Richtpunkte der Ost-Berliner Außenpolitik
Die „brüderliche Freundschaft mit der Sowjetanion" und eine Position „fest im Lager der sozialistischen Staaten" werden im Parteiprogramm der SED zum „Grundpfeiler ihrer (der DDR) Außenpolitik" und zur „Lebensnotwendigkeit für den Frieden und die glückliche Zukunft der deutschen Nation" erklärt
Die Führungsgruppe der DDR sucht also über alle objektiv bestehenden massiven militärischen, politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten von der UdSSR hinaus eine möglichst enge Bindung an die Sowjetunion und an den Warschauer Pakt. Sie verzichtet damit von vornherein auf einen wesentlichen Teil ihres außen-und innenpolitischen Handlungs-spielraumes, den andere Warschauer-Pakt-Staaten wie namentlich Rumänien im Sinne ihrer nationalen Interessen auszuschöpfen suchen. Eine eigene Politik wird, wenn sie mit dem sowjetischen Kurs kollidiert (also nicht nur von diesem abweicht, sondern diesen zu stören beginnt), im Interesse der Gemeinsamkeit unterlassen. Soll eine derartige Selbst-bindung nicht zu müheloser Beherrschbarkeit durch die begünstigte Macht führen, muß ein Einfluß auf die Formulierung von deren politischer Linie bestehen, der dem Sich-Bindenden eine zumindest begrenzte Mitbestimmung über den gemeinsamen Weg, auf den er sich von vornherein festgelegt hat, einräumt.
Wird also die Selbstbindung der DDR-Machthaber an die UdSSR durch einen Einfluß auf die außenpolitischen Entscheidungen der sowjetischen Führer honoriert und ausgeglichen? Für einen derartigen Einfluß käme wohl am besten jener Bereich in Frage, der für die SED-Führung zentrales Interesse besitzt und zugleich das Feld der intensivsten Interaktion zwischen der Sowjetunion und der DDR darstellt, nämlich die Deutschland-Politik. Die Einflußnahme der DDR auf die sowjetischen Entscheidungen in diesem Bereich soll das Thema der folgenden Ausführungen sein. Zugleich soll untersucht werden, inwieweit die DDR mit eigenen Bemühungen oder mit Hilfe der sowjetischen Vormacht auf die Deutschland-politikder anderen Warschauer-Pakt-Staaten einwirken kann. Drei Problemkreise haben für die östliche Deutschland-Politik zentrale Bedeutung, nämlich erstens die Festlegung der Haltung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland, zweitens das Vorgehen in der Berlin-Frage und drittens die Normenorientierung in der deutschen Frage.
Die Haltung der DDR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland
Ulbricht und seine Leute sind in erster Linie von den Gegebenheiten der gesamtdeutschen Situation bestimmt. Als sie 1945 aus der sowjetischen Emigration nach Deutschland zurückkehrten, galten die Maßnahmen, die sie auf Anweisung und mit Unterstützung der östlichen Besatzungsmacht einleiteten, der Vorbereitung einer entscheidenden Einflußnahme auf das gesamte deutsche. Gebiet
Die Führer der SED wurden 1947 von der sowjetischen Besatzungsmacht nicht etwa zu einer Reduzierung ihrer Hoffnungen auf das Gebiet der Sowjetzone veranlaßt. Im Gegenteil: Stalin empfing persönlich vier SED-Spitzenfunktionäre, um ihnen klarzumachen, daß sie nunmehr auf der innerdeutschen Ebene den Kampf um Deutschland stellvertretend für die Sowjetunion zu führen hätten
Nach dem 17. Juni 1953, der die Schwäche der sowjetischen Position in Deutschland enthüllte, schwenkte Moskau auf einen — zunächst wohl nur vorläufig gemeinten — Zwei-Staaten-Kurs ein. Die Erwartung baldiger gesamtdeutscher Veränderungen wurde in der DDR noch lange wachgehalten, und auch heute noch ist es die offizielle These der SED, daß es einmal zu einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Gefolge einer historisch unvermeidlichen Option Westdeutschlands für das Modell der DDR kommen werde. Von Anfang an hat sich die DDR als ein auf Gesamtdeutschland hin angelegter Staat verstanden und ihre Existenz als Ergebnis einer gesamtdeutschen Willensbildung hingestellt
Anzeichen für eine grundsätzliche Revision früherer WiedervereinigungsVorstellungen sind in der DDR — anders als in der Bundesrepublik Deutschland — nicht zu erkennen. So resultiert aus der Tatsache, daß die einstigen gesamtdeutschen Hoffnungen getrogen haben, nur eine Frustration der SED-Führung, die durch gesteigerte Aggressionsgefühle gegenüber dem frustrierenden Staat, der Bundesrepublik Deutschland, kompensiert wird. Für die DDR wird der Anspruch erhoben, sie sei das wahre Deutschland und das politische Sammelbecken aller fortschrittlichen und demokratischen Deutschen in Ost und West. Ulbricht und seine Leute sind infolge ihrer gesamtdeutschen Frustration und ihres fortdauernden Willens zu einem Ausgreifen auf Westdeutschland auf die Vorstellung einer unerbittlichen und unausweichlichen Konfrontation zwischen den beiden Teilen Deutschlands fixiert. Der SED-Chef hat in einem Grundsatzreferat vom April 1966 dieser Ansicht prägnanten Ausdruck verliehen, als er die deutsche Entwicklung seit 1945 als einen einzigen „Klassenkampf" zwischen den beiden deutschen Staaten charakterisierte, der „um die Klärung der Frage , Wer — wen?'ausgefochten" werde
Demnach sind zwar taktische Anpassungen und Waffenstillstände, nicht aber grundlegende Aussöhnungen möglich. Es erscheint höchst fraglich, ob eine Anerkennung der DDR durch Bonn, wie deren Befürworter erhoffen, das Konfrontationsbewußtsein der gegenwärtigen SED-Führer beseitigen oder auch nur mildern könnte
Die Politik der DDR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion
Die Repräsentanten der DDR haben unter den kommunistischen Führern in Osteuropa regelmäßig die feindseligste und kompromißloseste Haltung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland eingenommen. Ihr Hauptbestreben war es, eine geschlossene antibundesdeutsche Front aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Soweit sie dabei einmal keinen hinreichenden Erfolg hatten, sahen sie sich von der Bundesrepublik Deutschland bedroht. Die Feindseligkeit nämlich, welche die SED-Führung der bundesdeutschen Seite entgegenbringt, setzt sie in einer Art Symmetriezwang auch bei dieser voraus, und da Westdeutschland erheblich größer als die DDR ist und zudem besser prosperiert, fühlt Ost-Berlin sich in die Position des schwächeren Widersachers versetzt, wenn es nicht ständig festen politischen Rückhalt findet. Eine Entspannung, die auf westlicher Seite die Bundesrepublik Deutschland einbezieht, muß unter diesen Prämissen schlechthin als eine Bedrohung der DDR erscheinen. Eine unbedingte Rücksichtnahme auf diese Sicherheitsvorstellungen des SED-Regimes müßte die Bewegungsfreiheit der sowjetischen Außenpolitik empfindlich ein-engen, weil sie Moskau die Möglichkeit nehmen würde, je nach augenblicklichem Bedarf auch die Bundesrepublik Deutschland als einen positiven Faktor in ihre Westpolitik einzuordnen.
