Am 7. Oktober 1949 beschloß der „Deutsche Volksrat''auf seiner 9. Tagung in Ost-Berlin ein Gesetz, dessen Artikel
Damit war, ohne daß ein Wahlakt der Bevölkerung für eine Volksvertretung vorangegangen wäre, der Prozeß einer Neuorganisation der öffentlichen Gewalt in dem Teil Deutschlands, der das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone bildete, eingeleitet worden. Seit jenem 7. Oktober vor zwanzig Jahren gibt es also DDR-Verfassungsrecht
Die zwanzigjährige Entwicklung des DDR-Ver-fassungsrechts ist dadurch gekennzeichnet, daß sie mehr als achtzehn Jahre durch Setzung materiellen Verfassungsrechts neben und vielfach entgegen dem Wortlaut der Verfassungsurkunde erfolgte. Erst 1968 beendete die neue Verfassung
Die Entwicklung des DDR-Verfassungsrechts ist in der Bundesrepublik Deutschland bisher schon aufmerksam beobachtet und analysiert worden
I. Kommunistische Verfassungstheorie und Verfassungsentwicklung in der DDR
Der Umstand, daß sich Marx und Engels kaum über die Entwicklung nach der proletarischen Revolution geäußert haben, ließ den Marxisten einen weiten Raum für eigene Überlegungen. So haben Lenin und seine Anhänger eine auch verfassungsrechtlich wichtige Periodisierung der nachrevolutionären Epoche entwickelt
In Anlehnung an diese ideologisch bedingte Periodisierung sprechen kommunistische Juristen von sogenannten demokratischen und sozialistischen Verfassungen. Die nachrevolutionär-demokratischen Verfassungen unterscheiden sich nach dieser Auffassung von den sozialistischen hauptsächlich dadurch, daß in ihnen die gewaltsame Umformung der Sozialstruktur entsprechend den kommunistischen Zu-kunftsvorstellungen nicht verfassungsrechtlich verankert ist, weil diese im Zeitpunkt der jeweiligen Verfassungsgebung noch nicht abgeschlossen war. Infolgedessen finden sich darin noch keine Bestimmungen über das Macht-monopol der kommunistischen Partei und die zentrale Stellung des sozialistischen Eigentums. Die erste Verfassung der DDR aus dem Jahre 1949 wies genau diese Merkmale auf
Die zweite Verfassung der DDR ist dagegen schon ihrem Text nach eindeutig von kommu-nistischen Vorstellungen beherrscht. Nach kommunistischem Selbstverständnis soll sie die Vollendung des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus in der DDR markieren. In Zukunft gelte es, das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus zu gestalten
ist in der DDR-Verfassung von 1968 deshalb ebenso verankert
Die Kommunisten in der DDR messen die bisherige Verfassungsentwicklung an den geschilderten Maßstäben. So verwundert es nicht, daß sie die dortige Verfassungsentwicklung als einen positiven Prozeß betrachten. Die sozialistische Verfassung bewerten sie deshalb als einen Fortschritt gegenüber der Verfassung von 1949. So meinte Ulbricht am 1. Dezember 1967: „Die Verfassung des Jahres 1949 hat uns und unserem sozialistischen Staat gute Dienste beim Voranschreiten in eine glückliche Zukunft und bei der Errichtung der Fundamente des Sozialismus geleistet. Die neuen Bedingungen unserer gesellschaftlichen Entwicklung, die wir uns selbst geschaffen haben, die neuen Aufgaben und die weiteren Horizonte der sozialistischen Gesellschaft und des sozialistischen deutschen Staates erfordern die neue Verfassung."
Diese „guten Dienste" konnte die Verfassung vom 30. Mai 1949 den DDR-Kommunisten nur leisten, weil diese von Anfang an die Verfassung nur teilweise verwirklichten, den Verfassungstext oft entgegen seinem Wortlaut und Sinn auslegten und ganze Teile der-Verfassung bald durch neue Gesetze gegenstandslos machten, ohne allerdings den Verfassungstext selbst zu ändern.
II. Die Fixierung des volksdemokratischen Prinzips
Als Volksdemokratie wird die DDR heute von den Kommunisten nicht mehr bezeichnet
Jede staatliche Verfassungsurkunde dient dazu, Regeln festzulegen, nach denen die politische Macht ausgeübt wird. Im freiheitlich-demokratischen Staat, wo sich verschiedene Parteien in regelmäßigen Abständen durch Wahlen darum bewerben, auf Zeit die politische Macht auszuüben, trifft die Verfassung auch Bestimmungen über einen geordneten Machtwechsel. Im kommunistisch regierten Staat ist dies anders. Dort gibt es keine Konkurrenz verschiedener Parteien um die Macht. Diese liegt vielmehr stets bei der kommunistischen Partei, weil angeblich allein sie die geschichtlichen Notwendigkeiten erkennen und verwirklichen kann
Von dieser weltanschaulich motivierten, besonderen Stellung der kommunistischen SED war zunächst im DDR-Verfassungsrecht nichts zu bemerken. Obwohl die Alleinherrschaft der SED in der DDR spätestens seit 1950 unangefochten war, fand sie erst 1957 in einem Gesetz verklausulierten Ausdruck
Die Existenz anderer politischer Parteien und „sozialistischer Massenorganisationen" gefährdet heute die Suprematie der SED nicht mehr. Abgesehen davon, daß die nichtkommunistischen Parteien und die sogenannten Massenorganisationen die „führende Rolle" der SED in ihren jetzigen Statuten und Satzungen ausdrücklich anerkennen, bedient sich die SED zu deren Steuerung der „Nationalen Front des demokratischen Deutschland", in der nach Art. 3 der jetzigen Verfassung „das Bündnis aller Kräfte des Volkes seinen organisierten Ausdruck findet".
