Im Rahmen dieses Beitrages soll versucht werden, am Beispiel bestimmter Fragestellungen der Wahlforschung und ihrer neueren Ergebnisse exemplarisch einige politikwissenschaftliche Ansätze und zugleich die aktuell-politischen Probleme des Komplexes „Wahlen", wie er uns im parlamentarischen Regierungssystem begegnet, zu entwickeln.
I. Problembezüge der Thematik
Fraktionsstärken von CDU/CSU, SPD und FDP
Fraktionsstärken von CDU/CSU, SPD und FDP
Gleichermaßen haben sich Befürworter wie Gegner des Reformprojektes der Simulationsforschungen bedient, um ihre eigenen verfassungspolitischen und parteipolitischen Positionen zu begründen
Tabelle 4 Das Ergebnis der Bundestagswahl 1965
Tabelle 4 Das Ergebnis der Bundestagswahl 1965
Das hier behandelte Thema erlaubt somit auch einen Einblick in den Zusammenhang von politischer Willensbildung und politischer Entscheidungsfindung einerseits mit wissenschaftlichen Arbeiten über komplexe Sachverhalte im institutioneilen Bereich andererseits. Die Rationalität der politischen Entscheidung stellt ja eine Vorbedingung für „sachgerechte" Politik dar, und wissenschaftliche Untersuchungen bereiten für den Laien (und als solche sind für die einzelnen Sachbereiche sowohl Parlamentarier wie Minister anzusehen) oft unübersichtliche Fragenkomplexe mit wissenschaftlichen Mitteln, das heißt letztlich: „rational", auf. Ziel solch rationaler wissenschaftlicher Beratung der politischen Entscheidungsfindung ist es in der Regel, die Vielfalt der Faktoren als solche zu erkennen, sie in ihren Wirkungen und vor allem in ihrem Zusammenspiel zu analysieren und eventuell alternative Entscheidungsmodelle zu entwickeln. 2. Wahlen und Wahlforschung als Gegenstand der Demokratieforschung Ehe man in das Spezialgebiet der Wahlforschung einsteigt, bedarf es einer Reflexion über den verfassungstheoretischen Ort des Gegenstandes der Wahlforschung, das heißt der Wahlen im Regierungssystem.
CDU/CSU und SPD bei ungefährem Mandatsgleichstand
CDU/CSU und SPD bei ungefährem Mandatsgleichstand
In einer demokratischen, politischen Ordnung stellen Wahlen die zentrale Verfassungsinstitution dar, durch die die Staatsgesellschaft (in der älteren Terminologie hieße es „das Volk") in den Machtprozeß des Staatswesens eingreift. Dieser Machtprozeß äußert sich in der Demokratie in vielfältigen Formen, als deren gemeinsame Kriterien sich Machtausübung und Machtkontrolle sowie Machterwerb und Machtwechsel erkennen lassen
CDU/CSU und SPD
CDU/CSU und SPD
Wahlen sind nun jene Einrichtungen des Staatswesens, die speziell Machterwerb und Machtwechsel aufgrund der Willensbildung in der Staatsgesellschaft regulieren. In welchen Formen sich dieser Machtprozeß jedoch verwirklichen läßt, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Was unsere spezielle Themen-stellung betrifft, so haben wir besonders die Struktur des Parteiensystems zu beobachten: Eine Einparteien-Mehrheitsregierung in einem Zweiparteien-System arbeitet anders als eine Koalitionsregierung; in Koalitionen zwischen wenigen, gar ungleich großen Teilnehmern (etwa CDU/CSU und FDP) verlaufen wiederum die Willensbildungsprozesse anders als etwa in sehr heterogenen Koalitionen aus mehreren kleineren, programmatisch unterschiedlichen Parteien, wie das in der Weimarer Republik der Fall war. „Kleine" Koalitionen unterscheiden sich in ihrer Wirkungsweise (und in ihren außerparlamentarischen Konsequenzen!) sehr wesentlich von „großen", wie das Beispiel der Bundesrepublik lehrt. Die Bedeutung der Struktur eines Parteiensystems für den Ablauf des Machtprozesses kann schlaglichtartig erhellt werden mit dem Hinweis auf die Vorgänge in der Weimarer Republik, wo in den letzten Jahren der ersten deutschen Demokratie ein heterogenes, nämlich partei-mäßig zersplittertes Parlament sich selbst bis zur Funktionsunfähigkeit entmachtete, so daß in das Machtvakuum das unkontrollierte präsidiale Element eindringen konnte.