Im einzelnen verfolgen Ulbricht und seine Leute gegenüber der Bundesrepublik Deutschland bestimmte generelle Ziele. Zum einen erstreben sie die Schwächung des westdeutschen Staates sowohl durch innere Subversionen als auch durch auswärtige Pressionen und Auflagen. Die Mittel dieser Politik sind sehr wesentlich extreme Forderungen, die im In-und Ausland propagiert werden mit dem Ziel, alle möglichen politischen Kräfte für eine Restriktionspolitik gegenüber den Westdeutschen zu gewinnen. Zum zweiten sucht die SED-Führung, die Bundesrepublik Deutschland politisch mattzusetzen durch eine Isolierung im internationalen Kräftefeld. Diesem Zweck dienen Anklagen und Forderungen, die auf eine allgemeine Diskreditierung Westdeutschlands und seiner maßgeblichen Politiker angelegt sind. Schließlich sucht Ost-Berlin, die Sowjetunion und die Warschauer-Pakt-Staaten auf eine bedingungslose Solidarität mit der DDR und auf eine dauernde Konfrontation mit der Bundesrepublik Deutschland festzulegen. Im Sinne dieser Absicht werden die ideologisch-politische Solidarität der DDR mit den Ländern der „sozialistischen Gemeinschaft" und der „reaktionäre", „aggressive“ und „antisozialistische" Charakter des westdeutschen Staates herausgestellt. Eine solche Politik liegt nur so lange im sowjetischen Interesse, wie Moskau nicht der Bundesrepublik Deutschland oder einer sich mit ihren Belangen identifizierenden Macht bedarf, um seine außenpolitischen Ziele zu erreichen. Die Frage lautet daher: Wie weit kann Ost-Berlin in Moskau einen antibundesdeutschen Kurs durchsetzen, wenn die Leiter der sowjetischen Außenpolitik sich von einem anderen Vorgehen größeren Vorteil versprechen würden? Die Untersuchung muß sich in erster Linie darauf richten, typische Verhaltensunterschiede gegenüber der Bundesrepublik Deutschland festzustellen, da in den Verlautbarungen, die UdSSR und DDR über ihre Beziehungen abgeben, fast stets der Eindruck einer vollständigen Übereinstimmung zu erwecken gesucht wird.
Nach dem Sturz Chruschtschows, der in seiner Spätzeit zur großen Sorge der Ost-Berliner Funktionäre einen Modus vivendi mit dem Westen einschließlich der Bundesrepublik Deutschland gesucht hatte, scheint bei flüchtiger Betrachtung die Politik gegenüber Westdeutschland nicht mehr kontrovers zwischen den Regierungen der DDR und der Sowjetunion gewesen zu sein. Die SED-Führung sah sich im Herbst 1964 von dem Alptraum einer Verständigung zwischen Moskau und Bonn hinter ihrem Rücken befreit. Die neuen sowjetischen Führer Breshnew und Kossygin gingen zu einer antibundesdeutschen Linie über und operierten seit 1965/66 mit einer Konzeption der europäischen Sicherheit, die ihre Spitze gegen die Europa-Präsenz der Vereinigten Staaten von Amerika, gegen die amerikanisch-westeuropäische Bündnisorganisation NATO und gegen die Bundesrepublik Deutschland richtete. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß die DDR bei der sowjetischen Wendung ihre Hand im Spiel gehabt hätte. Die SED-Führung war allem Anschein nach weder über den Sturz Chruschtschows vorher orientiert noch hatte sie auf die Formulierung der — unter anderem die Deutschland-Politik einbeziehenden — Anklagen gegen diesen irgendeinen Einfluß, wie aus der Ost-Berliner Reaktion überraschter Erleichterung hervorgeht. Die Schlagworte von der europäischen Sicherheit wurden erstmals Anfang 1965 von polnischer Seite ins Spiel gebracht, einige Zeit später in Moskau verwendet und erst zuletzt von Ost-Berlin übernommen. Die sowjetische Motivation dafür, die politischen Angriffe in starkem Maße auf die Bundesrepublik Deutschland zu konzentrieren, rückte einen für die DDR zweitrangigen Gesichtspunkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Nach sowjetischer Einschätzung war nämlich die Westorientierung Bonns das entscheidende Kettenglied, an dem die amerikanische Europa-Präsenz und das Vertrauen der westeuropäischen Staaten in den Sicherheitswert der NATO hingen
Auf der Grundlage einer Parallelität der Ost-
Berliner und der Moskauer Interessen bestand in den Jahren 1966 bis 1968/69 im allgemeinen eine vollständige Gemeinsamkeit antibundesdeutscher Ausrichtung. Die Bundesrepublik Deutschland wurde zu der großen Gefahr schlechthin für die Sicherheit und den Frieden der europäischen Völker erklärt. Daher wurden alle Staaten in Ost-und Westeuropa dazu aufgerufen, ihre Anstrengungen im gemeinsamen Kampf gegen den „westdeutschen Revanchismus, Militarismus und Faschismus" zu vereinen. Eine Reihe von Forderungen, die im Namen der europäischen Sicherheit geltend gemacht wurden, diente dazu, die Bundesrepublik Deutschland unter Druck zu setzen und ihren angeblich friedensfeindlichen, aggressiven Charakter zu beweisen. In der Bukarester Deklaration vom 6. Juli 1966 wurden die Anerkennung der europäischen Grenzen (wie der Oder-Neiße-Linie und der Grenzen der DDR), die Anerkennung der DDR, der Verzicht Bonns auf den Alleinvertretungsanspruch und die Aufgabe des Strebens nach „Zugang zu den Kernwaffen" verlangt
Das gute Einvernehmen zwischen der DDR und der Sowjetunion vertiefte sich noch, als sich beide Seiten 1968 der reformkommunistischen Entwicklung in der Tschechoslowakei gegen-übersahen. Nach Ost-Berliner und Moskauer Auffassung standen die tschechoslowakischen Geschehnisse nicht zuletzt mit der Politik der Bundesrepublik Deutschland in einem Zusammenhang. Die Bildung der Großen Koalition in Bonn hatte eine aktivere und entschiedenere Entspannungspolitik gegenüber Osteuropa eingeleitet, welche die Führer der DDR und der UdSSR von Anfang für gefährlich hielten, weil sie der antibundesdeutschen Kampagne in Ost und West erfolgreich entgegenwirkte und insbesondere der Geschlossenheit des eigenen Lagers gegenüber Westdeutschland ernstlichen Abbruch zu tun drohte
Mit der gesamten dargelegten Politik handelte die sowjetische Führung im Sinne des SED-Regimes, während gleichzeitig eine Interessen-parallelität beider Seiten bestand. Die Frage, wie weit der Einfluß Ost-Berlins in Moskau geht, läßt sich aber erst an kritischen Positionen beantworten, an denen andersartige Motive auf sowjetischer Seite auch einen andersartigen politischen Kurs gegenüber der Bundesrepublik Deutschland nahelegen. Mit anderen Worten: An die Stelle einer Parallelität der Interessen muß eine Divergenz der Interessen treten, damit deutlich wird, inwieweit der von Ulbricht vertretene abweichende Kurs die sowjetische Option beeinflussen kann. Eine derartige Situation ergab sich vorübergehend nach der Bildung der Großen Koalition in Bonn. Diese Regierungsneubildung wurde in Ost-Berlin und in Moskau gegensätzlich bewertet.
Für die SED-Führung war die Große Koalition der allerletzte sozialdemokratische Schritt des Verzichts auf eine selbständige Position gegenüber der „reaktionären CDU/CSU". Das zerstörte allem Anschein nach endgültig die seit langem gehegten und seit vielen Jahren zunehmend geschwächten Hoffnungen des SED-Regimes auf eine „wirkliche Opposition", das heißt auf eine rücksichtslose Kampfansage der SPD oder starker Gruppen aus ihrem Kreise gegen die staatlichen Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland. Eine solche Spaltung zwischen den politischen Kräften des westdeutschen Staates erschien aber als die unerläßliche Voraussetzung dafür, daß Ost-Berlin seinen Einfluß auf den westlichen Teil des gespaltenen Landes vorschieben konnte. Die Teilnahme der SPD an der westdeutschen Regierung zusammen mit der CDU/CSU machte daher in der Sicht der SED auf lange Zeit die Chance zunichte, durch eine politische Spaltung in Westdeutschland voranzukommen. Mehr noch: Der Zusammenschluß der beiden großen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland mußte für Kommunisten, die an den stalinistischen Postulaten monolithischer Geschlossenheit orientiert waren, als eine ungeheure Stärkung des westdeutschen Regimes erscheinen. Das aber lief den Wünschen der SED-Führung schärfstens zuwider. Dementsprechend zog Ulbricht aus dem Machtwechsel in Bonn die praktische Konsequenz, daß der Bundesrepublik Deutschland hinfort noch unerbittlicher als bisher der Kampf angesagt werden müsse. Da er fürchtete, die sowjetischen Führer könnten zu anderen Schlüssen kommen als er, beraumte er eilig vor deren politischer Festlegung eine öffentliche Ansprache an, in der er sie vor der „reaktionären" und „antikommunistischen" „Notstands-und Bunkergemeinschaft" der „Herren Adenauer und Strauß" mit den „Revanchepolitikern in der sozialdemokratischen Partei" warnte
sowie die Heranziehung der weniger von den Traditionen der Adenauerschen Außenpolitik geprägten Sozialdemokraten zur Ausübung der staatlichen Macht. Das ließ, so meinten sie, auf eine Neuorientierung der Bundesrepublik Deutschland etwa nach Art des gaullistischen Frankreich, insbesondere im Sinne einer allmählichen Lockerung der NATO-Bindungen, hoffen. Die Möglichkeit schien gegeben, daß Moskau mit Hilfe der Bundesrepublik Deutschland dem Ziel zustreben könne, die amerikanische Europa-Präsenz zu erschüttern und die atlantische Bündnisorganisation funktionsunfähig zu machen. Das Beispiel des gaullistischen Frankreich, das einige Zeit zuvor im Sinne der sowjetischen Vorstellungen die Evakuierung der amerikanischen Stützpunkte im Lande und den Rückzug aller seiner Truppen aus der NATO verfügt hatte, scheint die sowjetischen Erwartungen geleitet zu haben. Wenn die sowjetischen Führer die in Bonn vermuteten Tendenzen sich entfalten lassen wollten, mußten sie sich von der bisherigen Polemik lösen und eine wohlwollende Haltung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland einnehmen — also genau das tun, wovor Ulbricht sie schärfstens warnte.
