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Provokation der Vernunft? Herbert Marcuse und die Neue Linke | APuZ 44/1969 | bpb.de

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APuZ 44/1969 Provokation der Vernunft? Herbert Marcuse und die Neue Linke Albanien — Ein Vierteljahrhundert Kommunismus

Provokation der Vernunft? Herbert Marcuse und die Neue Linke

Ulrich Hommes

„Soyez realistes — demandez l'impossible" Parole an einer Seine-Brücke in Paris (Pont Neuf) seit dem Mai 1968

Eine der unerwartetsten Erfahrungen all derjenigen, die Not und Elend des Zusammenbruchs von 1945 erlebt hatten und den mühsamen Aufstieg danach, war es wohl, als die folgende Generation, die bereits wieder in Wohlstand und Sicherheit aufwuchs, alles das, was da neu geschaffen worden war, nicht mehr so sehr als eine großartige Errungenschaft betrachten wollte, sondern über Atembeschwerden darin sich zu beklagen begann. Während die einen im Ausgang sozusagen vom Nullpunkt noch stolz auf die Leistung kollektiver Anstrengung des überlebens schauten, bestritten die anderen dies als Gesichtspunkt heutiger Diskussion. Was sie gegenüber allem Wohlstand und aller Sicherheit bewegte, war ein erschreckender Verlust an Freiheit, die Tatsache, daß sich ein sozialer Rechtsstaat in der Mitte des 20. Jahrhunderts offensichtlich nur auf Kosten der Freiheit seiner Bürger verwirklichen läßt, weil die Gesellschaft selbst sich notwendig darin zunehmend der Ökonomie, der Technik und der Wissenschaft ausliefert. In einer reichlich versorgten und umfassend verwalteten Welt brach plötzlich die Be

1. Die Protestbewegung der Studenten

Abbildung 1

Die Erscheinung, die dabei zur nachhaltigsten Provokation der Gesellschaft geworden ist, ist jene Protestbewegung der Studenten, die selbst als wichtigstes Mittel des Kampfes eben die Provokation entwickelt hat. Die Gründe für die große Protestbewegung sind so vielfach analysiert worden, daß wir ihnen hier nicht weiter nachzugehen brauchen: Sie reichen vom Zusammenprall der wissenschaftlichen Rationalität mit der traditionellen Struktur unserer Universitäten sowie ihrer umfassender werdenden Aufgaben mit ihrer immer mangelhafter sich erweisenden Ausstattung fürchtung auf, es könne sich unter dem Mantel von Sicherheit und Wohlstand eine fortschreitende Entmenschlichung der Verhältnisse begeben und das Bestehende selbst keine qualitative Veränderung mehr suchen, sondern einzig noch die Stabilisierung seines Bestands. So sah man verwundert, wie das Gefühl der Erstarrung und Verhärtung schließlich dazu führte, daß das Irreguläre und Illegale als treffendstes Mittel einer für notwendig erachteten Aufklärung zur Befreiung ergriffen wurde und daß die Humanisierung der Verhältnisse, auf die man sich fraglos hin zu bewegen glaubte, durch radikale Kritik des Bestehenden zuallererst provoziert werden sollte. über das Unbehagen angesichts der Diskrepanz zwischen demokratischem Anspruch der Gesellschaft und dem tatsächlichen Zustand ihrer Organisation bis hin zu der nachdrücklichen Ausbildung eines ganz eigenen Lebensstils der Jugend Auch der Ablauf der Bewegung ist allzu frisch in Erinnerung, als daß länger davon gesprochen werden müßte: die Demonstrationen gegen die Misere der Universitäten, gegen den Krieg in Vietnam, die große Koalition und das Monopol der Springer-Presse, die Ereignisse beim Besuch des Schahs 1967 in Berlin, die Unruhen an Ostern 1968 nach dem Attentat auf Rudi Dutschke und die Auseinandersetzung um die Notstands-Gesetze im darauffolfolgenden Sommer, und dann in erneuter Wendung auf die Universitäten selbst all die Aktionen, die an manchen Orten zur Lahmlegung des Studienbetriebs ganzer Disziplinen geführt hat.

Dennoch scheint es angebracht, von den Anfängen der ganzen Bewegung her für die folgenden Überlegungen drei Momente festzuhalten. Das erste Moment ist, daß es in unserer Gesellschaft nicht nur Grund genug gab für eine Rebellion, daß diese Rebellion vielmehr angesichts der bestehenden sozialpolitischen Verhältnisse kaum ein wirksameres Mittel hätte finden können als eben die Provokation. Das zweite Moment ist, daß Provokation, die ein Kampfmittel sein soll in der Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, in der auf andere Art und Weise kein Gehör zu finden war, keine sehr schöne Sache sein kann; sie muß unbequem, rücksichtslos und verletzend sein, entlarvend, beleidigend und boshaft — sie würde ihren Zweck sonst nicht erfüllen. Beides macht den Umgang mit den rebellierenden Studenten sehr schwer, beides aber geht wohl nicht so sehr zu Lasten der jungen Leute als auf das Konto einer Gesellschaft, die offensichtlich solcher Provokation bedarf, um in Bewegung zu geraten.

Für das dritte Moment ist etwas weiter auszuholen, da es für unser eigenes Unternehmen besonders bedeutsam ist. Die Protestbewegung der Studenten hat sehr schnell den Rahmen hochschulinterner Auseinandersetzungen gesprengt, und mag sie sich nach dem großen Ausbruch im Zusammenhang mit der Beratung und Verabschiedung der Notstandsgesetze seit dem Ende des vergangenen Sommers auch noch so Sehr wieder ganz auf die Universitäten zurückgewandt haben, jeder Versuch ihrer Reduktion erneut auf diesen Bereich wäre nichts als frommer Selbstbetrug.

Für die Studenten hat sich nämlich der Konflikt mit der Universität im Verlauf der Auseinandersetzungen immer deutlicher als ein Konflikt mit der Gesellschaft im ganzen erwiesen. Sie mußten sehr rasch begreifen, daß das Gerangel in der Universität sich um Widersprüche dreht, die keinen isoliert-universitären Charakter haben. Schien die Universität zunächst vielleicht mehr so etwas wie ein Relikt vergangener Zeiten und glaubte man, es würde genügen, sie auf einen ansonsten allgemein schon erreichten Stand der Demokratisierung zu bringen, so machte gerade das Zusammenwirken der gesellschaftlichen Kräfte bei den ganzen Unruhen unübersehbar, wie sehr die Universität in ihrem Rückstand selbst noch zeitgemäß ist und im Grunde nur reproduziert, was mehr oder weniger deutlich die gesamte Wirklichkeit bestimmt Es zeigte sich, daß man die Misere, unter der man in der Universität litt, nicht einer im Vergleich zur Gesamt-gesellschaft rückständigen Universitätsstruktur verdankt, daß eben diese Struktur vielmehr typisch ist für die gegenwärtige Gesellschaft. Die Maßnahmen, mit denen man der Schwierigkeiten in den Universitäten zunächst Herr zu werden suchte — von der Anwendung des Hausrechts durch Rektoren über das Verbot von politischen Veranstaltungen aus bau-polizeilichen Gründen bis zur befristeten Im-matrikulation in bestimmten Disziplinen — erschienen notwendigerweise als Zeichen einer insgesamt immer autoritärer werdenden Gesellschaft.

Was die Aktionen der Studenten auf fortgeschrittenem Stand deshalb kennzeichnete, ist die gesamtgesellschaftliche Stoßkraft. Es ging darin nicht mehr so sehr um die spezifischen Interessen innerhalb der Universität, sondern um die Abwehr autoritärer Bestrebungen überhaupt, um die Etablierung wirklich demokratischer Verhaltensweisen, das heißt, es galt, mit der Universität die Gesellschaft zu reformieren, für die diese Universität steht Allein dieser innere Zusammenhang macht es wohl auch verständlich, daß die Mißstände in den Universitäten gerade dann ein krisenhaftes Stadium erreichten, wenn sie nicht spezifisch hochschulpolitisch artikuliert wurden. Die großen Unruhen hatten meist ganz allgemeine politische Anlässe, den Vietnam-Krieg oder den Schah-Besuch, die Pressefreiheit und die Notstandsgesetze. Und wenn diese Anlässe zunächst nur von einer kleinen Zahl von Studenten ausgenommen wurden, das Kennzeichnende ist, daß deren politische Aktionen in dem Moment die Unterstützung größerer Teile der Studentenschaft fanden, als die universitären Institutionen dagegen ein-schritten und ihnen die bekannten Restriktionen angedeihen ließen. Es sei deshalb erlaubt, die Korrektur der Vorstellung einer Eigenständigkeit inneruniversitärer Widersprüche als das dritte Moment für das Weitere hier vorauszusetzen.

2. Die begrenzte Regelverletzung

1INHALT

Als die Studenten nach jahrelangem Mühen um die überfällige Hochschulreform einsehen mußten, daß dies — so wie auch andere politische Aktionen gegen offensichtliche Mißstände in der Gesellschaft überhaupt — nichts zu bewirken vermochte, so lange sich alles gesellschaftskonform abspielt, begannen sie — zunächst unterhaltsam und phantasiereich, später immer einfallsloser und verbissener — ihrem Protest eine neue Form zu geben: die Provokation. Sie verlegten sich auf Mittel, die in unserer besonderen Situation, das heißt einem bürokratisierten Herrschaftsapparat in* der Universität und der Gesellschaft gegenüber geeigneter schienen, den nötigen Aufklärungsprozeß als Voraussetzung wirklicher Veränderung des Bestehenden in Gang zu setzen, geeigneter als Eingaben, Vorschläge, Entwürfe und Diskussionen, die insgesamt nicht im geringsten angekommen waren. Da man sich in Universität und Gesellschaft trotz aller Aufforderung nicht wirklich an die Reformarbeit zu machen wußte, mußte man die entscheidenden Kräfte dazu zwingen — mit mehr oder weniger sanftem Druck —, man mußte sie provozieren; man mußte den Leerlauf des Betriebs an den Universitäten und das autoritäre Verhalten der dort Herrschenden aufdecken und das mangelhafte Funktionieren demokratischer Selbstkontrolle — um in all dem die bereits vielfach zur reinen Akklamation erstarrte Teilhabe aller am Geschehen in Staat und Gesellschaft zu aktivieren Dazu verfiel man auf die begrenzte Regelverletzung, nachdem die Regeln selbst bereits erfolgreich zur Abwehr des Verlangens nach Reform benutzt worden waren. Ein Beispiel aus der Vollversammlung aller Fakultäten an der Freien Universität Berlin vom Mai 1967 mag das verdeutlichen. Der Schluß der Rede eines Studentenvertreters dort lautete so; „Wir haben ruhig und ordentlich eine Universitätsreform gefordert, obwohl wir herausgefunden haben, daß wir gegen die Universitätsverfassung reden können, soviel und solange wir wollen, ohne daß sich ein Aktendeckel hebt, aber daß wir nur gegen die bau-polizeilichen Bestimmungen zu verstoßen brauchen, um den ganzen Universitätsaufbau ins Wanken zu bringen. Da sind wir auf den Gedanken gekommen, daß wir erst . .. die Hausordnung brechen müssen, bevor wir die Universitätsordnung brechen können. Da haben wir den Einfall gehabt, daß ein Betretungsverbot des Rasens, ein Änderungsverbot der Marschrichtung, ein Veranstaltungsverbot der Baupolizei genau die Verbote sind, mit denen die Herrschenden dafür sorgen, daß die Empörung über die Verbrechen in Vietnam, über die Notstands-Psychose, über die vergreiste Universitätsverfassung schön ruhig und wirkungslos bleibt. Da haben wir gemerkt, daß wir gegen den Magnifizenzenwahn und akademische Sondergerichte, gegen Prüfungen, in denen man nur das Fürchten, gegen Seminare, in denen man nur das Nachschlagen lernt, gegen Ausbildungspläne, die uns systematisch verbilden, gegen Sachlichkeit, die nichts weiter als Müdigkeit bedeutet, . . . gegen demokratisches Verhalten, das dazu dient, die Demokratie nicht aufkommen zu lassen, gegen verlogene Rationalität und wohlweisliehe Gefühlsarmut — daß wir gegen den ganzen alten Plunder am sachlichsten argumentieren, wenn wir aufhören zu argumentieren und uns hier in den Hausflur auf den Fußboden setzen. Das wollen wir jetzt tun." 5)

In welcher Vielfalt von Formen solche Provokationen durchexerziert wurden, ist bekannt:

von den Tomaten, Eiern und Farbbeuteln über gestörte Rektoratsfeiern, gesprengte Vorlesungen, verbotene Plakataktionen bis zur Änderung der polizeilich festgelegten Marsch-richtung bei Demonstrationen, dem Hissen der Fahne des Vietcong und der Anmaßung des politischen Mandats der Studentenschaft — und immer wieder die schon in Berkeley so bewährten Sit-ins — von den schweren Auswüchsen wie Brandstiftung, Zerstörung und Aufruhr ganz zu schweigen. Stets galt es dabei, mit solchen Aktionen und insbesondere durch die fast berechenbare Reaktion der Provozierten darauf, Aufmerksamkeit und Anteilnahme zu erwecken, es zu jenem kritischen Spannungsverhältnis zu bringen, in dem die etablierte Macht sich einfach gezwungen sieht, bestimmte, bis dahin verleugnete oder verschleppte Dinge endlich in Angriff zu nehmen und sie einer zeitgerechten Lösung zuzuführen. Wenn wir heute feststellen, daß dieses erste Ziel der Provokation weithin erreicht worden ist, so mag das nicht als Billigung der genannten Mittel genommen werden; von dem Unbehagen, das diese Mittel verursachen, von dem Unbehagen aber auch an der Gesellschaft, die sie nötig macht, wird noch zu reden sein. Hier geht es zunächst nur darum, einzugestehen, daß der unbestreitbare Erfolg der ganzen Protestbewegung offensichtlich an'dieser Praxis der Provokation hängt, das heißt, daß man nur dadurch etwas erreichte, daß man sich auch „etwas an der Grenze der Legalität" bewegte, jenseits von ihr also Eben dies aber beweist, wie grundsätzlich jedenfalls die begrenzten Regelverletzungen durchaus als Wahrnehmung und Verwirklichung der Grundrechte verstanden werden konnten, die unsere Verfassung verbürgt und die in der Verfassungswirklichkeit ausgehöhlt scheinen.

3. Die Wirkung der Provokation

Fragt man nach der Wirkung des Protests, dann muß man eben hiervon ausgehen. Vielleicht ist es gut, dazu nochmals die Berliner Studentenschaft zu hören. In einer Dokumentation über die Krise der Freien Universität, die vom AStA und den Studentengemeinden zusammen mit den politischen Studentengruppen 1966 herausgegeben wurde hieß es: „Das Maß an Irrationalität, das im Werfen von Eiern und Tomaten steckt, ist nicht die zur Gewalttätigkeit als Selbstzweck drängende Irrationalität der Faschisten, sondern die surrealistische und provokative Versinnlichung der Irrationalität einer Gesellschaft, die die Bedeutungslosigkeit politischer Vernunft und die Sprache der Humanität dadurch dokumentiert, daß sie ihr eine Hyde-Park-Ecke zur Verfügung stellt. Wenn sich zudem zeigt, daß die die eigene Ohnmacht ausdrückende Karikatur von Gewalt in Form von Eiern und Tomaten den sich tolerant gebenden Gewaltapparat dazu provoziert, die demokratischen und rechtsstaatlichen Formen beiseite zu lassen und ungeschminkt zur Sache zu kommen, eben zur Gewalt über Menschen, so leistet diese provozierende Irrationalität offenbar mehr an politischer Aufklärung als die meisten politischen Podiumsdiskussionen."