„Staatsapparat", nichtkommunistische Parteien und „Massenorganisationen" werden also gleichermaßen von der kommunistischen SED beherrscht und gesteuert. Sie bilden die drei Arten von Instrumenten, derer sich die SED zur Lenkung der Entwicklung in der DDR bedient. Diese organisatorische Struktur insgesamt wird dort heute wieder als „Diktatur des Proletariats" charakterisiert
An diesem Punkt wird der „volksdemokratische" Charakter der DDR sichtbar. Die Kommunisten verstehen darunter eine Form der sogenannten Diktatur des Proletariats, die sich von der sogenannten Sowjetdemokratie nur unwesentlich unterscheidet. Die bestehenden Unterschiede seien aus der Eigenart der historischen Situation zu erklären, unter denen die sogenannten Volksdemokratien entstanden sind
III. Wandlungen im Regierungssystem
Schon in der Verfassung von 1949 hatte der Grundsatz der Einheit der Staatsgewalt Ausdruck gefunden. Art. 50 erklärte nämlich die Volkskammer zum „höchsten Organ der Republik", von dem alle anderen Staatsorgane abhängig seien. Damit war in der DDR die Konzentration aller gesamtstaatlichen Befugnisse in einer einzigen Spitze von Anfang an Verfassungsgrundsatz. Auch in der zweiten Verfassung wird die Volkskammer als „das oberste staatliche Machtorgan" bezeichnet (Art. 48). Außerdem wird das Prinzip der Gewaltenkonzentration für die Tätigkeit der Volkskammer als „Grundsatz der Einheit von Beschlußfassung und Durchführung" in Art. 48 Abs. 2 angesprochen. Das Gewaltenteilungsprinzip und damit die Aufteilung der Macht im Staat auf verschiedene, prinzipiell getrennte „Teilgewalten" wie Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung, die gleichberechtigt nebeneinander stehen und sich so gegenseitig ausbalancieren und kontrollieren sollen, wird von den DDR-Kommunisten strikt abgelehnt
Dies war in der ersten Verfassung der DDR noch nicht durchgängig zu erkennen, wie das Beispiel der durch die Regierung erlassenen Rechtsvorschriften zeigt. Die Gesetzgebungskompetenz lag — abgesehen vom Fall des Volksentscheides — bei der Volkskammer (Art. 81). Eine Befugnis der Regierung zum Erlaß von Rechtsverordnungen sah die Verfassung überhaupt nicht vor. Die Regierung konnte lediglich zur Ausführung der Gesetze der Republik allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen (Art. 90). Trotzdem hat man im Schrifttum der DDR aus dieser Verfassungsbestimmung die Befugnis zur Normsetzung durch Regierungsverordnungen herzuleiten versucht
Die Verlagerung weiter Teile der Norm-
setzungsbefugnis der Volkskammer auf andere Staatsorgane ist nur ein Beispiel für die Wandlungen im Regierungssystem der DDR seit 1949. Am bedeutsamsten war die Übertragung der politischen Regierungsaufgaben an ein neues Staatsorgan und dessen Ausgestaltung zu einer omnipotenten Zentralinstanz, die ihren effektiven Einflußmöglichkeiten nach allen anderen Staatsorganen übergeordnet ist.
Ursprünglich waren auch in der DDR die staatlichen Exekutivbefugnisse in der herkömmlichen Weise an der Spitze auf zwei Organe verteilt. Der Präsident der Republik sollte die mehr repräsentativen Aufgaben eines Staatsoberhauptes wahrnehmen, während die Regierung die eigentlichen politischen Entscheidungen zu treffen hatte
Der Staatsrat hat auch bei der Rechtsetzung weitreichende Befugnisse. Er besitzt nämlich seit 1960 das Recht, Beschlüsse und Erlasse herauszugeben, die sofort rechtsverbindlich werden. Lediglich die Erlasse werden der Volkskammer später zur nachträglichen Bestätigung vorgelegt
Schließlich besitzt der Staatsrat auch wichtige Kompetenzen im Bereich der Rechtsprechung. Schon bei seiner Errichtung war ihm 1960 die Befugnis erteilt worden, allgemein verbindliche Auslegungen der Gesetze zu geben
Nach der Verfassung von 1968 gehört es zu den Aufgaben des Staatsrates, die Verfassung und die Gesetze verbindlich auszulegen, soweit dies nicht durch die Volkskammer selbst erfolgt (Art. 71 Abs. 3). Im Auftrag der Volkskammer nimmt der Staatsrat die ständige Aufsicht über die Verfassungsmäßigkeit und Gesetzlichkeit der Tätigkeit des Obersten Gerichts und des Generalstaatsanwaltes wahr (Art. 74 Verfassung 1968). Daraus wird nicht nur gefolgert, daß das Oberste Gericht dem Staatsrat regelmäßig über die Entwicklung der Rechtsprechung zu berichten hat
Damit konzentriert sich im Staatsrat und innerhalb dieses Gremiums bei dessen Vorsitzendem die politische Macht im „Staatsapparat", weil der Staatsrat in sich gesetzgeberische, vollziehende und rechtsprechende Befugnisse vereinigt. Dies entspricht den Vorstellungen der kommunistischen Verfassungslehre von der Gewaltenkonzentration. In der Personalunion zwischen Parteichef und Vorsitzendem des Staatsrats, wie sie gegenwärtig in der Person Ulbrichts gegeben ist, liegt eine zusätzliche Garantie für die reibungslose Übertragung des Willens der SED-Parteiführung auf den „Staatsapparat".