Die sowjetischen Führer richteten sich ausschließlich nach den Vorstellungen, die sie von ihren eigenen Interessen hatten. Den Wünschen des SED-Regimes wurde nicht die geringste Beachtung geschenkt. Die sowjetischen Massenmedien berichteten nicht nur in erwartungsvoller Freundlichkeit über die kleinsten Einzelheiten der Bonner Szenerie, sondern signalisierten auch den Westdeutschen die veränderte Moskauer Haltung zusätzlich durch einen augenblicklichen Stopp aller Solidaritätsbekundungen gegenüber der DDR. Die bisher an die westdeutsche Adresse gerichteten Forderungen wurden zwar nicht fallengelassen, aber als milde Empfehlungen formuliert, wie Bonn seine ermutigenden Worte in gute Taten umsetzen könne. Als die Bonner Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 allgemeine Versicherungen des guten Willens gegenüber Osteuropa mit einer Absage an die sowjetischen Programmforderungen wie insbesondere das Verlangen nach Anerkennung der DDR und nach Aufgabe des Alleinvertretungsanspruches verband, gingen die sowjetischen Kommentare mit milder Kritik darüber hinweg und behielten den wohlwollenden Ton bei. Offensichtlich waren die bisherigen propagandistischen Parolen, die sehr wesentlich dem nunmehr entfallenen Zweck der antibundesdeutschen Polemik gedient hatten, unter den geänderten Prämissen für die sowjetischen Führer ebenso nachrangig geworden wie die Belange der DDR. Erst als die Hoffnungen auf einen Wechsel der westdeutschen NATO-Politik durch zwei eindeutige Erklärungen der Minister Schröder und Brandt zerstört wurden, kehrte Moskau wieder zu den früheren Anti-Bundesrepublik-Kampagnen und zu den alten Bekundungen der Solidarität mit der DDR zurück. Auch für die Option, die wieder im Sinne des SED-Regimes lag, waren ausschließlich sowjetische Interessen maßgebend
Unter dem Eindruck der sowjetischen Intervention in der Tschechoslowakei war der Auflösungsprozeß der NATO rückläufig geworden, der neue amerikanische Präsident Nixon identifizierte sich stärker mit den Interessen seines deutschen Allianzpartners als sein Vorgänger Johnson, und die mit dem Abschluß der Kultur-revolution konsolidierte chinesische Führung um Mao Tse-tung trat in eine aktivere Auseinandersetzung mit der Sowjetunion ein. Allem Anschein macht den sowjetischen Führern seither vor allem die Aussicht auf eine Doppelkonfrontation im Osten und Westen ihres Herrschaftsbereiches Sorgen. Von daher suchen sie, wie es scheint, nicht nur bessere und sogar „freundschaftliche" Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika
Die neuen sowjetischen Tendenzen wurden schon früh in Ost-Berlin mit Sorge vermerkt. Das SED-Regime sah bereits in den geringsten Anzeichen für eine weniger negative Bewertung offizieller westdeutscher Kräfte, namentlich der SPD, die Anfänge einer Aufweichung der antibundesdeutschen Front. Es paßte sich zwar den sowjetischen Tendenzen durch größere Vorsicht bei seinen Polemiken gegen Bonn und durch nachlassende Intransigenz bei politisch unwichtigen gesamtdeutschen Regelungen an, machte aber zugleich sein Mißfallen durch ein Hervorheben des Feindcharakters der Bundesrepublik Deutschland deutlich. Es ist wahrscheinlich, daß die Diplomatie der DDR in Moskau gegen die Abschwächung der antibundesdeutschen Gemeinsamkeit vorstellig geworden ist
Es wäre ein Irrtum, aus dem Dargelegten den Schluß zu ziehen, daß die SED-Führer hinsichtlich der sowjetischen Politik gegenüber der Bundesrepublik Deutschland unter keinen Umständen einen stärkeren Einfluß ausüben könnten. Eine Möglichkeit der Einflußnahme ist nämlich bisher noch nicht erörtert worden.
Ulbricht und seine Leute können auf die Vorstellungen des außenpolitischen Nutzens einwirken, die sich die Männer im Kreml gegenüber Bonn bilden, solange diese noch schwanken und zu keinem klaren Bild gekommen sind. Sie können innerhalb eines abgesteckten Rahmens der sowjetischen Deutschland-Politik latente Bereitschaften stärken oder schwächen — eine Form des Einflusses, die sie möglicherweise im Falle der Tschechoslowakei ausgeübt haben. Das ist nur eine begrenzte Einflußnahme, die aber in unklaren und ambivalenten Situationen ein erhebliches Gewicht erlangen kann.
Die Politik der DDR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und die kleineren Warschauer-Pakt-Staaten
Die Führungen aller Warschauer-Pakt-Staaten sehen in der Existenz der DDR, die das Potential Deutschlands aufspaltet und zugleich ihren Anteil in die osteuropäische Staatengruppierung einbringt, einen positiven außenpolitischen Faktor. Das heißt aber nicht, daß sie immer und in jedem Fall mit dem Konfrontationskurs des SED-Regimes übereinstimmen. Wo immer die Spitzenfunktionäre eines osteuropäischen Landes ihren Nutzen in einer militärischen und politischen Entspannung sehen, weil sie sich davon eine Entlastung ihrer begrenzten Hilfsquellen und Chancen der ökonomischen Entwicklung im Zusammenwirken mit westlichen Ländern versprechen, muß ihnen die von Ulbricht geforderte unbedingte Feindseligkeit gegenüber der Bundesrepublik Deutschland lästig sein. Solange nämlich die Bundesrepublik Deutschland in den politischen Beurteilungen der osteuropäischen Staaten als der unerbittliche Feind zu gelten hat, ist an Lockerungen in der militärisch-politischen Front des Warschauer Paktes — und damit an eine Verlagerung der Anstrengungen auf den wirtschaftlichen Aufbau —-nicht zu denken. Außerdem ist die Bundesrepublik für die osteuropäischen Länder der potenteste westliche Partner einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Wenn die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu dem früheren Deutschen Reich ein ungleich geringeres politisches Gewicht besitzt, so macht sie das für die Osteuropäer nur um so attraktiver. Diese müssen nicht mehr fürchten, in ähnlicher Weise wie in den dreißiger Jahren mit wirtschaftlichen Mitteln in eine politische Abhängigkeit zu geraten. Das politische Risiko, das einst mit der ökonomischen Kooperation mit der deutschen Seite verbunden war, ist heute beseitigt. Die Versuche aus Ost-Berlin, jede Zusammenarbeit und jede Normalisierung anderer Warschauer-Pakt-Staaten mit Bonn zu verhindern, lassen sich daher meistens nur noch schwer oder auch gar nicht mehr mit den Interessen dieser Staaten in Einklang bringen. Art und Ausmaß des Interesses an einer Verbesserung des Verhältnisses zur Bundesrepublik Deutschland variieren freilich von Land zu Land.