Um es mit Marx zu sagen: Provokation ist „Kritik im Handgemenge, und im Handgemenge handelt es sich nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger, ein interessanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu treffen. Es handelt sich darum, (ihm) keinen Augenblick der Selbsttäuschung und der Resignation zu gönnen. Man muß den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Druckes hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert; . . . man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt. Man muß das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen."

Darüber, wie auf die gewichtigeren Provokationen der Studenten zunächst reagiert wurde, nicht nur von Polizei und Justiz, sondern auch von Professoren, Parteien und Regierungen, darüber ließe sich manch finstere Reflexion anschließen. Wir scheinen inzwischen jedoch in all diesen Bereichen ein Stück weitergekommen zu sein. Gerade daran zeigt sich, wie heilsam das Ganze war: die Provokationen haben Effekt gehabt; nicht nur den einer Ablösung von Polizeipräsidenten und Rektoren, sondern positiv: durch diesen kritischen Gegendruck von unten wurde der Beginn eines bedeutsamen Wandels erzwungen; es kamen nun nicht nur in den Hochschulen Reformen in Gang, über die man zuvor 20 Jahre lang nur geredet hatte, es kam vielmehr insgesamt zur Auflockerung des erstarrten Gefüges unserer Gesellschaft, zu einer Besinnung, die man beinahe schon nicht mehr für möglich gehalten hätte und die es ihrerseits nun möglich machen müßte, die drängenden Aufgaben unserer Zeit entschiedener, ehrlicher und wirksamer anzupacken als bisher. S.

4. Die Neue Linke

Zu dem aber, was wir an solcher Provokation und ihrem Effekt gelernt haben sollten, gehört auch die Auseinandersetzung mit der Gruppe unter den rebellierenden Studenten, die man die Neue Linke heißt und als deren Theoretiker Herbert Marcuse gilt.

Immer mehr ist ja auf den Höhepunkten der Protestbewegung deutlich geworden, daß man Provokation auch um der Provokation willen treiben kann. Es traten Aktionen in den Vordergrund, denen man im Blick auf Reform-bestrebungen jedenfalls keinerlei Sinn mehr abzugewinnen vermochte — Aktionen, die solchen Sinn sogar ausdrücklich abwiesen. Hierher gehören nicht nur die bekannten Gewalttaten selbst, das Eintreten von Türen, Aufbrechen von Schränken und Zerstören von Akten, das Erzwingen von Polizeieinsätzen und Knüppelhieben, sondern mit vielem anderen mehr der Ruf nach zwei, drei und noch mehr Vietnam sowie das Verlangen nach französischen Mai-Zuständen. Was diese Aktionen von der vorhin angesprochenen Provokation deutlich unterscheidet, ist die Tatsache, daß man hier nicht aus dem Willen handelte, das Bestehende zu verbessern, sondern um seine Ablehnung zu dokumentieren — in der Hoffnung, solcher Ablehnung werde eines Tages tatsächlich einmal der große Umsturz folgen. Man wollte nicht mehr das Bestehende in Bewegung bringen hin auf eine neue Form, in der es neuem Anspruch zu genügen vermöchte, man wollte es entlarven und zerstören und an seine Stelle ein Neues setzen; statt der Arbeit an Reform verschrieb man sich dem Ruf nach Revolution. Der Protest gegen übermächtig scheinende Tendenzen der arbeitsteiligen, auf Verträge gegründeten und rechtlich gesicherten bürgerlichen Gesellschaft verdichtete sich so sehr, daß er nur noch zu zeigen hatte, wie autoritär, repressiv, gewalttätig und verkommen das ganze System ist, so jedenfalls, daß diesem System durch keine Reform aufzuhelfen sei, sondern einzig seine Abschaffung bleibe.

Rudi Dutschke, der als Repräsentant solch extremer Protesthaltung in Deutschland zum Attentatsopfer wurde, hat das auf folgende Formel gebracht: „Unsere Opposition ist nicht gegen einige kleine Fehler des Systems, sie ist vielmehr eine totale, die sich gegen die ganze bisherige Lebensweise des autoritären Staates richtet." Was die Durchbrechung der Spielregeln dieser Lebensweise soll, ist, „durch systematische, kontrollierte und limitierte Konfrontation mit der Staatsgewalt . . . die repräsentative . Demokratie'zu zwingen, offen ihren Klassencharakter, ihren Herrschaftscharakter zu zeigen, sie zu zwingen, sich als Diktatur der Gewalt zu entlarven" Demonstriert man so „die Verwundbarkeit des Systems, so stärkt man die Überzeugung, das System als Ganzes in Zukunft stürzen zu können" das heißt, Herrschaft „für immer zu vertreiben"

Dutschke zitiert in diesem Zusammenhang die „Deutsche Ideologie" von Karl Marx: daß „eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; daß also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andere Weise gestürzt werden kann, sondern auch weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden".

Mit diesem Zitat ist zugleich gegeben, warum man bei dieser Gruppe am treffendsten eben von der Neuen Linken spricht und nicht einfach von neuer Opposition. Der wesentliche Unterschied zum klassischen Marxismus ist nämlich eben die Überzeugung, mit dem ganzen Entfremdungsproblem nur in unmittelbarer Aktion noch fertig werden zu können. Marx selbst war keineswegs so frontal gegen die Industriegesellschaft angerannt, für ihn stand vielmehr fest, daß der Kapitalismus es durch Schaffung neuer Produktivkräfte und durch deren gedankenlose Ausnutzung selbst so weit bringen werde, daß die klassenlose Gesellschaft sich etabliert, das heißt Herrschaft durch Arbeitsteilung mit all ihren Entfremdungserscheinungen eines Tages überwunden wird. Heute, das heißt hundert Jahre danach, ist allzu sichtbar, daß die Tendenz moderner Industriegesellschaft keineswegs dazu führt, Herrschaft abzubauen, ganz gleich, ob diese Industriegesellschaft auf kapitalistisch oder sozialistisch organisierten Produk-tionsmitteln beruht, und die Einsicht in diesen Zusammenhang scheint der Neuen Linken die Notwendigkeit der Revolution zu besagen. Weil liberaler wie sozialistischer Bürokratismus, Sowjetmarxismus also ebenso wie Spätkapitalismus Herrschaft durch Verwaltung vollenden und selbst die Idee noch einer Befreiung von überflüssiger Arbeit und überholtem Zwang unterdrücken, kann man nicht mehr auf eine Krise hoffen, die den Zusammenbruch herbeiführt, man muß auf eine Minderheit setzen, die den Sturz erzwingt

5. Das Denken im Widerspruch

In dieser Konsequenz hat sich die Neue Linke wiederholt mit Nachdruck auf Marcuse berufen, und Marcuse selbst hat seinerseits wie wohl kaum jemand ausgesprochen, was ihre Opposition ist: „Sie ist der Ekel vor der Gesellschaft im Überfluß, das vitale Bedürfnis, die Spielregeln eines betrügerischen und bin tigen Spiels zu verletzen, nicht mehr mitzumachen. Wenn diese Jugend das bestehende System der Bedürfnisse und seine stetig sich mehrende Warenmasse verabscheut, so deshalb, weil sie beobachtet und weiß, wieviel Opfer, wieviel Grausamkeit und Dummheit täglich in die Reproduktion des Systems eingehen. Diese Jungen und Mädchen teilen nicht mehr die repressiven Bedürfnisse nach den Wohltaten und nach der Sicherheit der Herrschaft — in ihnen erscheint vielleicht ein neues Bewußtsein, ein neuer Typus mit einem anderen Instinkt für die Wirklichkeit, fürs Leben und fürs Glück; sie haben die Sensibilität für eine Freiheit, die mit den in der vergreisten Gesellschaft praktizierten Freiheiten nichts zu tun hat und nichts zu tun haben will."

Verständlich wird die Berufung der Neuen Linken auf Marcuse freilich erst dann, wenn man Marcuses Grundthese kennt: daß Vernunft der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenüber wesentlich kritisch ist, „Denken im Widerspruch". Marcuse hat dies von Anfang an vertreten, schon in seiner ersten großen Hegelarbeit von 1932 Als Marcuse aber 1964 seine frühen Aufsätze aus Horkheimers und Adornos Zeitschrift für Sozialforschung neu herausgab, stellte er dem eine entschiedene Verschärfung voran: „Das Denken im Widerspruch", so lautete jetzt die Devise, „muß dem Bestehenden gegenüber negativer und utopischer werden." Von dieser Aufforderung hat sich bekanntlich die Neue Linke weithin ermuntern lassen. Um wirklich zu sehen, was Marcuse damit meint, muß man sich jedoch genau vornehmen, auf welchen Voraussetzungen seine sogenannte kritische Theorie beruht und welche Wandlung ihr Begriff bei ihm durchgemacht hat.

Denken im Widerspruch — das ging zunächst davon aus, daß es einen Unterschied gibt zwischen dem Wesen oder der Bestimmung einer Sache und ihrem Dasein oder ihrer Gegebenheit und daß die Sache von sich her diesen Unterschied als Widerspruch erkennen läßt, das heißt die Unangemessenheit zu ihrem Begriff offenbart. Philosophisch gehört das in jene große Tradition, die den Gegensatz von Wahrheit und Wirklichkeit entwickelt hat, und für die Wahrheit oder Vernunft stets mehr als die Feststellung bloßer Tatsächlichkeit bedeutet, nach der Wahrheit und Vernunft der Faktizität gegenüber vielmehr so etwas wie Normativität zur Geltung bringt. In Marcuses zweitem, 1941 erschienenen Hegel-buch über „Vernunft und Revolution" heißt es: „Der wirkliche Erkenntnisbereich besteht nicht in der gegebenen Tatsache, hat es nicht mit den Dingen, wie sie sind, zu tun, sondern mit deren kritischer Einschätzung, die das Vorspiel eines Hinausgehens über ihre gegebene Form ist. Die Erkenntnis beschäftigt sich mit den Erscheinungen, um über sie hinauszugelangen." „Tatsachen sind nur dann Tatsachen, wenn sie auf das bezogen sind, was noch keine Tatsache ist und sich dennoch in den gegebenen Tatsachen als reale Möglichkeit manifestiert. Anders gesagt, Tatsachen sind das, was sie sind, nur als Moment eines Prozesses, der über sie hinausführt hin zu dem, was im Tatsächlichen noch nicht erfüllt ist."

Später formulierte Marcuse diesen Sachverhalt so: „Erscheinung und Wirklichkeit, Unwahrheit und Wahrheit (und wie wir sehen werden, Unfreiheit und Freiheit) sind ontologische Verhältnisse. Diese Unterscheidung gründet nicht im abstrakten Denken, nicht in dessen Fehlbarkeit, sie ist vielmehr in der Erfahrung des Universums verwurzelt, an dem das Denken in Theorie und Praxis teilhat. In diesem Universum gibt es Seinsweisen, in denen die Menschen und Dinge durch sich und als sie selbst sind, und andere, in denen sie es nicht sind — das heißt unter Verzerrung, Beschränkung oder Verneinung ihrer Natur (ihres Wesens) existieren. Die Überwindung dieser negativen Beschaffenheiten ist der Prozeß des Seins und des Denkens. Philosophie hat ihren Ursprung in der Dialektik; das Ganze, worin ihre Rede sich bewegt, antwortet auf die Tatsachen einer antagonistischen Wirklichkeit."

Oder im Blick auf die Schwierigkeiten, die die formale Logik mit solcher Dialektik haben muß: „In der klassischen Logik wurde das Urteil, das den ursprünglichen Kern des dialektischen Denkens ausmacht, in der Form des Satzes , S = p'formalisiert. Aber diese Form verbirgt mehr den grundlegenden dialektischen Satz, der den negativen Charakter der empirischen Wirklichkeit feststellt, als daß sie ihm offenbart. Im Licht ihres Wesens und ihrer Idee beurteilt, existieren die Menschen und Dinge als etwas anderes, als was sie sind; folglich widerspricht das Denken dem, was (gegeben) ist, und setzt seine Wahrheit der der gegebenen Wirklichkeit entgegen. Die vom Denken geschaute Wahrheit ist die Idee. Als solche ist sie im Sinne der gegebenen Wirklichkeit bloße Idee, bloßes Wesen — Potentialität. Die wesentliche Potentialität aber ist nicht gleich den vielen Möglichkeiten, die im gegebenen Universum von Sprache und Handeln enthalten sind; die wesentliche Potentialität ist von einer völlig anderen Ordnung. Ihre Verwirklichung macht die Vernichtung der bestehenden Ordnung notwendig; denn Denken im Einklang mit der Wahrheit ist die Verpflichtung, im Einklang mit der Wahrheit zu existieren ... So erlegt der umstürzende Cha-rakter der Wahrheit dem Denken eine imperativische Qualität auf. Die Logik ist um Urteile zentriert, die als beweiskräftige Sätze Imperative sind — die Kopula ist’ impliziert ein , Sollen'.

Dieser widerspruchsvolle zweidimensionale Denkstil ist die innere Form nicht nur der dialektischen Logik, sondern aller Philosophie, die die Wirklichkeit in den Griff bekommt. Die Sätze, welche die Wirklichkeit bestimmen, behaupten etwas als wahr, das nicht (unmittelbar) der Fall ist; damit widersprechen sie dem, was der Fall ist, und leugnen dessen Wahrheit. Das affirmative Urteil enthält eine Negation, die in der Form des Satzes verschwindet (S = p). Zum Beispiel , Tugend ist Erkenntnis'; . Gerechtigkeit ist derjenige Zustand, in dem ein jeder die Funktion ausübt, für die seine Natur am besten geeignet ist'; . . . , Der Mensch ist frei'; Der Staat ist die Wirklichkeit der Vernunft'.

Wenn diese Sätze wahr sein sollen, dann stellt die Kopula ist’ ein . Sollen', ein Desiderat fest. Sie verurteilt Verhältnisse, unter denen Tugend keine Erkenntnis ist, unter denen die Menschen nicht die Funktion ausüben, für die ihre Natur sie am ehesten ausgestattet hat, in denen sie nicht frei sind usw. Anders gesagt: die kategorische S-p-Form stellt fest, daß S nicht S ist; S ist bestimmt als ein anderes als es selbst. Die Verifikation des Satzes macht ebenso einen faktischen wie einen gedanklichen Prozeß notwendig: S muß zu dem werden, was es ist. Die kategorische Feststellung verkehrt sich so in einen kategorischen Imperativ; sie stellt keine Tatsache fest, sondern die Notwendigkeit, eine Tatsache zu schaffen."