IV. Die Ausrichtung der Verwaltungsorganisation am Grundsatz des demokratischen Zentralismus
Nach der Verfassung von 1949 gliederte sich die DDR in fünf Länder, die ihre Angelegenheiten selbst ordneten und über die Länderkammer an der Gesetzgebung der Republik mitwirkten
Auch im kommunalen Bereich betrieb die SED eine Umgestaltung der Verwaltungsorganisation, in deren Verlauf entgegen der ausdrücklichen des Art. 139 der
Aufgabenbereich der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften immer mehr zusammenschrumpfte, bis schließlich diese Form mittelbarer Staatsverwaltung selbst verschwand. Die einschneidendste Einzelmaßnahme bei der Einengung des Wirkungskreises der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften bildete die Aufhebung der gemeindlichen Finanzhoheit
Diese Entwicklung war von der SED unter Hinweis auf das Prinzip des demokratischen Zentralismus betrieben worden. Mit diesem Schlüsselbegriff kommunistischer Organisationslehre ist vor allem gemeint, daß innerhalb eines Gesamtsystems zwischen verschiedenen Organen Uberund Unterordnungsverhältnisse in der Weise bestehen, daß die unteren Organe stets und unbedingt die Anordnungen der höheren Organe zu befolgen haben
Heute unterstehen somit alle örtlichen Organe entsprechend dem Prinzip des demokratischen Zentralismus jeweils zentralen Staatsorganen. Die örtlichen Volksvertretungen werden bereits seit 1961 durch den Staatsrat angeleitet und beaufsichtigt
V. Verfassungsrechtliche Aspekte der Entwicklung der Rechtspflege
Der in der Verfassung von 1949 angesprochene Grundsatz der Einheit der Staatsgewalt hatte für die Rechtspflege der DDR von vornherein zwei Konsequenzen, die auch verfassungsrechtlich ihren Niederschlag fanden. Bei Gewaltenkonzentration ist ein richterliches Prüfungsrecht der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen überflüssig, ja sogar schädlich, denn es basiert auf dem Modell einer Kontrolle parlamentarischer Entscheidungen durch eine andere, von der Volksvertretung unabhängige „Teilgewalt". Art. 89 verwehrte deshalb den Richtern ausdrücklich, ordnungsgemäß verkündete Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Ebenfalls mit dem Gewaltenvereinigungsprinzip unvereinbar wäre eine persönliche Unabhängigkeit der Richter, weil sie einen parlamentarischen Einfluß auf die Rechtsprechungsorgane ausschlösse. So war der Verfassung von 1949 der Grundsatz lebenslänglicher Anstellung von Richtern fremd. Sie führte zwar die Wahl der höchsten Richter ein, beließ es im übrigen aber bei dem Grundsatz der Ernennung (Art. 31)
Mit der allmählichen Durchsetzung des Prinzips des demokratischen Zentralismus in der DDR wurden dessen Auswirkungen auch für die Rechtspflege spürbar. Dies zeigte sich vor allem in einer Einengung der durch Art. 127 der Verfassung von 1949 garantierten sachlichen Unabhängigkeit der Richter. Hatten Stellen der Justizverwaltung schon vorher häufig die Spruchtätigkeit der Gerichte beeinflußt, so wurden derartige Weisungen doch allgemein erst 1963 durch § 1 Abs. 3 des neuen Gerichtsverfassungsgesetzes legalisiert. Dieser lautet nämlich: „Die Richter und Schöffen sind in ihrer Rechtsprechung unabhängig und nur der Verfassung und dem Gesetz unterworfen. Ihre Unabhängigkeit beruht auf der festen Verbindung mit dem Volke und wird durch ein demokratisches System der Leitung und Kontrolle der Rechtsprechung gesichert."