Am stärksten hat Rumänien sein Interesse an einer gesamteuropäischen Entspannung geltend gemacht, die auch die Bundesrepublik Deutschland einschließt. Als die sowjetischen Führer im Frühjahr 1966 ihren Kurs der europäischen Sicherheit unter gesamteuropäischen Parolen formulierten, stellte sich die rumänische Parteispitze auf den Standpunkt, daß die sowjetische Seite im Sinne ihrer eigenen Konzeption inkonsequent handele. Nach ihrer Kritik machten die Männer im Kreml mit der Entspannung, die sie proklamierten und zu der sie die Westeuropäer aufriefen, im eigenen Lager nicht ernst. Denn wenn der westliche „Imperialismus" geschwächt sei und sich weiter schwächen werde, wie es in Moskau verkündet wurde, dann könnten die Sowjetunion und ihre Verbündeten ihre Verteidigungsausgaben reduzieren, statt sie zu erhöhen. Wenn die NATO ihre frühere Stärke einbüßte und schließlich sogar einmal — der sowjetischen Forderung entsprechend — aufgelöst werden sollte, könnte Gleiches auch mit der Bündnisorganisation des Warschauer Paktes geschehen. Im Zeichen der Entspannung erschien den Rumänen ein verstärkter Zusammenhalt und eine forcierte Herausstellung der Unerläßlichkeit bei der osteuropäischen Allianz sinnwidrig. Schließlich sahen Ceauescu und seine Anhänger nicht ein, warum alle Kräfte und Tendenzen in Westdeutschland unterschiedslos verketzert werden mußten und warum ihr Land nicht in ein normaleres Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland treten durfte. Die rumänischen Einwände führten zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Bukarest einerseits und Moskau, Ost-Berlin und Warschau andererseits. Nur mühsam gelang es, in der gemeinsamen Erklärung der Warschauer Pakt-Staaten zur europäischen Sicherheit, auf welche die sowjetische Seite drang, beiderseitig annehmbare Formulierungen zu finden. Das Ergebnis war freilich nur ein Wortkompromiß, der eine Interpretation sowohl im sowjetischen als auch im rumänischen Sinne erlaubte
Auf dieser Basis nahm sich die rumänische Führung die Freiheit, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland anzuvisieren, ohne sich darin durch Ost-Berlin beirren zu lassen. Das entscheidende Stadium wurde erreicht, als die neue Ostpolitik der Großen Koalition wesentliche Hindernisse, die bis dahin noch bestanden hatten, wegfallen ließ. Die rasche Übereinkunft zwischen Bukarest und Bonn scheint von der SED-Führung nicht erwartet worden zu sein, wie aus der späten Reaktion hierauf zu schließen ist. Die Rumänen genügten der ideologisch-politischen Solidarität mit der DDR, indem sie auch gegenüber Bonn für eine Anerkennung der DDR plädierten und das Prinzip der Souveränität beider deutscher Staaten betonten, aber sie weigerten sich, nach dem Willen Ulbrichts aus diesen Forderungen Vorbedingungen für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland zu machen. Um des DDR-Standpunktes in der deutschen Frage willen wollten sie, auch wenn sie ihn teilten, nicht alle sich bietenden Entspannungsmöglichkeiten auf Eis legen. Im Grunde ging es ihnen, so sehr sie auch grundsätzlich mit der DDR verbunden waren, darum, sich nicht den Ost-Berliner Konfrontationskurs aufzwingen zu lassen. Auch als dann — nach der Übereinkunft zwischen Bukarest und Bonn über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen — Moskau den Ost-Berliner Standpunkt der Vorbedingungen für die Normalisierung des Verhältnisses zur Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich übernahm und für allgemein verbindlich erklärte, setzte Ceau^escu die Annäherung an Westdeutschland weiter fort. Der Einfluß der SED-Führung auf die rumänischen Entscheidungen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland war offensichtlich minimal.
Anfang 1967 wäre Ungarn dem rumänischen Beispiel gerne gefolgt, denn die Interessen der ungarischen Wirtschaft wiesen in die gleiche Richtung wie die der rumänischen. Ein wesentlicher Umstand, der das negative Ergebnis bestimmte, mag der Zeitfaktor gewesen sein: Bonn gab den Verhandlungen mit Rumänien, die schon vor dem Regierungsantritt der Großen Koalition einige Fortschritte gemacht hatten, den zeitlichen Vorrang vor den politischen Gesprächen mit Ungarn, so daß mit Bukarest — und nicht etwa mit Budapest — eine Übereinkunft erzielt war, ehe Moskau seinen hindernden Einfluß geltend machte. Zugleich aber kann nicht übersehen werden, daß Ungarn mit dem Kadar-Regime eine Führung besaß, die zwar zu größeren innen-und außenpolitischen Lockerungen neigte, aber zugleich stets nach Übereinstimmung mit der sowjetischen Gene-rallinie strebte. Immer wieder fanden daher die ungarischen Maßnahmen ihre deutliche Grenze an dem, was die sowjetischen Führer für nicht mehr vereinbar mit ihren Vorstellungen hielten. Am deutlichsten wurde der Zwiespalt zwischen eigenen Neigungen und Disziplin gegenüber der Sowjetunion anläßlich der tschechoslowakischen Reformentwicklung: Obwohl sehr vieles, was in der Tschechoslowakei geschah, ungarische Sympathien hatte, entschloß sich das Regime zur Teilnahme an der militärischen Intervention — vermutlich, um selbst mit seinen Errungenschaften in Moskau akzeptabel zu bleiben. Die SED-Führung konnte daher über die sowjetischen Führer Einfluß auf Budapest ausüben, um es an einer Normalisierung des Verhältnisses zu Bonn zu hindern.
In der Tschechoslowakei hatten sich noch zur Novotny-Zeit Ansichten über die deutsche Situation herausgebildet, die deutlich von denen Ulbrichts abwichen. Während des Frühjahrs 1966, als der Dialog zwischen der SED und der SPD zur Debatte stand, suchte die tschechoslowakische Führung bis in ihre konservativsten Kreise hinein das ängstlich zögernde (und schließlich sich zurückziehende) SED-Regime zu einer mutigen und offenen geistigen Auseinandersetzung mit den Sozialdemokraten der Bundesrepublik zu ermuntern
Die neuen politischen Tendenzen, die sich in der Tschechoslowakei nach dem Sturz Novotnys durchsetzten, schienen neue Grundlagen für die Bereinigung des Verhältnisses zur Bundesrepublik Deutschland zu schaffen. Im Zuge des ungehinderten geistigen Austausches mit dem Westen, den die neuen Männer in Prag suchten und pflegten, rückte der westliche Nachbar den Tschechoslowaken näher als jemals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Zugleich zeichnete sich in der politischen Öffentlichkeit des Landes eine neue Sicht der außenpolitischen Lage ab. Es war von einer kulturellen, wirtschaftlichen und schließlich auch politischen Gemeinschaft der Länder und Völker Mitteleuropas die Rede. Ideen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der politischen Entspannung und der zwischenstaatlichen Normalisierung mit den Staaten des europäischen Westens tauchten auf. Alle diese Erwägungen bezogen maßgeblich die Bundesrepublik Deutschland ein. Freilich handelte es sich dabei nicht um offizielle Stellungnahmen, da die verantwortlichen Leiter der tschechoslowakischen Politik im Hinblik auf ihr zunehmend gespanntes Verhältnis zu Moskau sich nicht exponieren wollten und sich daher vorsichtig zurückhielten. Das politische Klima und die sich abzeichnenden Trends wiesen jedoch deutlich auf eine Normalisierung der Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland hin. Das Dubcek-Regime war bereit, das — seit Anfang 1967 von sowjetischer Seite bewußt hochgespielte — Hindernis zwischen Prag und Bonn zu beseitigen: die Forderung nach der Ungültigkeit des Münchener Abkommens vom Zeitpunkt seines Abschlusses an 28a). Da die Deutsche Bundesregierung schon seit längerer Zeit klargestellt hatte, daß sie das Münchener Abkommen als erloschen betrachte und keinerlei Ansprüche aus ihm herzuleiten beabsichtige, schien den neuen Männern auf dem Hradschin kein Anlaß mehr zu bestehen, den Streitpunkt aufrechtzuerhalten. An diesem Punkt aber zeigte sich, wie stark sie sich durch Rücksichten gebunden sahen: Auf sowjetischen Wink wurde die Absicht fallengelassen. Ebenso sah sich die tschechoslowakische Regierung dazu bewogen, eine wirtschaftliche Kooperation mit der Bundesrepublik Deutschland, wie sie die tschechoslowakische Wirtschaft sehr gut hätte brauchen können, vorerst nicht anzustreben. Der Ost-Berliner Einfluß konnte sich hindernd auswirken, weil die sowjetische Seite ihm ihr Gewicht lieh.