Dieser Ansatz kritischer Theorie war bei Marcuse ursprünglich mit der dialektisch-materialistischen Geschichtsauffassung verbunden, das heißt, Geschichte schien ihm nicht nur gemäß Hegel bestimmt als fortschreitende Bewegung hin auf Freiheit, er erhoffte sich vielmehr mit Marx die Etablierung des Reichs der Freiheit durch die Überwindung der kapitalistischen Welt In einem Aufsatz aus dem Jahre 1936 verweist Marcuse sehr deutlich auf diesen Zusammenhang, nach dem der Begriff des Wesens nicht einfach deskriptiver Natur ist, sondern sich durch gesellschaftlich-politische und geschichtliche Ansprüche bestimmt, das heißt, der Begriff hat wesentlich kritischen Charakter: „Die dialektischen Begriffe transzendieren die gegebene gesellschaftliche Wirklichkeit auf eine andere, in ihr tendenziell angelegte geschichtliche Gestalt hin. In ihr ist der positive Wesensbegriff verwurzelt, der als Leitbild und Vorbild hinter allen kritisch-polemischen Unterscheidungen von Wesen und Erscheinung steht."

Die Erfahrung mit dem Sowjetsystem allerdings hat nun die Hoffnung gründlich zuschanden gemacht, auf dem dort eingeschlagenen Weg die ersehnte Befreiung des Menschen erreichen zu können. In seinem Buch über „Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus" schreibt Marcuse 1957 deshalb: „Die Unterschiede zwischen den ersten Jahren der bolschewistischen Revolution und dem voll entwickelten stalinistischen Staat liegen auf der Hand. Sie stellen sich sogleich dar als das beständige Anwachsen von Totalitarismus und autoritärer Zentralisation, als das Anwachsen der Diktatur nicht des Proletariats und der Bauernschaft, sondern über sie. Aber wenn das dialektische Gesetz des Umschlags von Quantität und Qualität je anwendbar war, dann auf den Übergang vom Leninismus (nach der Oktoberrevolution) zum Stalinismus. Die (Verzögerung'der Revolution im Westen und die Stabilisierung des Kapitalismus bewirkten qualitative Veränderungen in der Struktur der Sowjetgesellschaft."

Es ist also unübersehbar geworden, daß auch in den sozialistischen Staaten durch die fort-schreitende Industrialisierung Herrschaftsformen restituiert werden, unter denen die Herstellung menschlicher Freiheit nicht mehr ohne weiteres möglich ist und Manipulation das Bewußtwerden der Unfreiheit verhindert: „Dem grundlegenden Unterschied zwischen der westlichen und der sowjetischen Gesellschaft geht eine starke Tendenz zur Angleichung parallel. Beide Systeme zeigen die allgemeinen Züge der spätindustriellen Zivilisation: Zentralisation und Reglementierung treten an die Stelle individueller Wirtschaft und Autonomie; die Konkurrenz wird organisiert und rationalisiert. Es gibt eine gemeinsame Herrschaft ökonomischer und politischer Bürokratien; das Volk wird durch die Massenmedien der Kommunikation, die Unterhaltungsindustrie und Erziehung gleichgeschaltet. Wenn diese Mittel sich als wirksam erweisen, dann ließen sich die demokratischen Rechte und Institutionen durch die Verfassung garantieren und ohne die Gefahr ihres Mißbrauchs gegen das System aufrechterhalten. Verstaatlichung, die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, bedeutet an sich noch keinen wesentlichen Unterschied, solange die Produktion über die Köpfe der Bevölkerung hinweg zentralisiert und kontrolliert wird. Ohne die Initiative und Kontrolle von unten durch die unmittelbaren Produzenten ist Verstaatlichung bloß ein technisch-politisches Mittel, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, die Entwicklung der Produktivkräfte zu beschleunigen und sie von oben zu kontrollieren (zentrale Planung) — mehr ein Wechsel in der Herrschaftsweise, eine Modernisierung der Herrschaft, als eine Voraussetzung, sie abzuschaffen."

Das Denken im Widerspruch steht damit aber vor einer neuen Situation; es kann nicht mehr schlicht auf den Fortschritt des Sozialismus setzen, seine Negation muß jetzt vielmehr den Bestand des Ganzen treffen, das heißt, es wird radikal: was die fortgeschrittene Industriegesellschaft unserer Tage in Ost und West gleichermaßen bestimmt, ist die Tatsache, daß die ihrer Organisation immanente Logik instrumenteller Vernunft jede Reflexion auf den inneren Widerspruch verhindert und gegenstrebige Bewegungen, die zur Verwandlung der Gesellschaft führen könnten, nicht mehr zum Zuge kommen läßt. Das System der Herrschaft stabilisiert sich kontinuierlich eben dadurch, daß es das Auseinandertreten innerer Widersprüche in sich gegenseitig negierende und dadurch Bewegung provozierende Positionen ständig überholt. „Die Differenz zwischen gesellschaftlichen und individuellen Bedürfnissen verschwindet, denn die Individuen haben als ihre eigenen Bedürfnisse und deren Befriedigung genau diejenigen Bedürfnisse, welche die Gesellschaft haben muß, um sich als Gesellschaft der Unfreiheit zu reproduzieren.

In dieser Gesellschaft kommt ein Menschentyp auf, der nicht mehr nein sagen kann, zumindest nicht mehr nein sagen will. Diese geschlossene Gesellschaft ist zugleich eine totale Gesellschaft; Fortschritt, Wachstum und Reichtum reproduzieren die Abhängigkeit des Menschen vom Apparat. Die technologische Rationalität wird zum Mittel der Herrschaft, das heißt zum Mittel, bestehende, aber veraltete Existenzformen aufrechtzuerhalten. Die steigende Produktivität, deren die Gesellschaft fähig ist, wird nicht zur Befriedigung des Kampfes ums Dasein verwendet, sondern zu dessen Intensivierung und Perpetuierung." Das System, das nach dem dialektischen Gesetz seine Negation aus sich selbst hervorbringen sollte, integriert so pluralistisch alle erdenkliche Negativität und sichert damit sich selbst. „Auf ihrer fortgeschrittenen Stufe fungiert Herrschaft als Verwaltung und in den überentwickelten Bereichen des Massenkonsums wird das verwaltete Leben das gute Leben des Ganzen, zu dessen Verteidigung die Gegensätze vereinigt werden." Solch reiner Form der Herrschaft gegenüber kann der Gedanke des Reichs der Freiheit nicht mehr als systemimmanente Kritik sich artikulieren, er wird dem in West und Ost etablierten System gegenüber unweigerlich zur totalen Negation: „Aller Inhalt scheint auf die abstrakte Forderung nach dem Ende der Herrschaft reduziert — das einzige wahrhaft revolutionäre Erfordernis und das Ereignis, das die Errungenschaften der industriellen Zivilisation bestätigen würde."

So aber wird nicht nur deutlich, wie es eben die Erfahrung der mit den technischen Zügen der spätindustriellen Zivilisation sich ausbreitenden Unfreiheit ist, die das Denken im Widerspruch nun negativer werden läßt. Es liegt darin auch der Hinweis, warum es zugleich utopischer werden muß, wenn es überhaupt die Bewegung hin auf Befreiung noch soll ausdrücken können.

6. Der Begriff der Utopi

Was „utopisch" dabei näherhin meint, mag ein Hinweis auf die Geschichte des Begriffs verdeutlichen. Daß Utopie etwas mit Kritik zu tun habe, ist nichts, was erst an den Utopien unserer Tage sichtbar wird, und auch in bezug auf die vergangenen Utopien nichts, was wir erst heute entdecken. Wenn man den Begriff der Utopie vielmehr so nimmt, wie er sich in der Neuzeit entwickelt hat, also ganz grob etwa von Bildern einer besseren Gesellschaft her, dann ist vielmehr festzuhalten, daß Utopien in irgendeiner Form immer zugleich Gegenbilder waren und sind. Die Vorstellung dessen, was nicht ist und was vorgestellt wird als ein solches, das sein sollte — diese Vorstellung verhält sich negativ zu dem, was ist, das heißt, sie impliziert einen kritischen Bezug zur Beschaffenheit der Wirklichkeit, an deren Stelle sie jenes andere als das Bessere setzt.

Wo in der Philosophie der Gegenwart aber der Begriff Utopie auftaucht, enthält er nicht nur ein Moment, das das Bestehende negiert, da ist er vielmehr so ursprünglich mit dem verbunden, was Kritik besagt, daß Utopie sich selbst als Kritik versteht. Dazu muß man sich klarmachen, daß nach den großen Renaissance-Utopien, mit denen der Begriff der Utopie aufkam, zunächst etwas als Utopie bezeichnet wurde nicht so sehr von seinem Inhalt her, nicht etwa wegen seiner Ausrichtung auf ein Besseres, sondern wegen seiner Zugehörigkeit zur Gattung der Staatsromane, Utopie also eine bestimmte literarische Form war. Demgegenüber wird inzwischen Utopie immer mehr gerade als inhaltliche Bestimmung gebraucht; mit utopisch wird eine ganz bestimmte Intention angesprochen, die Intention nämlich auf eine bessere Gesellschaft, die mit den Worten Gerechtigkeit, Freiheit und Friede umschrieben zu werden pflegt: Utopie erweist sich als Versuch, in der gegenwärtigen Gesellschaft und gegen deren unmenschliche Gegebenheiten den Gedanken menschenwürdigerer Zukunft zur Geltung zu bringen.

Mit der Reflexion auf diese Intention aber, die Utopie fürderhin zur Utopie machen soll, verliert der Begriff den Charakter des Deskriptiven und erlangt analytischen Sinn: Utopie avanciert entgegen einem verbreitet spöttischen Gebrauch des Wortes zur Kategorie der kritischen Theorie gesellschaftlicher Wirk-lichkeit. Konnte auch bislang schon eine Sziallehre, die kritisch sein sollte, in ihrer Kritik utopisch sein, sofern Utopie das Bild einer gerechteren, freieren und friedlicheren Ordnung ist, so war der Begriff der Utopie deshalb nicht ihr eigenes Instrument — zum Instrument wird er vielmehr erst in der Gegenwart, mit Ernst Bloch zunächst und dann mit Marcuse und in der Diskussion des radikaleren Flügels der Neuen Linken. In diesem Sinn von „Utopie als Kritik" ist Utopie sogar zum Kernbegriff der großen Auseinandersetzung geworden, die uns seit ein paar Jahren bewegt und die nicht weniger zum Gegenstand hat als die rechte Lebensform unserer Gesellschaft heute.

Stellt man derart den Zusammenhang von Utopie und Kritik in den Mittelpunkt, so ist hier ein Wort zu Karl Marx zu sagen, der im Kommunistischen Manifest ja seine eigenen Vorläufer im negativen Sinn der Utopie zeiht. Marx nimmt dabei zwar auf, daß die Vorstellungen der Frühsozialisten das Leid und das Elend der gesellschaftlichen Wirklichkeit widerspiegeln und aus der Erfahrung von Leid und Elend menschlichere Verhältnisse suchen. Doch moniert er, daß ihre Vorstellungen einer besseren Ordnung der Gesellschaft der bestehenden schlechten nur unmittelbar gegenüber gestellt sind und nennt eben dies den utopischen Charakters ihres Denkens. Noch abgesehen von der Intention benutzt Marx den Begriff der Utopie für das Verfahren, insofern sich der Wunsch nach einer besseren Ordnung der Gesellschaft bei den Frühsozialisten darin erschöpft, dem so Bestehenden einfach das mehr oder weniger ausgemalte Bild idealer Zustände entgegenzuhalten. Die Einsicht in die antagonistische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft aber, wie sie mit der fortgeschritteneren Entfaltung der kapitalistischen Produktionskräfte immer deutlicher wird, scheint es Marx zu erlauben, dieses Bild des Besseren nun in einer Analyse der schlechten Gegenwart selbst zu gewinnen. Aus der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft liest er eine „objektiv-geschichtliche" Tendenz zur Überwindung ihres Widerspruchs, das heißt ihres Klassencharakters: In der materialistischen Dialektik zeigt sich der Widerspruch un-ter dem Aspekt seiner aus ihm selbst heraus notwendigen Lösung. Oder, wie es im Kommunistischen Manifest heißt: „nicht mehr Aushekkung vermittels der Phantasie eines möglichst vollkommenen Gesellschaftsideals, sondern Einsicht in die Natur, die Bedingungen und die sich daraus ergebenden allgemeinen Ziele des vom Proletariat geführten Kampfes" Die „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", wie Friedrich Engels das im Titel seiner Schrift von 1882 nennt, liegt gerade darin, daß an die Stelle bildhaften Kontrastierens eine begrifflich vermittelte Erkenntnis tritt, die im Proletariat selbst die Garantie des Fortschritts auf eine bessere Zukunft sieht, also geschichtlich um die Möglichkeit seiner Befreiung weiß.

Die für Marx leitende Intention einer Befreiung des Menschen aber, dies, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes und verächtliches Wesen ist", das wird knapp hundert Jahre danach gegen die Wirklichkeit des Sozialismus von Ernst Bloch unter dem Begriff des utopischen Bewußtseins eingeklagt, unter dem Begriff einer „prozeßhaft-konkreten Utopie als methodischem Organ für das Neue" Hatte es zunächst so geschienen, als sei mit der Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln, mit der Vergesellschaftung der Produktionsverhältnisse das Wesentliche erreicht, so macht es die seitherige Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft für Bloch dringlich, herauszustellen, daß das „Letzte" damit noch nicht wirklich entschieden ist. Denn mit der Vergesellschaftung der Produktionsverhältnisse ist keineswegs schon die Herrschaft von Menschen über Menschen aufgehoben, gegen die der Marxismus angetreten war und die er ersetzt sehen wollte durch solidarische Leitung der Produktionsprozesse. Uber dem scheinbar siegreichen Proletariat hat sich vielmehr erneut eine Herrschaft etabliert, die die Unterdrücker eher ausgewechselt denn abgeschafft scheinen läßt und in der die Mittel menschlicher Selbstbefreiung sich in ihr Gegenteil zu verkehren drohen.

Hier nun soll Utopie gegen die Erstarrung in neuen Machtstrukturen und gegen das Stecken-bleiben in ungemäßer Realisierung jenen Vorgriff auf das Reich der Freiheit artikulieren, der das eigentlich Revolutionäre bei Marx scheint, und ohne den alle Veranstaltung des Sozialismus in bloßer Technik und erdrückender Bürokratie verkümmert. Angesichts all der Unfreiheit, die sich dort eingestellt hat, wo man die Freiheit zu verwirklichen schien, bedarf es — wie Bloch sagt — der Utopie als einer „Kritik, die über einen nächsten Fünf-Jahres-Plan hinausgeht" und „das Wohin und Wozu der ganzen Freiheitsbewegung" betrifft

Die entscheidende Verschärfung des Zusammenhangs von Utopie und Kritik aber geschieht eben bei Marcuse. Bloch hat zwar gegen die etablierte Herrschaft des Sowjetsystems die Intention der Utopie zur Geltung zu bringen versucht, doch hat er zugleich die dort bestehende Unfreiheit als Übergang angenommen und entschuldigt. Auf dem Ost-Berliner Freiheitskongreß 1956 etwa war von ihm zu vernehmen, daß „gerade um eine Freiheit, wie die Welt sie noch nicht gesehen, zu erwerben, im sozialistischen Ubergangsstadium an manchen Viertelsfreiheiten vorübergehend gespart werde", die die bürgerliche Gesellschaft in ihrem liberalen Zustand schmücken Utopie als Kritik blieb bei ihm die Überzeugung von der sozialistisch erreichbaren absoluten Versöhnung des Menschen mit sich selbst.

