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Aus der Chronik des Nobelpreises für Carl von Ossietzky | APuZ 40/1969 | bpb.de

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APuZ 40/1969 Aus der Chronik des Nobelpreises für Carl von Ossietzky

Aus der Chronik des Nobelpreises für Carl von Ossietzky

Hilde Walter

Carl v. Ossietzky, geb. 3. Okt. 1889, gest. 4. Mai 1938 an den Folgen der Mißhandlungen im KZ Dreimal in 69 Jahren wurde ein Deutscher zum Träger des Friedenspreises der Nobelstiftung ernannt; zweimal in Teilungs-Gemeinschaft mit einem congenialen Franzosen: Gustav Stresemann und Aristide Briand bekamen „je zur Hälfte" den Preis für 1926, und schon im folgenden Jahr brachte der internationale Verständigungswille deutsch-französischer Prägung den pazifistischen Professoren Ludwig Quidde und Ferdinand Buisson, die auch als Organisatoren erfolgreich waren, die beiden Hälften des 1927 fälligen Friedenspreises.

Zum Tode des ersten Laureaten schrieb der Publizist Carl von Ossietzky 1929 in der politischen Wochenschrift „Die Weltbühne": „Deutschland hat, nach Jahrzehnten, eine weit über den Durchschnitt reichende politische Begabung gehabt, und jetzt wird wieder große Pause sein."

Der Autor dieser pessimistischen Prognose war als militanter Verteidiger der parlamentarischen Demokratie und erfahrener Interpret der ungefestigten außenpolitischen Situation Deutschlands zu der Überzeugung gelangt, daß verantwortliche Staatsmänner, denen Stresemanns Begabung fehlte, seit Jahren zu wenig gegen „die Suprematie der Militärs in der Politik" unternommen und versäumt hätten, „die Autorität des bürgerlichen Staates im militärischen Ressort zu sichern".

Objekt der aktuellen journalistischen Kritik, die unter Ossietzkys politischer Leitung und presserechtlicher Verantwortung in der „Weltbühne" publiziert wurde, war häufig der heiß umstrittene illegale Machtbereich des Reichswehrministeriums, den spätere Politologen und Historiker genauer als die Zeitgenossen erforscht und beschrieben haben: . . in den Jahren 1924/25 (kehrte man) wieder zu dem Plan der langfristigen illegalen Rüstungsvorbereitungen zurück. . . . Doch Stresemann, der hierin mit Recht eine Gefährdung seiner Außenpolitik erblickte, opponierte, und so blieb Seeckt, da er auf Rüstungsvorbereitungen nicht ganz verzichten wollte, nur die Möglichkeit, sie in rudimentärer Form fortzusetzen. Dies und eine Reihe von öffentlichen Skandalen — Fememordprozesse, Scheidemanns Enthüllungen über die Rußlandpolitik, Phoebus-Skandal — die in den Jahren 1926 bis 1928 die geheimen Machenschaften der Reichswehrführung und ihre innen-wie außenpolitische Problematik enthüllten, führten zu der erwähnten Krise der Rüstungsmaßnahmen. Aber inzwischen war Schleicher zum Leiter der Reichswehrpolitik aufgestiegen. . . . Reichsregierung und Parlament waren auf Grund jener Skandalaffairen aus ihrer Lethargie erwacht, und so stieß die von Gröner und Schleicher ausgehende Initiative [zur geheimen Aufrüstung der Reichswehr — H. W. j mit einer entgegengesetzten von ziviler Seite zusammen."

Als die „Weltbühne" im letzten Lebensjahr Stresemanns einen Aufsatz über diese Kontroversen veröffentlichte und das illegale Bündnis der Reichswehr mit Stalins Roter Armee glossierte, beschloß der Reichswehrminister Wilhelm Gröner, weitere Diskussionen über kompromittierende Details still und unauffällig durch eine Strafanzeige wegen angeblichen Landesverrats zu verhindern.

Nach dem Tod seines preisgekrönten Kabinetts-Kollegen vom Auswärtigen Amt konnte Gröner unter der neuen politischen Konstellation schließlich im Laufe von zwei Jahren — fast drei Jahre nach der ersten „spontanen" Anschuldigung — erreichen, daß Carl von Ossietzky als verantwortlicher Redakteur der „Weltbühne" und sein Mitarbeiter als Verfasser des Aufsatzes vom Reichsgericht in Leipzig am 23. November 1931 zu einer ungewöhnlich harten und diffamierenden Strafe verurteilt wurden 1a). Ossietzkys Haltung als höchst gefährdetes Opfer und überlegener Kritiker einer objektiv anfechtbaren Judikatur wurde am Vorabend der deutschen Katastrophe leuchtendes Beispiel konsequenter Zivilcourage.

Genau fünf Jahre nach Wilhelm Gröners siegreicher Justiz-Schlacht von Leipzig wurde in Oslo am 23. November 1936 zum dritten Mal ein Friedenspreis der Nobelstiftung — der Preis für 1935 — einem Deutschen verliehen; diesmal „ungeteilt"!

Der neue und dritte deutsche Laureat hieß Carl von Ossietzky.

„Die Weltbühne" unter Ossietzky

„Die Weltbühne", eine unabhängige Wochenschrift „für Politik, Kunst und Wirtschaft", ist nur von 1918 bis 1933 in Berlin erschienen; ihr Herausgeber und Verleger, der geniale Berliner Theaterkritiker Siegfried Jacobsohn, hatte seine 1905 begründete Zeitschrift „Die Schaubühne" im April 1918 mit neuem Namen in ein politisches Magazin umgewandelt. Unter seiner redaktionellen Leitung erschienen 1925 die ersten Berichte von Carl Mertens über Fememorde der Schwarzen Reichswehr.

Carl von Ossietzky begann im April 1926, die wöchentlichen Leitartikel für die Weltbühne zu schreiben; er übernahm die presserechtliche Verantwortung Ende des Jahres, als Jacob-sohn starb und sein Mitarbeiter Kurt Tucholsky Herausgeber und Chefredakteur wurde. Vor dieser lästigen Bindung, die seine schriftstellerische Produktion hemmte, floh Tucholsky ein halbes Jahr später nach Paris; daß er die Leitung des Blattes aufgegeben und Ossietzky am 2. Mai 1927 überlassen hatte, wurde aus Furcht vor Leserschwund erst im Herbst bekanntgegeben. Vom 11. Oktober 1927 bis zum bitteren Ende im März 1933 stand auf dem ziegelroten Umschlag: „Begründet von Siegfried Jacobsohn. Unter Mitarbeit von Kurt Tucholsky geleitet von Carl von Ossietzky."

Das viel bewunderte und viel gescholtene Blatt meldete in seiner erfolgreichsten Zeit eine Auflage von 18 000 Exemplaren, was wohlwollende Freunde noch für übertrieben hielten.

Ossietzky leitete die Redaktion als toleranter Koordinator gesinnungsverwandter Meinungen, die er nicht ausnahmslos billigte, aber vertretbar fand.

In seinen Kommentaren zur Außenpolitik empfahl er „die ungebrochene Linie einer pedantischen Redlichkeit" und unzweideutigen Verzicht auf den deutschen Ehrgeiz, Bismarcks virtuoses Spiel mit mehreren Bällen zu wiederholen. Versuche, „die Westmächte durch Verbrüderung mit dem roten Mann zu erschrecken", hielt er in jeder noch so anziehenden Verkleidung für die gefährlichste außenpolitische Entgleisung. Für seine Weltvorstellung plädierte er in Leitartikeln und Glossen mit einem außergewöhnlichen Rüstzeug von geistiger Unabhängigkeit und stilistischem Glanz. Er kämpfte als Einzelgänger ohne Bindung an Dogmen, am liebsten an der Seite der Linken, aber auch oft und unbestechlich, falls es notwendig war, als ihr beredter Ankläger. Ossietzky war für die Solidarität der Linken, die ihre erstarrten Parteifronten durchbrechen sollte, um der deutschen Republik durch bewegliche, undogmatische praktische Politik ein kraftvolles anziehendes „Cartel de gauche" zu bescheren. Zu diesem Wunschtraum paßte seine Vorliebe für den „Citoyen", dessen Vorzüge er sich gern in einer glücklichen Mischung von lateinischen und preußischen Tugenden ausmalte; diese Gestalt war ihm lieber als „Spartakus mit gestärktem Vorhemd und Thermosflasche in der Aktenmappe".

Der Landesverrats-Prozeß

Die Vorgeschichte eines lebensgefährlichen Weltruhms, den Carl von Ossietzky weder ge-sucht noch erwartet hatte, begann mit der Veröffentlichung eines Artikels über „Windiges aus der deutschen Luftfahrt" in der Weltbühne vom 12. März 1929; der Autor Walter Kreiser, ein gelegentlicher Mitarbeiter, zeichnete den Aufsatz mit seinem Pseudonym Heinz Jäger. Er schilderte die schwer durchschaubare Subventionspraxis des Reichsverkehrsministeriums auf dem Gebiet der Flugzeugindustrie und die Mitwirkung des Reichswehrministe-B riums bei der kostspieligen Finanzierung von wirtschaftlich unrentablen Industriefirmen, die getarnte militärische Aufgaben erfüllten. Aus der umfangreichen Polemik war die Erkenntnis abzuleiten, daß Reichsbehörden mit Steuergeldern, die zur Förderung der zivilen Luftfahrt bestimmt waren, den geheimen Bau von Militärflugzeugen ohne Genehmigung des Reichstags finanzierten und die fertiggestellten Maschinen ebenfalls eigenmächtig und geheim — unter der Regie des Reichswehrministeriums — zur Erprobung in die Sowjetunion schickten.

Ossietzky war auf die üblichen Beleidigungsklagen der kritisierten Behörden vorbereitet; aber Wilhelm Groener wollte härter zufassen und ließ durch sein Ministerium Anzeige wegen Landesverrat erstatten; der Oberreichsanwalt ging noch weiter, indem er die angeschuldigten Publizisten — Kreiser als Autor und Ossietzky als verantwortlichen Redakteur — wegen Landesverrats und Verrats militärischer Geheimnisse unter Anklage stellte.

Ossietzky wurde durch diesen „Einbau des Spionageparagraphen", der mit rigorosen Schweigepflichten verbunden war, um die öffentliche Erörterung des bevorstehenden Strafverfahrens gebracht.

Die Weltbühne hatte mit ihrer Veröffentlichung weder ein militärisches Geheimnis verraten noch ein schutzwürdiges Staatsinteresse der Republik preisgegeben; die geschilderten Tatsachen waren schon ein volles Jahr vor dem Erscheinen des inkriminierten Artikels im Budget-Ausschuß des Reichstags erörtert worden, als der sozialdemokratische Abgeordnete Krüger im Auftrage seiner Fraktion die illegale Verschwendung von Steuergeldern kritisiert hatte. Das konnte jeder Interessent im gedruckten Protokoll des Ausschusses für den Reichshaushalt lesen.

Nach der Eröffnung des. Hauptverfahrens Anfang März 1931 — 23 Monate nach Erscheinen des Artikels — durfte die Weltbühne wenigstens den Prozeß ankündigen und dazu erklären, daß er von grundsätzlicher Bedeutung für die Publizistik sei; die Angeklagten hätten bestritten, sich gegen das Gesetz vergangen zu haben; der Artikel habe ausschließlich etatkritische Zwecke verfolgt, und es habe sich um alte, bekannte Tatsachen gehandelt.

Das Verbot, den Stoff des Verfahrens zu erörtern, umging Ossietzky in „grundsätzlichen Bemerkungen zu dieser Art von Prozessen"

Die Quintessenz seines Rückblicks lautete: „Es hat bisher kein sogenanntes militärisches Geheimnis gegeben, das nicht im Ausland von vornherein bekannt gewesen wäre, auch ohne das Zutun von Pazifisten. Woran den Herren in der Bendler-Straße und der ihnen freiwillig subordinierten Reichsanwalt^chaft liegt, das ist nicht die Sorge vor dem Ausland. Viel wichtiger ist ihnen, daß der deutsche Staatsbürger, der deutsche Steuerzahler, nichts von Extra-gängen erfährt, deren materielle und moralische Konsequenzen er zu tragen hat."

Bei der Hauptverhandlung in Leipzig schloß der Vierte Strafsenat des Reichsgerichts vor derBeweisaufnahme die Presse und die Öffentlichkeit aus. Am 23. November 1931 wurde das Urteil verkündet: „Die Angeklagten werden wegen Verbrechens nach § 1, Absatz 2, des Gesetzes gegen Verrat militärischer Geheimnisse vom 3. Juni 1914 ein jeder zu einem Jahr sechs Monaten Gefängnis und zur Tragung der Kosten des Verfahrens verurteilt. Die Nr. 11 der Weltbühne Jahrgang 1929, ebenso wie die zu ihrer Herstellung notwendigen Platten und Formen sind unbrauchbar zu machen."

Die unrevidierbare Entscheidung des Vierten Strafsenats, der erste und letzte Instanz war, diktierte eine härtere Strafe als jedes andere Urteil, das zuvor über Journalisten wegen Landesverrats verhängt worden war. Kommentare in wichtigen ausländischen Zeitungen werteten das Leipziger Urteil als jüngsten eklatanten Beweis für Deutschlands vertragswidrige Aufrüstung und bedenkliches Anzeichen für zunehmende Einschränkungen der deutschen Pressefreiheit.

Maßgebende deutsche liberale und sozialdemokratische Blätter unterliefen das totale Schweigegebot und kritisierten den Prozeß nach allen Regeln der alten Kunst, behördlich gesperrte Nachrichten risikolos unter dem Deckmantel von allgemein gehaltenen ausführlichen Betrachtungen und scheinbar harmlosen rethorischen Fragen zu verbreiten. Gegen das unkontrollierbare Verfahren „in einer Dunkelkammer" protestierten sie deutlich im Interesse der Pressefreiheit und voller Sorge über den fatalen Eindruck, den ausländische Beobachter von der Affäre gewonnen hätten. Die harte Bestrafung aufgrund des Spionageparagraphen wurde als ungerechtfertigte Verfemung der Verurteilten bezeichnet,

Im Plenum des Reichstags brachte die sozialdemokratische Fraktion eine Interpellation ein, die Auskunft über die Haltung des Auswärti-gen Amtes zu dem Strafverfahren und Bekanntgabe der geheimgehaltenen Urteilsbegründung verlangte.

Ossietzky wollte versuchen, sich und Kreiser moralisch und juristisch zu rehabilitieren und im Protest gegen das diffamierende Urteil alle legitimen publizistischen und politischen Mittel anwenden; er mußte darauf verzichten, weil sich Kreiser, der zunächst einverstanden war, plötzlich zur Flucht nach Frankreich entschloß. Walter Kreiser hat dort sein brieflich abgegebenes Versprechen, „draußen" nichts über die gemeinsame Sache ohne Einverständnis seines in Deutschland gebliebenen Mitverurteilten zu publizieren, gebrochen und Ossietzky durch „Enthüllungen", die im Echo de Paris publiziert wurden, empfindlich geschädigt

Am 10. Mai 1932 ging Carl von Ossietzky ins Gefängnis; sein 21 Seiten umfassender Abschieds-Leitartikel „Rechenschaft", der am gleichen Tag erschien, gab auch Antwort auf die hundertfach an ihn gestellte Frage, warum er nicht ins Ausland fliehe. „. .. ich gehe nicht aus Gründen der Loyalität ins Gefängnis, sondern weil ich als Eingesperrter am unbequemsten bin. Ich beuge mich nicht der in roten Sammet gehüllten Majestät des Reichsgerichts, sondern bleibe als Insasse einer preußischen Strafanstalt eine lebendige Demonstration gegen ein höchstinstanzliches Urteil, das in der Sache politisch tendenziös erscheint und als juristische Arbeit reichlich windschief." „Das Reichsgericht hat mich vorsorglich in unangenehmster Weise abgestempelt. Landes verrat und Verrat militärischer Geheimnisse — das ist eine höchst diffamierende Etikette, mit der sich nicht leicht leben läßt. Geht man damit ins Ausland, so wird die gesamte Rechtspresse aufjubeln: Zum Feind geflohen! Und manche von den Leichtschwankenden werden die Achseln zucken: es muß doch etwas an der Sache sein! Der Oppositionelle, der über die Grenze gegangen ist, spricht bald hohl ins Land herein. Der ausschließlich politische Publizist namentlich kann auf die Dauer nicht den Zusammenhang mit dem Ganzen entbehren, gegen das er kämpft, für das er kämpft, ohne in Exaltationen und Schiefheiten zu verfallen. Wenn man den verseuchten Geist eines Landes wirkungsvoll bekämpfen will, muß man dessen allgemeines Schicksal teilen." „Die , Weltbühne'hat immer eine ganz bestimmte und deutlich gezeichnete Haltung eingenommen, und daraus ergibt sich für sie eine besonders verpflichtende Bindung an jene, die auf sie hören und die an sie glauben. Ihre Stimme kann nur Klang behalten, wenn ihr verantwortlicher Herausgeber seine ganze Person einsetzt und dann, wenn es ungemütlich wird, nicht die bequemere Lösung wählt, sondern die notwendige."

Der tapfere Entschluß zur unbequemen Lösung brachte Ossietzky die angestrebte Ehrenrettung, als Überzeugungstäter — nicht als Verbrecher — verurteilt zu sein, und außerdem die vorzeitige Entlassung aus dem Gefängnis: Als im Reichstag die übliche Weihnachts-Amnestie im Dezember 1932 beraten wurde, forderte die sozialdemokratische Fraktion mit Erfolg die Annahme einer Zusatzklausel zugunsten des „Landesverräters", der „nicht aus Eigennutz" gehandelt hatte.

Achtundsechzig Tage in Freiheit

Ossietzky war frei und moralisch rehabilitiert, nachdem er nur siebeneinhalb Monate von den zudiktierten achtzehn verbüßt hatte.

Der Heimkehrer aus der Isolierung beobachtete mit brennender Sorge neue Informationen über das gefährlicher gewordene Doppelspiel kommunistischer Parteiführer, die — offenbar auf Befehl aus Moskau — entschlossen waren, Hitlers Machtübernahme zu fördern, weil die nationalsozialistische Diktatur in maßgebenden sowjetischen Gremien als der kürzeste, absolut sichere Weg zur Vormachtstellung der KPD galt.

Ossietzky hatte im Januar 1933 keinen Zweifel, daß es den regierenden „Kavalieren" gelungen war, den bürgerlichen Staat, die demokratische Republik, „zu Tode zu manövrieren". über den kurzen journalistischen Kampf gegen das beginnende Hitlerregime nach seiner Rückkehr berichtet Raimund Koplin in „Carl von Ossietzky als politischer Publizist" — der einzigen erschöpfenden Darstellung und wissenschaftlichen Analyse von Ossietzkys journalistischem Lebenswerk — im Kapitel „Letzte publizistische Arbeiten" „Carl von Ossietzky hatte sich über die allen historischen Erfahrungen spottende moralische Verkommenheit und den verbrecherischen ‘Charakter der Hitlerbewegung niemals Illusionen gemacht; doch vermochte auch er das wahre Ausmaß des über Deutschland hereingebrochenen Verhängnisses nicht zu erkennen." Mitte Februar erfuhren viele prominente Politiker und Publizisten — darunter auch Carl von Ossietzky —, daß ihre Namen auf Verhaftungslisten stünden, die von den Nazis „für später" vorbereitet würden. An welchem Tage X die künftigen Häftlinge abgeholt werden sollten, blieb unbekannt. Ossietzky teilte mit mehreren Journalisten die Ansicht, daß Hitler, Göring und Frick ihre rigorosen Pläne zur Ausschaltung der gesamten Opposition frühestens sofort nach den Neuwahlen vom 5. März 1933 realisieren könnten.

Er unterschätzte aber die Nützlichkeit der naheliegenden Zwischenlösung, sich im Februar 1933 — wie viele andere „Gewarnte" und „Gefährdete" — durch häufigen Quartier-wechsel oder kurze Reisen gegen überraschende Abholung zu sichern. Ossietzky konnte weder untertauchen noch „schleunigst" abreisen, weil er seine Frau, die schon seit mehr als zwanzig Jahren an zunehmender Trunksucht litt, jetzt nicht mehr allein lassen wollte; langfristige Erleichterungen dieser prekären Lage konnte der besitzlose Mann mit dem allzu bescheidenen Monatsgehalt nicht finanzieren.