Nach der militärischen Intervention in ihrem Land besaßen die tschechoslowakischen Führer, ob sie nun zu der allmählich verdrängten Reformergruppe oder zu ihren Nachfolgern gehörten, keine hinreichende außenpolitische Bewegungsfreiheit mehr, um noch einen von der Moskauer Linie abweichenden Kurs gegenüber der Bundesrepublik Deutschland erwägen zu können. Der fremde Wille, der dem tschechoslowakischen Volk in massiver Weise aufgezwungen wurde, hat bis auf weiteres jedes nicht-konforme Verhalten Prags im Verhältnis zu Bonn unmöglich gemacht.
Ungleich geringere Schwierigkeiten bereitete es Ost-Berlin und Moskau, Bulgarien auf ihrer politischen Linie gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zu halten. Die bulgarische Führung, die zeitweise von titoistischen Macht-rivalen ernstlich bedroht gewesen war, suchte sich außen-und innenpolitisch durch enge Anlehnung an Moskau zu behaupten. Zugleich zeigte sie keine ausgeprägten Interessen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik. Es fielen zwar in bulgarischen Stellungnahmen gelegentlich die geringe Über-zeugung und der geringe Nachdruck der antibundesdeutschen Polemik auf — ganz offensichtlich wurde diese nicht als eigene Angelegenheit betrieben —, aber Sofia verzichtete auf Extratouren, die in Moskau schlecht ausgefallen wären. Daher wäre die bulgarische Regierung Anfang 1967 vermutlich zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Bonn bereit gewesen, wenn die sowjetischen Führer dem ihre Zustimmung gegeben hätten. Gegen den sowjetischen Willen aber wollte das bulgarische Regime nichts unternehmen. Solange Moskau gegenüber der Bundesrepublik Deutschland mit Ost-Berlin auf einer Linie lag, war Bulgarien an die Auffassungen der SED-Führung gebunden.
Im Laufe der sechziger Jahre näherte sich Polen in seiner Politik gegenüber der Bundesrepublik Deutschland immer mehr der DDR an. Warschau machte daher nicht nur die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie, sondern auch die Anerkennung der DDR durch Bonn zur Vorbedingung einer Normalisierung des Verhältnisses zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland. Der amtliche Standpunkt lautete, die DDR sei der Garant der polnischen Sicherheit gegenüber dem „westdeutschen Revanchismus". Die DDR erschien in dieser Sicht als das unerläßliche Vorfeld zur Sicherung der polnischen Westgrenze. Warschau ging daher dazu über, die Interessen Ost-Berlins gegenüber Bonn mitzuverfechten. Die Oder-Neiße-Linie, so hieß es, könne nur dadurch geschützt werden, daß den politischen Belangen der DDR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland Nachdruck verliehen werde. Polen war daher während langer Jahre der zuverlässigste Rückhalt der DDR und der schärfste Gegner der Bundesrepublik Deutschland. Als die SED-Führung im Frühjahr 1966 vorübergehend auf einen Dialog mit den Sozialdemokraten der Bundesrepublik hinzu-steuern schien, reagierte die polnische Seite mit dem Ausdruck der Sorge, die DDR könnte ihren Kurs der gesamtdeutschen Konfrontation durch einen Kurs der gesamtdeutschen Annäherung ersetzen und damit zu einem Faktor des deutschen Druckes auf die polnischen Westgrenzen werden
Die kompromißlose Härte Polens gegenüber der Bundesrepublik Deutschland war nicht das Ergebnis eines Einflusses, den die DDR ausgeübt hätte, sondern das Resultat der Vorstellungen, die sich das polnische Regime von seinen Eigeninteressen gebildet hatte. Daher begannen Polen und die DDR unterschiedliche Kurse gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zu steuern, als sich die Vorstellungen des polnischen Interesses in Warschau änderten. Erstes Anzeichen des Wechsels war der Vorschlag Gomulkas von Mitte Mai 1969, Polen und die Bundesrepublik Deutschland sollten einen Vertrag über die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie abschließen. Damit rückte 2 das polnische Regime davon ab, auch die Forderungen der DDR zu einer Frage der bundesdeutsch-polnischen Beziehungen zu machen, und ließ zudem erstmalig ein deutliches Interesse an einem Abbau der Konfrontation mit der Bundesrepublik Deutschland erkennen
Die polnischen Massenmedien führten die neue Linie in der Folgezeit fort, indem sie Westdeutschland einer differenzierteren Betrachtung würdigten als bisher und dabei insbesondere das Verdikt der SPD abschwächten. Es fiel auch auf, daß die Reaktionen der westdeutschen Öffentlichkeit auf den Gomulka-Vor-schlag nicht mit der üblichen „Entlarvungs" -Polemik quittiert wurden, obwohl sie nur sehr selten uneingeschränkt positiv waren. Die polnische Einladung an den West-Berliner Regierenden Bürgermeister, Klaus Schütz, und die bei allen politischen Gegensätzen nicht unfreundlichen Gespräche, die dieser während seiner Polen-Reise führen konnte, weisen ebenfalls auf ein polnisches Interesse hin, mit der Bundesrepublik Deutschland — oder doch zumindest mit deren sozialdemokratischen Repräsentanten — ins Gespräch zu kommen. In Ost-Berlin mußten die Modifikationen der polnischen Haltung gegenüber der Bundesrepublik Deutschland enttäuschend wirken. Möglicherweise ist es als Zeichen der Verstimmung der SED-Führung zu werten, daß Ulbricht zum 25. Jahrestag der Volksrepublik Polen nicht selbst nach Warschau ging, sondern sich vertreten ließ
Auf die kleineren Warschauer-Pakt-Staaten kann das SED-Regime im allgemeinen nur so weit im antibundesdeutschen Sinne einwirken, wie es sich dabei zugleich auf den ausgesprochenen Willen Moskaus stützen kann. Von daher wird verständlich, warum die Selbstbindung an die sowjetische Politik ein so zentrales Interesse Ulbrichts darstellt: Das politische Eigengewicht der DDR reicht nicht aus, um die Konfrontationspolitik gegenüber der Bundesrepublik Deutschland im Kreise der Warschauer-Pakt-Staaten durchzusetzen. Es ist eine höchst schwierige Aufgabe, sich den wirtschaftlichen Bedürfnissen und den politischen Entspannungswünschen der Verbündeten zu widersetzen. Wenn die SED-Führung sich zu einem sachlicheren Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland verstehen könnte, hätte sie es ungleich leichter, sich in Übereinstimmung mit ihren Parmern im sowjetischen Machtbereich zu setzen und der immer wieder befürchteten Gefahr einer Isolierung in Osteuropa unter allen Umständen zu entgehen.
Die derzeitige Strategie, mittels der Sowjetunion die kleineren Verbündeten so weit wie möglich auf DDR-Kurs gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zu halten, ist mit erheblichen Unsicherheiten belastet. Zum einen reicht auch der sowjetische Einfluß bei einem Staat wie Rumänien nicht mehr aus, eine Eigenpolitik gegenüber Bonn zu verhindern, und ähnliche Tendenzen sind auch anderwärts schon, zumindest ansatzweise, hervorgetreten. Zum anderen sind Dauer und Ausmaß des sowjetischen Interesses an einer Konfrontation mit der Bundesrepublik Deutschland zweifelhaft, da veränderte weltpolitische Konstellationen in Moskau meistens auch Veränderungen in dem Verhältnis zu Bonn nach sich ziehen. Ob die gegenwärtige Entwicklung, die bereits Anzeichen in dieser Richtung erkennen ließ, wieder zu einem Modus vivendi zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland hinführen wird, ist noch nicht klar ersichtlich. Die polnischen Ansätze, zu einem besseren Verhältnis zu Kräften in der Bundesrepublik Deutschland zu finden, könnten auch in diesem Zusammenhang gesehen werden.