Für Marcuse aber ist — wie oben gezeigt — der Gedanke des Reichs der Freiheit eben angesichts der Erfahrung sozialistischer Wirklichkeit auch im Osten nicht mehr als systemimmanente Kritik zu artikulieren; er steht gegen das System gegenwärtiger Gesellschaft überhaupt und nimmt, gemessen an dessen Bestand, notwendig die Form der Utopie an. Jetzt ist „Freiheit nur denkbar als die Realisierung dessen, was man heute noch Utopie nennt" Das Entscheidende freilich ist, daß der Gedanke des Reichs der Freiheit für Marcuse „reale Möglichkeit" besagt, also nicht allgemein-utopisch, sondern „konkrete Utopie" ist. So heißt es zwar einmal: „Wenn diese wesentlichen, wahrhaft radikalen Grundzüge, die eine sozialistische Gesellschaft zur förmlichen Negation der bestehenden Gesellschaften machen, wenn dieser qualitative Unterschied heute als utopisch . . . erscheint, dann ist das genau die Form, in der diese radikalen Grundzüge erscheinen müssen, insofern sie wirklich eine entscheidende Negation der bestehenden Gesellschaft darstellen — das heißt, insofern der Sozialismus tatsächlich die Sprengung der Geschichte, der radikale Bruch, der Sprung in das Reich der Freiheit, also etwas völlig Neues ist." Doch setzt Marcuse für diesen Sprung voraus, daß er allein überhaupt erst die Konsequenz aus den immensen Errungenschaften der industriellen Zivilisation ziehen würde, also diese Errungenschaften bestätigen und verwandeln könnte. „Freilich werden unter den gegebenen Bedingungen im Osten und im Westen, insbesondere bei dem Zustand einer Welt, in der Elend, Hungersnot noch immer das Los der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung sind, solche Spekulationen leicht als unverantwortlich oder eschatologisch abgetan.

Ich gebe wiederum zu bedenken, daß es historische Situationen geben könnte, in denen die sogenannte eschatologische Ansicht nicht nur die realistischen Möglichkeiten der gegebenen Periode erhellt, sondern auch das Ausmaß, in dem diese Periode die Verwirklichung jener Möglichkeiten hinauszögert, verzerrt und hemmt."

Was Marcuse damit meint, verdeutlicht er unter dem Titel einer „Befreiung von der Überflußgesellschaft" 1969 so: „Die neuen Bedürfnisse und Befriedigungen haben eine ausgesprochen materielle Basis. Sie sind nicht aus der Luft gegriffen, sondern sie ergeben sich logisch aus den technischen, materiellen und geistigen Möglichkeiten der entwickelten Industriegesellschaft . . ., die jede Art von Askese, die gesamte Arbeitsdisziplin, auf der die jüdisch-christliche Moral beruht, seit langem zum Anachronismus gemacht hat. . . . Diese neue, unerhörte und nicht vorausgesehene Produktivität läßt die Vorstellung von einer Technologie der Befreiung zu . . .: Solche phantastischen und in der Tat eindeutig utopischen Tendenzen wie die Konvergenz von Technik und Kunst, die Konvergenz von Arbeit und Spiel, die Konvergenz von dem Reich der Notwendigkeit und dem Reich der Freiheit. Nicht mehr dem Diktat des kapitalistischen Profitstrebens und seiner Rentabilität unterworfen, nicht mehr dem Diktat des Mangels, der von der kapitalistischen Gesellschaftsordnung unaufhörlich reproduziert wird, würde und könnte die gesellschaftlich notwendige Arbeit, die materielle Produktion sich zunehmend verwissenschaftlichen. Technisches Experimentieren, Wissenschaft und Technologie würden und könnten zum Spiel mit den bisher verborgenen, systematisch versteckten und blockierten Möglichkeiten von Gesellschaft und Natur werden.

Darin kommt einer der ältesten Träume aller radikalen Theorie und Praxis zu sich selbst. Damit würde die schöpferische Phantasie und nicht nur die Rationalität des Leistungsprinzips zur Produktivkraft für die Umformung der sozialen und naturgegebenen Welt. Es käme eine Realität auf, die das Werk und das Medium der sich entwickelnden Sensibilität und Sensitivität des Menschen wäre.

Und auf die Gefahr hin, daß man mich auslacht, füge ich hinzu: es wäre dies eine ästhetische Realität — die Gesellschaft als Kunstwerk. Das ist heute die größte Utopie, die radikalste Möglichkeit von Befreiung. Was heißt das, konkret ausgedrückt? Es geht hier nicht um private Sensitivität und Sensibilität, sondern um Sensitivität und Sensibilität, schöpferische Phantasie und Spielfähigkeit als Produktiv-kräfte zur Transformation der Gesellschaft. Als solche würden sie zum völligen Um-und Neubau unserer Städte und zur Wiederherstellung des freien Landes führen; zur Wiedergewinnung der Natur, nachdem die technologische Gewalt verschwunden und die destruktive Macht der kapitalistischen Industrialisierung gebrochen sein wird, zur Schaffung eines inneren und äußeren Spielraums der Stille, der individuellen Autonomie und Gelassenheit; zur Beseitigung des Lärms, der kulturellen Hörigkeit, der zwanghaften Haufenbildung, des Schmutzes und der Häßlichkeit."

7. Das Kriterium kritischer Theorie

Es ist nun gar keine Frage, daß an Marcuses scharfsinnigen Analysen der gegenwärtigen Gesellschaft sehr viel zu lernen ist, zu lernen gerade von dem her, was die reale Möglichkeit bezeichnet, auf die sich die Utopie des Denkens im Widerspruch bezieht: alle die ungenutzten, ja mißbrauchten technisch-wirtschaftlichen Fähigkeiten einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft, wo z. B. ein nicht geringer Teil der Arbeit eigentlich überflüssig wäre und wo man mit einem anderen Teil der Arbeit Bedürfnisse aufzwingt, um Überproduktion rentabel zu machen. Was Marcuse angesichts des Trends zum Totalitarismus, der nun einmal einer hochentwickelten Industriegesellschaft zu eigen zu sein scheint zutiefst bewegt, formuliert er selbst als „die schreckliche Frage, warum menschliche Freiheit und menschliches Glück auf derjenigen Stufe reifer Zivilisation dahinschwanden, auf der die objektiven Bedingungen, sie zu verwirklichen, größer waren, als je zuvor Aber wenn die zunehmende Rationalisierung und Automatisierung, die den Menschen in einem bisher ungeahnten Maße befreien könnte von Arbeit, Elend und Zwang, sich tatsächlich als Mittel neuer Repression erweist — ist damit schon klar, wie eine den gegenwärtigen Möglichkeiten, das heißt dem erreichten Reifegrad der Produktiv-kräfte entsprechende Gesellschaft aussehen sollte?

Diese Frage führt uns auf den entscheidenden Punkt. Denn es ist nicht nur so, daß eine solch neue Gesellschaft damit keineswegs schon sichtbar ist und Stück für Stück noch ausgearbeitet werden müßte die Ahnung ihrer Möglichkeit wird von Marcuse vielmehr verdeckt durch einen unvermittelten Vorgriff auf das, was er „das befriedete Dasein" nennt, ein Vorgriff, der in seiner unbestimmbaren Weite und abstrakten Totalität geradezu einen Rückfall darstellt aus der Grundvoraussetzung kritischer Theorie. Was solch befriedetes Dasein nämlich selbst näherhin ist, diese Welt ohne Zwänge und Ordnung ohne Unterdrük-kung, alles das wird nicht in der konkreten Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit gewonnen, sondern dieser als der ersehnte Endzustand unvermittelt gegenübergesteilt.

Genau damit aber gibt das Denken die Einsicht in die Notwendigkeit der geschichtlichen Vermittlung preis, eine Einsicht, die seit Hegel zum unverlierbaren Bestand kritischer Theorie gehören müßte Wenn für die Philosophie die gesellschaftliche Wirklichkeit sich dadurch bestimmt, daß sie beständig mit sich selbst im Prozeß ist und in diesem Prozeß den Anspruch der Verwirklichung allgemeiner, die Freiheit betreffender Zwecke erhebt, dann sind solche Zwecke gültig und verbindlich nur, soweit die Mittel und Wege zu ihrer Realisierung aufgewiesen werden. Je dringlicher heute ein solches, das Gegebene auf die in ihm liegenden Möglichkeiten hin überschreitende Denken wird, desto strenger ist an dieser Einsicht selbst festzuhalten.

8. Das befriedete Dasein

Wie wenig das aber in bezug auf das befriedete Dasein der Fall ist, zeigt sich sofort, wenn man einmal sammelt, was sich bei Marcuse als Umriß dieses Endzustands findet. Weder wird da gezeigt, wie das befriedete Dasein aussehen wird, noch wie man zu ihm gelangen soll. Was Marcuse im Blick darauf fordert, ist entweder derart, daß es wirklich keiner Revolution bedarf, es zu erreichen, sondern nur ein bißchen mutigere Vernunft, oder aber so, daß auch keine Revolution helfen wird, es in seiner hehren Allgemeinheit und leeren Erhabenheit zu vollbringen; etwa die Freisetzung des Eros, die Befreiung von Schuld und Angst, die Etablierung von Sinnlichkeit, Spiel und Sang oder gar die Überwindung von Zeit und Tod. Der Vorblick auf das, was sein soll und auf das hin das Bestehende verneint wird, überspringt in solchem Vorblick auf das Ende die realen Möglichkeiten derart gründlich, daß er zu einer Utopie im schlechten Sinn des Wortes wird, zu einem bloßen Gegenbild des Bestehenden, das von außen an dies herangetragen wird

Gewiß gibt es ungenutzte Fähigkeiten, die als reale Möglichkeit angesprochen sind und auf die sich der Gedanke vom befriedeten Dasein bezieht. Aber kann man sie tatsächlich für ausreichend halten, die Verwirklichung des Entwurfs einer heilen Welt zu gestatten und allen Hunger und alle Not, alle Arbeit und alle Repression aufzuheben? Läßt nicht der Über-schwang solchen Ziels gerade jene Mittel noch unscheinbarer werden, als sie für das Bestehende und in diesem ohnehin schon sind? Zwar versichert Marcuse: „Eine Gesellschaft ohne Krieg, ohne Grausamkeit, ohne Brutalität, ohne Unterdrückung, ohne Dummheit, ohne Häßlichkeit — daß eine solche Gesellschaft möglich ist, daran zweifle ich überhaupt nicht, wenn ich mir die heutigen technischen, wissenschaftlichen und psychologischen Bedin-gungen ansehe." Doch macht solche Versicherung verdrängter und unterdrückter Kräfte diese wahrlich nicht zur realen Möglichkeit. Die Beschwörung einer „Sphäre des Spiels, Experiments und der Phantasie, die jenseits der Reichweite jeder Politik und jedes Programms heute liegt" entleert vielmehr das Bestreben nach wirklicher Veränderung unter den gegenwärtigen Bedingungen menschlichen Daseins; es entwirft eine zweite Welt, statt — wie selbst linke Kritik an Marcuse sehr entschieden moniert — diese Welt ihren gegenwärtigen Herren streitig zu machen. Je weniger Marcuse sich hier von der Wirklichkeit mit ihrem Widerspruch das ihr eigene Maß zeigen läßt, desto weniger kann seine Rede vom Endzustand beanspruchen, wirklich Vernünftigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse auf dem Grund der Unvernunft ihres gegenwärtigen Bestands zur Sprache zu bringen.

Die unmittelbare Folge dieses „Rückfalls von einer mit der geschichtlichen Praxis verbundenen Theorie in abstraktes, spekulatives Denken, von der Kritik der politischen Ökonomie zur Philosophie" — wie Marcuse selbst einmal abwehrend formuliert —, das heißt die Konsequenz der mangelnden Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit geschichtlicher Vermittlung ist, daß man sich der Möglichkeit begibt, befreiende Tendenzen innerhalb der bestehenden Gesellschaft zu sehen, aufzunehmen und von ihnen her, aus der gegenwärtigen Gesellschaft selbst heraus, die Arbeit für eine menschenwürdigere Gestalt ihrer Wirklichkeit voranzutreiben. Marcuse scheint die Diskrepanz zwischen der schlechten Positivität des Bestehenden und dem angestrebten Reich der Freiheit vielmehr so absolut, daß er nicht an die Möglichkeit glaubt, das gesellschaftliche Kontinuum lasse sich durch rationale Kritik und Provokation der Vernunft aufbrechen. Angesichts der fortschreitenden Integration von allem in das System, weil also selbst der Widerspruch noch vereinnahmt wird, findet seine Theorie keinen Ansatz mehr innerhalb des Gegebenen, sie bindet sich an das ganz andere, verlangt den „Bruch mit den bestehenden In-stitutionen in ihrer Ganzheit" und wird damit zur „Ideologie". Marcuse spricht selbst davon: „Dieser ideologische Charakter der Philosophie resultiert daraus, daß die Analyse gezwungen ist, vorzugehen von einer Position außerhalb der positiven sowohl als der negativen, der konstruktiven sowohl als der destruktiven Tendenzen in der Gesellschaft."

Während für eine von der Reflexion auf die Notwendigkeit geschichtlicher Vermittlung bestimmte kritische Theorie alles an der Überzeugung von der Möglichkeit einer Weiterbildung des Bestehenden hängt hin auf die Wirklichkeit menschlichen Miteinanders, in der mehr Vernunft als gegenwärtig ist, bleibt dem Denken im Widerspruch so nur der Glaube an die revolutionäre Umwälzung mit einem Schlag. Die kritische Theorie hält zur Abwehr jeder Apologie des Bestehenden als auch jeder Beschwörung von Utopie daran fest, daß nicht entworfen wird, wie alles sein soll, wenn das was ist, nicht zureicht, das heißt, daß man auf die mögliche Vernunft gesellschaftlicher Verhältnisse mit jenen kleinen Schritten zugeht, die Unrecht und Unterdrückung als solche bezeichnen und das Wissen um das Falsche verbreiten, damit sich im Bestehenden das Rechte kläre. Um nicht mißverstanden zu werden Nicht darum geht es, einfach innerhalb des Gegebenen bloß Verbesserungen zu suchen, die fälligen Schönheitsreparaturen etwa, währenddessen der Bau selbst, Struktur und Rahmen unverändert bleiben, sondern darum, für einen neuen Bau, für andere Strukturen und einen größeren Rahmen eben den Ausgang im tatsächlich Gegebenen zu suchen; nicht totale, sondern bestimmte Negation.

Zu dem aber vermag sich das Denken im Widerspruch nicht mehr zu bekennen. Ganz ausdrücklich hat Marcuse vielmehr auf dem Prager Hegelkongreß 1966 den Begriff der bestimmten Negation abgewiesen und gegen jene Konzeption von Fortschritt, nach der die Zukunft immer im Inneren des Bestehenden selbst verwurzelt ist, den „Bruch" eingeklagt In der modernen Welt scheint ihm das nicht mehr möglich, woran Hegel und Marx noch festgehalten haben, „daß die negierenden Kräfte, die die in einem System sich entfaltenden Widersprüche sprengen und zu der neuen Stufe führen, sich innerhalb dieses Systems entwickeln"; innerhalb unseres antagonistischen Systems „können sie nicht mehr in dieser fortschrittlichen, befreienden Weise zur Entfaltung" kommen Im „Weltsystem der Koexistenz von Kapitalismus und Sozialismus" wo die „gesellschaftlichen Kräfte, die stark und materiell genug sind, um für eine ganze Periode die Gegensätze zu neutralisieren, zu suspendieren oder sogar die negativen Kräfte in positive zu verwandeln, welche das Bestehende reproduzieren anstatt es zu sprengen" ist der „Begriff der sich im Innern eines bestehenden Ganzen als Befreiung entfaltenden Negation" fragwürdig geworden und „tritt die Negation der (bestehenden) Negativität als geographisch und gesellschaftlich getrenntes selbständiges Ganzes gegenüber"

Weil der Fortschritt unserer Tage also einen Stand erreicht hat, wo das noch immer verbreitete Unrecht und die noch immer praktizierte Unterdrückung weitgehend überflüssig geworden sind und die Gesellschaft sich dennoch weigert, in Richtung auf das befriedete Dasein vorwärtszugehen, scheint Marcuse deshalb schlicht „die große Weigerung" am Platz, die absolute Opposition, das Nicht-mehr-Mitmachen „Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten. Indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ. Damit will sie jenen die Treue halten, die ohne Hoffnung ihr Leben der großen Weigerung hingegeben haben und hingeben."