Die unterschiedlichen Strukturen des Parteien-systems stellen somit einen bedeutsamen Faktor für das Funktionieren der Demokratie dar. Die Politische Wissenschaft hat sich die Erforschung eben solcher Zusammenhänge zwischen institutioneilen Strukturen des Regierungssystems und des Parteiensystems auf der einen Seite und des Ablaufs der Funktionen auf der anderen Seite zum Gegenstand der Forschung gemacht. Einer der möglichen Frageansätze im historischen Bereich kann dabei etwa der nach den institutionellen und strukturell-funktionalen Ursachen des Zusammenbruchs der Weimarer Republik und ihrer Bewertung sein. Wahlforschung steht somit in enger Beziehung zur Erforschung der Ausbildung von Parteien-und Regierungssystemen und ihrer Funktionsweisen.
Bei dieser soeben skizzierten Ortsbestimmung der Wahlforschung innerhalb der politikwissenschaftlichen Demokratieforschung zeigt sich eine weitere Besonderheit dieses Themenkomplexes, der geeignet ist, exemplariss auf wissenschaftliche und politische Fragestellungen hinzuweisen: Es wird der normative Aspekt erkennbar, die Frage danach, wie etwa das Nichtfunktionieren eines Systems verhindert oder wie etwa eine bestehende politische Ordnung in ihren Funktionszusammenhängen umgestaltet oder gar verbessert werden könnte. Politische Wissenschaft braucht nicht nur empirische Beschreibung von Seiendem zu sein, sondern kann weiter fortschreiten zur normativen Wissenschaft mit Sollensaussagen. Von hier läßt sich wieder eine Brücke schlagen zu den Zielen der politischen Bildung.
Man hat Politische Wissenschaft als Demokratie-Wissenschaft qualifiziert; Wahlforschung befaßt sich mit jenem Teilbereich des demokratischen Regierungsprozesses, in dem Machtbildung, Machtausübung, Machtwechsel und Machtkontrolle der Demokratie sich konzentrieren. Wahlforschung stellt somit einen zentralen Forschungsbereich innerhalb der Demokratie-Forschung dar. Sie ist also keineswegs nur von tagespolitischem Interesse, geeignet, an Wahlabenden Hilfestellung für aktuelle Berichterstattung zu geben, sondern sie ist von grundsätzlicher verfassungstheoretischer und normativer Bedeutung für Politische Wissenschaft, politische Bildung und aktuelle Verfassungspolitik.
II. Anfänge deutscher Nachkriegs-Wahlforschung
Tabelle 1 Das Ergebnis der Bundestagswahl 1965 Quellen: 1. Statistisches Bundesamt Wiesbaden (Herausgeber): Bevölkerung und Kultur, Reihe nach Wahlkreisen, Sitzverteilung und Abgeordneten, Stuttgart und Mainz 1966, S. 14 und Simulation 1967/69“, Köln, Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln
Tabelle 1 Das Ergebnis der Bundestagswahl 1965 Quellen: 1. Statistisches Bundesamt Wiesbaden (Herausgeber): Bevölkerung und Kultur, Reihe nach Wahlkreisen, Sitzverteilung und Abgeordneten, Stuttgart und Mainz 1966, S. 14 und Simulation 1967/69“, Köln, Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln
Die deutsche Wahlforschung der Nachkriegszeit ist auf das engste verknüpft mit dem Entstehen und der allmählichen Konsolidierung der Politischen Wissenschaft in der Bundesrepublik. Rechtswissenschaft, Nationalökonomie und Statistik oder Soziologie betrachten ebenfalls jeweils ganz spezielle Aspekte von politischen Wahlen; sie befassen sich jedoch nicht mit dem gesamten Prozeß von politischer Willensbildung in der Staatsgesellschaft über die Wahlentscheidung und den Wahlakt hin zur Ausübung von Staatsmacht in Regierungssystemen.
