des vergangenen Jahres und das, was in den letzten Monaten aus manchen unserer Universitäten berichtet wurde
Warum sich nicht auch hier an die überaus wirksame Skala der Kampfmaßnahmen halten, die in den USA von Protestdemonstrationen über legale Nichtzusammenarbeit bis zum zivilen Ungehorsam reicht, der demonstrativen Gehorsamverweigerung also gegenüber administrativen, richterlichen und gesetzlichen Anordnungen — alles Maßnahmen, die es sehr wohl zu jenem kritischen Spannungsverhältnis bringen, in dem die Etablierten sich zum Fortschritt einfach gezwungen sehen, wenn überhaupt sie den Anspruch auf vernünftige Ordnung des Miteinanders aufrechterhalten wollen
Will man freilich Revolution, kann man dem Fortschritt auf dem Weg von Reformen nichts abgewinnen und so widersetzt man sich der Politik der kleinen Schritte bis zur latenten und gelegentlich schon manifesten Gewalt schließlich gegen diejenigen, mit denen und für die man den Umsturz einst zu schaffen hofft. Was die „emanzipierende Führung" ist, von der Dutschke spricht
In dem Maße aber, wie man sich hier weigert, zur Vernunft zu kommen, korrumpiert man nicht nur das Mittel der Provokation, das sich so ausgezeichnet bewährt hat; man verhindert jene Reformen, die endlich in Gang gekommen sind und stützt damit im Grunde nichts als das Bestehende in seinem bloßen Bestand. Denn nichts ist damit gewonnen, wenn man die öffentliche Ordnung nur stört, um ihre In-humanität zu beweisen, und wenn man Toleranz zwingt, repressiv zu werden. Alles das ändert nicht nur nichts, sondern bewirkt das Gegenteil.
Denn niemand, für den die gegenwärtigen Verhältnisse bei allem Unrecht und allem Zwang, der sie zeichnen mag, geschichtlich eben doch zunächst verwirklichte Freiheit sind und für den also die noch bestehende Unfreiheit nur von daher aufzuheben ist, wird sich auf jenen Umschlag verlassen wollen, auf den die utopische Theorie des Sprungs ins Reich der Freiheit setzen muß, und nach dem der Wandel in der Natur des Menschen, der für das Leben dort erforderlich ist, eben mit dem Sprung selbst erst erfolgt und deshalb auch nicht vor ihm erfaßt werden kann. Die Vertröstung auf die „radikale Veränderung der menschlichen Natur", die der „Bruch mit den bestehenden Insti-tutionen in ihrer Ganzheit" mit sich bringt
Der Widerspruch, der darin liegt, daß die Intention auf Befreiung sich nur noch als totale Negation will äußern können, oder — wie Marcuse formuliert — „daß wir uns streng genommen freimachen müssen, bevor wir eine freie Gesellschaft schaffen können", weil „die Zersetzung des bestehenden Systems die Vorbedingung jeder derartigen qualitativen Veränderung ist"
12. Die Anklage des Systems
Map ist versucht, sich von diesem Aspekt aus den Schluß sehr einfach zu machen. Doch wäre der Sinn unserer Überlegungen mißverstanden, könnte nach forcierter Kritik an Marcuse und der Neuen Linken nun allseitige Beruhigung Platz greifen. Die große Weigerung ist nichts, was man den Philosophen und der Polizei überlassen darf, — den Philosophen, solange alles ganz theoretisch bleibt, und der Polizei, wo es doch einmal praktisch wird. Dafür besteht ein viel zu enger Zusammenhang sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht zwischen ihr und dem Selbstverständnis unserer Gesellschaft im Ganzen, mit deren Verständnis insbesondere auch bei denen, die zur Provokation ihre Zuflucht nehmen. Daß ein beträchtlicher Anteil der jungen Generation es nicht so wichtig nimmt, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, als vielmehr diese Gesellschaft so zu gestalten, daß man in ihr auch einen Platz haben möchte, sollte uns wohl alle treffen. Das Phänomen der großen Weigerung ist eine echte Anklage des Systems, und wir müßten einer gefährlichen Selbsttäuschung verfallen, würden wir diese Anklage nicht aufnehmen oder nur diejenigen verurteilen, die den gesellschaftlichen Zwang nicht mehr aushalten und unter dem Druck der Verhältnisse zu Aktionen schreiten, für die die Zweck-Mittel-Bestimmung rationalen Handels nicht mehr zu gelten scheint und bei denen selbst Provokation noch nur um der Provokation willen geschieht.
Von Mario Savio, Dutschkes Vorbild in Berkeley, stammt das Wort: Unsere Gesellschaft wird „mehr und mehr ein Utopia der sterilisierten, automatisierten Zufriedenheit, . . , aber eine wichtige Minderheit von Männern und Frauen tritt heute hervor, die gezeigt hat, daß sie lieber sterben als standardisiert, ersetzbar und belanglos sein will"
Um unmißverständlich klarzustellen: gefährlich wäre die Selbsttäuschung angesichts solcher Anklage des Systems nicht wegen der revolutionären Kraft der Rebellen — wir wissen inzwischen, wie schnell man damit fertig werden kann; sie wäre gefährlich, weil dann das Ausmaß dessen nicht zum Vorschein käme, was wir zu tun haben, um diese unsere Gesellschaft vernünftiger und damit menschlicher zu machen.