Die erste Meldung vom brennenden Reichstagsgebäude hörte Ossietzky während eines freundschaftlichen Besuchs in der Wohnung der jungen Architektin Gusti Hecht, die im Verlag Rudolf Mosse seit 1931 Chefredakteurin aller illustrierten Wochenblätter war. Zu ihr kam an diesem Abend auch Oskar Stark vom Berliner Tageblatt; er wurde als Chef vom Dienst und Stellvertreter des Chefredakteurs Theodor Wolff in der Brandnacht aus der Redaktion angerufen, sobald dort alarmierende Informationen vorlagen, die der Rundfunk noch nicht verbreitet hatte.

Oskar Stark warnte Ossietzky mit überzeugenden Argumenten vor der Rückkehr in seine Wohnung; Gusti Hecht beschwor den anscheinend Unbelehrbaren, wenigstens in dieser Nacht nicht nach Hause zu gehen. Sie wagte allerdings nicht, mit dem gehemmten und allzu sensiblen Freund in Gegenwart eines Dritten von praktischen Vorschlägen zur provisorischen Überbrückung seines häuslichen Dilemmas zu sprechen. Wie immer verabschiedete sich Ossietzky erst spät in der Nacht mit kunstvoll und witzig persiflierten Redewendungen aus der höfischen Sprache des 18. Jahrhunderts; als die Gastgeberin sich Mühe gab, wie immer über den Spaß zu lachen, war er ihr dankbar für den undramatischen Abschied.

Im Morgengrauen des 28. Februar 1933 wurde Carl von Ossietzky in seiner Wohnung von zwei Polizeibeamten verhaftet.

Auslieferung an die SA

Die sogenannte Schutzhaft sah für ihn noch erträglich aus, als er die bösartigen ersten Verhöre in gefährlicherer Umgebung überstanden hatte und bald in das Spandauer Festungsgefängnis kam. Dort schützte polizeiliche Bewachung die politischen Gefangenen vor SA-Schlägerbanden, die draußen zu mörderischer Menschenjagd ermächtigt waren. Ossietzky konnte in Spandau sogar ermutigende Entlassungen feststellen; Mitgefangene, die er gut kannte, durften die Zitadelle schon im März 1933 verlassen, obwohl auch ihre Namen aut Görings berüchtigter schwarzer Liste gestanden hatten. Dennoch endete das trügerische Provisorium mit Ossietzkys Auslieferung an die SA; sie brachte ihn und andere „schwere Fälle" Anfang April nach Sonnenburg in der Mark, wo das einstmalige Zuchthaus nun unter SA-Regie als Konzentrationslager benutzt wurde.

In Berlin erfuhr jeder, der sich informieren wollte, daß fast alle politischen Gefangenen in den neuen Konzentrationslagern täglich brutal geschunden wurden und viele, die bei SA-Führern als unbekehrbare „Prominente" galten, außer den täglichen Qualen auch noch andere teuflische Mißhandlungen erdulden mußten. Schwerer zu ergründen als die grauenvollen Zustände in den Lagern war der Wahrheitsgehalt von Gerüchten über Erfolge von Entlassungsgesuchen, die von Angehörigen eingereicht und durch wirkungsvolle Interventionen unterstützt wurden. Ein gut informierter Berliner Journalist bemühte sich festzustellen, ob dieser Weg auch für seinen Freund Ossietzky möglich sei; er fand aber keinen konservativen Politiker, einflußreichen Geistlichen oder ansprechbaren hohen Beamten, der bereit gewesen wäre, ein Entlassungsgesuch des verhafteten Herausgebers der Weltbühne zu protegieren.

Die Zeitschrift durfte zum letzten Mal am 7. März 1933 erscheinen und wurde acht Tage später verboten. Verantwortlich für den Inhalt der Weltbühne war damals schon fast ein Jahr lang der junge Schriftsteller Walther Karsch, der seit 1930 der Redaktion angehörte und die presserechtliche Verantwortung 1932 übernahm, als Ossietzky ins Gefängnis ging und in der politischen Leitung des Blattes von seinem alten Lehrmeister Hellmut von Gerlach vertreten wurde. Dem Verbot folgte die gewaltsame Liquidation des Verlages Die bevollmächtigte Geschäftsführerin Hedwig Hünicke und Walther Karsch mußten einem schlagkräftigen Räumungs-Kommando sämtliche Dokumente und Geschäftsbücher ausliefern. Nach der Sperrung aller Konten und Außenstände wurde Hedwig Hünicke immer wieder zu Vernehmungen bestellt; wenn ihre Auskünfte den Untersuchungsbeamten der politischen Polizei — später der Gestapo — nicht genügten, mußte sie auf unangemeldete Hausbesuche gefaßt sein. Die Inquisitoren waren unersättlich, weil sie nicht nur redaktionelle Informationsquellen, interessante Pseudonyme und den finanziellen Status der Firma ergründen, sondern politisch kompromittierende Geldquellen, die tatsächlich niemals existiert hatten, aufdecken wollten.

Es paßte nicht zum nationalsozialistischen Bild der „landesverräterischen" Weltbühne, daß weder der Verlag noch ein Herausgeber oder verantwortlicher Redakteur jemals ausländische Subventionen gesucht oder empfangen hatte.

• Ossietzky erfuhr erst viel später, daß „Hünikkes Geschäftskasse", die seine Familie ernährt und seine Pakete finanziert hatte, leer geworden war; wer ihm aber rechtzeitig helfen wollte, den Terror in Sonnenburg zu überstehen, mußte schleunigst die beginnende Verelendung der haltlos gewordenen Frau mildern und die unversorgte zwölfjährige Tochter Rosalinde vor drohenden Aufsichts-und Vormundschaftsmaßnahmen des Jugendamtes bewahren.

Hedwig Hünicke war bereit, Geldmittel aus Quellen, die keiner Behörde bekannt werden durften, zu beschaffen und eine ganze Serie von streng verbotenen Ubermittlungs-und Verrechnungsmethoden zu praktizieren. Einen Teil der schwierigen Familienfürsorge und der politisch riskanten Auslandskorrespondenz übernahmen zwei Berliner Journalistinnen — Milly Zirker und Hilde Walter —, die zum Mitarbeiterstab der Weltbühne gehört hatten und seit Jahren mit Ossietzky befreundet waren.

Milly Zirker erreichte mit geduldiger Diplomatie, daß sich Maud von Ossietzky freiwillig nach Schlachtensee in ein gutes Privatsanatorium bringen ließ und auch dort zu bleiben versprach, „solange Fräulein Hünickes Geld reicht".

Hilde Walter — die Autorin dieses Berichtes — begleitete die Patientin nach Sonnen-burg, als mehrere Ehefrauen von Gefangenen — darunter auch Frau von Ossietzky — am 10. oder 12. Mai die erste Besuchserlaubnis bekommen hatten.

Im KZ Sonnenburg

Wie in anderen Lagern, war auch in Sonnen-burg den Torwächtern streng untersagt, „Begleitpersonen" durchzulassen, die keine polizeilich abgestempelte Genehmigung mitbrachten. Mir half die Wohlstands-Phantasie des listenführenden SA-Mannes, der mich als „Hausdame" der Familie Ossietzky ansprach und auf jede weitere Legitimation verzichtete. Ossietzky kam erschreckend langsam in einer uralten feldgrauen Uniform über den menschenleeren Hof; sein Hals steckte ganz steif in der grauen Binde, die Soldaten im Krieg getragen hatten. Er bewegte sich so gehemmt wie ein Schwerkranker, dessen Halswirbel und Arme geschient sein mußten. Auf die Frage: „Wie geht's?" sagte er leise und mit eindeutiger Unterbrechung: „Es geht . . . zur Zeit." Das todernste Gesicht schien unverletzt, aber grausam abgemagert. Er sprach nur sehr wenig.

Draußen erzählte uns die junge Frau des kommunistischen Landtagsabgeordneten Kasper, ihr Mann, der gewiß „hart im Nehmen" sei, habe noch viel schlimmer ausgesehen, aber nicht annähernd so entsetzlich zerstört wie der arme Erich Mühsam dessen Anblick sie nie mehr vergessen werde.

Zehn Tage später erschienen zum ersten Mal ausländische Journalisten in Sonnenburg; die Gruppe stand unter Aufsicht eines akademisch 8 gebildeten amtlichen Begleiters. Ossietzky war hellwach und geistesgegenwärtig, als zwei Amerikaner, die er gut kannte, mit ihm reden durften; der international erfolgreiche Publizist H. G. Knickerbocker und Louis P. Lochner, Korrespondent der größten Nachrichtenagentur inszenierten ein dehnbares Gespräch über erwünschte Büchersendungen; Ossietzky nannte im richtigen Augenblick als Buchtitel das unmißverständlich prägnante Stichwort vom „Strafvollzug im deutschen Mittelalter". Für Edgar A. Mowrer, den Korrespondenten der Chicago Daily News und Vorsitzenden des Verbandes der Auslandspresse, gehörte das erschütternde Wiedersehen mit dem halb zu Tode gequälten Carl von Ossietzky in Sonnen-burg zu den wichtigsten Eindrücken, die er aus Nazi-Deutschland mitnahm, als er Berlin verlassen mußte, weil Goebbels voller Wut über Mowrers objektive Berichte die Abreise des unbequemen Amerikaners durchgesetzt hatte.

Die Begegnung mit den kenntnisreichen Informatoren der freien Welt hatte Ossietzkys Lebenswillen wieder gerettet, als seine physische Widerstandsfähigkeit schon beinahe gebrochen war. Er sprach im Juli, beim nächsten Besuch seiner Frau, lebendig und zielbewußt über Familienprobleme, die seine Stellungnahme verlangten.

Wir hatten aus drei Ländern Einladungen bekommen, die Rosalindes Versorgung für lange Zeit garantierten: aus Zürich von einem Schweizer Hilfskommitee, dessen Tätigkeit der Verleger Emil Oprecht kannte und empfahl; aus Hindäs in Schweden von Gertrud M., einer hilfsbereiten Freundin von Kurt Tucholsky, die nach Berlin kam, um ihren Plan mit Hedwig Hünicke und mir zu besprechen und Rosa-linde eventuell gleich mitzunehmen. Einen Weg nach England hatte Knickerbocker für Ossietzkys Tochter entdeckt; er kannte die Mitarbeiter einer Gruppe . von englischen Parlamentsmitgliedern, die Kinder von gefangenen oder gefährdeten deutschen Politikern aufnehmen und in geeigneten Internaten unterbringen wollten.

Als die englische Einladung für Rosalinde feststand, erfuhr Hedwig Hünicke von einem Londoner Quaker, daß Maud von Ossietzky mit Hilfe der „Society of Friends" Deutschland verlassen und in England unter erträglichen Bedingungen leben könnte; dort wären die Friends viel besser in der Lage, der gebürti-* gen Engländerin zuverlässig beizustehen als in Berlin.

Ossietzky entschied sich enthusiastisch für die englischen Angebote; er hatte Freudentränen in den Augen, als er die vom Polizeirevier geforderte „väterliche Einwilligung" zu Rosalindes Abreise unterschrieb; seine Frau bat er fast flehentlich, so bald wie irgend möglich nach England zu gehen und dort auch in seinem Interesse „solange wie nötig" zu bleiben. Maud von Ossietzky sagte „ja" und lehnte später in Berlin, während der letzten Vorbereitungen, unerbittlich ab, ihr Versprechen einzulösen.

Dabei blieb es, denn seit Milly Zirkers Flucht-wanderung über eine grüne Grenze in der Nähe von Basel, war für uns niemand mehr erreichbar, der fähig gewesen wäre, Frau von Ossietzky umzustimmen.

Milly Zirker, die bei der politischen Polizei als langjährige Mitarbeiterin des liberalen Pazifisten Hellmut von Gerlach bekannt war, mußte fort, weil sie von der Abteilung I des Polizei-präsidiums mit hartnäckigen Verhören bedrängt wurde; sie sollte die näheren Umstände der rechtzeitigen Flucht Gerlachs aus Berlin und seiner Vorbereitungen zur illegalen „paßlosen" Abreise aus Deutschland preisgeben. Gerlach gelangte auf Umwegen nach Paris und Milly Zirker ging zunächst nach Straßburg.

Im Berliner Zeitungsviertel kursierte während des Hochsommers 1933 die Nachricht, KZ-Häftlinge, deren Entlassung bevorstand, müßten entweder weitgehende Loyalitätserklärungen unterschreiben oder auf die schon prinzipiell bewilligte Entlassung verzichten. Das entwertete unseren naheliegenden Plan, das übliche Entlassungsgesuch einer hilfsbedürftigen Ehefrau eventuell mit ärztlicher und juristischer Unterstützung einzureichen und abzuwarten, ob in diesem Zusammenhang vielleicht ein simpler Verzicht Ossietzkys auf oppositionelle politische Tätigkeit genügen würde.

Seit den neuen Verhaftungen führender Sozialdemokraten und anderer Parteimitglieder, die im Frühsommer — mehrere Wochen nach dem Verbot der SPD — eingesperrt und in den Lagern genauso unmenschlich gequält wurden wie die ersten Opfer, bestand keine Hoffnung mehr, in absehbarer Zeit eine respektable und dennoch einflußreiche Persönlichkeit zu finden, die zugunsten Carl von Ossietzkys intervenieren könnte. Man mußte aber Ossietzky nach der unbestätigten Information über den Entlassungsmodus die Möglichkeit geben, sich selbst für oder gegen das Risiko eines Gesuchs zu entscheiden.

Zum dritten und letzten Mal bewährte sich am Tor von Sonnenburg meine Rolle als na-menslose „Hausdame", die nicht das geringste Ausweispapier vorzeigen konnte, Mitte September 1933.

Ossietzky, der sich sorgfältig auf ein verschlüsseltes Gespräch vorbereitet hatte, war „zur Zeit“ gegen die Absendung eines „normalen" Entlassungsgesuchs.

Der Extrakt seiner konkreten Wünsche und energischen Warnungen war leicht verständlich: Angesehene amerikanische und englische Publikationen — ernsthafte Tageszeitungen und Zeitschriften — sollten den „Fall Ossietzky" möglichst häufig im größeren Rahmen einer allgemeinen Kritik am gesamten KZ-System behandeln. Individuelle direkte Interventionen zugunsten seiner Entlassung sollten von einflußreichen Engländern ausgehen, die als Vorkämpfer humanitärer Bestrebungen oder Vertreter von bedeutenden „menschenfreundlichen" Organisationen bekannt sind.

Von seinen aus Deutschland emigrierten Berufskollegen und anderen politischen Emigranten forderte er wachsames Verständnis für die verhängnisvolle Wirkung von „Ossietzky-Berichten" mit falschen politischen Akzenten; sie könnten ebensoviel irreparablen Schaden anrichten wie falsch akzentuierte „Rettet Ossietzky" -Kampagnen, die von falschen Leuten an falscher Stelle geführt würden.

Eine respektable ausländische Intervention, die Ossietzkys Entlassung empfahl, hatte den Außenminister von Neurath schon zwischen dem 18. und 20. Juli 1933 erreicht. Absender war der holländische Theologe Professor G. J. Heering, Präsident der Organisation Kerk en Vrede, „Vereinigung von Pastoren und Gemeindemitgliedern gegen Krieg und Kriegsrüstung".

Professor Heering plädierte am 16. Mai 1933 für die Befreiung seiner deutschen Gesinnungsfreunde und nannte die Namen von allen bekannten Pazifisten, die in Konzentrationslagern waren. Am 1. Juni schickte er dem Generalsekretär des Völkerbundes als Anlage zu einem offiziellen Appell die Kopie seines Briefes an Neurath; im Antrag von Kerk en Vrede an das Völkerbunds-Sekretariat stand unter anderem 10a):

„Sie wissen sicher, daß die deutsche Regierung mehrere führende Persönlichkeiten der deutschen Friedensbewegung ohne gerichtliche Verurteilung in Konzentrationslager einsperren ließ. Diese Männer haben nach Ansicht unserer Organisation im Sinne des Völkerbunds und des Kellogpaktes gehandelt und können* darum in einem Land, daß beide Pakte unterzeichnet hat, ihr Recht auf Freiheit beanspruchen. Wir bitten Sie deshalb dringend, den Zustand der Häftlinge durch eine international anerkannte, dem Völkerbund angeschlossene humanitäre Organisation untersuchen zu lassen und die deutsche Regierung aufzulordern, daß sie diese Gefangenen freiläßt.“

Nachdem sich das Völkerbunds-Sekretariat für „nicht zuständig" erklärt und Otto Lehmann-Russbüldt — der anonyme Initiator der holländischen Aktionen — englische Pazifisten für eine Wiederholung der Prozedur gewonnen hatte, wurden die geplanten Schritte in Genf sinnlos, als Hitler die Mitgliedschaft Deutschlands beim Völkerbund schon im Oktober 1933 kündigte. Auch andere ausländische Interventionsmöglichkeiten, die sich gerade erst langsam entwickelt hatten, verkümmerten unter der deprimierenden Schockwirkung dieser ersten nationalsozialistischen Kriegserklärung.

Unabhängig davon, aber gleichzeitig versiegten fast alle deutschen und ausländischen Geldquellen, aus denen wir sechs Monate lang Maud von Ossietzkys Sanatoriumsaufenthalt und Carl von Ossietzkys Versorgung mit Paketen und Taschengeld finanziert hatten; Frau Edith Jacobsohn, Mitinhaberin des ausländischen Verlages, der 1932 die „Wiener Welt-bühne" begründete und später in Prag die Herausgabe einer „Neuen Weltbühne" betrieb, hatte sich zwar zu bescheidenen regelmäßigen Zahlungen verpflichtet, aber nur einen Teil der zugesagten Beträge auf den besprochenen Wegen nach Berlin transferiert. Unsere Berliner Freunde und Kollegen, die uns gelegentlich helfen konnten, hatten inzwischen ihr Einkommen verloren oder auch Deutschland verlassen. Als ich auf einer kurzen Auslandsreise Frau Jacobsohns „Nachzahlungen" in Zürich kassieren und in Paris bei Hellmut von Gerlach „auf Abruf" deponieren konnte, entdeckte die Berliner Gestapo Beweise für meine „mit strafwürdiger Greuelpropaganda" verbundene Auslandskorrespondenz über die Versorgung der Familie Ossietzky und vor allen Dingen die „illegalen Besuche einer Jüdin im Lager Sonnenburg".

Ich mußte spätestens eine Woche nach meiner Rückkehr endgültig verschwinden und Hedwig Hünicke mit der gefährlichen Bürde, die wir gemeinsam getragen hatten, allein lassen.

Zu jeder unauffälligen Mitwirkung verfügbar war noch Gusti Hecht, die von Ossietzky hin und wieder herausgeschmuggelte kurze Botschaften empfing und von befreundeten Berliner Journalisten viele Informationen bekam, die ihm nützen konnten.

Rettungsversuche bis zum Transport Ossietzkys in das Moorlager Papenburg

In Paris, wo ich Ende 1933 Asyl fand, hatte Ossietzkys ältester Freund, Hellmut von Gerlach, bei der Französischen Liga für Menschenrechte das Amt eines Beraters für Flüchtlings-fragen übernommen. Sein Arbeitsgebiet war umfangreicher, als die bescheidene Amtsbezeichnung aussagte. Die große Organisation besaß in Frankreich — im Gegensatz zu ihrer viel weniger bedeutenden Namensschwester in der Weimarer Republik — echten selbst-erworbenen und direkten politischen Einfluß; sie brauchte den sachverständigen Rat des illusionslosen emigrierten deutschen Politikers auch zur ständigen Analyse der beängstigenden Nachrichten aus Deutschland.