Die älteren deutschen Wahlforschungen aus den Anfangsjahren der Politikwissenschaft sind schnell aufgezählt; es gibt im übrigen eine Reihe von Forschungsberichten — selbständig publizierten oder in Zeitschriften ver31 streut veröffentlichten —, die darüber eingehend informieren
Den Reigen eröffnete eine Studie über die Berliner Wahlen von 1950. Ihr Thema — „Wahlkampf und Machtverschiebung" — sowie die Begrenzung auf einen überschaubaren Raum kennzeichnen die Forschungssituation und den Frageansatz jener Jahre: Die Fragestellung war vorwiegend zeitgeschichtlich-chronologisch (nämlich auf die Berliner Nachkriegssituation und die Wahlkampfbeschreibung bezogen) und soziologisch (Sozialstatistik der Kandidaten, der Parteien und Wähler) ausgerichtet
Ebenfalls aus dem Berliner Institut für Politische Wissenschaft ist eine Untersuchung der Bundestagswahl 1953 von Wolfgang Hirsch-Weber und Klaus Schütz (dem jetzigen Berliner Regierenden Bürgermeister) hervorgegangen. Auch der Titel dieser Publikation ist symptomatisch für den damaligen Stand der Wahlforschung in Deutschland: Es ging um „Wähler und Gewählte". Wahlkampfstudien stellen den Mittelpunkt dar, umrahmt von zeitgeschichtlichen und soziologischen Analysen der Staatsgesellschaft, der Kandidaten und der Parlamentarier
In Heidelberg hatte sich Dolf Sternberger seit Kriegsende persönlich für die Institutionalisierung des britischen Mehrheitswahlrechts in den deutschen Ländern und in der Bundesrepublik eingesetzt
Im Rahmen dieses Beitrages muß davon abgesehen werden, die mannigfaltigen sonstigen Einzelbeiträge zur Wählersoziologie (Abendroth, Blankenburg, Scheuch, Kaase), zur Geschichte der Wahlentwicklung (insbesondere die zahlreichen Bonner Dissertationen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, speziell die Arbeiten von Nielson, Bracher, Dittmer und Milatz zur Weimarer Republik), zum Wahlrecht als kodifizierter Norm (Braunias) eingehender als relevante Forschungsbeiträge zu behandeln. Erst recht müssen wir darauf verzichten, die Fülle von Arbeiten zu diskutieren, die in Nachbargebieten der Politikwissenschaft sich mit Problemen des Regierungsund Parteiensystems und der Wahlsystematik befaßt haben, etwa die Arbeiten aus der Parteiensoziologie oder aus Verfassungsrecht und allgemeiner Staatslehre.
III. Wahlsystem-Simulationen und ihre Ergebnisse
Tabelle 2 Das Ergebnis der Bundestagswahl 1965 Quellen: 1. Statistisches Bundesamt Wiesbaden (Herausgeber): Bevölkerung und Kultur, Reihe nach Wahlkreisen, Sitzverteilung und Abgeordneten, Stuttgart und Mainz 1966, S. 14 und Simulation 1967/69“, Köln, Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln
Tabelle 2 Das Ergebnis der Bundestagswahl 1965 Quellen: 1. Statistisches Bundesamt Wiesbaden (Herausgeber): Bevölkerung und Kultur, Reihe nach Wahlkreisen, Sitzverteilung und Abgeordneten, Stuttgart und Mainz 1966, S. 14 und Simulation 1967/69“, Köln, Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln
Damit stehen wir am Eingang zu jenen Frage-bereichen der Wahlforschung, die gerade hinsichtlich der aktuellen Reformdiskussion eine intensive wissenschaftliche Arbeit ausgelöst und interessante Resultate zustande gebracht haben, bei den Forschungen nämlich über den Zusammenhang zwischen Wahlsystem und Regierungssystem. 1. Verfassungstheoretische Vorfragen der Wahlsystem-Forschung Allerdings lassen sich Wahlsystem-Forschungen nicht ohne verfassungstheoretischen Bezugsrahmen durchführen. Aus den unterschiedlichen Wertvorstellungen, mit denen man eine politische Ordnung mißt, resultieren auch die unterschiedlichen Bewertungen der einzelnen Grundsysteme, also grob gesagt: der Verhältniswahl (VWR) und des Mehrheitswahlrechts (MWR). Wir können hier nicht im einzelnen auf die mannigfachen Kontroversen eingehen