Richterliche Unabhängigkeit bedeutet nach diesem Verständnis nicht sachliche Weisungsfreiheit, sondern schließt lediglich die Einflußnahme außergerichtlicher Stellen — etwa von Verwaltungsorganen — aus
Auch institutionell gilt das Prinzip des demokratischen Zentralismus für die Gerichte untereinander ebenso wie für alle anderen Staatsorgane
Die Organisation der Gerichtsbarkeit in der DDR wurde entsprechend den Grundsätzen der Gewaltenvereinigung und des demokratischen Zentralismus seit 1949 völlig umgebaut, ohne daß der Wortlaut des entsprechenden Abschnittes der ersten Verfassung geändert worden wäre. Bei der allgemeinen staatlichen Umorganisation des Jahres 1952 wurden im Zuge der Schaffung eines zentralistischen Einheitsstaates auch die Amts-, Land-und Oberlandesgerichte der Länder aufgelöst. An ihre Stelle traten Gerichte in den Kreisen und den neu gebildeten Bezirken
Ebenfalls schon vor 1968 war eine Institution der Rechtspflege entwickelt worden, die als so-genannte gesellschaftliche Gerichtsbarkeit
Die gesellschaftlichen Gerichte der DDR bilden heute einen „Bestandteil des einheitlichen Systems der sozialistischen Rechtspflege" (§ 1 Abs. 1 GGG). Sie üben „im Rahmen der ihnen durch Gesetz übertragenen Aufgaben" Rechtsprechung aus (§ 2 Abs. 1 GGG), sind also durch staatliches Gesetz geschaffen worden. Änderungen ihrer Stellung und Befugnisse sind ebenfalls nur auf dem Wege der Gesetzgebung möglich
Der Rechtsschutz gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt war auch in der DDR ursprünglich den Gerichten anvertraut. So sah Art. 138 der Verfassung von 1949 eine Verwaltungsgerichtsbarkeit zum „Schutz der Bürger gegen rechtswidrige Maßnahmen der Verwaltung" vor. Das im gleichen Verfassungsartikel angekündigte Gesetz, durch welches Aufbau und Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte geregelt werden sollte, ist allerdings niemals ergangen. Die seit dem 8. Mai 1945 in den damaligen Ländern Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg auf landesrechtlicher Grundlage errichteten Verwaltungsgerichte sind 1952 zu-sammen mit den anderen Landesbehörden aufgelöst worden. Da die ordentlichen Gerichte in der DDR für die Entscheidung von öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten in der Regel nicht zuständig sind, besteht seit 1952 praktisch kein gerichtlicher Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt mehr.
Seither hatte der Bürger gegen ihn belastende Verwaltungsmaßnahmen meist nur das Recht der Beschwerde an die vorgesetzte Behörde, die endgültig entschied, und dies auch nur dann, wenn es ausdrücklich vorgesehen war. So waren bei enteignenden Eingriffen im Wege der sogenannten Inanspruchnahme von Grundstücken nach dem Aufbaugesetz von 1950 Rechtsmittel oder Rechtsbehelfe bisher überhaupt nicht gegeben, weil ein generelles Beschwerderecht nicht existierte
In den Art. 104 und 105 wurde das Beschwerderecht neu geregelt. Anstelle der bisher nur punktuell gegebenen Möglichkeiten förmlicher Beschwerdeverfahren trat damit die allgemeine Befugnis, mit dem Rechtsbehelf der Beschwerde gegen Akte der öffentlichen Gewalt anzugehen, wobei je nach der Behördenebene unterschiedliche Verfahrensgrundsätze gelten Bei zentralen Stellen ist jeweils das übergeordnete Vollzugsorgan Beschwerdeinstanz. Eine Behandlung von Beschwerden durch die Volkskammer ist in diesem Zusammenhang also nicht vorgesehen. Statt dessen ist für Beschwerden gegen Leitungsentscheidungen des
Ministerrats, des Obersten Gerichts oder des Generalstaatsanwaltes der Staatsrat zuständig.
Auch über Beschwerden gegen Entscheidungen zentraler Organe des Ministerrats befindet nicht die Stelle, die Anlaß zur Beschwerde gegeben hat, sondern die vorgesetzte Behörde, also der Ministerrat. Beschwerden gegen Entscheidungen örtlicher Organe sind dagegen bei dem Leiter der entscheidenden Behörde einzulegen. Erst wenn dieser seine Entscheidung nicht abändert, ist der Beschwerdeführer berechtigt, sich an eine andere Stelle zu wenden. Dies ist aber bei Entscheidungen örtlicher Organe nicht die nächsthöhere Verwaltungsinstanz, sondern die zuständige Volksvertretung. Bei den örtlichen Volksvertretungen sollen zu diesem Zweck besondere Beschwerde-ausschüsse gebildet werden. Der in Art. 105 Abs. 2 angekündigte Staatsratserlaß über Aufgaben und Rechte dieser Beschwerdeausschüsse ist allerdings bis heute noch nicht ergangen. Man experimentiert bisher in der DDR lediglich mit einigen Modell-Beschwerdeausschüssen