Die Berlin-Politik der DDR und die Sowjetunion
Die Führer der SED sind interessiert an einer möglichst weitgehenden Beseitigung des „Störfaktors" West-Berlin und an einer Aufhebung der Souveränitätsbeschränkungen, die mit den westlichen Zugangsrechten verbunden sind. Während der Berliner Blockade 1948/49 scheiterten die von Pressionen aller Art begleiteten Versuche der SED, durch die Ausdehnung ihrer Macht auf Gesamt-Berlin die westliche Präsenz in der Stadt unhaltbar zu machen, an dem heftigen Widerstand der Bevölkerung, die in den Westsektoren ihrem Willen Ausdruck verleihen konnte. In den fünfziger Jahren war West-Berlin ein Pfahl im Fleische der DDR: Die Demonstration westlicher Lebensart und westlichen Lebensstandards wirkte tief in den Machtbereich der SED hinein, und zugleich erlaubte die relativ offene Grenze in Berlin die Flucht von Millionen DDR-Bürgern nach Westdeutschland. Aber auch nachdem der Bau der Berliner Mauer diese Möglichkeiten beseitigt hat, ist allem Anschein nach West-Berlin noch immer ein Trauma für die SED-Führung. Dementsprechend verfolgt sie das Ziel, West-Berlin aus seinen westlichen Bindungen herauszulösen und möglichst in die DDR zu absorbieren. Unter Ausnutzung der lokalen Überlegenheit, die sie und ihre sowjetischen Verbündeten im Berliner Raum besitzen, suchen sie diesem Ziel näherzukommen. Die Problematik eines derartigen Versuches besteht freilich darin, daß die Westmächte in Berlin engagiert sind und daß mithin ein Konflikt um West-Berlin zu einer großen Ost-West-Konfrontation führen könnte. Die östliche Bewegungsfreiheit im Kampf gegen West-Berlin ist daher von einer Einschätzung des Risikos abhängig, das die Ausnutzung der lokalen Überlegenheit-im globalen Rahmen nach sich ziehen würde. Die Führer der DDR, deren Blick vor allem anderen auf Deutschland und auf Berlin geheftet ist, neigen dazu, die globalen Risiken verhältnismäßig gering einzuschätzen. Die sowjetische Führung muß aus ihrer globalen Perspektive heraus die Berlin-Frage für weniger zentral erachten und gleichzeitig die Konsequenzen außerhalb Berlins und Deutschlands höher bewerten.
Seit dem Freundschafts-und Beistandsvertrag zwischen der Sowjetunion und der DDR vom Juni 1964
Die sowjetischen Führer haben die politische Berlin-Strategie generell darauf abgestellt, die Präsenz der Bundesrepublik — oder auch nur einzelne Bestandteile von ihr — in West-Berlin anzugreifen. Weitergehende Ambitionen der DDR wurden auch in Stadien der heftigsten Auseinandersetzung nicht nur nicht unterstützt, sondern sogar unterbunden. Das sowjetischeVorgehen zielte darauf ab, die Positionen der Westmächte in der Stadt zu schonen, um den Eindruck zu erwecken, als gehe es weder um die westlichen Berlin-Rechte noch um die Fortexistenz West-Berlins. Auf diese Weise sollten die westlichen Regierungen zur Un-tätigkeit und zur Gleichgültigkeit gegenüber den Angriffen auf die Bundesrepublik Deutschland veranlaßt werden. Nach sowjetischer Darstellung ging es Moskau und Ost-Berlin einzig und allein darum, westdeutsche Anschläge auf den Status quo abzuwehren. Die sowjetischen Führer gingen davon aus, daß nach einer Verdrängung der Bundesrepublik Deutschland aus West-Berlin der westliche Schutz auf die Dauer nicht mehr die Lebensfähigkeit der Stadt sichern könne. Gleichzeitig mochte eine Desolidarisierung der Westmächte gegenüber ihrem deutschen Verbündeten der NATO irreparablen Schaden zufügen.
Wie die sowjetische Berlin-Politik jeweils im einzelnen formuliert wurde, hing von mehreren Faktoren ab. Moskau tastete immer sehr vorsichtig ab, wie weit das antibundesdeutsche Spiel in Berlin jeweils getrieben werden konnte, ohne daß die westlichen Regierungen den Eindruck einer Bedrohung West-Berlins erhielten und sich dementsprechend zu einer Solidarisierung mit Bonn verstanden. Erst ganz allmählich — im Verlauf eines zweijährigen Lernprozesses — war sich die sowjetische Seite der relativen westlichen Berlin-Indolenz so weit sicher geworden, daß sie schließlich DDR-Maßnahmen zur Etablierung des Souveränitätsanspruches über den deutschen West-Berlin-Verkehr zuließ. Als die Intervention in der Tschechoslowakei im Westen die Neigungen zu einer schärferen Bewertung der sowjetischen Aktionen wachsen ließ, nahm Moskau vorübergehend von den Berlin-Attacken fast völlig Abstand. Im Februar 1969 veranlaßte die unerwartet scharfe Reaktion des Westens, vor allem der Amerikaner, die Männer im Kreml zum Abbruch der politischen Berlin-Offensive, die sie kurz zuvor mit dem SED-Regime vereinbart hatten
Weiterhin stand die sowjetische Berlin-Politik stets in einem engen Zusammenhang mit der sowjetischen Linie gegenüber der Bundesrepublik Deutschland im allgemeinen. Wann immer die sowjetische Führung einen Modus vivendi mit Bonn anstrebte, hielt die östliche Seite Ruhe in Berlin, so in der Spätzeit Chruschtschows oder im Dezember 1966. Hochgespielt dagegen wurde die Berlin-Frage, wenn die Männer im Kreml allgemein ihre Attacken gegen die Bundesrepublik Deutschland konzentrierten. Am deutlichsten trat dies von Anfang 1967 bis Mitte 1968 in Erscheinung. Schließlich richtete sich die sowjetische Berlin-Politik danach, wie diese am besten in die globale Interessenwahrnehmung der UdSSR hineinzupassen schien. So scheute sich die sowjetische Führung im Jahre 1966, die Berlin-Polemik international zu akzentuieren, weil sie zunächst fürchtete, den Angriff auf den Status guo in West-Berlin nicht als einen Beitrag zur europäischen Sicherheit rechtfertigen zu können. Der Abbruch der politischen Berlin-Offensive im Februar 1969 im Hinblick auf die westliche Reaktion hatte seinen Grund mit in der Erwägung, daß die UdSSR, in eine sich verschärfende Konfrontation mit China verstrickt, sich ein gespanntes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika nicht leisten könne. Seither sucht die sowjetische Seite einerseits den Eindruck ihrer Entspannungsbereitschaft auch in den Berliner Fragen zu erzeugen und andererseits die DDR, die hierüber unruhig zu werden beginnt, der fortdauernden Solidarität hinsichtlich West-Berlins zu versichern
Ulbricht hat auf die Berlin-Politik seines sowjetischen Verbündeten keinen direkten Einfluß, zumindest soweit nicht nur Worte, sondern auch Festlegungen und Taten involviert sind. Was gegenüber West-Berlin geschieht, wird ausschließlich unter den Gesichtspunkten des sowjetischen Interesses in Moskau festgelegt. Die Führer der DDR werden mit ihren Berlin-Ambitionen entweder zurückgehalten oder in bestimmten, genau bezeichneten Grenzen freigelassen
Die Berlin-Politik der DDR und die kleineren Warschauer-Pakt-Staaten
Die West-Berlin-Ambitionen der DDR geben der Sowjetunion die Möglichkeit, nach Bedarf Spannungen zu erzeugen. Den anderen War-schauer-Pakt-Staaten ist das wenig angenehm. Spannungen, zumindest in akuter Form, sind allgemein unerwünscht. Alle osteuropäischen Länder wollen Konfliktrisiken aus dem Wege gehen, die Rüstungslasten möglichst niedrig halten und keinen Anlässen ausgesetzt sein, die Moskau als Grund für das Verlangen nach schärferer Blockdisziplin dienen könnten. Viele Staaten sind darüber hinaus an wirtschaftlichem Austausch und wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit Westeuropa einschließlich der Bundesrepublik Deutschland stark interessiert. Spannungen um Berlin drohen, allen diesen Belangen Schaden zuzufügen. Wie lebhaft derartige Zusammenhänge empfunden werden, hat sich beispielsweise daran gezeigt, daß während der Berlin-Kampagne vom Februar 1969 in Prag die Ansicht entstand, die sowjetischen Führer heizten die Krise ausschließlich zu dem Zweck an, um einen plausiblen Vorwand für eine bedingungslose Unterwerfung der Tschechoslowakei unter ihren Willen zu erlangen