Die politische Diskussion über das angemessenste („beste") Wahlrecht reicht ohnehin bis in die vorkonstitutionelle Zeit zurück; sie ging aus den Wahlrechts-Mißständen des Kaiser-reichs, insbesondere der starren Wahlkreiseinteilung, hervor, die absichtlich die soziale Entwicklung, das heißt speziell das Aufkommen der Arbeiterschaft, ignorierte. Daraus hat sich gerade bei der SPD in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg eine lebendige Diskussion und eine präzise Willensbildung zugunsten eines Verhältniswahlrechts entwickelt, was dann 1919/20 zu der verfassungsrechtlichen Verankerung des Verhältniswahlrechts führte
Methodisch kennzeichnet den Forschungsbereich der Wahlsystem-Simulationen ein analoger Ansatz wie die — neuerdings in Mode gekommene — Zukunftsforschung (Futurologie): Simulationstechniken können sogar ihrerseits Teilarbeiten von Zukunftsforschung sein. Die zentrale Grundlage beider — durch prognostische Orientierung gekennzeichneter — Arbeitsbereiche ist die angewandte Mathematik, darin vor allem die angewandte Wahrscheinlichkeitsrechnung. Damit hängt die methodische Sauberkeit solcher Methoden von der exakten Formulierung der zugrundegelegten Hypothesen ab, was erklärt, weswegen die wissenschaftlichen Dispute um die Simulationen und ihre Ergebnisse sich auf methodische Fragen konzentrieren. Alle empirischen, deskriptiven und sogar die spekulativen Wissenschaften dienen zunächst der Problemstellung und der Fragestellung (= Hypothesen-Formulierung) mit dem Ziel der maximalen Mathematisierung
Als solche qualitativen Aussagen, die man quantifizieren will, kann man beispielsweise formulieren: — das Mehrheitswahlrecht (MWR) bildet ein Zweiparteiensystem aus, — das Verhältniswahlrecht (VWR) ist proportional „gerechter", — das MWR „verödet" ganze Landschaften parteipolitisch (SPD in Bayern, CDU in Hessen), — das MWR ermöglicht Machtwechsel von einer Partei zur anderen leichter als das derzeitige VWR, — das MWR schafft klare Mehrheiten, — das VWR dagegen bildet nur starke Minderheiten aus.
Man untersucht nun etwa die Frage, wann bei einem „mehrheitenbildenden" Wahlrecht die SPD den Mandatsgleichstand erzielen könnte, dadurch, daß man eine Reihe von genau definierten Hypothesen formuliert, etwa: CDU/CSU verlieren gegenüber 1965 3°/o an Zweit-stimmen, die SPD gewinnt 3 °/o, die FDP bleibt konstant. Zur Erzielung größtmöglicher Genauigkeit rechnet man solche „Trends" von Wählerbewegungen für jeden einzelnen Wahlkreis aus und gewinnt auf diese Weise neue — als realistisch zu unterstellende, „simulierte" — Wahlergebnisse. Arbeitsmäßig sind dabei Tausende und Zehntausende von Rechenprozessen durchzuführen, die man nur mit modernen elektronischen Datenverarbeitungsanlagen bewältigen kann
Die erste Kölner Simulation von Wildenmann-Kaltefleiter-Schleth ist diejenige Arbeit, von der eingangs berichtet wurde, daß sie die Entscheidungsfindung der führenden Politiker der großen Koalition für eine Wahlrechtsreform erheblich mit beeinflußt hat
Im Kölner Forschungsinstitut bearbeitete der Verfasser eine Simulation des Mehrheitswahlrechts britischen Typs im Vergleich mit zwei damals neu in die verfassungspolitische Diskussion eingebrachten modifizierten Modellen sowie unter Zugrundelegung neuer Variablen-Gruppen — insbesondere unter-unterschiedlicher Wahlkreiseinteilungen und differenzierterer Hypothesen über das Wählerverhalten
Durch solche Untersuchungen also versucht man, das Risiko, daß man bei einer politischen Entscheidung nicht genügend über die verfassungspolitische Brauchbarkeit solcher Reform-modelle orientiert ist, zu bewältigen. 4. Ergebnisse der System-Simulationen und ihre Bedeutung für die aktuelle verfassungspolitische Diskussion
Hier seien nun einige Ergebnisse dieser Arbeiten aufgeführt, aus denen auch klar erkennbar wird, welche verfassungspolitische Bedeutung solchen Simulationen zuzumessen ist.