In dieser Umgebung konnte Gerlach als erfahrener Publizist jederzeit die sinnvollen Bemühungen um Ossietzky von den schädlichen unterscheiden. Er versuchte ständig, den gefährlichen Tatendrang skrupelloser politischer Agitatoren zu bremsen und die ebenso verhängnisvolle Betriebsamkeit mancher geltungsbedürftiger Emigranten, die Ossietzkys Martyrium und Prestige unredlich zur Aufwertung ihrer eigenen Karriere ausnutzten, nach Möglichkeit einzudämmen.

Gerlach meinte, die Furcht Ossietzkys vor falschen politischen Akzenten sei „leider nur allzu berechtigt". Falsch wären vor allen Dingen öffentliche Appelle von Leuten, die im Vokabular der Nazis als „Spießgesellen des Landesverräters" verzeichnet seien „wie die meisten von uns hier in Paris und in Prag". Es wäre aus nahe verwandten Gründen zum Beispiel ebenso unvernünftig, in Frankreich und der Tschechoslowakei zu forcieren, daß lautstarke Proteste von Franzosen oder Bürgern der SR geäußert und veröffentlicht werden.

Unsere erste gemeinsame Aufgabe wurde die schwierige Antwort auf einen unerwarteten Notruf aus Berlin.

Gusti Hecht und Hedwig Hünicke verhandelten mit einem als zuverlässig empfohlenen Rechtsanwalt Dr. Bloch, der behauptete, er könne Ossietzkys Entlassung mit einem Aufwand von 6000 Mark erreichen.

Gerlach schickte mich zum Präsidenten der Liga, Professor Victor Basch dem er vor meinem Besuch sagte, wir würden auch Freunde in den USA alarmieren. Basch empfahl eine Aussprache zwischen Gusti Hecht und Monsieur Laurent, dem Berliner Korrespondenten des Temps; Laurent sollte sein Urteil über den Plan mit diplomatischer Post befördern. Wenn es günstig ausfiele, könnte uns die Französische Liga ein Viertel der angeforderten Summe zur Verfügung stellen.

Daraufhin kabelte ich ausführlich an Dr. Otto Nathan, der Professor an der Princeton University war und Ossietzkys Verhaftung noch in Berlin miterlebt hatte, über alles, was ich seitdem aus Berlin und Sonnenburg über Ossietzky zu berichten hatte, war er schon durch unseren regelmäßigen Briefwechsel orientiert.

Dr. Nathan besprach die neue Nachricht mit Albert Einstein, der ihm einen Brief zur Verfügung stellte, den ein ausgewählter Kreis von etwa dreißig hervorragenden Publizisten, weltoffenen Gelehrten und anderen vertrauenswürdigen Persönlichkeiten — Amerikanern und deutschen Emigranten — empfangen sollte.

Einstein schrieb am 19. Dezember 1933 aus Princeton: „Aus Paris ist folgendes Telegramm eingetroffen: , Ossietzkys Entlassung eventuell möglich durch sechstausend Reichsmark stop hiesige Freunde versuchen Teilbeschaffung und prüfen Chancen stop drahtet ob Summe oder Teil dort aufzubringen falls Aussichten günstig.'über die Persönlichkeit Ossietzkys brauche ich nichts zu sagen. Seine aufrechte Gesinnung, sein tadelloser, starker Charakter, sein Mut, seine Unerschrockenheit und seine Anständigkeit sind zu sehr bekannt. O. war unter jenen Ersten, die in der Nacht vom 27. und 28. Februar in Konzentrationslager gebracht wurden. Die Nachrichten über sein Befinden und die Behandlung, die er erfährt, sind widerspruchs- voll. Es ist außerordentlich fraglich, ob sein äußerst zarter Körper lange den Zuständen eines Konzentrationslagers Widerstand leisten kann. Auch darüber braucht kaum etwas gesagt zu werden, ein wie wertvoller Bundesgenosse er in unserem Kampf wäre, wenn es gelänge, ihn frei und ins Ausland zu bekommen. Kaum einer kennt wie er alle Zusammenhänge und Tatsachen. Kaum einer führt eine Feder wie er. Der Kampf um die Verbreitung der Wahrheit über die deutschen Verhältnisse ist deshalb so schwer, weil so viele aus vielen Gründen sich Schweigen auferlegen oder auferlegen müssen und nur wenige überhaupt eine Über-sicht über die Tatsachen haben. Ich bitte, in der nachstehenden Liste eintragen zu wollen, mit welchem Betrag Sie die Aktion könnten, falls sie unterstützen zustande kommt A. Einstein

Mit vierundzwanzig Zusagen, die Dr. Nathan sehr bald erreichten, standen für unser Projekt schon insgesamt 1300 Dollar auf Abruf bereit. Zu Beginn der vereinbarten Prüfung in Berlin wurde ein neuer dringender Antrag auf Besuchserlaubnis für Frau von Ossietzky eingereicht, nachdem seit der letzten Genehmigung schon dreieinhalb Monate vergangen waren. Hedwig Hünicke konnte sie am Neujahrstag 1934 nach Sonnenburg bringen und galt dort als ausreichend legitimierte Begleitperson Nach ihrem Eindruck ging es Ossietzky in jeder Beziehung erheblich schlechter als zur Zeit unseres letzten Besuches im September. Konkrete Wünsche äußerte er bald in einer unzensierten Botschaft, die Gusti Hecht überbracht wurde:

Sie sollte sofort den bekannten Strafanwalt Dr. Sack bitten, sich so rasch wie möglich um Ossietzky zu kümmern; Dr. Sack, der als aktiver, aber nicht völlig gleichgeschalteter Nationalsozialist galt, hatte Ernst Torgier erfolgreich im Reichstagsbrand-Prozeß verteidigt. Der Verlauf des Prozesses galt bei vielen Kommunisten als Vorschuß auf den erwarteten großen Sieg ihrer Partei über das NaziRegime. Nach den Untergrund-Informationen der KPD'für die gefangenen Parteigenossen sollten die Freisprüche Torglers und Dimitroffs als ein Anfang vom Ende der Leidenszeit in den Lagern erscheinen.

Ossietzky kannte Dr. Sacks politische Wendigkeit schon aus den Vorgängen im großen Fememord-Prozeß gegen Oberleutnant Schulz, der nicht öffentlich aussagen durfte, wieweit höchste Instanzen der legalen Reichswehr für die Organisation und Verbrechen der illegalen Truppe verantwortlich waren.

Dr. Sack lehnte ab, Ossietzky offiziell zu vertreten, und bot als Ersatz an, den Inhalt eines Entlassungsgesuchs zu redigieren. Rechtsanwalt Bloch konnte die geplante große Rettungs-Aktion nicht austühren. Er hatte festgestellt, daß seine „bewährten" Verbindungen in diesem „besonders heiklen" Fall nicht funktionierten; er wollte aber für ein Pauschal-honorar von tausend Mark alle legalen Verhandlungen mit Behörden einleiten, ergänzen und überwachen. Wir bekamen das Honorar für Bloch aus Amerika, und die Anwälte verfaßten Gesuche, die für Ossietzkys politische Haltung tragbar waren und der Behörde den radikalen Verzicht Ossietzkys auf jede politische und journalistische Aktivität anboten.

Die Wirkung war negativ; Mitte Februar 1934 wurde Ossietzky in das große Moorlager bei Papenburg gebracht. Dort hatte er noch viel geringere Chancen, am Leben zu bleiben, als andere bedeutende Männer, die in gleicher Lage ebenso unkorrumpierbar waren wie er, aber von den Nazis aus andersartigen politischen Gründen gefürchtet, gehaßt und verfolgt wurden.

Der parteilose politische Publizist, den ausländische Politiker und Journalisten vorwiegend als unabhängigen Gegner der heimlichen und illegalen deutschen Aufrüstung kannten, saß auch als Geisel und Sündenbock für die große Anzahl deutscher Berufs-und Gesinnungskollegen, die rechtzeitig vor drohendem Mord und Totschlag fliehen konnten.

Neue Lebensgefahr durch kommunistische Propaganda

Wer draußen war und sich aus Solidarität oder persönlicher Freundschaft zü tatkräftiger Hilfe für Ossietzky berufen fühlte, mußte sich redlich für die Wahl der zweckmäßigen Mittel entscheiden und dabei auf verantwortungslose Vermischung eigener Interessen mit dem so-genannten „Kampf um Ossietzky" verzichten. Das taten bewährte Freunde, die in London, Oxford, Paris und Genf wohnten indem sie konsequent nach der Erkenntnis handelten, daß im Dritten Reich Leben oder Tod eines Gefangenen davon abhängen konnten, wo, auf welcher Tribüne, in welchem Zusammenhang und auch von wem sein „Fall" im Ausland öffentlich erörtert wurde. Sie wußten auch, daß materielle Unterstützung eines mittellosen Gefangenen — noch dazu eines sogenannten „Landesverräters" wie Ossietzky — nur aus politisch „harmlosen" Quellen stammen durfte und auf entsprechenden Wegen nach Deutschland gelangen mußte.

Erreichbar war zunächst, daß Mitglieder des englischen Parlaments und andere Politiker, die als Anhänger einer Politik der Verständigung galten und mit der neuen deutschen Regierung redeten, sich immer wieder nach Ossietzkys Aufenthalt und Gesundheitszustand erkundigten.

Einflußreiche Lords, die als Mitglieder des Oberhauses mit dem deutschen Botschafter in London sprechen oder ihren eigenen Außenminister bitten konnten, sich um Auskünfte zu bemühen, sorgten für geeignete Anfragen bei Neurath. Abgesandte von pazifistischen Organisationen und führende Männer der großen Kriegsteilnehmerverbände benutzten Besuchs-reisen nach Deutschland oder andere Begegnungen mit angeblich verständigungsbeflissenen Vertretern Nazi-Deutschlands zu Gesprächen über Ossietzkys Haft. Diese Anfragen wurden von uns niemals publiziert; wenn aber ausländische Besucher oder Briefschreiber die Antwort bekamen, Ossietzky verbüße lediglich eine Freiheitsstrafe aus der Zeit der Weimarer Republik und würde korrekt behandelt, sorgten wir dafür, daß namhafte englische Publizisten den lügenhaften nationalsozialistischen Rechtfertigungsversuch in der Londoner Times und anderen wichtigen Blättern widerlegten; was dort stand oder stehen sollte, gelangte bald in die amerikanische Presse.

Erreichbar zur Weiterleitung von Anfragen war auch Görings Schwägerin Gräfin Wilamowitz, die in Schweden und England Propaganda-Vorträge hielt. Ihrer Intervention bei Göring verdankte 1934 ein bekannter kommunistischer Mediziner, der eindeutig jüdischer Herkunft war, seine Entlassung aus dem KZ und die ungehinderte Abreise aus Deutschland.

Allmählich wurde eine begrenzte Schutzwirkung solcher Bemühungen um Ossietzky, die man ständig variieren, verbessern und steigern mußte, erkennbar, obwohl die nationalsozialistische Auslandspropaganda noch ziemlich leicht mit ordinären Druckmitteln und gebildeten Eideshelfern verhindern konnte, daß seriöse Auslands-Zeitungen die sogenannte Weltöffentlichkeit über die blutige Schande informierten.

Als Wickham Steed, der jahrelang zu den maßgebenden Publizisten der Londoner Times gehört hatte, dort Ossietzkys Martyrium 1934 zum ersten Mal in einem ausführlichen „Brief an den Herausgeber" darstellte, berief er sich auf die Bitte „zahlreicher deutscher Schriftsteller und anderer Männer des öffentlichen Lebens, die sich heute in der Verbannung befinden"; die Leser der Times hätten ihm wahrscheinlich ohne diese umständliche Quellenangabe nicht geglaubt, daß eine deutsche Regierung die Gegner und Opfer ihrer Diktatur in sogenannter Schutzhaft regelmäßig mißhandeln und manchmal auch umbringen läßt.

Edgar A. Mowrer, der wieder in Paris arbeitete, konstatierte noch im Mai 1934, daß es nötig wäre, manchen skeptischen und zurückhaltenden Redaktionen wenigstens so einfache unbestreitbare Angaben wie Name des Lagers und Verhaftungsmonat von etwa sechs „typischen Fällen" mitzuteilen, zumal man diese trockenen Details erwähnen könne, ohne den gefangenen Männern und ihren Angehörigen zu schaden.

Echte Aussichten auf legale Entlassung hatte Ossietzky zum ersten Mal, als sein Anwalt vom zuständigen Nazi-Funktionär erfuhr, daß „jetzt" — nach den zahlreichen Interventionen — eine von Ossietzky selbst unterschriebene Erklärung, „nichts gegen den Staat und die NSDAP zu unternehmen", wohlwollend akzeptiert und höchstwahrscheinlich ausreichen würde; er sollte auch versichern, daß er im Fall der Entlassung nicht auf öffentliche Unterstützung angewiesen wäre.

Während das Gesuch durch die Instanzen-und Prüfungs-Mühle ging, wurde in Prag und von Prag aus jede Woche ein neues Stück von den zerbrechlichen Entlassungschancen zerschlagen. Die Zerstörer waren Mitarbeiter der kommunistischen, von Moskauer Vorgesetzten überwachten Zentrale für „Agitation und Propaganda in Europa". Sie hatten sich die Verfügungsgewalt über die in Prag unter Willi Schlamms Leitung erscheinende unabhängige „Neue Weltbühne" mit gefährlichen Angriffs-Methoden verschafft, die Schlamm als politischer Emigrant nicht wirksam abwehren und entlarven konnte.

Ossietzky wußte, daß allein schon die Existenz des Blattes, das ursprünglich aus einer Wiener Filialgründung des Berliner Weltbühne-Verlages hervorgegangen war, nachteilig für ihn sein könnte. Aber Willi Schlamm, als er-fahrener Polemiker gegen faschistische, nationalsozialistische und bolschewistische Gewaltherrschaft, hatte sich immer rücksichtsvoll und geschickt um Distanzierung von Ossietzky bemüht, damit die Nazis keinen Anlaß bekämen, ihn „für die Sünden der Neuen Weltbühne" zu bestrafen. Das war vorbei, als Frau Edith Jacobsohn ihre Inhaberrechte dem Unterhändler von KPD-Funktionären verkaufte und dessen Vorbedingung, ihren Weltbühnen-Vertrag mit Willi Schlamm zu kündigen, erfüllte.

Der neue Chefredakteur und spätere Mitbesitzer, Hermann Budzislawski publizierte die Neue Weltbühne unter falscher Flagge. Er leugnete stets emphatisch, daß er durch handfeste Subventionen aus internationalen KP-Fonds verpflichtet war, die Tendenz der angeblich unabhängigen Zeitschrift den kommunistischen Interessen anzupassen. Der Komintern diente er vor allen Dingen mit Propaganda für Stalins neue Europa-Politik und den deutschen Funktionären mit schäbigen Verdächtigungen von Sozialdemokraten, die eine kommunistisch dirigierte Einheitsfront ablehnten. Um seine Abhängigkeit auch noch sentimental zu tarnen, ließ Budzislawski überall mündlich verbreiten, er betrachte sich ja nur als „Statthalter" des eingekerkerten Carl von Ossietzky, dessen Befreiung aus dem KZ er nun ganz energisch betreiben werde. Diese Befreiungskampagne sah so aus, daß Ossietzky sich aus Papenburg in unzensierten Botschaften verzweifelt über grausame Folgen der Prager Publikationen beschwerte und sagen ließ, die Neue Weltbühne solle aufhören, Artikel über ihn zu veröffentlichen.

Als die Gestapo das unter günstigen Auspizien eingereichte Entlassungsgesuch schließlich doch wieder ablehnte, wurde dem Anwalt gesagt, daß Ossietzky „im Fall einer Entlassung" ja höchstwahrscheinlich den „Verlockungen" aus Prag nachgeben würde. Hellmut von Gerlach hat Budzislawski mehrmals dringend um Rücksicht auf Ossietzkys berechtigte Wünsche gebeten; seine Appelle blieben erfolglos.

Unglücklicher Start für den Nobelpreis

Der geniale Einfall, den gefangenen Pazifisten als Kandidaten für den Friedenspreis der Nobelstiftung zu nennen, stammte von Berthold Jacob, einem ehemaligen Mitarbeiter der Berliner Weltbühne, der schon 1932 nach Straßburg emigriert war. Leider entwertete Jacob seinen guten Gedanken, als er dem Norwegischen Nobelkomitee Ende Mai 1934 — vier Monate nach Ablauf der unabdingbaren Vorschlagsfrist — ungültige Vorschläge von Leuten, die gar kein Vorschlagsrecht besaßen, einreichen ließ. Viel schlimmer als dieser Regie-fehler war aber die Publikation der sogenannten Kandidatur in einem kleinen Pressedienst, den er selbst in Straßburg herausgab und der schon seit längerer Zeit bei der Gestapo als Instrument der französischen Militärbehörden galt. Mit diesem Start entfesselte Jacob bei den zuständigen Nazis an der deutschen Botschaft in Paris Assoziationen und Urteile, die auf falschen Einschätzungen Ossietzkys beruhten und den zum Stummsein verurteilten Gefangenen gefährlich belasteten.

Um die böse Wirkung zu neutralisieren, bat Rudolf Olden mehrere englische Publizi-sten, die über Ossietzky schreiben sollten, in ihren Aufsätzen nebenbei — wie eine allgemein bekannte Tatsache — ohne Quellenangabe zu erwähnen, daß Ossietzky für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen sei. Man konnte sich dabei notfalls auf einen Appell von Romain Rolland berufen, der als Träger des Nobelpreises für Literatur zwar kein Vorschlagsrecbt für Friedenspreise besaß, aber französischen Journalisten erklärt hatte: „Das Nobelkomitee für den Friedenspreis hat noch nie Gelegenheit gehabt, einen Apostel des Friedens zu krönen, der es bis zum Martyrium geblieben ist. Diese Gelegenheit wird ihm dieses Jahr in der Person des heldenhäften Carl von Ossietzky geboten. Wir hotten, daß cs sie ergreifen wird. Die Sache des Friedens hat es in dieser kritischen Stunde, wo der Krieg von allen Seiten droht, mehr als je nötig, daß man große Beispiele von Opferwilligkeit verherrlicht, wie die Ossietzkys, und nicht platonische oder theoretische Friedensapostel, welche sich gar zu häufig, wie während des Krieges 1914 bis 1918, in der Stunde der Gefahr davon machen.“ Als das Norwegische Nobelkomitee im Spätherbst 1934 Arthur Henderson den Friedenspreis des Jahres zusprach und den Preis für 1933, der auch noch zur Verfügung stand, Norman Angell verlieh, war Ossietzkys Leben nach den Maßstäben des Berliner Propagandaministeriums wieder weniger wert als zuvor.

Dieser leichtfertig provozierte Rückschlag konnte jetzt nur noch durch die Wirkungen einer echten Kandidatur abgeschwächt werden; aber da«, Risiko, auch auf diesem Weg Mißerfolge zu ernten und Ossietzkys Lage noch verhängnisvoller zu verschlechtern, war weitaus größer als die geringe Chance, den Preis und die Befreiung für ihn durchzusetzen.