sungsbestimmung noch offen, ob die Entschei-B düng von Staatshaftungsansprüchen den Be-schwerdeausschüssen der Volksvertretungen, den Verwaltungsbehörden oder den Gerichten übertragen werden würde, so brachte das Staatshaftungsgesetz die Lösung, welche am stärksten obrigkeitsstaatlichem Denken verhaftet ist. Der Leiter der Behörde, durch deren Mitarbeiter oder Beauftragten der Schaden verursacht worden ist, entscheidet nämlich über Grund und Höhe des Schadensersatzanspruch-ches, sofern dafür nicht anderweitig die Zuständigkeit des Leiters eines übergeordneten Organs festgelegt ist (§ 5 Abs. 3). Gegen diese Entscheidung über den Schadensersatzantrag ist binnen Monatsfrist die Beschwerde zulässig, die bei der Behörde einzulegen ist, deren Entscheidung angefochten wird. Wird der Beschwerde nicht abgeholfen, so entscheidet der Leiter der übergeordneten Stelle endgültig (§ 6). Damit bleibt bei der Entscheidung über Staatshaftungsansprüche in der DDR die Verwaltung Richter in eigener Sache. Andere kommunistisch regierte Staaten haben in letzter Zeit dafür vergleichsweise modernere Lösungen gefunden. Nach der rumänischen Verfassung von 1965 beispielsweise steht den Bürgern, die durch ungesetzliche Akte der öffentlichen Gewalt in ihren Rechten beeinträchtigt worden sind, der Weg zu den ordentlichen Gerichten offen
überblickt man die Entwicklung des Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt in der DDR, so kann man feststellen daß seit dem Tiefpunkt, der 1952 mit der Auflösung der Verwaltungsgerichte der Länder eingetreten war, eine Aufwärtsentwicklung zu modernen und sachgerechten Lösungen begonnen hat, die in der geschilderten Weise auch in der neuen Verfassung ihren Niederschlag gefunden hat. Die seitherige Entwicklung dürfte allerdings eher rückläufig sein, zumindest aber diesen positiven Trend unterbrochen haben. Abschließend muß noch auf die Ambivalenz eines Terminus hingewiesen werden, der seit den fünfziger Jahren in Gesetzgebung und Schrifttum der DDR geläufig ist. Auch die neue Verfassung erwähnt die „sozialistische Gesetzlichkeit" verschiedentlich
VI. Der Weg zur sozialistischen Planwirtschaft
Die Ausführungen über Ziele und Aufgaben der Wirtschaft, wie sie sich in Art. 19 der Verfassung von 1949 finden, enthielten noch keine Aussagen, die der politischen Ökonomie des Sowjetkommunismus entstammten. Wenn dabei von den Grundsätzen sozialer Gerechtig-keit, der Sicherung eines menschenwürdigen Daseins und einer Beteiligung am Produktionsergebnis entsprechend der jeweiligen Leistung die Rede war, so konnten damit auch Zielset-zungen einer ganz andersartigen Wirtschaftsordnung — etwa der sozialen Marktwirtschaft — angesprochen sein. Gemeinwirtschaftliche Motive klangen an, wenn es hieß: „Die Wirtschaft hat dem Wohle des ganzen Volkes und der Deckung seines Bedarfs zu dienen.
Eine Festlegung auf eine am kommunistischen Dogma orientierte Wirtschaftsweise war jedenfalls der ersten DDR-Verfassung nicht zu entnehmen.
Dies geschah aber nach der 2. Parteikonferenz der SED vom Juli 1952, auf der man den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR proklamiert hatte. Enthielten die Präambeln der bis dahin ergangenen Volkswirtschaftspläne keine diesbezüglichen Aussagen, so wurde von diesem Zeitpunkt an stets auf das Ziel des Sozialismus hingewiesen
Im Sinne der historischen Periodisierung des Marxismus-Leninismus liegt schon in der Bezeichnung der DDR als sozialistischer Staat durch Art. 1 Abs. 1 der Verfassung von 1968 eine grundlegende Aussage zur Wirtschaftsordnung. In der sozialistischen Periode sei zwar „die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen" beseitigt (Art. 2 Abs. 3), die volkswirtschaftliche Produktivität erlaube aber noch nicht die Verwirklichung des kommunistischen Grundsatzes: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen." Für den Sozialismus gelte statt dessen die schon erwähnte Formel: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung." Dieser Satz der marxistisch-leninistischen Ideologie ist deshalb in die sozialistische Verfassung übernommen worden (Art. 2 Abs. 3). Die Volkswirtschaft der DDR dient folglich in erster Linie der Stärkung der sozialistischen Ordnung (Art. 9 Abs. 2), deren Ziel wiederum die Errichtung der kommunistischen Wohlstandsgesellschaft ist. Zur verfassungsrechtlichen Festlegung genügt schon die Normierung des marxistisch-leninistischen Sozialismusbegriffes, da dieser das kommunistische Endziel intendiert. Die Verfassung von 1968 begnügt sich deshalb mit dieser Feststellung und enthält keinen Hinweis auf die endgültige Zielsetzung, in einem Teil Deutschlands den Voll-kommunismus aufzubauen.