Die Berlin-Politik der SED-Führung ist, gerade solange wenig andere Streitfragen aktuell sind, eine deutliche Belastung des Verhältnisses zwischen Polen und der DDR. Das Verhalten der DDR gegenüber West-Berlin tut dem polnischen Interesse, Landwirtschaftsprodukte in die Bundesrepublik Deutschland zu exportieren, schweren Abbruch. Ein Teil der polnischen Lebensmittel, insbesondere die leicht verderblichen Waren, ist vor allem in West-Berlin verkäuflich als einem Gebiet, das des Hinter-landes entbehrt und den Grenzen Polens näher liegt als denen der Bundesrepublik Deutschland. Die Behörden der DDR fügen nun dem polnischen West-Berlin-Handel durch Erschwernisse und Schikanen aller Art immer wieder erhebliche Verluste zu. Gomulka scheint zwar gewillt, die entstehenden Ausfälle als politische Kosten hinzunehmen
Es gehört zu den Spielregeln des Warschauer Paktes, in der Berlin-Frage eine Position der Solidarität mit der DDR einzunehmen. Trotzdem sind gelegentlich Anzeichen für Diver-genzen an die Öffentlichkeit gedrungen. Als die sowjetische Führung und das SED-Regime im Frühjahr 1968 die Auseinandersetzungen um Berlin krisenhaft zuspitzten, tauchte in der — von den Fesseln einer offiziellen Sprachregelung befreiten — tschechoslowakischen Publizistik die Formel von der Viermächte-
Was Verantwortung für Berlin auf
Solange die sowjetische Führung das SED-Regime hinsichtlich West-Berlin unterstützt, können die Regierungen der anderen War-schauer-Pakt-Staaten sich der offiziellen Solidarität mit DDR nicht entziehen. Mit sowjetischer Hilfe kann Ulbricht das Verhalten seiner Verbündeten so weit beeinflussen, daß sie zu seiner Minimalsolidarität genötigt sind.
Das gilt sogar für Rumänien. Aber je mehr die Berlin-Politik der Sowjetunion und der DDR den Entspannungsinteressen der Allianzpartner zuwiderläuft, desto stärker regt sich untergründiger Unwille. Eine Berlin-Regelung, die den Konflikt dauernd ausräumen würde und zugleich ehrenhaft für die östliche Seite wäre, würde in den kleineren osteuropäischen Ländern gern gesehen werden. Die Frage ist nur, wie die West-Berlin-Ambitionen der DDR und das sowjetische Interesse an dem Vorhandensein eines Spannungspotentials in Berlin (im Hinblick sowohl auf die Abhängigkeit der DDR als auch auf die Möglichkeit antibundesdeutscher Pressionen) zu einer solchen Berlin-Regelung führen könnten.
Die Normenorientierung in der deutschen Frage
Die Lösung der deutschen Frage durch einen Zusammenschluß der deutschen Teilgebiete gilt heute auch in Osteuropa als eine Angelegenheit ohne aktuelle Bedeutung. Dennoch ist es nicht unwichtig zu wissen, welche Vorstellungen darüber herrschen, wie das Schicksal Deutschlands aussehen sollte, wenn in gewünschten gestaltet es der Weise werden könnte.'Da es sich dabei um normative Vorstellungen handelt, die sich unter den gegebenen Umständen nicht in praktische Ziele umsetzen, sondern nur eine allgemein-orientie-rende Funktion haben können, sollen sie mit dem Ausdruck „Normenorientierung" bezeichnet werden. Die Normenorientierung der DDR und der Sowjetunion läßt sich an zwei maßgeblichen Stellungnahmen zur deutschen Frage ablesen
Die SED-Führung sieht sich dem Problem gegenüber, daß sie — in Anbetracht des derzeitigen politischen Übergewichtes der Bundesrepublik Deutschland — nicht einfach den Zusammenschluß der deutschen Teilgebiete als Wunschvorstellung proklamieren kann. Daher wird mit der Begründung, in Westdeutschland herrschten „reaktionäre" Verhältnisse, als Standpunkt von „Demokraten und Sozialisten" über die Bundesrepublik Deutschland das Urteil gefällt: „Nicht wiedervereingungsfä-hig!"
Die politische Defensive, die den Beherrschern der DDR durch die Machtverhältnisse gegenwärtig aufgenötigt ist, wird ergänzt durch die Zukunftsvision eines gesamtdeutschen Zusammenschlusses zu den Bedingungen der SED-Führung. Was „am Ende des zweiten Weltkrieges nicht gelang", nämlich „dem deutschen Imperialismus ein für allemal ein Ende zu machen", das bleibt für Ost-Berlin auch weiterhin „als Aufgabe bestehen". Geleitet von den unerbittlichen Kriterien des kommunistischen Klassenkampfes, muß jeder Deutsche, der „seinen richtigen Platz im Ringen um die Zukunft der Nation finden" will, stets wissen: „Die deutsche Frage lösen, heißt den Imperialismus überwinden."
In sowjetischer Sicht kommt der DDR eine vielfältige „internationale Bedeutung" zu: 1. Die DDR ist „der Hort des Sozialismus auf dem Boden des zahlreichsten unter allen Völkern Mittel-und Westeuropas". 2. Die Existenz der DDR ist besonders wichtig „unter dem Gesichtspunkt der Friedenssicherung und der europäischen Sicherheit", denn Ost-Berlin führt, gestützt auf die Macht des Warschauer Paktes und namentlich der Sowjetunion, „den Kampf gegen die [westdeutsche] Revanchepolitik und verteidigt auf diese Weise sowohl die Interessen der deutschen Nation als auch die Interessen des gesamteuropäischen Friedens". 3. Die DDR ist „der wahre Vertreter der nationalen Interessen des deutschen Volkes, das auf brennendste Weise daran interessiert ist, dem Krieg und den Zerstörungen zu entgehen, die bei einem Raketen-Nuklear-Krieg unvermeidlich wären". 4. Die DDR ist „ein wichtiger Vorposten der gesamten Gemeinschaft der sozialistischen Staaten, aller Kräfte des Sozialismus im weltweiten antiimperialistischen Kampf". 5, Die DDR füllt einen bedeutsamen „Platz im sozialistischen System" als Mitglied des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe und als größter Handelspartner der Sowjetunion aus.
6. „Ohne Beteiligung und Zustimmung der DDR" als dem „legitimen Repräsentanten der deutschen Nation" ist „eine Lösung der sogenannten deutschen Frage völlig undenkbar"
Wenn man die der DDR zugewiesenen außen-politischen Funktionen näher betrachtet, fällt auf, daß sie alle außer der letzten die Stärkung des sowjetischen Lagers und die Konfrontation zum Westen, insbesondere zur Bundesrepublik Deutschland, zum Inhalt haben
Die sowjetische Politik der europäischen Sicherheit erklärt die „Zügelung des westdeutschen Revanchismus" zum vorrangigsten Erfordernis. Die propagandistischen Parolen und Erläuterungen hierzu suggerieren der europäischen Öffentlichkeit in Ost und West, daß die entscheidende Garantie der europäischen Sicherheit in der Gegnerschaft der DDR gegen die Bundesrepublik Deutschland und in der Fortdauer der deutschen Teilung bestehe. Es wird die These vertreten, daß der gegenwärtige Stand des deutschen Problems keineswegs eine Gefahr für den Frieden darstelle, vielmehr sei das Gegenteil der Fall, denn die geschichtliche Erfahrung beweise, daß Deutschland immer nur als staatliche Einheit zu einer Bedrohung der europäischen Völker geworden sei. Diese Argumentationslinie läßt nur den Schluß zu, daß die sowjetischen Führer ein wiedervereinigtes Deutschland, und sei es unter kommunistischer Führung, nicht wollen. Eine solche Orientierung steht im diametralen Gegensatz zu den sowjetischen Bemühungen um die deutsche Einheit in der späten Stalin-Zeit.