Die gültige Kandidatur

Aus dem großen Kreis der vorschlagsberechtigten Europäer war Ludwig Quidde als deutscher Träger des Friedens-Nobelpreises für 1927 unser wichtigster Verbündeter; er schrieb aus Genf an Hellmut von Gerlach: „Die — auch von anderer Seite an mich ergangene — Aufforderung, Ossietzky für den Nobelpreis vorzuschlagen, setzt mich in einige Verlegenheit. In Locarno habe ich mich in dieser Frage einfach als Ihr Vertreter betrachtet, habe deshalb Emil Ludwig in Bewegung zu setzen gesucht und habe, als in der Kommission und im Plenum jede Sonderaktion für O. und Küster gescheitert war, den Antrag im Conseil wieder ausgenommen. Unter persönlicher Verantwortung den Antrag zu stellen, habe ich Bedenken. Ich werde es wohl schließlich tun. Aber die Bedenken will ich Ihnen doch nicht vorenthalten. Für mich ist das Ziel, die Freilassung der beiden zu erreichen. Ich habe deshalb schon vor längerer Zeit persönlich an Mac Donald geschrieben und habe dann das Ihnen bekannte Memorandum'aufgesetzt, das vom Internationalen Friedensbüro mehreren englischen Ministern zugegangen ist. (Noch früher hatte ich an Lord Cecil wegen der noch gefangen gehaltenen Pazifisten überhaupt geschrieben.) Ob der Freilassung durch den von deutschen Pazifisten ausgehenden Vorschlag für den Nobelpreis genützt oder vielleicht eher geschadet wird, ist mir recht zweifelhaft. Freilich, die Verleihung des Nobelpreises würde es der Regierung schwer machen, die Haft aufrecht zu erhalten. Aber daran ist doch gar nicht zu denken. Ich nehme an, daß sich niemand eine Aussicht auf einen Erfolg des Vorschlags beim Nobel-Comite macht. Bisher waren alle, die ich gesprochen habe, in diesem Punkte einig. Denken Sie anders darüber? Das Comite hat bisher alle in ähnlicher Richtung gehenden Anregungen des Internationalen Friedensbüros abgelehnt. Wenn es sich aber nur um eine Demonstration handelt, ohne Aussicht auf positiven Erfolg in Oslo, so scheint es mir sehr leicht r(iöglich, daß eine solche Demonstration auf he nationalsozialistischen Machthaber provozierend wirkt im Sinne , nun gerade nicht'. Ich würde doch, wenn er nicht im Konzentrationslager wäre, nicht auf den Gedanken kommen, Ö. für den Nobelpreis vorzuschlagen. Da würden Dutzende von Personen früher für mich in Betracht kommen. In einer Denkschrift (von mir entworfen) hat das Internationale Friedensbüro ausgeführt, Nobel habe den Fall nicht voraussehen können, daß einmal Menschen sich nicht nur Verdienste um die Völkerverständigung erwerben, sondern wegen ihrer Arbeit auf diesem Gebiete, Gefangenschaft, Mißhandlungen, Lebensgefährdung ausgesetzt sind. Da dieser Fall nun eingetreten sei, solle das Nobel-Comite, statt besondere Verdienste zu belohnen, erst einmal mitwirken, die Leiden zu mildern. In ähnlichem Sinne nur könnte ich den Antrag für O. motivieren. Diese Motivierung gilt dann aber ebensogut für Küster. Ich werde also, wenn überhaupt, den Antrag für beide stellen. Das entspricht scheint's, nicht Ihrem Wunsche oder dem der in Paris weilenden Pazifisten?" 21a)

Optimistischer klang eine Antwort des norwegischen Laureaten Christian Lange, der den Preis 1921 als Generalsekretär der Interparlamentarischen Union empfangen hatte. Lange war in seiner „Äußerungsfreiheit" eingeengt, weil er seit 1934 selbst Mitglied des fünfköpfigen Gremiums war, das die Preise verleiht, und die Schweigepflicht aller Mitglieder und Berater des vom Storfing gewählten Norwegischen Nobelkomitees sehr weit geht. Immerhin konnte und wollte er über die Prozedur sprechen: „Es wäre verfehlt, in den Unterlagen des Vorschlags, O.den Preis für 1935 zu geben, den Gedanken in den Vordergrund zu schieben, daß man dadurch vielleicht seine Befreiung erleichterte. Das kann man in der Presse vielleicht sagen. In dem Vorschlag muß man nur alle Unterlagen für eine Schätzung der Wirksamkeit O. als Friedensvorkämpfer bereitlegen. Persönliche Vorstellungen an die Mitglieder des Komitees oder an die Sachverständigen haben wenig Zweck.

Wichtig ist eine ausführliche, gut begründete, von dokumentarischen Beilagen unterstützte Denkschrift, die von den Vorschlagsstellern direkt an das Komitee zu senden wäre, und dann, daß dieser Vorschlag allseitig unterstützt wird. Ich werde veranlassen, daß Sie das Statut erhalten. Und Sie werden daraus ersehen, daß der Kreis der Vorschlagsberechtigten sehr weit ist."

Als stärkste moralische Unterstützung dieser politisch unbequemen Kandidatur galt die Stimme der weltberühmten amerikanischen Philantropin Jane Addams, die seit 1931 Preis-trägerin des Friedensnobelpreises war und durch Albert Einstein zu dem Entschluß gelangte, Ossietzky vorzuschlagen. Einstein hatte in Princeton von Otto Nathan unsere Sorgen mit dem Nobelpreis-Dilemma erfahren und im Dezember 1934 ausführlich an Jane Addams nach Chicago geschrieben, um ihre Mitwirkung zu gewinnen

Zwei Anträge von Universitäts-Professoren, die zum vorschlagsberechtigten Kreis von Mitgliedern der rechts-und staatswissenschaftlichen und der historisch-philosophischen Fakultäten gehörten, kamen aus England und Frankreich; Rudolf Olden und Ernst Toller waren in England die Initiatoren des Schreibens von Harold Laski, Professor an der London School of Economics and Political Science; in Frankreich bekam Andre Philip, Professeur Titulaire de Science Financiere et de Legislation Frangaise des Finances die Ossietzky-Informationen in französischer Sprache von Konrad Reisner, der als emigrierter Referendar die Flüchtlingsberatungsstelle der Liga für Menschenrechte eingerichtet hatte.

Eine umfangreiche und wegweisende Denkschrift zur Begründung der Kandidatur verfaßte Hellmut von Gerlach, dessen Vorschlagsrecht auf seiner Funktion als „Ratsmitglied" beim „Internationalen Friedensbüro in Genf" beruhte: „Carl vonOssietzky wird am 3. Oktober dieses Jahres 46 Jahre alt. Er stammt aus einer katholischen Kleinbürgerlamilie aus Hamburg und war in jungen Jahren Schreiber in einem Büro der Hamburger Stadtverwaltung. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung vermittelte ihm frühe Eindrücke. Er wurde nicht Sozialdemokrat, aber er bekannte sich schon vor dem Weltkrieg zu bürgerlich-republikanischen Auffassungen, die er im Elternhaus verbergen mußte."

Wie alle Berliner Freunde Ossietzkys wußte Gerlach zu wenig über die ersten dreißig Lebensjahre des sensitiven, fast schüchternen Einzelgängers, der selbst am liebsten jede Erinnerung an sein Privat-und Berufsleben in Hamburg verdrängt hätte.

Gerlach erwähnte Ossietzkys Kriegsdienst an der Westfront und seine lebhafte Wirksamkeit in der Ortsgruppe Hamburg der Deutschen Friedensgesellschaft: „Von dort holte ihn um 1920 Professor Ludwig Quidde als Sekretär der Gesamtorganisation nach Berlin.

Für seine journalistische und literarische Begabung war ihm das Gebiet des Organisationssekretärs zu eng, und er trat als außenpolitischer Redakteur in die Redaktion der . Berliner Volkszeitung'des Verlags Rudolf Mosse ein.

Von dieser Redaktion ging in den Jahren, die dicht dem Kriegsende folgten, die deutsche Bewegung , Nie wieder Krieg'aus, die von allen Ländern aufgegriffen, zu einer Weltbewegung wurde, und die unter dem Motto: , Nie wieder Krieg', . Guerre ä la Guerre'und , No more War'die breitesten Massen in allen ehemals kriegsführenden Ländern erfaßte. Os sietzky wurde einer ihrer tätigsten Protagonisten. Er war Mitveranstalter und Redner auf allen Massenmeetings, die in den folgenden Jahren regelmäßig am 1. August unter freiem Himmel oder in den größten Sälen Berlins stattfanden, um gegen den Krieg zu protestieren und internationale Verständigung zu fordern. Er hat mit Professor Einstein, mit dem Franzosen Professor Langevin, mit dem Engländer Rennie Smith M. P. auf einer Tribüne gestanden und für den Frieden gekämpft.

Ossietzky hat bis zum Jahr 1924 die außen-politischen Artikel der . Berliner Volkszeitung'im Sinne der europäischen Verständigung geschrieben und hat im Kampf um Deutschlands Eintritt in den Völkerbund in vorderster Reihe gestanden.

Ossietzky ist 1924 in die Redaktion des , TageBuch'eingetreten und wurde kurz darauf von dem Herausgeber der . Weltbühne'als politischer Leitartikler zu diesem Wochenblatt geholt. Von hier aus begann Ossietzkys große Entfaltung. Er hat die ganze deutsche und europäische Entwicklung vor allen andern deut-B sehen Publizisten richtig vorausgesehen und in seinen klaren, stilistisch unvergleichlichen Artikeln von Woche zu Woche gekennzeichnet."

Der Ablauf von drei Strafprozessen, in denen Ossietzky als verantwortlicher Redakteur — nie als Autor — der „Weltbühne" vor Gericht stand, war ein wesentlicher Teil der biographischen Darstellung: „Ossietzky hielt es für seine pazifistische Pflicht, die immer wieder versuchten heimlichen Aufrüstungen, die im Widerspruch zur deutschen Verfassung und zu internationalen Verträgen standen, aufzudecken."

Von den Schriften des Kandidaten, der kein Buch veröffentlicht hatte, präsentierte Gerlach „Vier Beispiele aus Vierhundert Artikeln", die in der Weltbühne erschienen waren: Im „Abschied von Stresemann", einem ungewöhnlich interessanten Nachruf auf Deutschlands ersten Träger des Friedensnobelpreises, lautete ein Abschnitt: „Ein Mensch, der mit seinem Wirken so tief in die Zeit gegriffen hat, sollte vor billiger Grabstein-Lyrik geschützt sein . . . Stresemanns Bedeutung war, daß er eine in Deutschland einzigartige politische Begabung hatte . . . Wir haben immer wieder mit Staunen wahrgenommen, daß unter uns ein Politiker tätig war, der durchaus das Maß hatte, es mit den Kollegen im Ausland aufzunehmen, der genug Talent hatte, vor Briand und Poincare, vor MacDonald und Tschitscherin ehrenvoll abzuschneiden."

Im Nachruf auf Frithjof Nansen stand unter anderem: „Doch das große Abenteuer kam erst in den letzten zehn Lebensjahren des Mannes, als er lange der Antarktis entsagt hatte. Da wurde er das praktische Genie der Humanität in den ersten schlimmsten Nachkriegsjahren . . . Der Menschenfreund Nansen war weder weichlich und sentimental, noch Fanatiker. Er hatte nicht nur ein gutes Herz, sondern auch viel Verstand. Das war das Geheimnis seiner Erfolge. Das unterschied ihn von den vielen wirkungslosen Menschenfreunden, die alle Welt umarmen möchten, aber dem Verstand gram sind."

In einem Profil Mahatma Gandhis beschrieb Ossietzky Indien als ein Land, „das sich in gewaltiger sozialer Gärung befindet und aus Tausend und einer verträumten Nacht in das unbarmherzige Taglicht moderner Emanzipationskämpfe tritt . .. Der Weg aus dem Mittelalter in die Neuzeit ist für alle Völker blutig und dornig gewesen. Indien ist glücklich zu schätzen, daß ihm sein neues Gesetz nicht von einem Diktator auferlegt wird, nicht in dem unerbittlichen Kommando eines asiatischen Napoleon dröhnt, sondern von der sanften Stimme Mahatma Gandhis verkündet wird."

Im „Grab des bekannten Soldaten" gab Ossietzky eine meisterhafte Charakteristik der politischen und militärischen Rolle des französischen Marschalls Foch. Sie endete mit den Worten: „Foch hat die größte Armee der Weltgeschichte geführt und die größte Schlacht geschlagen. Dennoch stirbt er als ein überholter. In diesen zehn Jahren haben sich die Kriegsmittel so sehr verändert, daß in einem kommenden Krieg nichts mehr an die Formen des letzten erinnern wird. Foch, der unser Zeitgenosse war, steht trotzdem Hannibal näher, als dem Generalissimus der Zukunft. Es wird dann nicht mehr Sieger und Besiegte geben, sondern nur noch Tod und Zerstörung. Ferdinand Foch war: der letzte Sieger."

Das dritte und letzte Kapitel der Denkschrift brachte „Stimmen um und über Ossietzky", die seine bewundernswerten Charakterzüge aufrichtig würdigten und seine Peiniger beredt und bitter anklagten.

Ein stärkerer Beweis für die Reichweite von Ossietzkys politischer Wirksamkeit war der in Schweizer Blättern veröffentlichte — und von Gerlach zitierte — Aufruf von 68 Schweizer Bürgern; dieser Appell vom November 1934 endete: „Die deutsche Regierung möge bedenken, daß sie den Glauben des Auslands an den von ihr so oft verkündeten Friedenswillen und damit eine Wiederherstellung des internationalen Prestiges ihres Landes so lange nicht wird erwarten dürfen, als sie einen der mutigsten Friedenskämpfer gleich einem Verbrecher behandelt. Die Fürsprache der Unterzeichneten für Carl von Ossietzky, der selbst nie einer politischen Partei angehört hat, ist weder die Sache irgendeiner Partei, noch sonst irgendeiner Gruppe; sie entspringt ausschließlich den gemeinsamen Gefühlen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit, sie ist begründet durch die bange Sorge um die erschütterte Gesundheit Carl von Ossietzkys, und sie ist nicht zuletzt ein Ausdruck der Sympathie für den Menschen Carl von Ossietzky, der unter Einsatz des höchsten Gutes, der persönlichen Freiheit, unablässig für die Idee des Weltfriedens gestritten hat."

Anhänger und prominente Sprecher aller politischen Richtungen — mit Ausnahme von Faschisten und Kommunisten — hatten den Schweizer Aufruf unterzeichnet.

Gerlachs Denkschrift wurde überzeugend ergänzt, als Ludwig Quidde seine Bedenken überwand und Ossietzky fristgemäß vor dem 31. Januar 1935 vorschlug.

Der neue „Fall Ossietzky" im Spiegel der Presse

Wir mußten die Nachricht vom Zustandekommen der ersten gültigen Ossietzky-Kandidatur und die Namen der Antragsteller zunächst so streng geheimhalten wie das Nobelkomitee, das selbst niemals publizierte, wer überhaupt vorgeschlagen wurde und von wem. In unserem Fall war aber der Eindruck auf die Nazis entscheidend: Sie durften nichts von den Vorschlägen der beiden Emigranten — Quidde und Gerlach — erfahren und auch nicht wissen, daß unter Tausenden von vorschlagsberechtigten Ausländern nur drei — bestenfalls fünf oder sechs — ausdrücklich für Ossietzky gestimmt hatten.

Außerdem konnten wir nur durch eisernes Schweigen verhindern, daß kommunistisch gelenkte Aktionskomitees und andere verantwortungslose Verfasser schlechter Werbeschriften unsere potentiellen ausländischen Bundesgenossen abschreckten, die wir noch zur Unterstützung der Kandidatur gewinnen mußten. Nachdem Jane Addams als Antwort auf unsere Bitte um Publikations-Erlaubnis telegrafiert hatte: „Happy to have my name used", konnten in den USA und in England die ersten Berichte über Ossietzkys Kandidatur erscheinen. Unter der auffallend gedruckten Titelzeile „Jane Addams asks Nobel Prize for Nazi Victim" stand in der Chicago Daily News vom 6. April 1935 eine meisterhafte Begründung von Edgar Amsel Mowrer mit dem Schlußabschnitt: „Der Vorschlag von Jane Addams und einer Gruppe von anderen Nobelpreisträgern und internationalen Gelehrten erscheint Tausenden, die Ossietzkys Werke kennen, als die passende Antwort des freien Geistes auf seine Behandlung; sie hoffen, daß die norwegischen Richter bestimmte politische Ansichten außer acht lassen und die Gelegenheit ergreifen werden, diese in heutiger Zeit fast einzigartige Hingabe an den Frieden zu bezeugen."

Die Wochenausgabe des Manchester Guardian veröffentlichte die Darstellung ihres Londoner Korrespondenten am 26. April 1935 mit der Überschrift „Der Nobelpreis dieses Jahres": „Wenige Insassen deutscher Konzentrationslager haben hier soviel Mitgefühl ausgelöst wie Carl von Ossietzky ... Er hat nicht nur für den Frieden gearbeitet; er hat auch für den Frieden gelitten. Diese Kandidatur wird so wohl von mehreren Nobelpreisträgern, als auch von hervorragenden Publizisten unter stützt . . ."

1 Inhalt und Aufmachung der beiden Artikel bewährten sich als aktivierende Information für jeden erfahrenen Journalisten, der an dem Thema interessiert war.

Die Nobelpreis-Forderung faszinierte in allen Ländern, wo sie bekannt und gut kommentiert wurde, so viele Menschen, daß Ossietzkys Name symbolische Bedeutung bekam und immer häufiger stellvertretend für das Schicksal der wehrlosen Gegner und Opfer des verabscheuten nationalsozialistischen Regimes genannt wurde.

Das mobilisierte auch gefährliche Folgen, wie die permanente Umfälschung von Ossietzkys Lebensgeschichte und politischer Haltung im Sinne sowjetischer Auslandswerbung. Drei verschiedene Abteilungen der kommunistischen Zentrale für Agitation und Propaganda in Europa benutzten den „Fall" Ossietzky systematisch zum Vorspann für jene Projekte der Komintern, die auf Parteibefehl in den meisten Ländern als „überparteiliche" karitative oder pazifistische Bestrebungen getarnt werden sollten; Literaturfunktionäre verbreiteten gefälschte Aussprüche Ossietzkys und verstümmelte Versionen seiner Aufsätze, die so redigiert waren, daß man den als parteilos vorgestellten Pazifisten für einen kritiklosen Verehrer des sowjetischen Totalitarismus und treuen Verbünden der gesamten Komintern halten mußte.

Diese „Kundgebungen" genügten ausländischen Freunden und Apologeten des Nazismus als Rohstoff für ihr eigenes, ebenso falsches Ossietzky-Bild, das nun den Eindruck vermittelte, der eingesperrte deutsche Anti-Militarist habe niemals den sowjetrussischen Militarismus kritisiert und vorwiegend das Ziel verfolgt, Deutschlands parlamentarische Demokratie zugunsten einer kommunistischen Diktatur abzuschaffen.

Beide Fälschungen lieferten den Mitarbeitern des Berliner Propagandaministeriums brauchbare Argumente gegen Ossietzkys Entlassung, wenn prominente Ausländer immer wieder diskret aber deutlich seine Entlassung empfahlen oder forderten.

Gezielte Anworten auf offene Fragen

Veröffentlichte Meinungen über Ossietzky. — ob richtig oder falsch — interessierten jetzt auch die wissenschaftlichen Berater des Nobel-komitees. Was er selbst im „Tagebuch" und in der „Weltbühne" von 1924 bis 1933 publiziert hatte, konnten sie in einigen europäischen Bibliotheken finden; aber kein Nachschlagewerk und keine andere katalogisierte Darstellung beantwortete die maßgebende Preis-Frage, ob und in welcher „Richtung" Carl von Ossietzkys Leitartikel und Glossen zur Zeit ihrer Aktualität die politischen Ansichten deutscher Wähler und die Entscheidungen deutscher Politiker beeinflußt hatten. Wer Ossietzkys Ruf als Vorkämpfer auf Deutschlands Weg zum friedlichen Ausgleich nationaler Interessen und internationaler Konflikte festigen und seinen, als Rettungsring konzipierten, moralischen Anspruch auf den großen Preis 1935 noch sieben Monate lang — bis zur Entscheidung in Oslo — erhärten wollte, mußte der ernsthaft antitotalitären Presse glaubwürdige Ergebnisse einer rückwärts gewandten Meinungsforschung zur Verfügung stellen.

Von den emigrierten Publizisten, die uns in Europa bei dieser schwierigen Aufgabe wirkungsvoll unterstützen konnten, waren außer Ossietzkys Freunden Rudolf Olden und Ernst Toller nur wenige mit dem eindeutigen Verzicht auf falsche politische Akzente einverstanden und außerdem noch zu rühmloser anonymer Schützenhilfe, die einiges Geld kostete, bereit. Für unschätzbare Auskünfte und Ratschläge stellte sich Konrad Heiden — Autor der ersten „Geschichte des Nationalsozialismus" — zur Verfügung, als er in Paris das Manuskript zu seinem Buch „Adolf Hitler — Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit" vollendete; ebenso sein Freund Dr. Norbert Mühlen der dort an einer wissenschaftlichen Analyse der totalitären politischen Propaganda arbeitete und sich Dr. K. Bach nannte, um die Familie in Deutschland nicht zu gefährden. Obwohl er Carl von Ossietzky weltanschaulich recht fern stand und die politische Rolle der Berliner Weltbühne mit anderen Augen sah als ihre ehemaligen Mitarbeiter, widmete Mühlen unserer intensiven anonymen Pressearbeit jede freie Minute, um für Ossietzky den ehrenvollen Preis und die Befreiung zu erreichen.