Art. 21 der 1. DDR-Verfassung schrieb vor, daß der Staat durch die gesetzgebenden Organe einen öffentlichen Wirtschaftsplan aufzustellen habe. Uber Art und Umfang dieser Wirtschaftsplanung enthielt die Verfassung keine Angaben. Das Verfassungsrecht gab also keine Auskunft darüber, ob damit eine umfassende oder nur eine partielle Planung gemeint war und ob diese indikativ oder imperativ gehandhabt werden sollte. Der 1950 von der Volkskammer verabschiedete 1. Volkswirtschaftsplan der DDR
Apparat und Methodik der staatlichen Wirtschaftsplanung in der DDR haben in den letzten 20 Jahren eine Unzahl von zumeist recht kurzlebigen Änderungen erfahren. Es lohnt sich deshalb hier nicht, diese nachzuzeichnen. Ging es anfangs teilweise noch darum, die staatliche Zentralplanung bis in den letzten Betrieb wirksam werden zu lassen, so mußte man seit Erreichen dieses Zustandes in der DDR sein Hauptaugenmerk darauf richten, die Elastizi-tät und Effektivität der schwerfälligen Wirtschaftsmaschinerie zu verbessern. Zentralisa-ion und Kopflastigkeit sollten durch Dekon-zentration und Auflockerung vermieden werden, ohne daß Korrekturen an grundlegenden Bestandteilen des Systems vorgenommen zu werden brauchten. Den wichtigsten Einschnitt in dieser Entwicklung bildete die Einführung eines „Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung der Volkswirtschaft", beginnend mit dem Jahre 1964
Damit fand erstmals eines der seit den Wirtschaftsreformen in den kommunistisch regierten Ländern verwirklichten sogenannten neuen ökonomischen Systeme durch eine General-klausel Eingang in das Verfassungsrecht. Die ausdrückliche Beschränkung der zentralen Planung auf grundsätzliche Fragen bedeutet zwar, daß der Wirtschaftsablauf im übrigen den am Wirtschaftsprozeß unmittelbar Beteiligten überlassen wird
Die wohlklingende Formulierung des Art. 9 Abs. 3 verhindert allerdings nicht, was sich auch verfassungsrechtlich ablesen läßt, daß gegenwärtig die gesamte Wirtschaftstätigkeit in der DDR nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus geleitet wird, zumal im Augenblick der Ton in der DDR wieder mehr auf zentralen Direktiven und kollektiver Disziplin statt auf Eigenverantwortung und persönlicher Initiative liegt. Die Volkskammer legt die wichtigsten Ziele und Aufgaben der Zentral-planung fest (Art. 49 Abs. 2). Wegen der Machtfülle des Staatsrates trifft in der Verfassungspraxis dieser und innerhalb dieses Gremiums wiederum weitgehend dessen Vorsitzender die wirtschaftlichen Grundsatzentscheidungen. Daraufhin werden der Volkswirtschaftsplan und der einheitliche Staatshaushaltsplan vom Ministerrat und dessen Organen ausgearbeitet und durch das Plenum der Volkskammer bestätigt (Art. 49 und 78). Entsprechend den so festgelegten Plänen organisiert der Ministerrat „die Gestaltung des ökonomischen Systems des Sozialismus und leitet die planmäßige Entwicklung der Volkswirtschaft" (Art. 78 Abs. 2). So ist sichergestellt, daß alle Pläne einander hierarchisch zugeordnet sind und ebenso zentral gesteuert werden, wie die wirtschaftlichen Kompetenzen der Staatsverwaltung gemäß dem Prinzip des demokratischen Zentralismus von oben nach unten abgestuft sind
Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß die Kommunisten das sogenannte sozialistische Eigentum als konstituierendes Element nachrevolutionärer Wirtschaftsweise und sozialistischen Verfassungsrechts ansehen. Die Herausbildung dieser Eigentumsart und ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung bezeichnen also eine wichtige Entwicklungslinie des DDR-Verfassungsrechts, die noch näherer Analyse bedarf.
Nach kommunistischer Ansicht ist das Privateigentum an Produktionsmitteln Ursache der Ausbeutung. Eine ausbeutungsfreie und damit gerechte Sozialordnung werde erst vorhanden sein, wenn die Produktionsmittel — zumindest im wesentlichen — vergesellschaftet sind. Ziel der nachrevolutionären Ordnung müsse es deshalb sein, das Privateigentum an Produktionsmitteln zu beseitigen. Eine Sozialbindung oder öffentliche Kontrolle des wirtschaftlich bedeutsamen Eigentums wird als nicht ausreichend betrachtet. Die heutige kommunistische Eigentumslehre
Die Bestimmungen der Verfassung von 1949 ließen keine Anklänge an diese kommunistische Eigentumslehre spüren. Art.'22 gewährleistete das Eigentum im herkömmlichen verfassungsrechtlichen Sinne als die Gesamtheit vermögenswerter Rechte in Privathand und ohne Beschränkung auf bestimmte Gegenstände. Inhalt und Schranken des Eigentums sollten sich aus den Gesetzen und „den sozialen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft" ergeben. Art. 24 Abs. 1 schien lediglich die Sozial-bindung des Eigentums näher zu umreißen. Die Beschränkung des Eigentums im Sinne der kommunistischen Lehre ließ auch Abs. 2 dieses Artikels noch nicht ganz deutlich werden, wenn es dort hieß, daß „der Mißbrauch des Eigentums durch Begründung wirtschaftlicher Machtstellung zum Schaden des Gemeinwohls die entschädigungslose Enteignung und Über-führung in das Eigentum des Volkes zur Folge" hat. Die Absätze 3 bis 6 sanktionierten jedoch ausdrücklich die in den ersten Jahren nach 1945 