Freilich haben sich seither die außenpolitischen Bedingungen radikal verändert. Der Kollaps des SED-Regimes am 17. Juni 1953 hat Moskau gezeigt, daß es die Stärke der kommunistischen Positionen in Deutschland stark überschätzt hatte. Der Differenzierungsprozeß unter den kommunistischen Staaten und Parteien, der seit 1956 eingesetzt hat, stellt Stalins Prämisse einer selbstverständlichen sowjetischen Disziplin im Weltkommunismus immer mehr in Frage. Im Zuge des Konfliktes mit China haben die sowjetischen Führer die Erfahrung machen müssen, daß die Existenz eines kommunistischen „Bruderstaates", vor allem wenn dieser groß und stark ist, keineswegs stets einen Vorteil für die UdSSR darstellt. Abweichungstendenzen, wie sie sich in verschiedener Weise in so kleinen Ländern des sowjetischen Hegemonialbereichs wie Rumänien und der Tschechoslowakei entwickeln konnten, lassen in Moskau vermutlich die Aussicht auf ein starkes und selbstbewußtes kommunistisches Gesamtdeutschland an der Stelle der schwachen und abhängigen DDR wenig anziehend erscheinen. Die sowjetischen Führer versprechen sich offensichtlich wenig Gutes von einer gesamtdeutschen Dynamik, in welche Richtung sie auch immer laufen würde. Unkontrollierbare Risiken und das Fehlen überzeugender Erfolgsperspektiven sind die unerwünschten Resultate, die unter dem Gesichtswinkel der sowjetischen Staatsinteressen zu erwarten stünden. Die sowjetische Deutschland-Politik der letzten Jahre deutet darauf hin, daß die Männer im Kreml unter den gegebenen Umständen die ideale Lösung der deutschen Frage in dem Nebeneinander einer relativ gestärkten DDR und einer wesentlich geschwächten, vom westlichen Bündnis gelösten und sowjetischen Einmischungen offenen Bundesrepublik Deutschland sehen würden.
Unter den kleinen Warschauer-Pakt-Staaten ist die Befriedigung über den Zustand der deutschen Teilung allgemein. Die deutsche Macht, die in der Vergangenheit oft genug nach Osteuropa ausgegriffen hat, ist nunmehr gespalten und zugleich durch die Feindschaft der beiden deutschen Staaten gegeneinander weithin neutralisiert. Es besteht keine Neigung, an der Stelle der beiden deutschen Staaten ein mächtiges kommunistisches Gesamtdeutsch-land zu haben, denn einem solchen würde, ungeachtet aller ideologischen Thesen von der Friedlichkeit und Nicht-Bedrohlichkeit eines „sozialistischen Bruderlandes", ein erneutes Geltendmachen seiner Macht zugetraut. Am wenigsten wünscht Polen einen gesamtdeutschen Staat an seinen Grenzen, auch wenn dieser zur „sozialistischen Gemeinschaft" gehören würde. Die Fortdauer einer möglichst scharfen gesamtdeutschen Konfrontation erscheint daher im polnischen Interesse. Etwas weniger hart sind die tschechoslowakischen Politiker, vor allem soweit sie auf seifen des Reformkommunismus stehen. Auch ihnen gilt die deutsche Teilung als eine unaufgebbare Errungenschaft, doch bewerten sie das Konflikt-risiko, das sich für die Nachbarländer aus den gesamtdeutschen Spannungen ergibt, sehr viel höher. Daher zeigen sie sich an einer Normalisierung der Beziehungen zwischen den deutschen Teilgebieten interessiert. Je weniger orthodox die Funktionäre denken, desto stärker rückt dabei die menschliche Seite der Teilung — statt der formalrechtlichen Forderungen des SED-Regimes — in den Vordergrund. Die Warschauer-Pakt-Staaten auf dem Balkan würden ebenfalls eine entspannte Koexistenz der beiden deutschen Staaten und West-Berlins begrüßen. Wie diese zustande kommen und aussehen könnte, wird für relativ unwichtig erachtet.
Die SED-Führung besitzt auf die Normenorientierung der anderen Warschauer-Pakt-Staaten in der deutschen Frage praktisch überhaupt keinen Einfluß. Die ideologisch-politische Solidarität veranlaßt zwar die Verbündeten der DDR dazu, sich für eine Konsolidierung der DDR gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zu erklären, aber nicht dazu, ihre eigenen Interesseneinschätzungen bezüglich Deutschlands zugunsten der gesamtdeutschen Wunschvorstellungen der SED zu vernachlässigen. Grundsätzlich erscheint in den osteuropäischen Hauptstädten der Zustand der deutschen Teilung als eine befriedigende Regelung, die nicht mehr in Frage gestellt werden sollte. Was die gesamtdeutschen Fernziele anbeiangt, ist das SED-Regime unter seinen Verbündeten isoliert. Daran wird sich in voraussehbarer Zukunft auch kaum etwas ändern. Es erschiene allenfalls möglich, daß die Sowjetunion wieder zur Unterstützung der Ost-Berliner Wiedervereinigungshoffnungen zurückkehren könnte, wenn sich die Risiken eines Konfliktes in Deutschland drastisch verringern sollten und wenn die Unterordnung der kommunistischen Länder unter Moskau wieder zu der gleichen Selbstverständlichkeit wie zu Zeiten Stalins werden sollte. Es mag aber fraglich sein, ob derartige Veränderungen zu erwarten sind.
Fazit
Das Verhältnis der DDR zu den anderen War-schauer-Pakt-Staaten in Sachen Deutschland-politik wird durch das Ost-Berliner Konfrontationspostulat gegenüber der Bundesrepublik Deutschland und den Willen des SED-Regimes zur Überwindung des anderen deutschen Staates entscheidend bestimmt. Im Unterschied zur DDR betrachten die anderen kommunistischen Länder Osteuropas den Status quo der deutschen Teilung als etwas unwiderruflich Festgelegtes und wollen das Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland innerhalb relativ weit gesteckter Grenzen variabel nach ihren jeweiligen nationalen Bedürfnissen gestalten. Die SED-Führung dagegen bemüht sich, ihre Verbündeten möglichst eng auf ihren Kurs des gesamtdeutschen „Klassenkampfes" zu verpflichten. Die sowjetischen Führer halten, ohne sich mit den gesamtdeutschen Wünschen ihres Ost-Berliner Partners zu identifizieren, die politische Linie der SED über lange Zeitabschnitte hinweg für wünschenswert. Die DDR wird dann als ein wohlerwogenes Spannungsmoment in die Gleichungen der sowjetischer Außenpolitik eingefügt — vielfach zum Miß vergnügen anderer Warschauer-Pakt-Staaten die den betreffenden Spannungen nur Nach teile abgewinnen können. Solange die sowje tischen Führer ihre Autorität hinter das SED Regime stellen, kann dieses die Politik vielei verbündeter Regierungen in der Deutschland-Frage im antibundesdeutschen Sinne beeinflussen. Die Männer im Kreml halten sich jedoch für den Fall, daß ihnen eine veränderte Weltlage eine andere Einschätzung ihrer Interessen nahelegt, die Option einer den Ost-Ber liner Vorstellungen zuwiderlaufenden Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland offen. Es ist zwar keineswegs anzunehmen, daß eine derartige Zusammenarbeit jemals an der Existenz der DDR rütteln könnte, doch erscheint den Leitern der DDR-Politik bereits ein Verlust der sowjetischen Unterstützung für ihren Konfrontationskurs bedrohlich genug.