Eben daran aber hängt sehr viel, denn unser ständig noch wachsendes Bedürfnis nach Ordnung, Wohlstand und Sicherheit unterstellt ganz allgemein das Leben immer mehr den Gesetzen von Technik und Wissenschaft, und das geht auf Kosten der Freiheit. Um hier überhaupt irgend etwas noch voranzubringen, bedürfte es der Provokation. Und wenn wir uns auch wünschen wollten, es wäre mehr und entschiedener wirklich Provokation der Vernunft, nicht Evokation sozialrevolutionärer Utopie, wenn wir rückhaltlos für Vernunft in den gesellschaftlichen Verhältnissen einstehen, müssen wir selbst das noch als Provokation der Vernunft nehmen, was nur ihr Versagen beweisen soll, das heißt wir haben auch die große Weigerung noch als Aufforderung zum Handeln zu verstehen.
13. Die Antwort der Vernunft
Es gibt kein Patentrezept für all die Schwierigkeiten, auf denen die Anklage des Systems beruht. Es gibt insbesondere Grundstrukturen der arbeitsteiligen Industriegesellschaft, die wir zu akzeptieren haben, auch wenn wir darunter leiden. Denn sie ermöglichen Großes im Kampf gegen Armut, Krankheit und Not, sie ermöglichen das, was selbst durchaus Freiheit verbürgt. Aber wir sollten ernst nehmen, was die große Weigerung negativ bewegt, sollten gerade da ansetzen, wo ihre Negation realitätsbezogen ist und wo sie sich mit jenem Protest vereint, der die Provokation der Vernunft sucht. Bestimmte Sachverhalte pflegen erst in ihrer Verneinung sichtbar zu werden, und wir täten gut daran, die wunden Stellen, die man uns gezeigt hat, nicht mehr aus dem Blick zu verlieren. Das bedeutet, wir müssen jetzt dafür sorgen, daß der Glaube an die Wirksamkeit der Toleranz in unserer Gesellschaft wieder erstarkt; ein Glaube, den nicht Marcuse den Studenten genommen hat, sondern die Erfahrung, wie man mit ihnen umging; — und müssen dafür sorgen, daß die Diskussion wieder zum Mittel inhaltlicher Bestimmung des Gemeinwillens wird und nicht weiter bloß ein Instrument zur Beschäftigung derer ist, auf deren Vorstellungen man gar nicht hören will — kurz, wirksam dafür sorgen, daß die demokratische Verfaßtheit unserer Gesellschaft nicht zur schlechten Befestigung ihres Bestands dient, sondern sich jenseits aller Gewalt als Garantie erweist für ihre vernünftige Fortbildung. Daß man inhaltliche Diskussion sich durch Provokation erkämpfen mußte, hat die jüngste Vergangenheit gezeigt; daß Sachbeschädigung, Körperverletzung und Freiheitsberaubung nichts mit Meinungsfreiheit zu tun hat, haben wir alle — so selbstverständlich das ist — mehr denn je zu beweisen. Und so wie gegen verschleppte Reformen, autoritäre Gängelei und träge Politik Druck verbreitet werden mußte, bevor wirklich etwas geschah, so haben wir nur das Recht, zu mahnen, daß es gewalt-freier Druck bleibe, wenn wir aufnehmen, was darin zum Ausdruck kommt.
Das hört sich vielleicht groß an, meint aber die Arbeit im Detail. Wir müssen uns darum bemühen, daß nicht alles wieder im taktischen Spiel der Etablierten versackt und erneut die große Starre sich breit macht. Wir selbst haben Aufklärung zu verbreiten und nicht Reaktion. Die wesentlichen Grundfragen, die hochgekommen sind, sind auf dem Tisch zu halten — von der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze über das Verhältnis zur DDR, die Erweiterung der Mitbestimmung, die Wahlrechtsänderung, das neue Strafrecht und die Pressefreiheit bis hin zur Hochschulreform. Denn Vertrauen in die Institutionen des liberalen Rechtsstaats ist heute nur durch den Beweis dafür wiederzugewinnen, daß sich aus ihm selbst heraus etwas bewirken läßt und nicht alles immer schon im Sinne des Gestrigen entschieden ist.
Aber auch für die große Mehrheit der protestierenden Studenten selbst, die Provokation nicht um der Provokation willen sucht, ergibt die Analyse von Marcuses Theorie sowohl wie die des untauglichen Versuchs ihrer Über-setzung durch die Neue Linke und der entsprechenden Reaktionen der Gesellschaft darauf etwas, das zu beachten Bedingung für den Fortschritt in der Bewegung werden könnte, die man mit begrenzter Regelverletzung anzustoßen begann. Die Erfahrung totaler Negation nämlich hat auch die „Realitätsadäquanz" ihrer Aktionen verwandelt: das Bestehende nicht nur in seiner überholtheit, sondern eben sei-B ner Fortbildbarkeit anzugehen
Das gilt insbesondere für die Frage nach der Gewalt, angesichts der Leichtfertigkeit, mit der man „revolutionäre Praktiken" den „demokratischen Spielregeln" vorzieht. Zwar könnte man auch in solcher Aufforderung zur Rückkehr in verbindliche Formen der Diskussion — und das ist gleichbedeutend mit dem Fortschritt von Provokation zur Politik — gewiß noch einmal den Versuch vermuten, insgeheim nur alles beim alten zu lassen. Doch ist wohl — nicht zuletzt etwa an der Diskussion um das Ordnungsrecht der Hochschulen — sichtbar genug, wie fatal sich bestimmte Formen des Pro-tests jetzt auszuwirken beginnen. Vielleicht kann wenigstens dieser Sachverhalt davor bewahren, die Empfindlichkeit gegenüber Aktionen, die nicht nur eine Regel verletzen sondern Gewalt implizieren, nicht weiter als fraglose Apologie des Bestehenden zu denunzieren, während doch längst für eben dessen Veränderung Gewaltfreiheit als ein Moment erkannt ist, ohne das aller Fortschritt sich selbst aufheben muß.