bis zum Inkrafttreten der Verfassung durchgeführten Eigentumsumschichtungen großen Stils. Soweit Bodenschätze, wirtschaftlich nutzbare Naturkräfte und Betriebe der Grundstoffindustrie und Energieerzeugung nicht bereits vor 1945 in Staatseigentum gestanden hatten oder bis 1949 enteignet worden waren, schrieb Art. 25 ihre Überführung in Volkseigentum vor. Diese Verfassungsbestimmung betraf jedoch größtenteils nicht, wie ihr Wortlaut vermuten ließ, künftige Enteignungen, sondern sanktionierte lediglich bereits abgeschlossene Verstaatlichungen. Privatunternehmen anderer Wirtschaftszweige, „die für die Vergesellschaftung geeignet sind", konnten durch Gesetz ebenfalls in Gemeineigentum überführt werden (Art. 27). Enteignungsgesetze sind nach dem Inkrafttreten der Verfassung allerdings nicht mehr ergangen. Die weitere Umformung der Eigentumsordnung im Sinne der kommunistischen Zielvorstellungen wurde statt dessen mit einer Vielzahl anderer Maßnahmen vorangetrieben. Typisch für die Verstaatlichung der verbliebenen Privatunternehmen war die Anwendung strafrechtlicher, steuerlicher und sonstiger Mittel
In diesem Zusammenhang muß auf eine Methode der Umwandlung privaten in öffentliches Eigentum besonders hingewiesen werden, die den Weg eines förmlichen Enteignungsverfahrens vermeidet. Unternehmerisches Eigentum wurde und wird nach chinesischem Vorbild in der DDR mitunter dadurch teilweise verstaatlicht, daß der Staat Eigentumsanteile eines Privatbetriebes in der Weise übernimmt, daß der Betrieb in eine Kommanditgesellschaft umgewandelt wird, wobei eine staatliche Stelle Kommanditist und der bisherige Alleineigentümer Komplementär wird
Angesichts dieser Situation nimmt es nicht wunder, daß im gegenwärtigen DDR-Verfassungsrecht ein Sozialisierungsartikel fehlt und die Enteignungsbestimmung des Art. 16 Anklänge an rechtsstaatliche Verfassungsnormen erkennen läßt. Danach sollen Enteignungen künftig nur noch gegen angemessene Entschädigung dann zulässig sein, wenn auf andere Weise der angestrebte gemeinnützige Zweck nicht erreicht werden kann. Die damit eingeführte generelle Entschädigungspflicht verbesserte den bisherigen Rechtszustand, wonach Entschädigung nur zu leisten war, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmte
Die Sonderstellung des sozialistischen Eigen-
f tums — besonders in Gestalt des staatlichen „Volkseigentums" — ist ohne Änderung des formellen Verfassungsrechts allmählich durch verschiedene Rechtsvorschriften und die höchstrichterliche Rechtsprechung der DDR ausgeformt worden. So wurde der Grundsatz entwickelt, daß Volkseigentum niemals gutgläubig erworben werden kann
Diesen Rechtszustand hat die Verfassung von 1968 lediglich formell in Verfassungsrecht transformiert. Art. 10 nennt als Formen des sozialistischen Eigentums neben dem Staatseigentum
Art. 12 der sozialistischen Verfassung der DDR zählt auf, welche Gegenstände in Volkseigentum stehen, so daß privates Eigentum an ihnen unzulässig ist. Diese Enumeration ist allerdings nicht abschließend in dem Sinne, daß andere Sachen nicht Staatseigentum sein können. Vielmehr sollen damit exemplarisch Kategorien von Sachen, die als sozialistisches Staats-eigentum res extra commercium sind, bezeichnet werden. Daß es sich dabei nicht um pri-vatisierbares Fiskaleigentum handelt, ist dem DDR-Verfassungsrecht selbstverständlich. Schon die Nutzung dieses sogenannten Volks-eigentums erfolgt vielmehr grundsätzlich durch staatliche Betriebe und Einrichtungen. Der Staat kann die Nutzung lediglich durch Verträge genossenschaftlichen oder gesellschaftlichen Organisationen und Vereinigungen übertragen. In Konseguenz der Auffassung, daß das sozialistische Eigentum die wirtschaftliche Basis des kommunistischen Herrschaftssystems bildet, ist damit die bisher verfassungsrechtlich bestehende Möglichkeit, daß die zuständige Volksvertretung mit qualifizierter Mehrheit der Veräußerung von Volkseigentum zustimmen kann
VII. Grundrechte als sozialistische Persönlichkeitsrechte
Die Verfassung von 1949 enthielt in ihren Artikeln 6— 49 einen ausführlichen Grundrechtskatalog, der sich weithin an rechtsstaatliche Vorbilder anlehnte
Ermöglicht wurde diese Umfunktionierung der Grundrechtsbestimmungen der Verfassung von 1949 dadurch, daß entsprechend dem Grundsatz der Einheit aller Staatsgewalt die Inhaber der öffentlichen Gewalt selbst die Verfassung authentisch interpretieren konnten
Die theoretische Rechtfertigung dafür entnahm man den marxistisch-leninistischen Lehren. Danach gewinnt der einzelne seinen Wert nicht aus sozial zweckfreien individuellen Bezügen, sondern ausschließlich als Glied der dem kommunistischen Endziel zustrebenden menschlichen Gesellschaft
Damit ist die in der DDR offiziell vertretene Auffassung der Menschenwürde ebenso einseitig kollektivistisch orientiert, wie hierzulande manchmal noch die individualistischen Bezüge menschlicher Würde verabsolutiert werden. Eine abwägende Betrachtung wird beide Sehweisen als zu einseitig ablehnen müssen, weil erst individuell-autonome und sozial-gesellschaftliche Bezüge gemeinsam die Menschenwürde in ihrer vollen Bedeutung erkennen lassen.