Man mußte den politischen Stil und die besonderen Interessen der Empfänger berücksichtigen. Wo tägliche Erfahrungen mit nationalsozialistischer Auslandspropaganda die Öffentlichkeit so stark beschäftigten wie in der Schweiz, entwickelten sich viele Presse-Reaktionen auf die Ossietzky-Publizität zur harten Auseinandersetzung über Schweizer Politik. In Zürich hatten die Urheber des großen Aufrufs von 68 Schweizer Bürgern ein Komitee eingerichtet, das Ossietzky-Informationen für die Schweizer Presse zusammenstellte und sich mit regelmäßigen Beiträgen an unseren Geld-sammlungen für Carl und Maud von Ossietzky beteiligte.

Unerwartete Ermutigung und Hilfe für Norwegen fand ich auf dem völlig unpolitischen Weltkongreß der Soroptimist Clubs bei der norwegischen Delegierten Frau Mimi Sverdrup-Lunden, einer rhetorisch und journalistisch begabten Lehrerin aus Oslo, die sich für den deutschen Widerstand interessierte, aber vom „Fall Ossietzky" noch nichts gehört und gelesen hatte. Sie übernahm in Paris alle verfügbaren Berichte, um sie in Norwegen zu verwerten.

Zweideutige Reaktionen in Papenburg und Berlin

Es gab manche direkte Informationen aus Papenburg und Berlin, die wir nur vorsichtig verarbeiten und nie als datierte „Nachricht" verbreiten durften:

Zwei entlassene Kommunisten, die ein Exemplar der neuesten Lager-und Strafordnung von Papenburg besaßen, erzählten uns in Paris, Heinrich Himmler habe sich Ossietzky bei einer Lagerbesichtigung vorstellen lassen und zu ihm gesagt: „Der Mann, von dem die Welt so viel spricht." Nach der neuen StrafOrdnung würden die Häftlinge nicht mehr „wahllos", sondern „nur noch" nach festgelegten „Regeln" mit harter Prügel bestraft. Ossietzky habe jetzt weniger zu leiden als zur Zeit der fast tödlichen „ungeregelten Mißhandlungen"; er sei ein Mustergefangener und habe deshalb noch keine der „geregelten" Körperstrafen erlitten. Die Entwässerungsarbeit in den Sümpfen, bei der Ossietzky schwerkrank zusammengebrochen war, hätte für alle Häftlinge aufgehört. Jetzt würden sie für Bauarbeiten verwendet. über Maud von Ossietzkys ersten Besuch in Papenburg berichtete Hedwig Hünicke, die wieder stärker überwacht wurde, seit sie erreicht hatte, daß Maud in Hamburg bei Carls Stiefvater Gustav Robert Walther und dessen zweiter Frau leben konnte: Der Lager-besuch sei lange Zeit auf undurchsichtige Weise verzögert worden. Sie habe Maud nach Papenburg begleitet, aber Ossietzky weder sprechen noch sehen können, weil ihr verboten wurde, das Lager zu betreten; Maud, die ihr wenig erzählt habe, sei kurze Zeit später nach England gereist; Hedwig Hünicke betonte, sie wisse, ebensowenig wie die Familie Walther, wer das kostspielige Unternehmen von Maud finanziert hat.

Während sich Maud von Ossietzky über zwei Monate in England aufhielt, veröffentlichte die London Times am 31. August 1935 eine Erklärung, die sie persönlich dorthin gebracht hatte; der Wortlaut erschien als ein aus Flamburg datierter „Brief an den Herausgeber" : „Dari ich Sie um die Freundlichkeit bitten, den zahlreichen Freunden und Bewunderern meines Mannes Carl von Ossietzky bekanntzugeben, daß ich ihn am 3. Juli sehen durfte und so wohl gefunden habe, wie man erwarten konnte (, as well as could be expected'). Er war vor kurzer Zeit in ärztlicher Behandlung und der Arzt versicherte mir, daß er nur unter seiner langjährigen Herzschwäche leide. Selbstverständlich haben die Anstrengungen der Haft (schon zwei Jahre und sechs Monate) eine niederdrückende Wirkung."

Nach ihrer Abreise schrieb mir Ernst Toller am 17. Oktober 1935 aus London:

„Frau O. war zweimal bei mir, aber was ich von ihr erfahren wollte, konnte sie mir nicht erzählen. Ich las einige Briefe von O., die mich, obwohl wegen der Zensur nichts Tatsächliches drin stand, sehr bewegten.

Es war nicht möglich, herauszubekommen, auf wessen Veranlassung sie den bedauerlichen Brief in der Times veröffentlicht hat. Rosa-linde, die ich auch sprach, meinte, . englische Freunde'hätten dazu geraten. Im ganzen war die Begegnung sehr traurig. Ich brauche Ihnen keine Einzelheiten zu schreiben ..."

Rudolf Olden berichtete Milly Zirker über seine Begegnung mit Maud von Ossietzky: Sie habe aus Papenburg erzählt, Ossietzky habe sich in Anwesenheit eines Kriminal-Kommissars beschwert, daß ihm ausländische Veröffentlichungen schadeten; besonders so-genannte Greuelmeldungen über Prügel und angebliche Absichten, ihn zu töten, sollten nicht mehr erscheinen. Man könne ja an seine Gefangenschaft erinnern und seine Entlassung befürworten. Sie hatte die englische Übersetzung eines Briefes von Carl bei sich, in dem stand, man solle ihm Geld und Marmelade schicken, er habe nichts mehr.

Masaryks Kandidatur und Gerlachs letzter Appell für Ossietzky

Als Hellmut von Gerlach am 2. August 1935 im siebzigsten Lebensjahr starb, verlor Ossietzky seinen weisesten Verteidiger und einflußreichsten Beschützter; die letzte diplomatische Aktion für den Freund galt dem unerwarteten Ereignis, daß Thomas Masaryk „von notabelster tschechischer Seite" für den 35. Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde. Gerlach begegnete dem dornigen Problem mit einer vorsichtigen journalistischen Würdigung, die „Teilung des Preises" vorschlug und mit einem Appell an den potentiellen „Sieger" schloß: „Bekommt Masaryk den Preis, so wird er ihm in Oslo überreicht und er hat die übliche Dankrede zu halten. Ich richte an ihn die ausdrückliche Bitte, in dieser Rede die Tatsache zu erwähnen, daß Ossietzky neben ihm für 1935 vorgeschlagen gewesen sei und für 1935 von ihm selbst vorgeschlagen werde. Können wir Ossietzky nicht als halben Friedenspreisträger für 1935 begrüßen, so würde die Empfehlung Masaryks ihn fast mit Sicherheit zum ganzen Friedenspreisträger für 1936 werden lassen."

Milly Zirker, die Gerlachs literarischen Nachlaß einschließlich des politischen Briefwechsels betreute, übermittelte den letzten Appell seinem Freund Emil Ludwig, der als Biograph von Thomas Masaryk der geeignete Interpret war und die schwierige Mission übernahm.

Briefwechsel mit Willy Brandt

Konrad Reisner, der junge Nachfolger Gerlachs in der Rechtsabteilung des Service Allemand, plädierte für gründliche Erweiterung unseres Informations-Austausches mit Norwegen, den Mimi Sverdrup-Lunden schon erfolgreich eingeleitet hatte. Er schickte nach Oslo an Willy Brandt, den er aus Deutschland kannte, eine lange Liste von Anfragen und Vorschlägen.

Willy Brandt antwortete ihm am 28. September 1935:

„ 1. Wie man mir berichtete, besteht das Komitee aus fünf Mitgliedern, die vom Storting ernannt sind, aber völlig souverän entscheiden. Der Vorsitzende ist ein ehemaliger Rektor der Universität, Professor Fredrik Stang, ein sehr alter Herr mit angeblich linken Sympathien, aber sicher kaum zugänglich. Weiter sitzen dort zwei Bürger, ein Reeder und ein anderer, deren Namen ich nicht erinnere, die aber bestimmt nicht für O. sind. Die andern beiden Mitglieder sind der jetzige Außenminister, Professor Halfdan Koht, und Dr. Christian Lange.

2. Mitglied der NAP 27a)

ist von diesen Mitgliedern nur Koht. Selbst eigentlich Nationalist, ist es ganz gewiß, daß er sich nicht für O. einsetzt. Mir wurde auch seitens Finn Moe (Außenpolitiker im Arbeiterbladet) gesagt, Koht würde im Falle der Wahl O.'s sicher aus dem Komitee zurücktreten, da er das nicht mit seiner Funktion als Außenminister vereinbaren könne. — Die NAP hat an sich Sympathien für O., hat sich auch bei Protesten nach Deutschland für ihn eingesetzt, wird aber keineswegs Koht Vorschriften machen. Das hat sich auch schon in anderen Fällen gezeigt. — Dr. Lange ist nicht Mitglied der NAP, steht ihr aber nahe. Zur Zeit ist er ebenso wie Koht in Genf. Er hat Sympathien für O., wie mir gesagt wurde. Wenn er zurückkommt, werde ich versuchen, mit ihm darüber zu reden. Ob das gelingt, ist zweifelhaft. Die Leute haben Schweigepflicht und pflegen sich streng daran zu halten. Mit Langes Sohn bin ich bekannt, habe ihn aber seit einigen Monaten nicht mehr getroffen. Ich werde ihn nun auch in dieser Angelegenheit aufsuchen, damit er evtl, bei seinem Vater dafür interveniert, der dann wiederum mit dem greisenhaften Vorsitzenden sprechen könnte.

3. Eines scheint mir bei der ganzen Sache festzustehen: daß O.den Nobelpreis nicht bekommt. Das sagt natürlich nicht, daß man nicht kräftig dafür eintreten soll. Besonderes Interesse für die Kandidatur O. habe ich nicht festzustellen. Der oben erwähnte Finn Moe sagte mir auch vor einigen Monaten, O. sei zu wenig bekannt, um namhafte Leute einsetzen zu können. Man kennt ihn jetzt durch die Proteste gegen seine Einsperrung, aber man kennt ihn nicht aus seiner früheren Tätigkeit, die ja die Grundlage für die Qualifikation zum Nobelpreisträger sein muß. Selbst bei den Pazifisten ist er kaum bekannt gewesen.

4. Das Komitee wird am besten über Dr. Lange und an die offizielle Adresse mit Gesuchen etc. bestürmt. Größere Bedeutung als Unterschriften haben dazu Briefe von „Prominenten", wobei das erstere aber auch gleichzeitig gemacht werden könnte.

5. Möglichkeiten der Pressebearbeitung bestehen durchaus. Ich hatte schon im Sommer einen größeren Artikel über O. im Arbeiderbladet, der auch von einem Teil der Provinz-presse nachgedruckt wurde. Da ich regelmäßig mit dem Arbeiderbladet und mit dem Presse-kontor für die gesamte Provinzpresse der NAP in Verbindung stehe, ist es mir nicht schwer, sie laufend zu bearbeiten, wenn ich dazu laufend Material erhalte. Dazu brauche ich zunächst noch Material über die frühere Tätigkeit O.'s, über sein Ergehen nach 33 und dann laufend über das, was man für ihn unternimmt, alle Protestschritte gegenüber den Deutschen und Gesuche an das Komitee. Ich werde Dich dann durch Ausschnitte über den Stand der Pressekampagne auf dem laufenden halten. Es ist mir auch möglich, das linksbürgerliche Dagbladet zu beliefern.

Die Kampagne durch die Arbeiterpresse wird auch dadurch erleichtert werden, daß Tranmael selbst — mit dem ich dieser Tage sprach — sich dafür interessiert. Ich werde in der nächsten Woche noch mal ausführlich mit ihm reden.

6. Du fragst noch nach der allgemeinen Stimmung gegenüber Deutschland hier oben. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die Ablehnung bis sehr weit in die Kreise des konservativen Bürgertums hineingeht. Hitlerbegeisterte sind nur bei den noch recht schwachen faschistischen Gruppen zu finden.“

Von da an bekamen Willy Brandt und Frau Lunden, die sich durch meine Vermittlung kennenlernten, alle verwendbaren Pressestimmen und von uns zusammengestellten Informationen. In der ersten Empfangsbestätigung schrieb mir Willy Brandt am 1. November 1935: „Leider muß man damit rechnen, daß die großen Bemühungen für C. v. O. nicht mit Erfolg gekrönt werden. Ich bin aber der Meinung, daß man nichtsdestoweniger die Kampagne mit voller Kraft . ortsetzen muß. Ich werde dieser Tage noch einige Besprechungen mit Herren haben, die dem Nobelkomitee sehr nahestehen und werde dann vielleicht noch etwas klarer sehen können. Einer meiner Freunde beabsichtigt, in der nächsten Woche einen längeren , Offenen Brief an das Nobelkomitee im , Dagbladet'zu veröffentlichen. Ich selbst schrieb schon im Sommer ausführlich im , Arbeiderbladef und habe jetzt mit der Redaktion vereinbart, daß ich wieder eine größere Zusammenstellung mache. Inzwischen sandte ich auch einen kleineren Artikel durch das Pressekontor an die etwa 40 Zeitungen der Arbeiterpartei in der Provinz. Die meisten haben ihn gebracht; ich werde auch versuchen, noch einiges in Schweden und Dänemark unterzubringen.

Es würde mich sehr freuen, wenn Sie mich weiter auf dem laufenden halten würden. Insbesondere würde mich interessieren zu wissen, ob Masaryk von dem Vorschlag weiß, den Preis evtl, zu teilen oder ob Sie einen Weg wüßten, Masaryk zu bewegen, daß er einem Mitglied des Komitees schreibt, er würde nichts gegen eine solche Teilung einzuwenden haben. Wahrscheinlich wird daran wohl kaum zu denken sein."

In meiner Antwort vom 7. November 1935 stand unter anderem:

„Dieser Tage wird eine von der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit abgesandte Delegation eine Audienz bei Masaryk haben, um mit ihm über den letzten Friedenspreis-Vorschlag ihrer kürzlich verstorbenen Ehrenpräsidentin Jane Addams zu sprechen. Ich habe nach Prag an die Delegationsführerin schon neues geeignetes Ossietzky-Material mit einem langen Wunschzettel expediert und kann Ihre Anregung noch als Nachtrag hin-schicken."

Amerikaner appellieren an Masaryk — Einstein und Thomas Mann an das Nobelkomitee

Das Norwegische Nobelkomitee erhielt in der gleichen Woche aus den USA die Abschrift eines ausführlichen Kabels, das fünfzehn bedeutende amerikanische Gelehrte und Publizisten auf Anregung von Werner Hegemann an Masaryk gesandt hatten, um die gefährdeten Aussichten Ossietzky durch eine — diplomatisch und taktvoll formulierte — Petition an den großen Konkurrenten zu retten.

Der Text und die Namen der Absender — darunter Charles A. Beard und Oswald Garrison Villard — wurden in amerikanischen Blättern veröffentlicht; unsere Abschriften kamen bei den Mitarbeitern der skandinavischen Presse noch „kurz vor Toresschluß" an. Streng vertraulich zu behandeln und nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren Briefe von Thomas Mann und Albert Einstein, die auch unter dem Eindruck der aussichtsreichen Kandidatur Masaryks entstanden waren und das Norwegische Nobelkomitee im letzten Monat vor der Entscheidung über den 35. Friedensnobelpreis erreichten. Kopien der eindrucksvollen Texte besaß zunächst nur Gustav Hartung der Einstein und Thomas Mann um „Intervention in letzter Stunde" gebeten hatte.

Albert Einstein antwortete zweimal auf Hartungs Appell; zunächst am 1. September 1935 „Ihre Aufforderung, wegen Ossietzky an das Nobelkomitee zu schreiben, hat manches für sich, aber noch mehr gegen sich: 1. Ich glaube, daß eine Aufforderung von deutschen politischen Emigranten von den Preisrichtern nicht als objektiven Motiven entspringend angesehen wird und deshalb nicht den gewünschten Eindruck macht. 2. Ossietzky hat durch seine Freunde im Ausland wissen lassen, daß irgendwelche Schritte zu seinen Gunsten von Seiten Emigrierter, falls sie den deutschen Machthabern bekannt werden, zur Verschärfung seiner ohnedies grauenvollen Lage beitragen. Würde es nicht doch durch Indiskretion bekannt werden, wenn ich — wenn auch inoffiziell — dorthin schreibe? Letztes Jahr hat Jane Addams auf meine Bitte hin Ossietzky vorgeschlagen. Ich glaube, daß dieser indirekte Weg am ehesten erfolgversprechend wäre. Ich habe keine Möglichkeit herauszufinden, an welche wahlberechtigten Persönlichkeiten man in dieser Sache mit einiger Aussicht auf Erfolg herantreten könnte. Wenn es Ihnen gelänge, eine einigermaßen zuverlässige Orientierung hierüber zu erlangen, so wäre ich gerne bereit, an eine oder zwei Personen zu schreiben. Ich glaube, daß der gute Nobel sich im Grabe herumdrehen würde, wenn er die Liste der Personen mustern könnte, die in seinem Namen für den Frieden belobt und belohnt worden sind.“

In Einsteins Brief vom 27. Oktober 1935 stand: „Es seinen mir nun doch richtig, an das Nobelkomitee wegen Ossietzy zu schreiben. Ich lege Ihnen eine Kopie meines Briefes bei und bitte Sie, dafür zu sorgen, daß derselbe nicht in die Presse kommt. Ossietzky hat selbst darum gebeten, Emigrierte möchten sich nicht öffentlich mit ihm beschäftigen, da die Nazis in solchen Fällen Rache an ihm zu nehmen pflegen. An Niels Bohr kann ich nicht gut schreiben, weil er dies als eine Art moralischen Druck empfinden könnte. Vielleicht könnte jemand anders an ihn schreiben und dabei erwähnen, daß ich an das Nobelkomitee geschrieben habe."

Am gleichen Tag schrieb Einstein an das Norwegische Nobelkomitee: „Ich habe formal kein Recht, einen Kandidaten für den Friedens-Nobelpreis vorzuschlagen. Aber unter den in unserer Zeit gegebenem Umständen fühle ich es als meine Pflicht, mein Gewissen durch diesen Brief zu entlasten. Das Nobelkomitee hat einmalig eine Gelegenheit, durch die Verleihung des Preises eine geschichtliche Tat zu vollbringen, welche durch ihre Auswirkungen in hohem Maße geeignet ist, die Lösung des Friedensproblems zu fördern. Dies kann dadurch geschehen, daß ein Mann ausgezeichnet wird, der durch sein Tun und durch sein Leiden den Preis mehr verdient, als irgend eine andere lebende Person — Carl von Ossietzky! Durch die Verleihung des Friedenspreises an diesen Mann würde der Pazifismus in demjenigen Lande neue Nahrung finden, das durch die gegenwärtig dort herrschenden Umstände die schwerste Gefahr für den Weltfrieden bedeutet. Auch würde da durch überall in der Welt das Gewissen aller besseren Menschen aufs Neue erweckt zur Arbeit für eine definitive Festigung einer internationalen Ordnung."

Thomas Mann hatte seine Denkschrift in Brief-form vom 13. Oktober 1935 aus Küstnacht bei Zürich abgesandt; darin hieß es u. a.: „Die Wahl des ehrwürdigen Oberhauptes des tschechischen Staates würde zweifellos von allen Friedensfreunden begrüßt werden. Absolut genommen wäre sie so glücklich wie denkbar. Welch eine Woge der Freude und Genugtuung aber durch die geistige Welt gehen würde, wenn das Komitee zu dem vielleicht weniger korrekten und glatten, dafür aber sittlich gewichtigeren Entschluß gelangte, einem Märtyrer der Friedensidee wie dem seit drei Jahren das Konzentrationslager erduldenden Ossietzky den Friedenspreis zuzuerteilen, ist in Worten schwer auszudrücken und doch liegt mir daran, Ihre Einbildungskraft, verehrte Herren, dafür wachzuruien. ...