Was von der Tradition der Philosophie her, auf die sich das Denken im Widerspruch bezieht, zu dieser totalen Negation des Bestehenden und zur Flucht in die Utopie zu sagen wäre, findet sich in Hegels unnachsichtigem Wort gegen das leere Sollen: „Das Allgemeine im Sinn der Vernunftsallgemeinheit ist auch allgemein in dem Sinne, . . . daß es sich als das Gegenwärtige und Wirkliche darstellt, ohne darum seine Natur zu verlieren. ... Was allgemein gültig ist, ist auch allgemein geltend: was sein soll, ist in der Tat auch, und was nur sein soll, ohne zu sein, hat keine Wahrheit. .. . Denn die Vernunft ist eben diese Gewißheit, Realität zu haben."

9. Die Funktion der totalen Negation

Von dem, was beim Versuch einer Umsetzung der großen Weigerung in den Aktionen der Neuen Linken zum Vorschein kommt, wird noch zu sprechen sein. Ziehen wir hier zunächst aus dem bisherigen für Marcuses Theorie selbst den Schluß, denn es liegt auf der Hand, daß diese Theorie mit der Wendung in die totale Negation nicht nur am äußersten Ende utopischen Denkens in der Gegenwart steht, sondern daß der von Marcuse im Begriff der Utopie als Kritik namhaft gemachte Zusammenhang mit dem Problem der geschichtlichen Vermittlung vielmehr zugleich eben eine ganze eigene Kritik bedingt, durch die Theorie, die kritisch um die Notwendigkeit der geschichtlichen Vermittlung weiß. Und von ihr her ist zu sagen, daß Utopie aller Behauptung des konkreten Charakters zum Trotz eben aus dieser Radikalität, die die totale Negation bewegt, ihren Entwurf nicht mehr so begründen kann, daß mit dem Bedürfnis nach dem Wandel der Verhältnisse wirklich auch zugleich dessen Möglichkeit sichtbar wird. Die Utopie, die aus der Erfahrung des bestehenden Widerspruchs heraus unvermittelt zur Notwendigkeit seiner Aufhebung kommt, bleibt vielmehr theoretisch, sie kann nicht eigentlich praktisch werden, weil sie sich ausdrücklich gegen jenen Grundsatz praktischer Philosophie heute kehrt, nach dem das Ziel vernünftigen Handelns nur eine im sozialen Zusammenhang selbst angelegte Möglichkeit sein kann. Welches sollte der praktische Wert einer Rede vom real Möglichen sein, wenn diese Rede mit ihrer eigenen Auslegung sich selbst der Chance begibt, befreiende Tendenzen im Wirklichen zu entdecken?

Die Hoffnung dieser Utopie hat deshalb auch nichts zu tun mit dem, was im Widerspruch des Bestehenden nun wirklich selbst liegt und was wahrhaft kritische Theorie für politische Praxis zu erhellen sucht. Sie meint eine Welt, in der nicht nur weniger Armut und weniger Zwang ist, weniger Herrschaft und weniger Gewalt, sondern die Welt des Heils schlechthin, das Ende jeglicher Herrschaft und Gewalt; ein Ende also, das überhaupt nicht auf dem Weg der Vermittlung zu erreichen ist, zu dem es vielmehr des Sprungs als des „totalen Bruchs zwischen der alten und der neuen Gesellschaft" bedarf. Der Maßstab, der ihrer Kritik zugrunde liegt, ist nichts, was aus der Gesellschaft selbst gewonnen wäre, sondern erweist sich als die Antizipation bekannter Träume vom vollendeten Leben — Träume, die kritischer Reflexion nicht standzuhalten vermögen, weil Ziele, die man für die Gesellschaft entwirft und zu deren Verwirklichung man aufruft, in ihrer Vernünftigkeit vom Stand der gesellschaftlichen Möglichkeiten abhängen

Marcuse hat einmal — die Verschärfung und Radikalisierung des Denkens im Widerspruch zur totalen Negation verdeutlichend — von der „geschichtlichen Absurdität" gesprochen, „die in der Tatsache liegt, daß die Welt nach der Niederlage des Faschismus nicht zusammenbrach, sondern in ihre früheren Formen zurückfiel, daß sie nicht den Sprung ins Reich der Freiheit unternahm, sondern die alte Einrichtung in Ehre wiederherstellte" Löst sich freilich die Theorie gesellschaftliche! Wirklichkeit aus Verzweiflung am Bestehenden derart von der Voraussetzung geschichtlicher Vermittlung, dann bleibt entgegen ihrer ersten Absicht für ein Handeln, das sich nach ihr bestimmt, nur die Wahl zwischen Resignation und Gewalt, wobei auch Gewalt nochmals zwangsläufig in Resignation umschlägt, weil sie zum Mißerfolg verurteilt ist.

Solche Feststellung intendiert zunächst weder den Verzicht auf Kritik, noch die Verteidigung dessen, wogegen diese steht. Sie bringt nur zum Ausdruck, daß ein Denken, das so negativ und utopisch geworden ist, daß es die totale Negation des Bestehenden darstellt, jene Kritik nicht leisten kann, deren es zur Fortbildung des Bestehenden bedarf, soviel auch immer für diese Kritik an ihm zu lernen sein mag. Vielleicht kann diese Feststellung darüber hinaus auch deutlich machen, daß über die Wirkung von Utopie als Kritik letztlich die Reflexion utopischen Bewußtseins auf seine eigenen Grenzen befindet. Meint die Vorstellung dessen, wie alles sein soll, ein Ziel, zu dem vom Bestehenden her kein Weg führt denn radikaler Bruch allein —, dann wird sie wirken, je weniger sie auf unmittelbaren Vollzug dringt und sich statt dessen darauf beschränkt, das Bewußtsein zunehmender Unfreiheit zu aktualisieren, um es mit dem inneren Ziel allen Fortschritts von Technik und Wissenschaft zu konfrontieren, dem Ziel, das noch immer die je größere Freiheit des Menschen ist, „Die Utopie" — so sagt Leszek Kolakowski in den Gedanken über die , Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein'— „ist auch dann reale Kraft, wenn sie eine Utopie ist"

Vielleicht verdient unter diesem Gesichtspunkt Marcuses Gedanke des befriedeten Daseins in unserer Zeit des Umbruchs noch mehr Aufmerksamkeit, als ihm der Versuch seiner direkten Erfüllung schenken kann. Denn bedenkt man, in welchem Ausmaß der technische Fortschritt die Welt der Arbeit zu verwandeln begonnen hat und daß wir in der Tat „morgen" alle anders leben werden, weil elektronische Datenverarbeitung, Atomphysik und Molekularbiologie nicht nur das Verhältnis des Menschen zur Natur, sondern sein Verhältnis zu sich selbst und zu seines gleichen ganz neu bestimmen —, dann dürfte totale Negation wohl auch gerade bei dem helfen, was sie sich selbst versagt: bei der Arbeit für erreichbare Ziele, die einmal die weitere Veränderung unserer Gesellschaft vermitteln könnten. Denn es gibt in der Tat Dinge, die erst mit ihrer Verneinung sichtbar werden und zu deren Verneinung es des entschiedensten Willens zur Befreiung bedarf Marcuses Hinweis auf die Funktion der Philosophie gilt gerade dann: „Kraft ihrer einzigartigen Fähigkeit, einen Gegenstand auch ohne dessen Vorhandensein anzuschauen, aufgrund des gegebenen Materials der Erkenntnis doch etwas Neues zu schaffen, bezeichnet die Einbildungskraft einen hohen Grad der Unabhängigkeit vom Gegebenen, der Freiheit inmitten einer Welt von Unfreiheit........... Ohne sie bleibt alle philosophische Erkenntnis immer nur der Gegenwart oder der Vergangenheit verhaftet, abgeschnitten von der Zukunft, die allein die Philosophie mit der wirklichen Geschichte der Menschheit verbindet. "

10. Der Vollzug der großen Weigerung

Was die Aufforderung zur großen Weigerung aber jenseits solch möglicher Aufklärung für die gesellschaftlich-politische Praxis besagt, und das heißt, wie wenig solche Utopie, in der sich die Kritik zur totalen Negation verdichtet, wirklich zur Änderung des Bestehenden führt, — das zeigt sich am Verhalten derer, die wie der radikalere Flügel der Neuen Linken nach einem Wort Marcuses sich bewußt „außerhalb des demokratischen Prozesses" bewegen und auf die zusammen mit dem „Substrat der Geächteten und Außenseiter, der Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und Farben, den Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen" das Erstgeburtsrecht der Opposition übergegangen sein soll.

Zwar ist das Verhältnis der Neuen Linken zu Marcuse und zu seiner Theorie des befriedeten Daseins nicht mehr so ungebrochen wie zu Beginn. Doch zeichnet sich ein großer Teil der Bewegung noch immer gerade dadurch aus, daß er in der Attitüde siegessicherer Revolution die große Weigerung vollzieht Ihre Opposition gegen das Bestehende, für die „die ganze Sphäre der Politik nur Spielraum für die Machenschaften der Herrschaft, der Manipulation, der Unterdrückung" ist, nimmt die Theorie der großen Weigerung erschreckend wörtlich und verfällt damit im Versuch ihrer Umsetzung unmittelbar in die Praxis eben dem, was sie doch kritisch zu überwinden versucht; totale Negation bestätigt, statt zu zersetzen.

Weil man das Bedürfnis nach Überwindung der gegebenen Herrschaftsverhältnisse an die Aufhebung der Herrschaft von Menschen über Menschen überhaupt knüpft, kann man in bezug auf das Bestehende zu keiner wirksamen Praxis mehr finden, und so begnügt man sich statt dessen mit einer Revolte, deren Radikalismus nur beweist, wie theoretisch sie ist. Die Erfahrung der Unterdrückung durch die bestehende Herrschaftsordung ist bereits zur Theorie einer Negation von Ordnung überhaupt geworden, und was bleibt, sind blinde Aktionen, die an Anarchismus gemahnen. Einerseits fehlt hier jedes Verständnis für die Leistungen der arbeitsteiligen Industriegesellschaft so gut wie für die Institutionen des liberalen Rechtsstaats das Verständnis insbesondere auch dafür, daß man nicht die positiven Seiten der Entwicklung haben kann, ohne ihre entfremdenden Konsequenzen tragen zu müssen. Andererseits entwickelt auch der Vollzug der großen Weigerung keine Vorstellung dessen, was an die Stelle des Verneinten treten soll; was man radikaldemokratische Gesellschaft nennt, ist eine Idylle, aber keine Alternative. Will einer im Ernst glauben, es könne genügen, bestimmte Formen der gegenwärtigen Herrschaft und des gegenwärtigen Eigentums aufzuheben, um zu einer von Ehrgeiz, Habsucht und Schwachheit befreiten Gemeinschaft glücklicher Menschen zu kommen? Die Empfehlung herrschaftsfreier direkter Demokratie, die es den Bürgern erlaube, ihre zeitweiligen Vertreter direkt zu wählen und abzuwählen, wie sie es auf der Grundlage. eines gegen jedwede Form von Herrschaft kritischen Bewußtseins für erforderlich halten, diese Räteromantik vergangener Zeiten ist unpolitisch, weil sie die Bedingungen des Lebens in der hochindustrialisierten nicht zur Kenntnis Gesellschaft nimmt.

Das Bewußtsein der großen Weigerung tritt zwar aus dem gesellschaftlich-politischen Kontinuum, aber nur um sich noch mehr in dieses zu verstricken, denn es verliert den Bezug zur Vernünftigkeit der Praxis, die für direkte Aktion voraussetzt, daß das Ziel nur eine im sozialen Zusammenhang selbst angelegte Möglichkeit sein kann. Gewiß kann man auch diese Voraussetzung noch ignorieren und die Bestimmung von Mittel und Zweck einer Handlung als „die vornehmste Variante des zwischen Quietismus und Zynismus schwankenden Opportunismus" bezeichnen „in einer weltgeschichtlichen Situation, in der die einlösbaren, ja historisch überfälligen Ansprüche politischer Vernunft in den Metropolen nicht unmittelbar zweckrationale Praxisfelder eröffnen" Doch besagt das noch einmal nichts als bloße Negation; das heißt, auch was man als Provokation serviert, ist weit davon entfernt, sich auf die Vernunft zu beziehen, die geschichtlich gegenwärtig ist und der im Bestehenden selbst hervorgeholfen werden muß.

Kaum ein Wort beschwört die Neue Linke so wie „kritische Reflexion", und nichts mangelt ihr mehr als nüchterne Einsicht in das, was ist; eine Einsicht, die keineswegs das Bestehende so akzeptiert, wie es ist und wie es sich selbst gern als das Dauernde gibt; eine Einsicht, die aber für die Fortbildung dieses Bestehenden festhält, daß es keine Vernunft in gesellschaftlich-politischen Verhältnissen heute gibt ohne Freiheit der Diskussion, auch wenn dabei etwas anderes herauskommt, als man selbst erwartet hat; ohne Toleranz der anderen, auch wenn diese anderen die Mehrheit sind und man in der Minderheit bleibt; und ohne Skepsis gegenüber jedem Entwurf eines Endziels, auch wenn der sich durch Hellsichtigkeit auszeichnet in Bezug auf die Mängel des Bestehenden.

Der Mangel an Wirklichkeitssinn, der den Verlust der Einsicht in die Notwendigkeit geschichtlicher Vermittlung begleitet, drückt sich besonders stark in der Wendung zur Dritten Welt aus. Dutschke hat darauf hingewiesen, daß „jede radikale Opposition gegen das bestehende System, das uns mit allen Mitteln daran hindern will, Verhältnisse einzuführen, unter denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressive Arbeit führen können, heute notwendigerweise global sein" muß Das heißt, da es hierzulande keinen Adressaten mehr gibt für die wohlfeilgebotene Aufforderung zur Revolution — Arbeiter sind in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft keine revolutionäre Klasse mehr —, sucht man seine Hoffnung in China und Vietnam so gut wie Kuba und Bolivien, ohne noch zu sehen, wie die Ernsthaftigkeit revolutionärer Perspektiven in Asien und Lateinamerika die Übertragung ihrer Theorie sowohl als auch ihrer Praxis auf mitteleuropäische Verhältnisse gerade ausschließt.