In Politik und Wissenschaft wurden seit 1966 folgende Modelle eines möglichen künftigen Wahlrechts diskutiert: 1. Der traditionelle Typ britischer Mehrheitswahl mit 500 Einer-Wahlkreisen
Wahlkreise sind mit einer Bundesliste von 250 Mandaten gekoppelt, die entsprechend zwischen den Parteien anteilig nach ihren Wahlkreissiegen aufgeschlüsselt werden;
die große Liste dieses Modells erlaubt es, innerhalb der jeweiligen Partei die regionalen Unterschiede auszugleichen
werden je drei (also insgesamt 498) Abgeordnete gewählt, wobei jedoch nicht — wie bei einem relativen MWR mit drei Kandidaten — die drei Kandidaten mit den höchsten (relativen) Stimmzahlen als gewählt gelten, sondern die Parteistimmen addiert und nach den Grundsätzen des VWRs (d'Hondt'sches Verfahren) aufgeschlüsselt werden; entsprechend ihrem Anteil entsenden die Parteien dann jeweils einen oder zwei (sehr selten alle drei) Abgeordnete des Wahlkreises in den Bundestag. In der Regel kommen nur die beiden stärksten Parteien zum Zuge, worin der „mehrheitsbildende", integrative Effekt liegt
Im wesentlichen ging es bei den Simulationen all dieser Systeme um die sowohl wissenschaftlich wie verfassungspolitisch bedeutsame Frage, in welcher besonderen Weise jedes dieser neuen Modelle die Wählerstimmen in Mandate umsetzen würde.
Ein Beispiel macht diese Problematik deutlich. Bei der letzten Bundestagswahl 1965 ergaben sich folgende Stimmenverhältnisse: CDU/CSU = 47, 6 0/0 der Zweitstimmen, SPD = 39, 3 °/o, FDP = 9, 9 °/o, NPD = 2, 2 °/o, „Sonstige" Parteien ca. 3, 0 °/o. Nach dem geltenden personalisierten VWR resultierten daraus für die CDU/CSU 245 Mandate, für die SPD 202, für die FDP 49; NPD und „Sonstige" erhielten keine Abgeordnete. Hätte man dieselben Stimmenverhältnisse durch ein MWR britischen Typs (mit 500 Wahlkreisen) ausgerechnet, so wären nur CDU/CSU mit 294 und SPD mit 206 Mandaten parlamentarisch erfolgreich gewesen; außer NPD und „sonstigen" Parteien wäre auch die FDP nicht mehr in das Parlament eingezogen (Tabelle 1). Bei Einführung des SPD-Vorschlags der „Dreier-Wahlkreise" hätten CDU/CSU 267, SPD 230 und FDP einen einzigen Sitz erhalten. Unter dem „Harmonisierenden MWR" mit 500 Mandaten hätte das Ergebnis gelautet: CDU/CSU 300, SPD 200, FDP und „Sonstige" keine Mandate
Das Harmonisierende MWR erweist sich dabei als dasjenige, das dem Anspruch, durch eine Wahlrechtsreform dürfe die jeweils unterlegene der beiden großen Parteien nicht in einem Bundesland verschwinden oder zahlenmäßig (und damit politisch) bedeutungslos werden, am ehesten gerecht wird. Der Vorteil dieses Modells, so erkennt man aus weiteren (hier nicht veröffentlichten) Daten der Simulation, ist, daß es — genau wie das MWR britischen Typs — sehr reagibel ist gegenüber Stimmenveränderungen in der Wählerschaft und diese Stimmenveränderungen in klare Mehrheiten umsetzt; für das jetzt geltende VWR und das System der „Dreier-Wahlkreise" gilt dies weitaus weniger, was schon daran erkennbar wird, daß der große Stimmenvorsprung der CDU/CSU von 8, 3 °/o gegenüber der SPD (1965) nur eine Mehrheit von 43 bzw. 37 Mandaten bewirkt, während bei den Mehrheitswahl-Modellen 88 bzw. 106 Mandate Vorsprung erreicht wurden. Für den Fall von Wählerveränderungen zugunsten der unterlegenen Partei ist zu betonen, daß die Reagibilität der beiden letztgenannten Modelle naturgemäß dazu führt, daß solche klaren Mehrheiten auch ebenso schnell abgebaut und zugunsten der Oppositionspartei gegensätzliche Mehrheiten aufgebaut werden können. Aus den Simulationen kann man aber auch erkennen, daß diejenige Partei, die im gesamten Bundesgebiet siegreich ist, beim traditionellen britischen Typ des relativen MWRs bzw.seiner Listen-Modifikation relativ schnell die verfassungsändernde Mehrheit erreicht (vgl. Tabelle 3), dann also nicht mehr einer genügend wirksamen Kontrolle durch die Oppositionspartei unterworfen ist. Das gilt gleichermaßen für den Fall, daß die SPD die Zwei-Drittel-Mehrheit erhält, wie für den Fall der siegreichen CDU. Tabelle 3 zeigt in den Quer-spalten I und VI die simulierten Stimmenverhältnisse, bei denen — im Falle eines Mehrheitswahlrechts (modifizierten oder unmodifizierten Typs) des „Dreier" -bzw. „Viererwahlkreises" — eine der beiden großen Parteien jeweils die Zwei-Drittel-Mehrheit der Mandate erhalten haben würde. Bei „Dreierwahlkreisen" und „Viererwahlkreisen" besteht eine solche Situation selbst dann noch nicht, wenn eine der beiden großen Parteien (CDU/CSU oder SPD) den völlig unrealistischen Vorsprung von jeweils 15 0/0 der Stimmen haben würde.