Die Verleihung dieses Preises ist unausweichlich und unter allen Umständen ein politischer Akt, seine Errichtung selbst war ein solcher und seine Vergebung wird des demonstrativen, bekenntnishaiten Charakters niemals entbehren: des Charakters einer Kundgebung für die politische Idee, in welcher Politik und Moral sich vereinigen, die Idee des Völkerfriedens und für ihre siegreichen oder leidenden Vorkämpfer. Nicht immer ist es möglich gewesen und wird es möglich sein, den Preis Staatsoberhäuptern oder Regierungsmitgliedern — wie Briand und Stresemann — zu verleihen. Es liegt in der Natur der Friedens-idee — und wohl auch in der Natur von Regierungen —, daß sie sich öfters in der Opposition befinden; in solchen Fällen werden diejenigen, denen es obliegt, den Preis zu vergeben, es wohl oder übel mit einer Opposition gegen eine Regierung halten müssen."

Der nichtverteilte Preis und Knut Hamsuns Polemik

Am 19. November 1935 verkündete das Norwegische Nobelkomitee in Oslo, daß der Friedenspreis dieses Jahres nicht verteilt werde. „Jetzt ist’s aus", schrieb Mimi Sverdrup-Lunden am gleichen Tag nach Paris, „und — was machen wir nun? Ob man sowas versteht! Jetzt, jetzt wagt man nicht, einen Friedenspreis auszuteilen — jetzt findet man es nicht nötig, Pazifisten zu ermuntern — ich habe keine Worte mehr. ..."

Zwei Tage später begann die norwegische Öffentlichkeit, sich fast täglich mit Carl von Ossietzky und dem nicht verteilten Preis zu beschäftigen, weil Knut Hamsun seinen weltberühmt gewordenen Angriff auf Ossietzky und alle Freunde seiner Kandidatur in zwei konservativen norwegischen Blättern veröffentlicht hatte.

Willy Brandt schrieb darüber am 25. November 1935: „Wir sind uns voll darüber im klaren, daß die Situation nun für O. sehr ernst ist. Das sozialistische , Arbeiderbladet'hatte in der Woche vor der Entscheidung noch einen Artikel gebracht, in dem ich auch ausdrücklich auf diese ernste Lage hinwies. Jetzt ist uns ein unvorhergesehener Umstand zu Hilfe gekommen: Knut Hamsun schrieb am Freitag in den Osloer Zeitungen , Aftenposten'und , Tidens Tegn'einen schoflen Angriff auf Ossietzky. Der Tenor der Sache war der:

O. hat sich ja absichtlich einsperren lassen — er hätte fliehen können — um den Leuten im Ausland Agitationsstoff zu geben. Ich glaube, daß Hamsun sich direkt von den Nazis mißbrauchen ließ und daß es sich um einen bestellten Artikel handelt. Er wird darum wahrscheinlich auch in der Presse anderer Länder auftauchen. Hamsuns Artikel wirkte hier wie eine Bombe, er löste gewaltige Empörung in allen Kreisen aus. Am gleichen Tage brachte das liberale , Dagbladet'auf der ersten Seite eine Antwort des jungen Dramatikers Nordahl Grieg unter der Überschrift . Antworte Ossietzky', in dem er darlegte, wie der mutige Hamsun einen Mann mit Dreck bewirkt, der in Papenburg gefesselt liegt. Redaktionell wurde auch eine längere Antwort gebracht, ebenfalls im , Arbeiderbladet'. Am Sonnabend brachte . Dagbladet'den Artikel von Frau Lunden über den gegenwärtigen Zustand O.'s. In . Arbeiderbladet'schrieb Haakon Meyer, ein einflußreicher Mann der Linken, daß Hamsuns Angriff bewiesen habe, mit welchem Recht Ossietzky für den Friedenspreis vorgeschlagen worden sei. Er konkludierte damit, zu sagen, daß es noch nicht zu spät sei, daß das

Komitee sich erneut versammeln und sich für O. entscheiden müsse. — Daraus wird nun zwar sicher nichts werden.

Es wird aber zu einer neuen breiten Aufrollung des ganzen Falls kommen, auch in den andern nordischen Ländern, ünd damit dürfte der Sache angesichts der traurigen Gesamtlage doch noch gedient sein.

Wichtig ist aber nun vor allem Folgendes: am letzten Januar [31. 1., d. Red. ] läuft wieder die Frist für die nächstjährige Verteilung ab. Es ist unbedingt notwendig, daß O. so schnell wie möglich wieder von einigen vorschlagsberechtigten Personen und Institutionen vorgeschlagen wird. Erstens damit man nicht zu spät kommt, zweitens aber auch, weil die Veröffentlichung dieser neuen Vorschläge verhindern kann, daß ein gefährliches Schweigen über den Fall O. eintritt.

Die Parlamentsfraktion der hiesigen Arbeiterpartei hat übrigens auch Vorschlagsrecht. Sie hatte sich in diesem Jahr wie früher für den ehemaligen Stockholmer Bürgermeister Lind-hagen ausgesprochen. Wenn nun die neuen Vorschläge rasch genug kommen, halte ich es nicht für ausgeschlossen, daß ich dahin wirken kann, daß sich die Fraktion evtl, für O. einsetzt. Das wäre immerhin nicht ohne Bedeutung."

Internationales Echo auf Hamsun

Hamsun war recht zufrieden mit dem Welt-echo auf die Sensation, daß er Hitlers Aufrüstung emphatisch gelobt und den wehrlosen Gefangenen beschimpft hatte. Er stellte einer deutschsprachigen Prager Zeitung, die seinen Text im Rahmen einer Polemik veröffentlichen wollte, mit einem Brief aus Grimstad die autorisierte Übersetzung seines Artikels „Ossietzky" gern zur Verfügung: „Alle Jahre wieder werden an die deutschen Behörden Ersuchen gerichtet, Carl von Ossietzky aus dem Konzentrationslager Papenburg los zu lassen. Die deutschen Behörden haben bisher davon keine Notiz genommen. Alle Jahre werden Ersuchen an das Norwegische Nobelkomitee gerichtet, Ossietzky den Friedenspreis zuzuteilen. Bekäme er diesen Preis, könne er aus dem Konzentrationslager gesprengt werden, trotz des Widerstandes Deutschlands.

Es wäre vielleicht nicht übel, daran zu erinnern, daß Herr Ossietzky sowohl vor als nach der nationalsozialistischen Machtübernahme hätte Deutschland verlassen können. Das wollte er aber nicht. Er rechnete damit, daß die Leute aufschreien würden, wenn man ihn festnähme, ünd er hat sich nicht verrechnet. Er schrieb selbst in seinem Blatt vom 10. Mai 1932: . Wenn ich ins Gefängnis gehe, geschieht es nicht aus Loyalität, sondern weil ich tatsächlich den jetzigen deutschen Machthabern unbeguemer bin, wenn ich eingesperrt sitze. . . Als Gefangener werde ich eine lebende Demonstration. .. . Diesen Protest lebendig zu halten, fühle ich als eine Pflicht gegen diejenigen, die meine Sache zu ihrer eigenen gemacht haben.'

Er hat sich nicht verrechnet, es waren ringsum in den Ländern Leute, die seine Sache zu der ihren machten und aufschrien. Fleißig aufschrien. Dieser eigentümliche Friedensfreund dient nun seiner Friedensidee dadurch, den Behörden seines Vaterlandes permanent unbeguem zu sein.

Alle Jahre werden Ersuchen gerichtet, jetzt sei er , eingesperrt und zum Tode geplagt'in einem Konzentrationslager. Und jedes Jahr solle er den Friedenspreis haben.

Wie wäre es, wenn Herr Ossietzky lieber ein bißchen mithälfe, jetzt während dieser schweren Übergangszeit, wo die ganze Welt gegen die Behörden des großen Volkes, wozu er gehört, die Zähne fletscht? Was will er — ist es die deutsche Aufrüstung, gegen die er jetzt, als Friedensfreund, demonstrieren will? Wäre es diesem Deutschen lieber, wenn sein Land immer weiter zerdrückt und entwürdigt unter den Ländern liege, französischer und englischer Barmherzigkeit preisgegeben?"

Die norwegische Polemik um Knut Hamsun löste in manchen Ländern ein stärkeres Interesse für Ossietzkys Nobelpreis-Kandidatur aus, als alle früheren Nachrichten über den „Fall" vermocht hatten. Amerikanische und französische Zeitungen zitierten eine wütende nationalsozialistische Warnung an die Norweger, die kürzlich im „Schwarzen Korps" gestanden hatte und ganz ähnliche Formulierungen enthielt wie der später veröffentlichte Artikel von Hamsun. Wir schickten die interessantesten ausländischen Pressestimmen nach Oslo, und Willy Brandt übermittelte uns nach Paris Extrakte und Übersetzungen von skandinavischen Pressestimmen und Kundgebungen. Er schrieb am 4. Dezember 1935: „. . . daß sowohl , Dagbladet'wie , Arbeiderbladet'in verschiedenen Artikeln energisch für O. Partei ergriffen haben. , Aftenposten brachte noch wieder eine gehässige Notiz gegen ihn.

Die Resolution des Norske Studentersamfund sandte ich Ihnen im letzten Brief. Inzwischen hat eine Unterschriftensammlung unter den Osloer Studenten stattgefunden, die sich scharf gegen Hamsuns Angriff ausspricht und ihn an seine Jugendäußerungen erinnert. Mehrere hundert Studenten aus dem ganzen Land haben diesen Protest unterzeichnet, der dann groß in der Presse veröffentlicht wurde. — Lediglich der kleine Verein der konservativen Studenten sprach Hamsun seine Sympathie aus.

Es erscheint also laufend etwas über O., und wir sorgen dafür, daß der Kurs so erfreulich bleibt, wie er es seit Hamsuns Angriff ist.“

Am 14. Dezember kam die Übersetzung des Protestes der norwegischem Schriftsteller: „Heute muß ich Ihnen in aller Eile folgenden Dichter-Protest mitteilen, den man unbedingt auswerten muß. Der Protest erscheint heute in der ganzen Presse: . Unterzeichnete norwegische Schriftsteller meinen, daß der Wert und das Lebensrecht aller Dichtung in letzter Instanz darauf beruht, daß es Ausdruck von Geist ist, und daß die Schriftsteller darum, ungeachtet ihrer Haltung zu den Streitfragen des Tages und der Zeit, unablässig das Prinzip der Geistesfreiheit vertreten müssen.

Bei all unserer Bewunderung für die Dichtung Knut Hamsuns müssen wir darum unser Bedauern darüber aussprechen, daß der berühmteste unter den jetzt lebenden norwegischen Schriftstellern, frei, wohlhabend und in jeder Hinsicht gesichert, einen Mann angreift, der in einem deutschen Konzentrationslager sitzt, einzig und allein darum, weil er den unbedingten Mut seiner Auffassungen gehabt und sich mit seinem Leben dafür eingesetzt hat. Wir bedauern, daß Knut Hamsun es zulässig findet, das Wort gegen einen verteidigungslosen und sprachgefesselten Gefangenen zu ergreifen zum Vorteil einer alleinmächtigen politischen Herrschaft, die die Elite deutscher Schriftsteller, Hamsun gleich an Ruf, in die Emigration getrieben hat. .. .

Der Nationalsozialist Mehle stellte daraufhin in der Dichtervereinigung den Antrag, diesen Protest mit Bedauern zurückzuweisen (Egge, einer der Unterzeichner, war Vorsitzender der Vereinigung, Sigrid Undset, die auch unterzeichnete, ist neu gewählt worden). Mehles Antrag wurde nicht behandelt.“

Der internationale Informationsaustausch über den Fall Hamsun-Ossietzky gehörte bis Ende Dezember 1935 zu den vorbereitenden Arbeiten, die Ossietzkys Kandidatur für den Friedensnobelpreis des kommenden Jahres begründen sollten. Die Enttäuschung über den „Mißerfolg" hatte manche Anhänger und Förderer der ersten gültigen Kandidatur entmutigt. Willy Brandt war aber der Ansicht, daß die Entscheidung, den Preis überhaupt nicht zu verteilen, zum großen Teil darauf beruht hätte, daß Ossietzky so stark in den Vordergrund gerückt war. über unsere Aussichten, die Stimmen skandinavischer Parlamentarier für die neue Kandidatur Ossietzkys zu gewinnen, schrieb er am 23. Dezember 1935 unter anderem: „In Norwegen haben sich etwa 50 bis 60 Zeitungen für O. eingesetzt. Die Arbeiterpartei hat allein 43 Zeitungen, die meisten erscheinen täglich. Sie haben sich alle an der Kampagne beteiligt, wenn auch natürlich mit sehr verschiedener Intensität. Daneben hat eine Reihe von liberalen und unpolitischen Blättern wohlwollend Stellung genommen. — Genannt werden müssen vor allem die großen Osloer Zeitungen , Arbeiderbladet', das Organ der Regierungspartei, und , Dagbladet', das Osloer Organ der Venstre, d. h.der Liberalen.

Uber Schweden und Dänemark kann ich Ihnen heute nur allgemein mitteilen, daß sich auch dort eine Reihe von sozialdemokratischen (also Regierungs-) und liberalen Zeitungen für O. eingesetzt haben. Wegen konkreterer Nachrichten schreibe ich aber heute mit gleicher Post an meine Freunde in Stockholm und Kopenhagen und hoffe, daß ich IhnefC in einer Woche dadurch Genaueres übermitteln kann.“

Kandidatur für 1936

Uns standen noch höchstens vier Wochen zur Verfügung, um von Paris aus neue Vorschläge anzuregen, die vor dem 31. Januar 1936 in Oslo eintreffen konnten.

Weil die Nazis auf keinen Fall glauben durften, das Nobelpreisgespräch um Ossietzky sei ausgestanden, hatten wir schon am 22. November 1935 eine unpräzis gehaltene Nachricht lanciert, die im Pariser Temps als „aktuelle" Ergänzung zum Telegramm über den nichtverteilten Friedenspreis publiziert wurde: „. . . man habe . hierzu erfahren', daß , Genfer Kreise'eine Kampagne fortsetzten, die ursprünglich der verstorbenen -kürzlich grü ßen amerikanischen Pazifistin Jane Addams begonnen wurde, und nun erreichen wollten, daß der Friedenspreis des kommenden Jahres Carl von Ossietzky zugesprochen wird — dem ehemaligen Chefredakteur der Weltbühne, der sich seit dem 27. Februar 1933 im Konzentrationslager — zur Zeit in Papenburg — befindet."

Gleichzeitig lancierte auch Hermann Göring eine gezielte Friedenspreis-Meldung, die ebenfalls zur Hälfte erfunden war:

.. .der italienische Corriere della Sera erfuhr „aus Berlin" — keineswegs aus Skandinavien oder durch eigenes Studium ausländischer Zeitungen —, daß die schwedische Presse gar nicht über die Nichtverteilung des Friedenspreises erstaunt sei, weil dem Komitee nur völlig bedeutungslose Kandidaten genannt worden wären; der einzige überhaupt in Betracht kommende Kandidat sei 1935 erst verspätet nominiert worden — Prinz Carl von Schweden, Bruder des Königs Gustav, Präsident, Gründer und Organisator des Schwedischen Roten Kreuzes.

Wenn das kunstvoll errichtete Schutzdach über Ossietzky noch halten sollte, mußte jetzt eine ungewöhnliche große Anzahl von eindrucksvollen Vorschlägen, die man publizieren durfte, zustande kommen. Es gab aber kein Rezept gegen unsere würgende Angst, ihm vielleicht sogar durch glanzvolle Erfolge zu schaden, und dennoch gab es keine vertretbare Alternative zu unserem Entschluß, nach besten Kräften weiterzumachen.

Uber diskrete informative Verhandlungen mit vorschlagsberechtigten Parlamentariern und Professoren verständigten wir uns mit zwanzig Menschen in neun Ländern. Als Hilfsmittel stellten wir jedem zehn bis zwanzig numerierte Exemplare einer streng vertraulichen Werbeschrift — 25 Seiten in deutscher oder französischer Sprache — zur Verfügung:

„Als Manuskript gedruckt, — Nachdruck, auch teil-oder auszugsweise ausdrücklich verboten — nicht als Informationsmaterial für die

Presse bestimmt — Rückgabe bis zum 5. Februar an. . . ."

Einen pathetischen Appell an die Vorschlags-berechtigten hatte Heinrich Mann aufgrund einer Dokumentation von Konrad Reisner geschrieben; Konrad Heidens Beitrag, der Ossietzkys politisches Lebenswerk behandelte und die Lagerordnung kommentierte, hieß „Friedenspreis — Charakterpreis". In meiner Darstellung einer „Geschichte der Kandidatur" durfte ich die vertraulichen Briefe an das Nobel-Komitee von Albert Einstein und Thomas Mann wörtlich zitieren, nachdem ich Thomas Mann in einem langen Brief rigorosen Schutz vor Veröffentlichung zugesagt und ihm auch vorsorglich versprochen hatte, nicht gegen das Nobel-Komitee zu polemisieren. Einsteins Zustimmung erwirkte und telegrafierte Otto Nathan.

Die Schrift enthielt auch genaue Informationen Über die Vorschlags-Prozedur und ein kurzes Textbeispiel für Antragsteller, die sich auf die bereits eingereichte ausführliche Begründungsschrift eines anderen berufen konnten.

Am 14. Januar forderte das Züricher Ossietzky-Komitee telegrafisch von mir den „Entwurf einer Begründungsschrift für gesicherte Vorschläge von vierzig Mitgliedern der Schweizer Bundesversammlung". Der Text meines umfangreichen Manuskripts wurde unverändert von Nationalrat Dr. Hans Oprecht akzeptiert und als individueller Antrag von ihm in Oslo eingereicht.

Die Mehrheit der Bundesversammlung — 124 von insgesamt 231 Mitgliedern beider Schweizer Kammern — unterzeichnete am 17. Januar im Berner Bundeshaus einen kurzen Antrag zugunsten Ossietzkys, weil auf den Vorschlägen von Parlaments-Mitgliedern mehrere Namen unter einer gemeinsamen Begründungsschrift stehen dürfen 33a).

In der gleichen Woche übernahm und unterschrieb in Paris der französische Abgeordnete Henri Guernut eine von Milly Zirker in französischer Sprache verfaßte Begründungsschrift. Seinem Beispiel folgten 120 französische Abgeordnete und 13 Professoren. Die Parlamentarier waren vorwiegend Politiker der linken Mitte; als vierzehn von ihnen, noch vor unserer publizistischen Verwertung der französischen Anträge, Mitglieder einer neugebildeten Regierung — mit Leon Blum als Premierminister — geworden waren, fühlten wir uns zum rütksichtsvollen Verzicht auf die Veröffentlichung ihrer Namen verpflichtet.

Zehn Tage vor Ablauf der Vorschlagsfrist — am 21. Januar 1936 — schrieb Willy Brandt aus Oslo: „Zunächst also wegen der hiesigen Vorschläge: Ich hatte dieser Tage eine lange Reihe von Besprechungen wegen des evtl. Vorschlags der Arbeiterpartei. Heute wird die Sache im Zentralvorstand behandelt, der das entscheidende Wort spricht. Gleichfalls wird der Vorstand der Parlamentsfralition darüber beraten. Dort ist es jedenfalls schon sicher, daß man sich für O. entscheiden wird. Morgen fällt dann die endgültige Entscheidung in der Fraktion. Dort hat man einen alten sentimentalen Hang, den noch älteren Schweden Carl Lindhagen vorzuschlagen. Ich hoffe aber, daß diesmal O. durchgehen wird. Dafür ist alle mögliche Aussicht vorhanden. Sobald die Entscheidung vorliegt, werde ich Sie unterrichten. Falls es glückt, handelt es sich darum, daß mit einem Schlag 69 von den 150 Abgeordneten des Storting dafür sind. — Frau Lunden arbeitet gleichzeitig mit einigen liberalen Abgeordneten, und es besteht eine Chance, daß auch dort etwas erreicht werden kann. Wir sind jedenfalls recht optimistisch.