11. Das Problem der Gewalt

Nichts macht im übrigen den totalen Charakter dieser Negation deutlicher als die Tatsache, daß der Appell zur Aufhebung der Ordnung des Bestehenden nicht umhin kann, ausdrücklich Gewalt einzuschließen. Marcuse selbst hat nachdrücklich davon gesprochen, daß „die gewaltlose Gesellschaft die Möglichkeit einer geschichtlichen Stufe bleibt, die erst zu erkämpfen ist" Und der Schluß seines Aufsatzes über repressive Toleranz, das politische Glaubensbekenntnis der Neuen Linken, lautet so: „Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigstens der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen." Das klingt heroisch, doch es endet im Desaster und in der Verzweiflung; und es wäre allzu , utopisch', das Repressiv-Totalitäre, das beim Versuch der Durchsetzung jener Welt ohne Zwänge in unserer Gesellschaft zum Vorschein kommen muß, nochmals auf eben diese Gesellschaft selbst zu schieben.

Dennoch, das sollten wir uns eingestehen, liegt auch in solcher Rede mehr an erschütternder Wahrheit, als wir uns das bis vor den Osterunruhen des Jahres 1968 etwa in der fraglosen Übereinkunft einer Absage an die Gewalt gemeinhin zugestanden haben. Aber es bleibt daneben, daß die Entwicklung der Protestbewegung gerade im letzten Jahr es selbst überaus dringlich gemacht hat, hier die nötige Unterscheidung zu treffen, und das heißt, nicht nur aus taktischen Erwägungen sich gegenwärtig in den „Metropolen" noch auf gewaltlose Aktionen zu beschränken sondern den Protest um seiner eigenen Wirksamkeit willen insgesamt auf gewaltfreie Aktion zu bringen, der Gewalt grundsätzlich abzusagen. Provokation, die Gewalt einschließt, kann angesichts einer Ordnung, die der überwältigenden Mehrheit nicht als pure Gewaltherrrschaft erscheint, keine Provokation der Vernunft sein. Der schreckliche Bogen der Gewalt, der bis zu Ohnesorg, Dutschke, Frings und Schreck reicht, hätte auch die Neue Linke ernüchtern müssen. Ihr Programm differenzierter Gewaltanwendung, die zweifelhafte Unterscheidung von Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen sowie die Verteidigung von Gewalt als Gegengewalt verrät, wie wenig das der Fall ist. Statt sich nach der ersten Schlacht an Ostern auf den Weg gewaltfreier Aktion zu besinnen, tönte es bei der allgemeinen Notstandsübung im Sommer danach von neuem: „man werde mit der Macht der illegalen Demokratie eines Tages die einzige Sprache sprechen, die Faschisten verstehen, nämlich die der physischen Gewalt"

Zugegeben, daß jenseits offensichtlicher Gewalttaten die Frage nach der Gewalt meist sehr schwierig ist, denn der Übergang zur Gewaltsamkeit ist fließend; es beginnt nicht mit Steinen und Stahlstangen, mit Zerstörung und Brandstiftung —, auch die bewährten Sit-ins sind oft an der Grenze, von vielen anderen „Regelverletzungen" ganz zu schweigen. Aber die Erfahrung des vergangenen Jahres und das, was in den letzten Monaten aus manchen unserer Universitäten berichtet wurde soll-ten alle einiges lehren. Wir haben dazu schließlich das Beispiel Amerika, die große Bürgerrechtsbewegung mit ihrem Schwur auf sanfte Gewalt, der Übung der Gewaltlosigkeit

Warum sich nicht auch hier an die überaus wirksame Skala der Kampfmaßnahmen halten, die in den USA von Protestdemonstrationen über legale Nichtzusammenarbeit bis zum zivilen Ungehorsam reicht, der demonstrativen Gehorsamverweigerung also gegenüber administrativen, richterlichen und gesetzlichen Anordnungen — alles Maßnahmen, die es sehr wohl zu jenem kritischen Spannungsverhältnis bringen, in dem die Etablierten sich zum Fortschritt einfach gezwungen sehen, wenn überhaupt sie den Anspruch auf vernünftige Ordnung des Miteinanders aufrechterhalten wollen

Will man freilich Revolution, kann man dem Fortschritt auf dem Weg von Reformen nichts abgewinnen und so widersetzt man sich der Politik der kleinen Schritte bis zur latenten und gelegentlich schon manifesten Gewalt schließlich gegen diejenigen, mit denen und für die man den Umsturz einst zu schaffen hofft. Was die „emanzipierende Führung" ist, von der Dutschke spricht und die „erzieherische Diktatur" auf die Marcuse setzt, davon haben wir inzwischen hinreichende Kostproben erhalten. Es ist erschreckend zu sehen, wie grob die Neue Linke all die Defekte reproduziert, die sie dem System zu recht ankreidet, wie autoritär sie ist in ihrer antiautoritären Unduldsamkeit, wie intolerant in der Abwehr dessen, was ihr etablierte Intoleranz scheint, wie rasch sie Minderheiten zu Mehrheiten zu machen weiß und Mehrheiten nicht mehr zu Wort kommen läßt, und wie hochmütig und zynisch sie von dem Gebrauch macht, was ihr ein Zipfel der Macht dünkt.

In dem Maße aber, wie man sich hier weigert, zur Vernunft zu kommen, korrumpiert man nicht nur das Mittel der Provokation, das sich so ausgezeichnet bewährt hat; man verhindert jene Reformen, die endlich in Gang gekommen sind und stützt damit im Grunde nichts als das Bestehende in seinem bloßen Bestand. Denn nichts ist damit gewonnen, wenn man die öffentliche Ordnung nur stört, um ihre In-humanität zu beweisen, und wenn man Toleranz zwingt, repressiv zu werden. Alles das ändert nicht nur nichts, sondern bewirkt das Gegenteil.

Denn niemand, für den die gegenwärtigen Verhältnisse bei allem Unrecht und allem Zwang, der sie zeichnen mag, geschichtlich eben doch zunächst verwirklichte Freiheit sind und für den also die noch bestehende Unfreiheit nur von daher aufzuheben ist, wird sich auf jenen Umschlag verlassen wollen, auf den die utopische Theorie des Sprungs ins Reich der Freiheit setzen muß, und nach dem der Wandel in der Natur des Menschen, der für das Leben dort erforderlich ist, eben mit dem Sprung selbst erst erfolgt und deshalb auch nicht vor ihm erfaßt werden kann. Die Vertröstung auf die „radikale Veränderung der menschlichen Natur", die der „Bruch mit den bestehenden Insti-tutionen in ihrer Ganzheit" mit sich bringt übersieht, daß eine Verheißung der Freiheit heute nicht mehr zieht, wenn sie nur auf einem diesem Ziel selbst widersprechenden Weg erreichbar scheint. Zwar versichert Marcuse, daß es sich um eine „Erziehungsdiktatur" handle, „die sich in ihrer Erfüllung aufheben würde" doch spricht angesichts der Erfahrung mit Diktaturen aller Art nichts dafür, im Vertrauen auf die Wirkung solchen Sprungs jetzt das Gegenteil dessen zu bereiten, was man anstrebt, also schon verwirklichte Freiheit aufzugeben und auf Zwang und Gewalt zu setzen in der Hoffnung, das werde sich irgendwann zur Befreiung kehren.

Der Widerspruch, der darin liegt, daß die Intention auf Befreiung sich nur noch als totale Negation will äußern können, oder — wie Marcuse formuliert — „daß wir uns streng genommen freimachen müssen, bevor wir eine freie Gesellschaft schaffen können", weil „die Zersetzung des bestehenden Systems die Vorbedingung jeder derartigen qualitativen Veränderung ist" dieser Widerspruch wird eben damit unübersehbar. Was zur Verwirklichung solcher Freiheit einzig bleibt, ist dann nämlich Dogmatismus, Intoleranz und Terror, das also, was der Gedanke des befriedeten Daseins gerade nicht will, wovon man aber nicht loskommt, solange man zu verwirklichen empfiehlt, was sich nicht verwirklichen läßt. Jeder Versuch einer Befreiung von der Politik unterliegt politisch dem Zwang zum Totalitären, und deshalb darf auch auf die heile Welt hin kein Weg beschritten werden, an dessen Beginn die Aufhebung all derjenigen Freiheit steht, die geschichtlich bereits wirklich geworden ist.

12. Die Anklage des Systems

Map ist versucht, sich von diesem Aspekt aus den Schluß sehr einfach zu machen. Doch wäre der Sinn unserer Überlegungen mißverstanden, könnte nach forcierter Kritik an Marcuse und der Neuen Linken nun allseitige Beruhigung Platz greifen. Die große Weigerung ist nichts, was man den Philosophen und der Polizei überlassen darf, — den Philosophen, solange alles ganz theoretisch bleibt, und der Polizei, wo es doch einmal praktisch wird. Dafür besteht ein viel zu enger Zusammenhang sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht zwischen ihr und dem Selbstverständnis unserer Gesellschaft im Ganzen, mit deren Verständnis insbesondere auch bei denen, die zur Provokation ihre Zuflucht nehmen. Daß ein beträchtlicher Anteil der jungen Generation es nicht so wichtig nimmt, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, als vielmehr diese Gesellschaft so zu gestalten, daß man in ihr auch einen Platz haben möchte, sollte uns wohl alle treffen. Das Phänomen der großen Weigerung ist eine echte Anklage des Systems, und wir müßten einer gefährlichen Selbsttäuschung verfallen, würden wir diese Anklage nicht aufnehmen oder nur diejenigen verurteilen, die den gesellschaftlichen Zwang nicht mehr aushalten und unter dem Druck der Verhältnisse zu Aktionen schreiten, für die die Zweck-Mittel-Bestimmung rationalen Handels nicht mehr zu gelten scheint und bei denen selbst Provokation noch nur um der Provokation willen geschieht.

Von Mario Savio, Dutschkes Vorbild in Berkeley, stammt das Wort: Unsere Gesellschaft wird „mehr und mehr ein Utopia der sterilisierten, automatisierten Zufriedenheit, . . , aber eine wichtige Minderheit von Männern und Frauen tritt heute hervor, die gezeigt hat, daß sie lieber sterben als standardisiert, ersetzbar und belanglos sein will" Zu ihrer Opposition sagt Marcuse: „Sie mögen keinen Plan für positive Rekonstruktion haben oder einen, der nicht funktionieren würde, aber sie wollen einfach keine Sklaven mehr sein; sie sind getrieben vom vitalen Bedürfnis, unerträgliche Verhältnisse aufzuheben" und bei einem seiner letzten Besuche der Neuen Linken in Berlin fügte er dem hinzu: „Vielleicht siegen wir nicht, aber wir müssen weiter Opposition sein, denn im Bündnis mit dem System können wir nicht mehr Menschen sein."

Um unmißverständlich klarzustellen: gefährlich wäre die Selbsttäuschung angesichts solcher Anklage des Systems nicht wegen der revolutionären Kraft der Rebellen — wir wissen inzwischen, wie schnell man damit fertig werden kann; sie wäre gefährlich, weil dann das Ausmaß dessen nicht zum Vorschein käme, was wir zu tun haben, um diese unsere Gesellschaft vernünftiger und damit menschlicher zu machen.

Eben daran aber hängt sehr viel, denn unser ständig noch wachsendes Bedürfnis nach Ordnung, Wohlstand und Sicherheit unterstellt ganz allgemein das Leben immer mehr den Gesetzen von Technik und Wissenschaft, und das geht auf Kosten der Freiheit. Um hier überhaupt irgend etwas noch voranzubringen, bedürfte es der Provokation. Und wenn wir uns auch wünschen wollten, es wäre mehr und entschiedener wirklich Provokation der Vernunft, nicht Evokation sozialrevolutionärer Utopie, wenn wir rückhaltlos für Vernunft in den gesellschaftlichen Verhältnissen einstehen, müssen wir selbst das noch als Provokation der Vernunft nehmen, was nur ihr Versagen beweisen soll, das heißt wir haben auch die große Weigerung noch als Aufforderung zum Handeln zu verstehen.

13. Die Antwort der Vernunft

Es gibt kein Patentrezept für all die Schwierigkeiten, auf denen die Anklage des Systems beruht. Es gibt insbesondere Grundstrukturen der arbeitsteiligen Industriegesellschaft, die wir zu akzeptieren haben, auch wenn wir darunter leiden. Denn sie ermöglichen Großes im Kampf gegen Armut, Krankheit und Not, sie ermöglichen das, was selbst durchaus Freiheit verbürgt. Aber wir sollten ernst nehmen, was die große Weigerung negativ bewegt, sollten gerade da ansetzen, wo ihre Negation realitätsbezogen ist und wo sie sich mit jenem Protest vereint, der die Provokation der Vernunft sucht. Bestimmte Sachverhalte pflegen erst in ihrer Verneinung sichtbar zu werden, und wir täten gut daran, die wunden Stellen, die man uns gezeigt hat, nicht mehr aus dem Blick zu verlieren. Das bedeutet, wir müssen jetzt dafür sorgen, daß der Glaube an die Wirksamkeit der Toleranz in unserer Gesellschaft wieder erstarkt; ein Glaube, den nicht Marcuse den Studenten genommen hat, sondern die Erfahrung, wie man mit ihnen umging; — und müssen dafür sorgen, daß die Diskussion wieder zum Mittel inhaltlicher Bestimmung des Gemeinwillens wird und nicht weiter bloß ein Instrument zur Beschäftigung derer ist, auf deren Vorstellungen man gar nicht hören will — kurz, wirksam dafür sorgen, daß die demokratische Verfaßtheit unserer Gesellschaft nicht zur schlechten Befestigung ihres Bestands dient, sondern sich jenseits aller Gewalt als Garantie erweist für ihre vernünftige Fortbildung. Daß man inhaltliche Diskussion sich durch Provokation erkämpfen mußte, hat die jüngste Vergangenheit gezeigt; daß Sachbeschädigung, Körperverletzung und Freiheitsberaubung nichts mit Meinungsfreiheit zu tun hat, haben wir alle — so selbstverständlich das ist — mehr denn je zu beweisen. Und so wie gegen verschleppte Reformen, autoritäre Gängelei und träge Politik Druck verbreitet werden mußte, bevor wirklich etwas geschah, so haben wir nur das Recht, zu mahnen, daß es gewalt-freier Druck bleibe, wenn wir aufnehmen, was darin zum Ausdruck kommt.

Das hört sich vielleicht groß an, meint aber die Arbeit im Detail. Wir müssen uns darum bemühen, daß nicht alles wieder im taktischen Spiel der Etablierten versackt und erneut die große Starre sich breit macht. Wir selbst haben Aufklärung zu verbreiten und nicht Reaktion. Die wesentlichen Grundfragen, die hochgekommen sind, sind auf dem Tisch zu halten — von der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze über das Verhältnis zur DDR, die Erweiterung der Mitbestimmung, die Wahlrechtsänderung, das neue Strafrecht und die Pressefreiheit bis hin zur Hochschulreform. Denn Vertrauen in die Institutionen des liberalen Rechtsstaats ist heute nur durch den Beweis dafür wiederzugewinnen, daß sich aus ihm selbst heraus etwas bewirken läßt und nicht alles immer schon im Sinne des Gestrigen entschieden ist.