Da alles Recht nach marxistischem Verständnis von der ökonomischen Struktur der Gesellschaft abhängt, verändere die revolutionäre Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln auch den Charakter der Grundrechte. Im Kapitalismus herrsche ein dauernder Spannungszustand zwischen dem Gemeinwesen und den Individuen. In der nachrevolutionären Periode dagegen bilde sich nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel ein Verhältnis der grundlegenden Übereinstimmung der Interessen der sozialistischen Gesellschaft und ihrer Bürger heraus. Die damit behauptete Identität kollektiver und indi-vidueller Interessen läßt die Ausformung der Grundrechte als subjektive öffentliche Rechte mit Anspruchscharakter überflüssig erscheinen und deren Rechtsschutzfunktion fast ganz zurücktreten. In der DDR sind Grundrechte vielmehr relative, von der politischen Situation abhängige Rechtsgewährungen der prinzipiell rechtlich unbeschränkten Staatsgewalt, die wiederum von der SED-Führung auf die Errichtung der kommunistischen Gesellschaft orientiert ist. Die Entwicklung auf diesen Endzustand hin ist angeblich objektiv notwendig und unaufhaltsam, daher der Bewertung mit Rechtsmaßstäben entzogen. Auch darf dieser Geschichtsablauf nicht etwa durch die Geltendmachung individueller Schutzrechte im subjektiven Interesse gehemmt werden. Grundrechte sollen daher ihrer rechtstheoretischen Konzeption nach nicht Garantien für eine freie Entfaltung der Einzelpersönlichkeit nach allen Richtungen hin sein. Sie sind nach Auffassung der DDR-Kommunisten vielmehr Instrumente der Politik der Parteiführung zu dem Zweck, die Persönlichkeit jedes Bürgers so umzuformen, daß dieser stets und unbedingt den Führungsanspruch der SED anerkennt. Erst wenn der Bürger das Wertungssystem der Parteiführung, die marxistisch-leninistische Weltanschauung, akzeptiert hat und sich aktiv für deren Ziele einsetzt, tritt im Rahmen dieser Zweckbindung, die Errichtung der kommunistischen Gesellschaft zu fördern, eine gewisse Rechtsschutzwirkung ein. Grundrechte als sozialistische Persönlichkeitsrechte sind also gegenüber dem Willen der Parteiführung nachgiebig. Diesem Grundrechtsdenken geht es daher darum, wie es zwei DDR-Juristen ausgedrückt haben, „jeden Bürger mit Hilfe des Staates und seines Rechts auf den Weg der sozialistischen Entwicklung, d. h.der bewußten Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens, zu führen" und „damit die sozialistische Persönlichkeit zu formen"
Dadurch, daß sich die Grundrechte in der DDR seit 1949 in ihrem Wesensgehalt verändert und zu sozialistischen Persönlichkeitsrechten entwickelt hätten, sei das Recht auf „aktive Mitgestaltung an der Leitung des Staates" zum Fundamentalgrundrecht geworden
Diese unterteilt die DDR-Staatsrechtslehre nach Sachbereichen in ökonomische, kulturelle und politische Rechte, nämlich das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung und das Recht auf Politik, wobei diese Rechte wiederum ganze Gruppen von Einzelgrundrechten umfassen sollen
In Anlehnung an diese Systematik enthält die sozialistische Verfassung der DDR in einem „Grundrechte und Grundpflichten der Bürger" überschriebenen Kapitel 22 Grundrechtsartikel (Art. 19— 40). Entsprechend den geschilderten Grundsätzen der marxistisch-leninistischen Rechtstheorie, wie sie heute in der DDR vertreten wird, stellen diese Grundrechte keine allgemein gültigen Menschenrechte dar, sondern sind Rechtsgewährungen an die Bürger der DDR. Die weltanschauliche Zweckgebundenheit aller Grundrechte wird erkennbar, wenn es in Art. 19 Abs. 3 dieser Verfassung heißt: „Frei von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit hat jeder Bürger gleiche Rechte und vielfältige Möglichkeiten, seine Fähigkeiten in vollem Umfange zu entwickeln und seine Kräfte aus freiem Entschluß zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten. So verwirklicht er Freiheit und Würde seiner Persönlichkeit."
Die folgenden Artikel legen gemäß der geschilderten theoretischen Systematik zunächst die sogenannten Hauptgrundrechte fest. An der Spitze steht „das Recht, das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der sozialistischen Gemeinschaft und des sozialistischen Staates umfassend mitzugestalten" (Art. 21). In den nächsten Artikeln sind das Recht auf Arbeit (Art. 24) und das Recht auf Bildung (Art. 25 und 26) geregelt. Vergleicht man die einzelnen Grundrechtsbestimmungen der Verfassung von 1968 mit denen der Verfassung von 1949, ist aus rechtsstaatlicher Sicht ein erheblicher Rückschritt festzustellen. Manche Grundrechte fehlen ganz. Dazu zählen das Streikrecht, die Auswanderungsfreiheit, das Recht auf freie Berufswahl, das Verbot der Pressezensur und das Widerstandsrecht. Auch die Zusicherung, daß Kunst, Wissenschaft und Lehre frei seien, ist fortgefallen. Die ausführliche Regelung der Grundrechte im religiösen Bereich, die sich in Anlehnung an den Text der Weimarer Reichsverfassung in den Art. 41— 48 der 1. DDR-Verfassung fand, ist ebenfalls nicht übernommen worden. Besonders die persönlichen Freiheitsrechte, die sich in den Art. 27— 33 finden, erfuhren im Vergleich zu ihrer Formulierung in der Verfassung von 1949 erhebliche Einengungen. Sie sind jetzt deutlich als zweckgebundene sozialistische Persönlichkeitsrechte erkennbar, weil sie ausdrücklich nur für verfassungskonforme Zwecke gewährt werden