Geholfen hat uns noch in diesen Tagen die Meldung aus der Schweiz. Ihre Werbeschrift, die ausgezeichnet ist, hat uns gute Dienste geleistet. Wegen der Begründungsschrift werden wir es wahrscheinlich so handhaben, daß man hier eine eigene Begründung schreibt. Sie braucht ja nicht allzu lang zu sein, und sachlich ist das erforderlich, wenn die Fraktion den Vorschlag übermittelt.

Nach dem 31. können Sie natürlich mit unseren Vorschlägen arbeiten. Hoffentlich liegt dann auch , Masse'aus dem Norden vor.

. . . In Schweden hat man eine große Unterschriltenkampagne für die Kandidatur des Prinzen Carl organisiert. An dieser Kampagne beteiligen sich auch führende Leute der schwed. Sozialdemokratie. Erfreulicherweise hat aber das Zentralorgan der schwedischen Sozialdemokratie . Socialdemokraten (Regierungsorgan) am 13. ds. davon Abstand genommen. Es heißt dort u. a.:

, Ossietzky ist früher als Preisträger vorgeschlagen worden, und groß ist die Zahl der Friedensorganisationen, die dahinter stehen. Er genoß als warmer und ehrlicher Friedensfreund und Pazifist Weltansehen, und es ist nicht so lange her, seit Lion Feuchtwanger in einem Brief an das Nobelpreiskomitee in Oslo seine Verdienste und seine großartige Arbeit schilderte.

Als die Nazis die Macht in Deutschland übernahmen, flüchtete er nicht, sondern er gab einer ganzen Welt ein anschauliches Beispiel dafür, wie ein der Sache des Friedens warm ergebener Mann auftritt. Sein Mut wurde von den Nazis schlimm belohnt, denn als sie zur Macht kamen, wurde er verhaftet und mußte seitdem die fürchterlichsten Qualen durchmachen.', Folkets Dagblad',..., schließt seinen Artikel wie folgt:

, Das norwegische Komitee hat gewiß gezeigt, daß es eine sehr eigenmächtige Institution ist — oder vielleicht ist es richtiger zu sagen, daß politischer Opportunismus größtenteils die entscheidende Rolle gespielt hat. Aber es ist nicht ausgeschlossen, daß eine kräftige Opinionsäußerung aus Schweden zusammen mit den vielen Stimmen im Auslande einmal erreichen kann, daß es den Preis einem wirklich würdigen Kandidaten gibt — einem Mann, der alles für die Sache des Friedens geopfert hat."

Am 24. Januar konnte er mitteilen:

„Sie sehen aus der Anlage, daß ich in meinem letzten Brief nicht zu optimistisch war. Ich möchte jetzt sehr gern, daß wir durch einige andere Abgeordnete zustande bringen, daß sich die Mehrheit der norwegischen Volksvertretung für den Vorschlag ausspricht. Ich weiß nicht, ob das gehen wird, hoffe es aber.

Die hiesigen Vorschläge können sofort für die Presse usw. verwendet werden. Ich warte nun auf Nachricht von meinen schwedischen Freunden. Wahrscheinlich werden doch Vorschläge von dort kommen."

Die norwegische Regierungspartei — „Stortings-Fraktion der Norwegischen Arbeiterpartei" —, der 69 von 150 Mitgliedern des norwegischen Parlaments angehörten, schrieb am 23. Januar 1936 an das Norwegische Nobel-komitee, sie erlaube sich vorzuschlagen, daß Nobels Friedenspreis 1936 dem deutschen Pazifisten Carl von Ossietzky zuerkannt wird. Die kurze Begründung von insgesamt 25 Zeilen endete mit dem Satz: „Niemand ist zur Zeit berechtigter für die Anerkennung, die die Zu-erteilung von Nobels Friedenspreis bedeutet." Gleichzeitig reichte der Zentralvorstand der Norwegischen Arbeiterpartei einen eigenen Antrag ein, in dem unter anderem erklärt wurde:

„Der Zentralvorstand möchte besonders den Kampf hervorheben, den von Ossietzky gegen die geheimen deutschen Kriegsrüstungen in seiner Zeitschrift , Die Weltbühne'führte, deren Redakteur er seit 1927 war. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß es in erster Linie dieser Kampf gewesen ist, der dazu führte, daß er seit bald drei Jahren eingekerkert ist, ohne daß seine Angelegenheit vor einem Gericht behandelt wurde."

In Stockholm wurde ein Antrag schwedischer Sozialdemokraten zugunsten Ossietzkys von 59 Mitgliedern des Parlaments gestützt und unterzeichnet. Nach Oslo gelangten vor Ende Januar noch aus England, Belgien, Dänemark, den Niederlanden, der Tschechoslowakei, der Türkei und den USA mindestens 250 neue Anträge von Parlamentariern und Gelehrten, die ihr Vorschlagsrecht zugunsten Ossietzkys geltend machten.

Auch aus der Schweiz kamen höchst bedeutungsvolle Voten von acht Mitgliedern des Internationalen Friedensbüros, ferner Anträge von zehn Professoren der rechts-und staats-wissenschaftlichen und der historisch-philosophischen Fakultäten an schweizerischen Universitäten; und schließlich der Sühnebrief von zwei Schweizer Kommunisten, die zwar im Nationalrat saßen, aber zu spät begriffen hatten, daß ihre ausländischen Vorgesetzten jetzt nicht mehr vor Ossietzkys „Irrlehren" warnten, sondern den unbeliebten „bürgerlichen Kritiker" als Einheitsfrontidol „aller Werktätigen" priesen. Die gehorsamen Volksvertreter schlossen sich nachträglich dem Ossietzky-Vorschlag ihrer intimsten politischen Gegner an.

Nationalsozialistische Gegenkandidaten und Goebbels'Morddrohung

Neuere Nachrichten über Ossietzkys Gesundheitszustand waren beunruhigend; unsere Versuche, durch Anfragen über mehrere nationale Organisationen des Roten Kreuzes und Eingaben der englischen Quäker, Ossietzkys Überführung aus der Kranken-Baracke des Lagers in ein reguläres Krankenhaus zu erreichen, blieben ergebnislos. Wir hofften, daß man vielleicht in Schweden, noch eher als in anderen Ländern, die Möglichkeit finden würde, eine Besucher-Delegation in Begleitung eines Arztes nach Papenburg zu schicken. Josef Goebbels hatte fristgemäß Gegenkandidaten aufstellen lassen: den Rassehygieniker Professor Alfred Plötz und Baron Pierre de Coubertin, den Begründer der Olympischen Spiele. Plötz wurde zuerst ganz bescheiden in den „Blättern des Rassepolitischen Amtes der NSDAP" als ein von „schwedischen Gelehrten und norwegischen Parlamentariern" vorgeschlagener Kandidat präsentiert.

Berichte über Coubertin, der ja Protektor der für Berlin bevorstehenden Olympiade war, meldeten „Vorschläge von mehreren Staatsmännern und Regierungsmitgliedern aus zahlreichen Ländern — darunter Japan". Dem harmlosen, ziemlich unschädlichen Vor-Geplänkel folgte die gefährlichste Drohung des Propagandaministers. In seiner Ansprache über den Deutschlandsender zur Eröffnung des Wahlkampfes, die am 11. März 1936 in Paris und Prag von Journalisten mitstenographiert wurde, sagte Goebbels:

„Landesverrat war einmal eine salonfähige Sache, sogar eine Modesache. Und es gibt auch heute noch Leute, die für Landesverräter Nobelpreise beantragen. Wir sahen allerdings in einem Landesverräter nur einen Verbrecher. ... Es ist besser, der Kopf eines Landes-verräters fällt noch im Frieden, als daß seinetwegen im Kriege viele hundert Landsleute ihr Leben lassen müssen. Daher: Kopf ab!" Tschechoslowakische Zeitungen vom 18. März 1936 zitierten eine Berliner Meldung des tschechoslowakischen Pressebüros über „im Umlauf befindliche Gerüchte", das Befinden des im KZ Papenburg internierten Schriftstellers und ehemaligen Herausgebers der Weltbühne, Ossietzky, habe sich in besorgniserregender Weise verschlimmert. O. solle sich in Agonie befinden. Eine Bestätigung dieser Gerüchte sei nicht zu erhalten.

Englische, amerikanische und holländische Zeitungen zitierten eine Reuter-Meldung, die ähnliches — wenn auch nicht ganz so kraß — mitteilte. Gusti Hecht schrieb mir um diese Zeit von einer Auslandsreise:

„Wir haben gar keine Nachrichten; direkte Boten, die Grüße bestellten, haben sich seit fast einem Jahr nicht mehr gemeldet. Vor ungefähr sechs Wochen kam von O. eine Karte an die Gattin, die uns nicht wegen des Inhalts (der war so kurz und so gleichlautend wie stets), sondern wegen der veränderten zitterigen Handschrift sehr beunruhigt. Ich selbst habe die Karte nicht gesehen, aber Hünicke hat sie in der Hand gehabt. Jetzt ist wieder Besuchserlaubnis von der Gattin beantragt worden.“ Wir baten unsere Freunde in England, Norwegen und der Schweiz, ihre Bemühungen um geeignete Interventionen zu erneuern, und erfuhren aus Genf und Zürich, daß Carl J. Burckhardt vor sechs Monaten — im Oktober oder November 1935 — als Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Papenburg war, wo er Ossietzkys verzweifelten Gesundheitszustand festgestellt hatte Gertrud Baer, Leiterin des Genfer Büros der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit, verschaffte mir die Möglichkeit, Burckhardt, der gerade in Rom war, in einem Expreßbrief die neuen Nachrichten mitzuteilen und ihn für unsere Versuche, das Internationale Rote Kreuz einzuschalten, um Rat und Hilfe zu bitten. Ernst Rosenbusch vom Schweizer Ossietzky-Komitee schrieb am 4. April 1936: „Durch einen Freund in Genf habe ich mich über die Stellungnahme des Internationalen Roten Kreuzes erkundigt. Die Mitteilungen, die ich erhalten habe, sind streng vertraulich und dürfen unter keinen Umständen weitergegeben werden. Wenn etwas herauskäme, würde ich natürlich von Stunde an nichts mehr erfahren. Wenn ich Ihnen daher etwas mitteile, so kann es nur unter der unbedingten Voraussetzung geschehen, daß weder die Presse noch sonst irgendwie Dritte von Ihnen irgendwelche Mitteilungen erhalten. Das Rote Kreuz, das gegenwärtig Verhandlungen mit der Deutschen Regierung pflegt, legt allergrößten Wert darauf, daß nicht in irgendeiner Weise seine Unterhandlungen gestört und dadurch erschwert werden. Also bitte strengste Geheimhaltung folgender Mitteilung:

Auf die Meldung betreffend , Agonie'hat das Internationale Rote Kreuz an die zuständigen deutschen Regierungsstellen geschrieben, aber bis jetzt keinerlei Antwort bekommen. Das Internationale Rote Kreuz legt aber Wert darauf, daß wir jetzt keine große Presse-Kampagne Es begründet das damit, daß

Ossietzky schon einmal hart vor der Entlassung gestanden habe, daß die Entlassung aber rückgängig gemacht worden sei, weil auf der Reichskanzlei zur selben Zeit ein offenbar sehr unflätiges Protestschreiben kommunistischer Organisationen eingetroffen sei. Ich will sehen, ob ich in der nächsten Zeit je nachdem etwas an die Presse werde gehen lassen können."

Die wachsende Ausdehung kommunistischer Protest-Komitees, die angeblich im Interesse aller Opfer Hitlers und Mussolinis auftraten, stand im krassesten Mißverhältnis zur mangelhaften sachlichen und taktischen Vorbereitung ihrer Unternehmungen. Willi Münzenberg, dem hochbegabten Erfinder scheinbar „überparteilicher" Zusammenschlüsse und Veranstaltungen, gelang es jedes Jahr besser, die Einflußsphäre sowjetischer politischer Propaganda hervorragend zu erweitern; deshalb erreichten aber seine groß angelegten Kampagnen häufig genau das Gegenteil von dem, was ihr Hilfs-und Rettungsprogramm versprochen hatte. Ossietzkys Chancen, den Terror zu überleben, wurden jedes Mal geringer, wenn Agitprop-Funktionäre ihre Banner mit seinem Namen schmückten; auch als die Leiter des Pariser Thälmann-Komitees im Mai 1936 plötzlich verkündeten, sie hätten „bekanntlich" mit größtem Erfolg die internationalen Aktionen zugunsten des Friedensnobelpreises für Ossietzky eingeleitet und nunmehr die Absicht, ihre Kampagne noch aktiver als bisher fortzusetzen und zum glücklichen Ende zu führen. Ihr „Programm" gelangte durch Rundschreiben und Zeitungsmeldungen zur Kenntnis von vielen Leuten.

Nach der Goebbels-Rede beschloß die Berufsvereinigung englischer Journalisten, aufgrund von Rudolf Oldens Bemühungen, auf ihrer im April stattfindenden Tagung in Carlisle den Fall Ossietzky öffentlich zu erörtern und von der Internationalen Föderation entsprechende Schritte zu verlangen. In den USA hatten unsere Freunde begründete Hoffnung, daß die Regierung in Washington ihren Botschafter in Berlin beauftragen würde, sich direkt beim Auswärtigen Amt nach Ossietzky zu erkundigen,

Auf Görings Befehl nach Berlin

In der ersten Juni-Woche bestellte mich Hedwig Hünicke nach Amsterdam, um mir zu berichten, daß Ossietzky nicht mehr in Papenburg sei, sondern in der Gefangenen-Abteilung eines Berliner Krankenhauses. Ich sollte Geld für die Unterbringung in einer Heilstätte aufbringen. Die Diagnose, „schwere Erkrankung der Lunge", stand schon fest und auch die Neigung der Ärzte, Ossietzky zu operieren. Wir wollten versuchen, Professor Sauerbruch einzuschalten, der Ossietzky, falls es ratsam sei, operieren oder eine überflüssige Operation verhindern sollte. Ossietzkys Anwalt meinte, Hermann Göring habe den Transport nach Berlin Ende Mai veranlaßt.

Pressemeldungen über diese plötzliche Umsiedlung erschienen erst drei Wochen später. Der Manchester Guardian meldete am 17. Juni, Ossietzky sei offensichtlich in einem Gestapo-Krankenhaus, weil das Justizministerium, dem die Gestapo nicht unterstünde, angeblich nicht wüßte, was aus ihm geworden sei.

Die Neue Züricher Zeitung brachte eine Meldung ihres Berliner Korrespondenten, der mitteilte, Ossietzky, der schon in früherer Zeit an Herzbeschwerden gelitten habe, sei nun an „akuter Mandel-Entzündung" erkrankt, und deshalb nach Berlin gebracht worden, wo er gegenwärtig in einem „staatlichen Krankenhaus" gepflegt würde. (Der Korrespondent hatte offenbar Angina pectoris mit gewöhnlicher Angina verwechselt.)

Hedwig Hünicke wußte, und hatte nur aus Furcht vor schädlicher Publizität verschwiegen, daß er in der Gefangenen-Abteilung des Virchow-Krankenhauses lag. Am 10. September stand in der dänischen Zeitung „Berlinske Aftenavis", die meistens als „Berlingske Tidende" zitiert wurde, der Bericht ihres Sonderkorrespondenten Hans Wolf Jürgensen über ein Interview mit Carl von Ossietzky im Krankenhaus. Jürgensen schilderte Ossietzky, den er 1934 „schweigsam und gebrochen" in Sonnenburg gesehen hatte, als „völlig verwandelt" — gesund, heiter und freudig zum Friedensschluß mit der nationalsozialistischen Umwelt bereit. Ossietzky habe im Gespräch über seine Pläne für den Fall einer offenbar bevorstehenden Entlassung gesagt: „Ich habe den ehrlichen Willen, ganz von vorn zu versuchen, die neuen Töne, die man in Deutschland hört, zu verstehen und ich habe die Empfindung, daß die Revolution, die in Deutschland vorgegangen ist, sich möglicherweise auch in meinem Kopf vollziehen wird. Das werden wir sehen."

Fast alle europäischen Zeitungen, die sich jemals mit dem „Fall Ossietzky" beschäftigt hatten, untersuchten diese angebliche Äußerung und ihre ausschmückenden Ergänzungen sorgfältig auf Widersprüche und andere Anzeichen einer Fälschung; nur wenige glaubten an die Echtheit der Aussage. Am 18. September publizierte Agence Havas die offizielle deutsche Antwort auf eine Anfrage:

„Der deutsche Pazifist Carl von Ossietzky befindet sich noch in der politischen Abteilung des Virchow-Krankenhauses. Er hat ein Herzleiden. Durch eine ärztliche Untersuchung wird demnächst festgestellt werden, ob sein Zustand erfordert, ihn zu entlassen. Die .deutschen Behörden wollen dem Ausland nicht die Möglichkeit geben, der deutschen Regierung

den Tod Ossietzkys in einem Gefängnis vorzuwerfen." Unbeachtet blieb der interessante unfreiwillige Fälschungsbeweis der Essener Nationalzeitung, die allgemein als Sprachrohr von Göring galt. Dort erschien mehrere Wochen nach dem angeblichen Interview eine Verhöhnung der Schweizer, die wohl endlich einsehen müßten, daß ihr unmöglicher Kandidat natürlich niemals den Friedenspreis bekommen könne;

aus Ärger darüber hätten ihre Zeitungen jetzt erfunden, Ossietzky sei „weichgeworden" und habe sich zum Nationalsozialismus bekehrt. Am 29. September 1936 wurde mir nahegelegt, sofort nach Genf zu kommen, um Professor Frede Castberg zu treffen, den anderen wissenschaftlichen Berater des Norwegischen Nobel-komitees, der sich vorübergehend dort aufhielt und Material für ein „abschließendes" Gutachten suchte.

Er bat mich in einer ausführlichen Besprechung, ihm unwiderlegbare Unterlagen für eine positive Stellungnahme zugunsten Ossietzkys zu beschaffen. Es ging ihm insbesondere um den Nachweis, daß Ossietzky niemals zu den deutschen Pazifisten gehört habe, die Gelder aus den Fonds ausländischer Regierungen bezogen hatten; ferner um die Widerlegung der kommunistischen Propaganda, die ständig versuchte, Ossietzky zu einem Anhänger der Sowjetdiktatur zu stempeln, und endlich um Beweise gegen die Behauptung der „Berlingske Tidende", Ossietzky sei Nationalsozialist geworden. Ich konnte ihm die gewünschten Unterlagen aus der Völkerbundsbibliothek beschaffen und mit Ergänzungen aus eigener Kenntnis nach Oslo schicken.

Göring bestellt Ossietzky — Rücktritte im Nobelkomitee

Vor der amtsärztlichen Entscheidung über seine sogenannte Haftfähigkeit wurde Ossietzky unter Bewachung zum Hauptquartier der Gestapo in das Amtszimmer von Göring gebracht. Nach privaten Berichten, die damals und später aus Berlin ins Ausland'gelangten, hat Göring — abwechselnd drohend und freundlich — von Ossietzky verlangt, sich für eine Ablehnung des Nobelpreises zu entscheiden, falls ihm der Preis, was bald möglich wäre, zuerkannt werden sollte. Man würde ihn dann für das entgangene Vermögen durch eine gesicherte Rente von monatlich 500 Mark entschädigen. Falls er das gleich unterschreiben würde, wäre er sofort „ein freier Mann"; Ossietzky verweigerte die geforderte Zustimmung und ging in sein Gefängnis-Lazarett zurück

Die sogenannte Entlassung aus der 1933 verhängten „Schutzhaft", die ihm nun erlaubte, ein Krankenhaus eigener Wahl aufzusuchen, wurde von den Nazis streng geheimgehalten. Er lag schon zehn Tage unter Gestapo-Bewachung auf der Tuberkulose-Station des Berliner Westend-Krankenhauses, als die ersten Drahtmeldungen über seine Entlassung aus dem Gefängnis-Lazarett — mit falschen Angaben über den Aufenthaltsort — am 17. No-vember 1936 in der Auslandspresse publiziert werden konnten.