Aber auch für die große Mehrheit der protestierenden Studenten selbst, die Provokation nicht um der Provokation willen sucht, ergibt die Analyse von Marcuses Theorie sowohl wie die des untauglichen Versuchs ihrer Über-setzung durch die Neue Linke und der entsprechenden Reaktionen der Gesellschaft darauf etwas, das zu beachten Bedingung für den Fortschritt in der Bewegung werden könnte, die man mit begrenzter Regelverletzung anzustoßen begann. Die Erfahrung totaler Negation nämlich hat auch die „Realitätsadäquanz" ihrer Aktionen verwandelt: das Bestehende nicht nur in seiner überholtheit, sondern eben sei-B ner Fortbildbarkeit anzugehen Man muß inzwischen davon ausgehen, daß durch die Verbildung der Provokation zu einem perfekten Instrument der Manipulation sie faktisch den Abbau der für Reformen nötigen Freiheit betreibt. Wo immer man deshalb heute zur Provokation greift, wird man sehr viel entschiedener zu beweisen haben, daß es Provokation der Vernunft ist, sollen sich die Provozierten nicht erneut in Versuchung geführt sehen, das Bestehende nur mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln weiter zu verfestigen und die Reformen auf eine Disziplinierung der Unruhestifter zu reduzieren. Mit anderen Worten: wenn man Reformen will, sollte man sich davor hüten, Situationen zu schaffen, die sich nach Lage der Dinge jetzt gegen einen selbst auswirken müssen. Beispielsweise heißt das, eine Institution wie die Universität, die u. a.den Auftrag kritischer Reflexion gesellschaftlicher Wirklichkeit hat und deshalb Freiheit von der Gesellschaft braucht, nicht dem direkten Zugriff der Gesellschaft auszuliefern. Ist es wirklich so schwer nacbzuvollziehen, daß die Auseinandersetzung in der Universität, auf die sich die Protestbewegung wieder zurückgezogen hat, nicht mit jenen Mitteln zu einem fruchtbaren Abschluß zu bringen ist, mit denen man ihren Beginn erzwang, ja daß man möglicherweise umgekehrt mit solchen Methoden jetzt das Verhalten produziert, gegen das sie einst provokativ entwickelt wurden?

Das gilt insbesondere für die Frage nach der Gewalt, angesichts der Leichtfertigkeit, mit der man „revolutionäre Praktiken" den „demokratischen Spielregeln" vorzieht. Zwar könnte man auch in solcher Aufforderung zur Rückkehr in verbindliche Formen der Diskussion — und das ist gleichbedeutend mit dem Fortschritt von Provokation zur Politik — gewiß noch einmal den Versuch vermuten, insgeheim nur alles beim alten zu lassen. Doch ist wohl — nicht zuletzt etwa an der Diskussion um das Ordnungsrecht der Hochschulen — sichtbar genug, wie fatal sich bestimmte Formen des Pro-tests jetzt auszuwirken beginnen. Vielleicht kann wenigstens dieser Sachverhalt davor bewahren, die Empfindlichkeit gegenüber Aktionen, die nicht nur eine Regel verletzen sondern Gewalt implizieren, nicht weiter als fraglose Apologie des Bestehenden zu denunzieren, während doch längst für eben dessen Veränderung Gewaltfreiheit als ein Moment erkannt ist, ohne das aller Fortschritt sich selbst aufheben muß.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Aus der bereits überaus reichen Literatur zur Protestbewegung der Studenten seien hier folgende Titel herausgehoben: Kai Hermann, Die Revolte der Studenten, Hamburg 1967; George F. Kennan, Rebellen ohne Programm. Demokratie und studentische Linke, Stuttgart 1968; Christian Graf von Krockow, Der Dinosaurier will überleben. Reform

  2. Vgl. hierzu Wolfgang Lefevre, in: Die neue Opposition, S. 134: „Im Anspruch des Rektors, deswegen, weil das Hausrecht in seine Kompetenz fällt, lediglich kritisiert, keinesfalls aber bewegt werden zu können, aufgrund von Diskussion seine Entscheidung zu revidieren, ... in diesem Anspruch kommt die abgrundtiefe Verachtung gegenüber Entscheidungsmodellen zum Ausdruck, die die inhaltliche, argumentative Bestimmung durch alle Beteiligten zum konstitutiven Grundsatz haben. Jede inhaltliche Diskussion ist in diesem Anspruch zum herrschaftstechnischen Mittel geworden, alle Kritik gegen Entscheidungen zu kanalisieren, die von Institutionen souverän über die ohnmächtig Diskutierenden gefällt werden."

  3. Vgl. hierzu nochmals Wolfgang Lefevre, a. a. O., S. 148: „Am 5. Juni formulierte der Konvent (der FU) die Richtung der jetzt geforderten hochschulpolitischen Praxis, die zugleich politische Praxis sein würde: . Wenn die Studenten diese gerechten Forderungen erheben (Rücktritt von Alberz etc.), so wissen sie zugleich, daß die politische Wirkung der Universität auf die Stadt, die Gesellschaft sehr gering ist; und sie wissen, daß dies nicht zuletzt an der Universität liegt. Es scheint fast, als käme der Appell, caß die deutsche Universität nicht ein zweites Mal am Scheitern der Demokratie und an der Entmenschlichung der Gesellschaft schuldig werden darf, schon zu spät. Die Universitäten können deswegen keinen Augenblick mehr zögern, die gesellschaftlich-politischen Aufgaben der unversitären Wissenschaft zu, definieren und die politische Praxis der Universität zu bestimmen. Der Konvent der FU Berlin sieht es als seine Pflicht an, die Angehörigen der Universität aufzurufen, noch heute einen Prozeß der Selbstklärung und der Entwicklung einer politischen Praxis zu beginnen, der die theoretische wie praktische Antwort und Kampfansage der FU an alle politischen Tendenzen darstellt, die die zweite deutsche Demokratie zu zerstören drohen. ’ "

  4. Vgl. hierzu insbesondere die „linke" Literatur zur „Demokratisierung", aus der hier nur folgende Titel genannt seien: Wolfgang Nitsch — Uta Gerhardt — Claus Offe — Ulrich K. Preuß, Hochschule in der Demokratie, Neuwied 1965; Stephan Leibfried, Wider die Untertanenfabrik. Handbuch zur Demokratisierung der Hochschule, Köln 1967; Johannes Agnoli -— Peter Brückner, Die Transformation der Demokratie, Frankfurt 1968; Detlev Albers, Demokratisierung der Hochschule, Bonn 1968.

  5. Peter Schneider in: Bernard Larsson, Demonstrationen. Ein Berliner Modell, Voltaire-Flugschrift 10, S. 162 f.

  6. . Vgl. hierzu den Bericht, den Bernd Rabehl in „Die neue Opposition", S. 161, über die große Demonstration vom Dezember 1964 gegen Moise Tschombe gibt, jene Demonstration, bei der es zum ersten Mal in großem Ausmaß zur tätlichen Auseinandersetzung mit der Ordnungsmacht kam: „An diesem Tage hatte die linke Opposition viel gelernt. Angefangen damit, daß es offenbar nicht mehr genügte, Demonstrationen zu veranstalten, die in der Gesellschaft keinerlei Resonanz hinterließen oder als Störaktionen bezahlter Agenten verdrängt werden konnten. Solche Demonstrationen überwand man nur, wenn man die gesetzten Spielregeln solch einer Demokratie durchbrach und dadurch Staats-exekutive, Parteien und Verbände zur Stellungnahme zwang, zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Zielen der Demonstration. Man vermied dadurch, selbst zum Aushängeschild und Alibi einer Demokratie zu werden, in der längst nicht mehr offen diskutiert wurde und Entscheidungen nicht im Parlament gefällt wurden, das auch seine Kontrollfunktionen nicht mehr wahrnehmen konnte, einer Demokratie also, in der Parteien und Verbände sich zu einem Regierungskartell zusammengefunden hatten und alle gesellschaftlichen Maßnahmen nach verwaltungstechnischen Normen entschieden wurden."

  7. Von der Freien zur Kritischen Universität, Berlin 1966.

  8. Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechts-philosophie, zitiert nach der Ausgabe der Werke durch H. J. Lieber und P. Furth, Stuttgart 1962, I, S. 491.

  9. Die neue Opposition, S. 87.

  10. A. a. O., S. 82.

  11. A. a. O„ S. 76.

  12. A. a. O., S. 88.

  13. A. a. O„ S. 38.

  14. Dutschke hat a. a O., S. 69 f., zur Erörterung der veränderten Bedingungen für politische Praxis im Spätkapitalismus die Focus-Theorie von Che Guevara herangezogen: „Die Frage lautete, wie und unter welchen Bedingungen kann sich der subjektive Faktor als objektiver Faktor in den geschichtlichen Prozeß eintragen. Guevaras Antwort für Lateinamerika war, daß die Revolutionäre nicht immer auf die objektiven Bedingungen für die Revolution zu warten haben, sondern daß sie über den Focus, über die bewaffnete Avantgarde des Volkes die objektiven Bedingungen für die Revolution durch subjektive Tätigkeit schaffen können. Diese Frage . . . steht heute noch hinter jeder Aktion. Haben wir bei allen unseren Aktionen von der permanenten Ohnmacht unserer politischen Arbeit auszugehen, oder haben wir einen historischen Zeitpunkt erreicht, an dem die subjektive schöpferische Tätigkeit der sich politisch kooperierenden Individuen über die Wirklichkeit und ihre Veränderbarkeit entscheidet?"

  15. Ist die Idee der Revolution eine Mystifikation?, in: Kursbuch 9/1967, S. 6. Aus der sehr beträchtlichen Literatur über Marcuse ist hier besonders zu nennen: Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Mutmaßungen über Marcuse, in: Neues Forum 169— 170 (1968) S. 55 ff.; Hans Heinz Holz, Utopie und Anarchismus. Zur Kritik der kritischen Theorie Herbert Marcuses, Köln 1968; Antworten auf Herbert Marcuse, herausgegeben und eingeleitet von Jürgen Habermas, Frankfurt 1968.

  16. Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit, Frankurt 1932.

  17. Kultur und Gesellschaft, Frankfurt 1965, I, S. 16.

  18. Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, deutsch: Neuwied 1962.

  19. A. a. O., S. 134.

  20. A. a. O„ S. 140.

  21. Der eindimensionale Mensch, deutsch: Neuwied 1967, S. 141. Vgl. weiter ebenda, S. 124 ff.: „Begriff soll die geistige Vorstellung von etwas bezeichnen, das als Ergebnis eines Reflexionsprozesses verstanden, erfaßt und gewußt wird. Dieses Etwas kann ein Gegenstand der täglichen Praxis oder eine Situation sein, eine Gesellschaft, ein Roman. Wenn sie begriffen, auf ihren Begriff gebracht sind, sind sie auf jeden Fall Gegenstände des Denkens geworden, und damit sind ihr Inhalt und ihre Bedeutung identisch mit den realen Gegenständen der unmittelbaren Erfahrung und doch von diesen verschieden. Identisch insofern, als der Begriff dasselbe Ding bezeichnet, verschieden insofern, als er das Ergebnis einer Reflexion ist, die das Ding im Zusammenhang (und im Licht) anderer Dinge ver-

  22. A. a. O., S. 147 f.; vgl. weiter ebenda S. 155 f.

  23. Vgl. „Vernunft und Revolution“, S. 281 f.: „Marx machte sich daran, die konkreten Kräfte und Tendenzen zu enthüllen, die diesen Endzweck (einer vernünftigen Gesellschaft) behinderten und jene, die ihn förderten. Der materielle Zusammenhang seiner Theorie mit einer bestimmten historischen Form der Praxis negierte nicht nur die Philosophie, sondern ebensosehr die Soziologie. Die sozialen Tatsachen, die Marx analysierte (beispielsweise die

  24. Zum Begriff des Wesens, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 5/1936, S. 1 ff.

  25. A. a. O„ S. 37.

  26. Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, deutsch: Neuwied 1964, S. 84.

  27. A. a. O., S. 89 f.

  28. Zitiert nach: Europäische Perspektiven — Haus-zeitschrift des Europa-Verlags Frankfurt, Herbst 1965.

  29. Der eindimensionale Mensch, S. 266.

  30. A. a. O., S. 266.

  31. Vgl. hierzu Arnheim Neusüss, Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, -Neuwied 1968.

  32. Vgl. hierzu: Der Geist der Utopie, 1918 (Neudruck der erweiterten Fassung von 1923 Frankfurt 1964) und: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1959.

  33. Vgl. hierzu: Nationalökonomie und Philosophie. Sammlung der Pariser Manuskripte, herausgegeben von E. Thier, Köln 1950, S. 188: „Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums, als menschlicher Selbstentfremdung, und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d. h. menschlichen Menschen. Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streites zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung."

  34. Das Prinzip Hoffnung, I, S. 173. Vgl. weiter ebenda, S. 241: „Marxismus ... ist einzig auf jenes Positive, keiner Entzauberung unterliegende in Möglichkeit sein bezogen, das die wachsende Verwirklichung des Verwirklichenden zunächst im menschlichen Umkreis erfaßt. Und das innerhalb dieses Umkreises utopische Totum bedeutet eben jene Freiheit, jene Heimat der Identität, worin sich weder Mensch zur Welt noch aber auch die Welt zum Menschen verhalten als zu einem Fremden. . . . Der Weg öffnet sich darin als Funktion des Ziels und das Ziel öffnet sich als Substanz im Weg, in dem auf seine Bedingungen hin Erforschten, in dem

  35. Gespräch über ungelöste Aufgaben der sozialistischen Theorie, in: über Ernst Bloch, Frankfurt 1968, S. 94.

  36. Zitiert hier nach Dieter Wellershoff, Der exzentrische Mensch, in Merkur 146/1960, S. 387.

  37. Kultur und Gesellschaft, I, S. 16.

  38. Befreiung von der Überflußgesellschaft, in Kursbuch 16/1969, S. 186 f. Vgl. hierzu weiter: Das Ende der Utopie, in: Psychoanalyse und Politik, Frankfurt 1968, S. 69 ff.

  39. Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, S. 18 f. Auf dem 15. Deutschen Soziologentag in Heidelberg 1964 hat Marcuse seine Interpretation von „Industrialisierung und Kapitalismus" so verteidigt: „Wenn man sich den heutigen intellektuellen und materiellen Reichtum der Gesellschaft ansieht, wenn man sich ansieht, was wir heute wissen und was wir heute können, dann gibt es eigentlich nichts, was man mit gutem Gewissen und rational noch als Utopie verdächtigen und denunzieren sollte. Wir können heute eigentlich alles. Sicher könnten wir eine rationale Gesellschaft haben, und gerade weil das eine so nahe geschichtliche Möglichkeit ist, ist ihre Verwirklichung in der Tat . utopischer'als je zuvor: die ganze Macht des Bestehenden ist gegen sie mobilisiert." (Max Weber und die Soziologie heute, Tübingen 1965, S. 217).

  40. Befreiung von der Überflußgesellschaft, S. 193 f.

  41. Vgl. Perspektiven des Sozialismus in der industriell entwickelten Gesellschaft, Neue Kritik 31/1965, S. 11: „Es ist eine Gesellschaft totaler Abhängigkeit von einem Produktions-und Distributionsapparat, der die Bedürfnisse der Individuen auf erweiterter Stufenleiter entwickelt und befriedigt, dabei aber den Existenzkampf im Angesicht seiner möglichen Abschaffung intensiviert. Ein Apparat, der auch — und das ist das wesentliche — selbst die instinktiven Bedürfnisse, die eigentlichen Aspirationen der Individuen bestimmt und formt, der die Differenz zwischen Arbeitszeit und Freizeit einebnet und die Menschen so früh, so total, so vollkommen sich anformt, daß Begriffe wie Entfremdung und Verdinglichung selbst fragwürdig werden."