Schon am Tage zuvor erfuhren in Oslo Dr. Christian Lange und die beiden wissenschaftlichen Berater des Nobelkomitees durch Vermittlung von Frau Sverdrup-Lunden, was Hedwig Hünicke mir sofort nach Ossietzkys Unterbringung im Westend-Krankenhaus geschrieben hatte: Er sei geistig „unverändert" und habe bewußt überhaupt kein „Interview" gegeben; die dänischen Zitate seiner — angeblichen — Aussagen habe er als Erfindung bezeichnet.

Das Norwegische Nobelkomitee hatte im November 1936 den festgesetzten Entscheidungstermin schon zweimal abgesagt und verschoben. Der Außenminister Halvdan Koht mußte unter dem öffentlichen Druck seiner eigenen Parteifreunde Sitz und Stimme im Komitee aufgeben und dem zuständigen Ersatzmann, Bankdirektor Axel Thallaug, überlassen. Unerwartet verließ auch Johann Ludwig Mowinkel, ein linksliberaler Politiker und ehemaliger Staatsminister, das Komitee; sein nachrückender Ersatzmann war Martin Tranmael, Chefredakteur des Arbeiderbladet.

Nach der Entscheidung

Nach der Entscheidung vom 23. November 1936 mußten deutsche Zeitungen Ossietzkys Ehrung fast zwei Tage lang totschweigen, bis die Formulierung des Deutschen Nachrichten-büros den Ton angab. Sie lautete:

„Mit Carl von Ossietzky ist der Friedensnobelpreis zum ersten Male an einen von dem höchsten Gericht seiner Heimat verurteilten Landesverräter gefallen. Carl von Ossietzky wurde am 23. November 1931, also in der Zeit der Novemberrepublik vom Vierten Strafsenat des Reichsgerichts wegen Landesverrats zu einer Strafe von 11/2 Jahren Gefängnis verurteilt. Er hat diese Strafe im Mai 1932 angetreten. Ein Gnadengesuch an den Reichspräsidenten, Generalfeldmarschall von Hindenburg, wurde von diesem abgelehnt. Ossietzky ist Weihnachten 1932 Grund allgemeinen einer Amnestie in Freiheit gesetzt worden. Im Gegensatz zum Sowjetstaat, der jeden politischen Gegner an die Wand stellen läßt, hat sich das nationalsozialistische Deutschland darauf beschränkt, Ossietzky am 28. Februar 1933 in Sicherheitsverwahrung nehmen zu lassen. Ossietzky ist vor längerer Zeit aus dieser Haft entlassen worden und befindet sich in Freiheit. Die Verleihung des Nobelpreises an einen notorischen Landesverräter ist eine derart unverschämte Herausforderung und Beleidigung des neuen Deutschlands, daß darauf eine entsprechende deutsche Antwort erfolgen wird."

Dann erst stand in Schlagzeilen und Balkenüberschriften: „Unverschämte Beleidigung Deutschlands", „Toll, gemein und dumm", . . ein Skandal! Die ganze Welt ist empört", „Unerhörte Fehlentscheidung".

Gemessen an dieser Reaktion geschah zunächst relativ wenig. Dr. Sahm, deutscher Botschafter in Norwegen, mußte beim norwegischen Außenminister protestieren und den erwarteten Bescheid entgegennehmen, die norwegische Regierung trüge keine Verantwortung für Beschlüsse des völlig unabhängigen Komitees.

Auf dem Schreibtisch von Professor Frederik Stang in Oslo lag ein kurzes Telegramm aus Berlin-Westend: „Dankbar für die unerwartete Ehrung. Carl von Ossietzky."

Aus dem buchstäblich beispiellosen internationalen Beifall für die Preisrichter und den Preisträger sprach wachsendes Mitgefühl für Hitlers gequälte deutsche Gegner und brennendes Interesse an einem Mißtrauensvotum gegen seine Aufrüstung.

Acht Tage lang hoffte Ossietzky, bald fort zu kommen, um sich irgendwo im Ausland heilen zu lassen. Drei Auslands-Journalisten, die ihn einmal kurz sehen durften, hörten von ihm, daß er vorhabe, in Oslo bei der Nobelfeier am 10. Dezember über das Zusammenleben der Völker zu sprechen. Das Propagandaministerium erklärte auf Anfragen vieler Ausländskorrespondenten, Ossietzky sei ein freier Mann und könne reisen, wohin er wolle, falls sein Gesundheitszustand die Strapazen erlaube. Doch am 1. Dezember verkündete die Reichsregierung ein drakonisches Gesetz „zur Förderung und Erhaltung des Devisenaufkommens", dessen Vorschriften praktisch bedeuteten, daß Ossietzky schwerste Zuchthausstrafe riskierte, wenn er versäumen würde, das Preisgeld von rund 160 000 schwedischen Kronen in knapp 100 000 deutsche Reichsmark ümzuwandeln. Am 8. Dezember telegrafierte Frau Maud von Ossietzky nach Oslo: „Kommen unmöglich."

Obwohl damals niemand wissen konnte, was in den internen Verfügungen stand, die Ossietzkys Ausreise verhindern sollten, war diese Absicht der Nazis sehr bald unverkennbar.

Am 17. Dezember 1936 schrieb Ossietzky in einem liebevollen Geburtstagsbrief an Rosa-linde nach Schweden:

„Meine Adresse hat sich geändert. Ich bin vom Westen nach Norden gezogen, wohne jetzt in einem kleinen Privat-Sanatorium, das sehr angenehm ist und die beste Pflege und Behandlung bietet."

Jetzt schien die Möglichkeit für Ossietzky, ein ausländisches Krankenlager zu erreichen, weitgehend davon abzuhängen, ob die skandinavischen Verwalter des Nobel-Geldes einen schriftlichen Überweisungsantrag von ihm als „unfreiwillige Entscheidung in einer Zwangslage" interpretieren und sein persönliches Erscheinen Vorschlägen würden.

Weil wir wenigstens versuchen wollten, dieses Problem rechtzeitig in Oslo und Stockholm zu erörtern, flog ich schon am 2. Dezember 1936 nach Skandinavien. Der schwedische Stiftungs-Schatzmeister überwies Ossietzkys Preisgeld nach Oslo an die Christiania-Bank, die ihrerseits größte Vorsicht gegenüber „Anforderungen aus Berlin" zusagte; sie sollte gegebenenfalls den Rat von Vertretern des Nobel-Komite. es in Anspruch nehmen. Ossietzky, der während einer kurzen Zeitspanne noch für Botschaften von uns erreichbar war, vermied in den ersten sieben Wochen nach der Preisverleihung, sich überhaupt um den Verbleib des Geldes zu kümmern. Er konnte die weise Abstinenz nicht mehr durchhalten, als seine Frau ihm am 12. Januar 1937 einen Juristen, Dr. Kurt Wannow, zuführte, den sie Ende Dezember in ihrem Stammlokal kennengelernt hatte.

Wannow gab sich als Rechtsanwalt und Notar aus, obwohl er wegen früherer Delikte diesen Titel nicht mehr führen durfte. Von seiner Frau und Wannow bedrängt, unterschrieb Ossietzky eine viel zu weitgehende Vollmacht für den angeblichen Rechtsanwalt, der vorgeschlagen hatte, den Transfer des Geldes gegen ein Honorar von 20 000 Reichsmark zu besorgen.

Als eine Sekretärin von Wannow zür Abhebung des Geldes in Oslo erschien, konsultierte die Bank einen Graphologen, weil Ossietzkys Namenszug unecht wirkte. Außerdem monierte sie die fehlende Legitimation der notariellen Beglaubigung durch den Landgerichtspräsidenten. Das öffentliche und geheime Tauziehen um Vollmacht und Überweisung dauerte in Oslo fast 14 Tage. Durch Unterstützung der norwegischen Botschaft und des Auswärtigen Amtes in Berlin bekam Wannow die Möglichkeit, fehlende Beglaubigungen nachzuholen. Am 29. Januar 1937 vereinnahmte die Reichsbank 163 849 norwegische Kronen und überwies 99 857 Reichsmark auf Wannows Konto.

Am 30. Januar ließ Adolf Hitler die Stiftung des „Nationalpreises" verkünden und allen Deutschen die Annahme ausländischer Preise verbieten — einschließlich sämtlicher Nobelpreise.

Strafprozeß um das Preis-Geld

Ein norwegischer Helfer der Überweisung, dem es nun leid tat, erklärte mir in Oslo: „Wenn Hitler das vorher gesagt hätte, wäre das Geld nie abgeschickt worden."

Als Wannow im Laufe von knapp vier Monaten den größten Teil des Geldes rechtswidrig ausgeliehen und eigennützig verwirtschaftet hatte, veröffentlichten Emigrantenblätter den Verdacht, die Gestapo habe Ossietzkys Preis-geld beschlagnahmt, den todkranken Pazifisten für Rüstungszwecke beraubt und vielleicht sogar kurzerhand umgebracht. Diese massiven — ausnahmsweise falschen — Anschuldigungen konnten die Nazis in einem spektakulär aufgezogenen Strafprozeß gegen Wannow, bei dem Ossietzky als Zeuge erscheinen mußte, sehr leicht widerlegen. Während der Verhandlungen rühmte sich die Gestapo, sie habe durch ihre „Wachsamkeit" schon einen nennenswerten Teil von Ossietzkys Verlusten sicherstellen können. Das war — auch wieder ausnahmsweise — nicht einmal gelogen, sondern nur unerlaubt vereinfacht und übertrieben. Wannow wurde am 7. März 1938 zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt und ein hoher SS-Funktionär erklärte hinterher seinen Mitarbeitern: „Der Mann (Ossietzky) soll sein Geld wiederkriegen; auch wenn wir ihm den Nobelpreis zum zweiten Male auszahlen müßten." So weit wurde der hektische Wiedergutmachungseifer allerdings nicht getrieben. Ein Sonderkommissar höheren Ranges bekam den Auftrag, Wannows Verlustgeschäfte, zu denen eine Kino-Konkursmasse gehörte, mit Hilfe von Fachleuten solange energisch zu „bewirtschaften", bis Ossietzkys Schaden behoben sei. Die Früchte des erfolgreichen Geldrettungs-Feldzuges, der 13 Monate in Anspruch nahm, konnte Ossietzky nicht mehr genießen; er hat die bittere Rolle des Entlastungszeugen der Gestapo nur zwei Monate überlebt.

Die Prozeßakten bekamen den amtlichen Vermerk: „Geschichtlich wertvolle Forschungssache — bis 1970 aufzuheben."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, insbes. das 9. Kap.des ersten Teils: „Die Reichswehr" von Wolfgang Sauer, 3. verbesserte und ergänzte Auflage, Villingen/Schwarzwald 1960.

  2. „. . . Unser Landesverrat", in Weltbühne XXVII, Nr. 19, 12. Mai 1931, S. 674 bis 676.

  3. „Rechenschaft", in Weltbühne XXVIII, Nr. 19, 10. Mai 1932, S. 689 ff.

  4. A. a. O„ S. 689 ff.

  5. Raimund Koplin, Carl von Ossietzky als politischer Publizist, Berlin — Frankfurt/Main 1964, S. 200 ff.

  6. Hellmut von Gerlach, liberaler Pazifist, Vorstandsmitglied der „Deutschen Friedensgesellschaft" und der „Deutschen Liga für Menschenrechte", langjähriger Chefredakteur der „Welt am Montag"; geb. 2. Febr. 1866 in Mönchmctschelnitz (Kreis Wohlau), gest. 2. August 1935 in Paris. Publikationen u. a.: Meine Erlebnisse in der Preußischen Verwaltung (1919), Der Zusammenbruch der deutschen Polenpolitik (1919), Erinnerungen eines Junkers (1925), post mortem in Zürich erschienen: Von Rechts nach Links.

  7. Frau Edith Jacobsohn, Inhaberin der Firma Siegfried Jacobsohn & Co., hatte Deutschland am 27. Februar 1933 verlassen.

  8. Erich Mühsam, Dichter, Publizist und anarchistischer Politiker; prominentes Mitglied der revolutionären „Räte" in Bayern. 1934 als Gefangener der Nationalsozialisten ermordet.

  9. L. P. Lochner war zunächst Mitarbeiter, dann Chef des Berliner Büros der Associated Press.

  10. „Society of Friends": Ein Zusammenschluß von Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der britischen Quaker.

  11. Otto Lehmann-Russbüldt: 1873— 1964, pazifistischer Publizist; Mitbegründer des „Bundes neues Vaterland", aus dem die „Liga für Menschenrechte" hervorging; langjähriger Geschäftsführer der „Liga". Sein erfolgreichstes Buch „Die blutige Internationale" erschien in 12 Sprachen.

  12. Victor Basch, 1865— 1944, Präsident der fanzösischen Liga für Menschenrechte; Professor für Ästhetik an der Sorbonne.

  13. Publiziert mit Genehmigung des Estate of Albert Einstein, New York.

  14. Ernst Torgier, Reichstagsabgeordneter, Mitglied der KPD.

  15. In London: Ernst Toller und Otto Lehmann-Russbüldt; in Oxford: Rudolf Olden; in 1 aris: Hell-mut von Gerlach unterstützt von Milly Zirker und Hilde Walter; in Genf: Professor Ludwig Quidde.

  16. Hermann Budzislawski, Journalist, der von 1933 in der Weltbühne nur wenige, — recht unbedeutende — Glossen über Wirtschaftsfragen publiziert hatte, über seine Tätigkeit im Prager Exil, in den USA und nach Kriegsende in Leipzig und Ostberlin vgl. „Welt der Arbeit" vom 3. Mai 1968, Nr. 18, S. 10: „Dreißig Jahre Kalter Krieg um Carl von Ossietzkys Vermächtnis und Erbschaft".

  17. Rudolf Olden, 1885— 1940, Redakteur und Justizkritiker am Berliner Tageblatt; auch Rechtsanwalt und 1931 Mitverteidiger Ossietzkys im „Weltbühnen-Prozeß" vor dem Reichsgericht; ertrank mit seiner Frau Ika auf der Überfahrt von England nach Amerika im September 1940, als sein Schiff „The City of Benares" von einem deutschen U-Boot torpediert wurde.

  18. Arthur Henderson, Vorsitzender der englischen Labour-Party, Präsident der Abrüstungskonferenz des Jahres 1933.

  19. Norman Angell, englischer Pazifist, Schriftsteller. Hauptwerke: The great illusion (1910), The unseen assassins (1932).

  20. Professor Ludwig Quidde, Historiker, 1858— 1941. Mitbegründer und späterer Vorsitzender der „Deutschen Friedensgesellschaft"; Präsident des „Deutschen Friedenskartells"; 1907 bis 1919 Mitglied des Bayerischen Landtages; Ratsmitglied des Internationalen Friedensbüros; emigrierte 1933 nach Genf. Die hier zitierten Originalbriefe sind im Besitz des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam.

  21. Friedrich Küster, von 1922 bis 1933 geschäftsführender Vorsitzender der Deutschen Friedens-gesellschaft; Herausgeber der Zeitschrift „Das andere Deutschland".

  22. Einstein on Peace, Edited by Otto Nathan und Heinz Norden, New York 1960, Seite 264— 267.

  23. Konrad Heiden, 1901— 1966; publizierte u. a.: Die Geschichte des Nationalsozialismus, Berlin 1932, Die Geburt des Dritten Reiches, Stuttgart 1934, Adolf Hitler — Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit, Zürich 1936, in englischer Sprache in Boston/USA mit dem deutschen Titel: Der Führer, 1944; K. H. starb nach langer Krankheit 1966 in New York.

  24. Norbert Mühlen, Publizist, seit 1940 in den USA, in deutscher Sprache u. a. veröffentlicht: Der Zauberer, Leben und Anleihen des Dr. Hjalmar H. G. Schacht, Zürich 1938, 2 X Deutschland, Köln 1955, Die Krupps, Frankfurt/M. 1960, Die Schwarzen Amerikaner, Stuttgart 1964, Die Amerikaner, Frankfurt/Main 1968.

  25. Weltkongreß der Soroptimist Clubs (Soroptimist für: Sorores optimae — (Beste Schwestern), Frauen aus allen Berufen bilden nach einem bindenden internationalen Statut örtliche Clubs, die über ihre nationalen Organisationen auch international eng miteinander verbunden sind.

  26. Robert Gustav Walther: C. v. O's Vater Carl Ingnatius starb, als Carl erst 2 Jahre alt war. Die verwitwete Mutter heiratete den Hamburger Holz-bildhauer Robert Gustav Walther.

  27. Originale im Besitz des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam.

  28. Werner Hegemann, Architekt, Publizist und Dozent, starb 1937 in den USA.

  29. Charles A. Beard, Bedeutender amerikanischer Historiker, Hauptwerk: The Rise of American Civilization.

  30. Oswald Garrison Villard, Amerikanischer Publizist, langjähriger Chefredakteur der politischen Zeitschrift „The Nation".

  31. Gustav Hartung, vor 1933 in Deutschland Dramaturg und Regisseur, im schweizerischen und belgischen Exil Publizist.

  32. Die deutschen Brieftexte wurden mit Genehmigung des Estate of Albert Einstein publiziert; sie erschienen in englischer Sprache in: Einstein on Peace, Edited by Otto Nathan und Heinz Norden, New York 1960, Seite 264— 267.

  33. Abgedruckt in: Briefe 1889— 1936, hrsg. v. Erika Mann, Frankfurt/M. 1962» . 3 6 iy k d

  34. Carl J. Burckhardt, Meine Danziger Mission, München 1960, Seite 60— 62.

  35. Gegen diese Darstellung, die zwanzig Jahre lang unwidersprochen publiziert wurde, protestierte Dr. Werner Best, ehemaliger stellvertretender Chef der Gestapo, in der Nr. 10/1964 des Spiegel; er behauptete, Hermann Göring haße sich nur sehr freundlich, ohne das Geringste von seinem Gesprächspartner zu fordern, mit Carl von Ossietzky über politische Weltanschauungen unterhalten.

  36. Das „Krankenhaus Nordend" in Berlin-Niederschönhausen, Mittelstraße, wurde von dem ausgezeichneten Arzt Dr. Dosquet geleitet, der leider das Kriegsende nicht mehr erlebt hat. Damit entfiel der einzige Zeuge, der höchstwahrscheinlich festgestellt hatte, ob der Verdacht zutrifft, daß es verbrecherische SS-Ärzte gewesen waren, die Ossietzky die tödliche Tuberkulose injiziert hatten.

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Hilde Walter, Publizistin, geb. 1895 in Pressedienst. — Flucht nach Paris November Berlin, z. Z. in Berlin, Mitglied der Berliner 1933, Flucht aus Frankreich September 1940. Pressekonferenz als Korrespondentin der New In den USA: Kolumnistin und Redaktionsmitgiied Yorker Staatszeitung und des American Council der Neuen Volkszeitung, New York; Herausgeberin on Germany; nach Lyzeum und 3 Jahren eines Artikeldienstes — Feuilleton Sozialer Frauenschule Sozialbeamtin bis 1919; Foreign Language Features — für die deutschsprachige Gaststudium (Nationalökonomie, Literatur-wissenschaft, Presse und den deutschen Unterricht Kunstgeschichte) an der Berliner in den USA. Erste Rückkehr nach Berlin Universität. Erste Publikationen im literarischen 1952. — Nach 1952 in Berlin Ko-Autorin der Teil der Deutschen Allgemeinen Zeitung; von K. D. Bracher, Willy Brandt und Annedore Hilfsredakteurin Ossietzkys in der „Weltbühne" Leber publizierten Sammelbände „Das Gewissen 1927 und 1928; journalistische Arbeiten steht auf" und „Das Gewissen entscheidet", dort und in der Berliner Tagespresse über Berlin/Frankfurt 1954— 1957; Lektorin, Ko-Autorin aktuelle Sozialpolitik; Redaktionsmitglied und Ko-Redakteurin von „Doch das beim Berliner Tageblatt 1929 bis Mitte 1933; Zeugnis lebt fort. Der jüdische Beitrag zu unserem Freie Mitarbeit an der „Weltbühne", der Gewerkschaftspresse, Leben", herausgegeben von Annedore dem Sozialdemokratischen Leber, Berlin/Frankfurt 1965.