  42. Vorwort zu Franz Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt 1967, S. 7.

  43. Vgl. hierzu: Der eindimensionale Mensch, S. 24: „So würde ökonomische Freiheit Freiheit von der Wirtschaft bedeuten, von Kontrolle durch ökonomische Kräfte und Verhältnisse; Freiheit vom täglichen Kampf ums Dasein, davon, sich seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Politische Freiheit würde die Befreiung der Individuen von der Politik bedeuten, über die sie keine wirksame Kontrolle ausüben. Entsprechend würde geistige Freiheit die Wiederherstellung des individuellen Denkens bedeuten, das jetzt durch Massenkommunikation und Schulung aufgesogen wird, die Abschaffung der öffentlichen Meinung mitsamt ihren Herstellern. .. . Solche neuen Weisen (der Gesellschaft) lassen sich nur in negativen Begriffen andeuten, weil sie auf die Negation der herrschenden hinauslaufen."

  44. Vgl. hierzu: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, deutsch: Frankfurt 1965 — insbesondere S. 121 ff., 155 ff., 168 ff., 190 ff. und 227 ff.

  45. Vgl. Odo Marquard, Hegel und das Sollen, in: Philosophisches Jahrbuch 72/1964, S. 103 ff.

  46. Vgl. hierzu etwa: Friede als Utopie, in: Neues Forum 179— 180/1968, S 706: „Friede als gesellschaftliche Lebensform, wenn wir sie als Ende der bisherigen Geschichte bezeichnen, setzt voraus die bestimmte Negation der bestehenden Systeme im Westen wie Osten, obwohl in sehr verschiedener Weise: Im Westen als Negation der Leistungsmoral, des Tauschprinzips, des Partikulareigentums an den Produktionsmitteln; im Osten als Negation der bürokratisch-autoritären Herrschaft, des Sozialismus mit kapitalistischen Interessen und Zielen, der sozialistischen Konkurrenz und Machtpolitik. Aus der gesellschaftlichen Verwurzelung der faktischen Unmöglichkeit des Friedens im Rahmen der bestehenden Realität folgt, daß keine neue Politik diese Wurzel durchschneiden kann. Friede als Lebensform ist eine Möglichkeit nur jenseits der ganzen Sphäre der Politik, der Regierung, autoritär oder demokiatisch. ... Friede als Lebensform setzt voraus eine radikale Veränderung des Systems der Bedürfnisse, das zu einem entscheidenden Faktor der Stabilisierung, Kohäsion und Reproduktion der aggressiven Gesellschaft geworden ist. Das heißt nun in der Tat eine radikale Veränderung der menschlichen Natur. ... Veränderung der Trieb-struktur des Menschen, seiner Sensibilität, seiner Sinnlichkeit; Veränderung der Grundweise, in der der Mensch sich selbst und seine Umwelt erlebt, wie er sich und die anderen und die Dinge sieht, hört, fühlt, riecht. Und wie er aufgrund dieser Urerfahrung sich, die andern, die Dinge behandelt: als Tauschwerte, als Materie der Beherrschung — oder aber als Subjekt, Teil und Kraft einer befriedeten Welt. Eine solche Grunderfahrung, die das am tiefsten revolutionäre Subjekt der Geschichte konstituieren würde, kann nur im Bruch mit den bestehenden Institutionen in ihrer Ganzheit gewonnen werden: Bruch nicht nur mit Politik, nicht nur mit Ökonomie, sondern mit der Totalität der traditionellen Kultur."

  47. Spiegel-Gespräch mit Herbert Marcuse; Der Spiegel 35/1967, S. 112 Vgl. hierzu weiter auch: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, S. 18.

  48. Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt 1969, S. 183.

  49. Wolfgang Fritz Haug, Das Ganze und das ganz Andere. Zur Kritik der reinen revolutionären Transzendenz, in: Antworten auf Herbert Marcuse, S. 63.

  50. Der eindimensionale Mensch, S. 17.

  51. Friede als Utopie, S. 706.

  52. Der eindimensionale Mensch, S. 17.

  53. Zum Begriff der Negation in der Dialektik, in: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, S. 185. ff.

  54. Vgl. ebenda, S. 186: „daß auch die materialistische Dialektik noch im Bann der idealistischen Vernunft, in der Positivität bleibt, solange sie nicht die Konzeption des Fortschritts destruiert, nach der die Zukunft immer schon im Innern des Bestehenden

  55. A. a. O„ S. 187.

  56. A. a. O., S. 189.

  57. A. a. O., S. 188

  58. A. a. O., S. 188.

  59. A. a. O„ S. 189.

  60. Vgl. Der eindimensionale Mensch, S. 266 ff.

  61. Der eindimensionale Mensch, S. 268; vgl. weiter ebenda S. 15 f.

  62. Phänomenologie des Geistes, hier zitiert nach Philosophische Bibliothek 1949, S. 189 f.

  63. Befreiung von der Überflußgesellschaft, S. 187.

  64. Kultur und Gesellschaft, II, S. 51.

  65. Der Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein, deutsch: München 1961, S. 130. Vgl. hierzu weiter S. 128: „Die Utopie ist das Streben nach Veränderungen, die sich in Wirklichkeit nicht durch sofortiges Handeln realisieren lassen, außerhalb der sichtbaren Zukunft stehen und keiner Planung unterliegen. Und doch ist die Utopie Werkzeug zur Einwirkung auf die Wirklichkeit und zur Vorausplanung gesellschaftlichen Handelns Es entsteht also die Gefahr, daß die Utopie mit der Wirklichkeit so wenig übereinstimmt, daß der Wunsch, sie der Welt aufzuzwingen, die Form einer finsteren Groteske annimmt und zur monströsen Verunstaltung der Welt führt, also zu Veränderungen, die gesellschaftlich schädlich sind und die Freiheit des Menschen bedrohen. Dann würde die Linke, der solche Veränderungen gelängen, sich in ihr Gegenteil verwandeln, zur Rechten werden; aber dann hört auch die Utopie auf, eine Utopie zu sein, sie wird zu einer Phrase, die jede Aktion rechtfertigt. Andererseits kann die Linke nicht auf die Utopie verzichten, d. h. sie kann nicht darauf verzichten, sich Ziele zu setzen, die im Augenblick unmöglich zu erreichen sind, aber den jetzigen Veränderungen ihren Sinn verleihen. Die revolutionäre Bewegung ist die Summe aller endgültigen Forderungen an die bestehende Gesellschaft, sie ist die totale Negierung des voigefundenen Systems, also auch ein totales Programm. Ein totales Programm der Veränderungen, das ist Utopie."

  66. Vgl. Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, S. 21: „Unsere Welt ist eine Welt, die das tägliche Risiko des nuklearen Krieges als einen integralen Bestandteil des Normalzustands gutheißt und rechtfertigt. Und eine solche Welt kann für das, was realistisch und was nicht realistisch ist, keine Maßstäbe liefern. Wenn der herrschende Zustand weder normal noch notwendig ist, hat er historische Alternativen, die sein Bestehen und Herrschen nicht wahr haben will. Kritische Analyse hat die Aufgabe, diese Alternativen im Gedächtnis zu halten, ganz gleich, wie utopisch sie im Status quo erscheinen mögen."

  67. Kultur und Gesellschaft, I, S. 122 f.

  68. Der eindimensionale Mensch, S. 267.

  69. Vgl. hierzu Rudi Dutschke (Die neue Opposition, S Öl): „Heute hält uns nicht eine abstrakte Theorie der Geschichte zusammen, sondern der existentielle Ekel vor einer Gesellschaft, die von Freiheit schwätzt und die unmittelbaren Bedürfnisse der Individuen und der um ihre sozial-ökonomischen Emanzipation kämpfenden Völker subtil und brutal unterdrückt. . . . Die subtilen und brutalen Methoden und Techniken der sozialen Integration ziehen bei uns nicht mehr. Die sentimental-emotionale Verweigerung wird im Kampf mit den Gewaltorganisationen des Systems, mit der staatlich-gesellschaftlichen Bürokratie, mit der Polizei, mit der Justiz-maschine, den industriellen Bürokratien in den Oligopolen usw. zur organisierten Verweigerung, zum praktisch-kritischen Wissen, zum revolutionären Willen, die verselbständigten Produktivkräfte, die unmenschlichen Maschinerien des Krieges und der Manipulation die tagtäglich in der Welt Tod und Schrecken verbreiten, zu zerschlagen."

  70. Friede als Utopie, S. 707.

  71. Bernd Rabehl, in: Die neue Opposition, S. 166.

  72. Die neue Opposition, S. 85.

  73. Vgl. hierzu Marcuses Feststellung (Perspektiven des Sozialismus a. a. O., S. 11): „Bei Marx wird die Arbeiterklasse zum geschichtlichen Subjekt der Revolution gerade deshalb, weil sie die absolute Negation des Bestehenden darstellt. Wenn sie dies nicht mehr ist, dann ist die qualitative Differenz zwischen ihr und den anderen Klassen, damit aber auch ihre Fähigkeit verschwunden, eine qualitativ andere Gesellschaft zu schaffen."

  74. Kultur und Gesellschaft, II, S. 146.

  75. Repressive Toleranz, in: Robert Paul Wolff — Barrington Moore — Herbert Marcuse: Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt 1966, S. 91 ff. Vgl. weiter auch Marcuses Beitrag über Das Problem der Gewalt in der Opposition, in: Psychoanalyse und Politik, Frankfurt 1968, S. 54 ff.

  76. Vgl. hierzu Rudi Dutschke, Die neue Opposition, S. 79: „Einen Ky, Branco, Duvalier, den Schah und andere mehr können die Menschen hassen, sie müssen einen unerbittlich harten militärischen Kampf des Volkes gegen die Diktatoren bzw. Marionetten organisieren, Attentate durchführen, revolutionären Terror gegen die Unterdrücker und ihre Helfershelfer anwenden. Bei uns in den Metropolen ... ist die Lage prinzipiell verschieden: unsere Herren an der Spitze sind völlig fungibel, jederzeit durch neue bürokratische Charaktermasken ersetzbar."

  77. Vgl. hierzu Rudi Dutschke, Die neue Opposition, S. 68: „Der heutige Faschismus ist nicht mehr manifestiert in einer Partei oder in einer Person, er liegt in der tagtäglichen Ausbildung der Menschen zu autoritären Persönlichkeiten, er liegt in der Erziehung. Kurz, er liegt im bestehenden System der Institutionen."

  78. Vgl. hierzu das Programm des SDS (Neue Kritik 51— 52/1969): „Die sozialistische Politik an der Hochschule kann . . . nicht von der Notwendigkeit der Reform des bürgerlichen Studiums ausgehen, sondern trägt die Bedürfnisse der Revolte nach grundsätzlicher Veränderung der Gesellschaft, die ihr eigentliches Feld nach wie vor außerhalb der Universität hat, in die Universität hinein. Sie benutzt die Universität, genauer sie gebraucht die Wissenschaft, um ihren Kampf zu stabilisieren und zu organisieren. Diese Politik an der Hochschule ist gekennzeichnet durch: das systematische Stören des Lehrbetriebs als beständige Problematisierung der Verwertungszusammenhänge von Wissenschaft; — den Kampf um den Abbau der irrationalen Herrschaftsansprüche der Ordinarien und die Aufhebung der autoritären Arbeitsweise in den Seminaren und

  79. Vgl. hierzu Winfried Steffani, Martin Luther King. Theorie und Praxis gewaltfreier Aktion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochen-zeitung Das Parlament, B 13/68 vom 27. März 1968, sowie Theodor Ebert — Hans Jürgen Benedict, Macht von unten. Bürgerrechtsbewegung, außer-parlamentarische Opposition und Kirchenreform, Hamburg 1968.

  80. Eines der erschütterndsten Zeugnisse des Spiels mit dem Terror sind vielleicht die „Thesen zur Gewaltanwendung", die der Republikanische Club Berlin im März 1969 formuliert hat und wo Gewalttätigkeit eben deshalb proklamiert wird, weil sich die Staatsmacht nicht auf gewaltsame Bekämpfung gewaltloser Aktionen einlassen will (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 27. 3 “ 969): „Eine Strategie der bewußten und offensiven Gewaltlosigkeit wäre am erfolgreichsten, wenn und solange sie von dem Staatsapparat mit Gewalt beantwortet und bekämpft wird. Denn dann würde die Unverhältnismäßigkeit der auf beiden Seiten eingesetzten Mittel so in die Augen springen, daß Aufklärungsprozesse und Solidarisierungen mit der Apo geradezu unausweichlich wären. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, daß sich die Staatsmacht auf die Dauer auf einen so halsbrecherischen Kurs der gewaltsamen Bekämpfung gewaltloser Aktion einlassen würde, und damit würde eine solche Strategie der konseguenten Gewaltlosigkeit nicht die leichteste, sondern die schwerste, weil die natürliche Reaktion der Selbstverteidigung kaum zu unterdrücken ist. Sie könnte daher bei dem Stand, den die Auseinandersetzung mit der Staatsmacht hierzulande bereits erreicht hat, bei Massendemonstrationen kaum durchgehalten werden Ein Rest von Gewalttätigkeit auch gegen Personen ist folglich unvermeidlich."

  81. Die neue Opposition, S. 81.

  82. Der eindimensionale Mensch, S. 61.

  83. Friede als Utopie, S. 706

  84. Spiegel-Gespräch mit Herbert Marcuse, S. 116.

  85. Befreiung von der Uberflußgesellschaft, S. 195.

  86. Zitiert nach Kai Hermann, Die Revolte der Studenten, S. 113.

  87. Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, S. 165.

  88. Zitiert a. a. O., S. 62.

  89. Vgl. hierzu Hans Maier, Reform in der Demokratie (in: Reform als Alternative. Hochschullehrer antworten auf die Herausforderung der Studenten, herausgegeben von Alexander Schwan und Kurt Sontheimer, Köln 1969, S 11): „Wer an die Selbst-rechtfertigung der Revolution nicht glaubt, der wird jeden Anspruch auf Veränderung und Neuordnung, jede Reformidee und Reformbewegung zunächst einmal an den in einer Demokratie maßgeblichen Kriterien messen, nämlich am inneren Gehalt an Rationalität und an der Fähigkeit, Konsens zu stiften. Reformvorschläge müssen vernünftig, in sich schlüssig sein; die Ziele und Mittel der Reform müssen klar umrissen werden; es muß deutlich werden, wo man ansetzt, welche Mängel man beheben will, wie groß die Chancen für Verbesserungen, wie groß die Risiken des Mißlingens sind. Ebenso wichtig aber ist ein zweites: Reformen müssen Zustimmung finden. Sie müssen von der Mehrheit der politisch Urteils-und handlungsfähigen Kräfte getragen sein. Ohne diese Zustimmung bleibt alle Reform, so heilsam sie vielleicht im einzelnen sein mag, ein Produkt des Zwanges oder der Furcht, sie gerät in Gefahr, sich stündlich in den Popanz einer Erziehungsdiktatur zu verwandeln — ein Institut, das in demokratischen Verfassungen keinen Platz hat."

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Ulrich Hommes, Dr. phil., Dr. jur., Ordinarius für Philosophie an der Universität Regensburg, geb. 1932, Schriftleiter des Philosophischen Jahrbuchs.