Die Querspalten III und V geben an, wann ein Mandatsgleichstand erreicht wird; Spalte V geht vom Stimmengleichstand aus und zeigt, daß bei einem mehrheitsbildenden Wahlrecht dann die SPD bereits mehr als die Hälfte der Mandate erzielt haben würde, wenn sie noch gar nicht die Hälfte der Stimmen der Wählerschaft gewonnen hätte.
Damit sind bereits eine Reihe sehr wichtiger Simulationsergebnisse vorgeführt worden. Auch der Nicht-Fachmann erkennt daraus Methoden der Simulationstechnik: Welche Variablen man solchen Simulationen zugrunde legt, welche Veränderungen der Eingabehypothesen man vornehmen kann, in welcher Weise verschiedene Wahlsysteme unterschiedliche Stimmenverhältnisse in Mandate transformieren; wie (was hier im einzelnen erstmals für den „Dreier" -und „ViererWahlkreis" vorgestellt wird, vgl. Tabelle 4) unterschiedliche Wahlkreiseinteilungs-Schemata Mandatsergebnisse bei gleichen Stimmenverhältnissen verändern. Wichtig ist dabei stets, daß die eingegebenen Hypothesen realistische Situationen unterstellen, also nicht bloß reine Gedankenspielereien sind. Wir wenden — zur Verdeutlichung von Problemstellung, Ergebnisfindung und deren verfassungspolitischer Bedeutung — unser Augenmerk zum Abschluß noch auf einen besonderen Problembereich der Simulationsforschung. Wir fragen nach der Chance des Machtwechsels zwischen Regierung und Opposition. Beim derzeitigen VWR braucht eine beiden Parteien rund 0/0 der großen 49 der Stimmen, um % 50 der Mandate und damit die erringen. absolute Mehrheit zu Für die CDU ist diese Marke in Sichtweite: Sie verfehlte 1965 mit 47, 6 °/o der Zweitstimmen die absolute Mehrheit nur um drei Mandate; um jedoch allein regierungsfähig zu sein, bedarf es einer Mindestmehrheit von etwa 20 bis 30 Abgeordneten, damit eine solche Ein-Parteien-Regie-rung nicht von Zufallsminderheiten (infolge Abwesenheit von Abgeordneten) in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt wird. Eine derartige Mehrheit setzt beim VWR einen Stimmenanteil von mindestens 52— 53 °/o voraus. Für die SPD bedeutet dies, daß sie gegenüber 1965, als sie 39, 3% der Stimmen gewann, noch mindestens 10 % für die Erreichung der Gleichstands-Marke benötigt, für den Gewinn einer einigermaßen funktionsfähigen Mehrheit jedoch 12 bis 13 %. Blickt man zurück auf den Stimmenzuwachs der SPD von einer Bundestagswahl zur anderen, so ergibt sich seit 1953 ein stetiges Wachstum von jeweils rund 3 %. Das bedeutet, daß die SPD als frühere Oppositionspartei zur kleinen Koalition von CDU/CSU und FDP von 1965 an noch mindestens drei, wahrscheinlich aber vier Legislaturperioden brauchte, um allein regierungsfähig zu werden und ohne Kompromisse ihre ordnungspolitischen Vorstellungen in der Machtausübung durchsetzen zu können. Die Chance des Machtwechsels unter derzeitigem VWR ist also — immer jenes stetige Wachstum vorausgesetzt (und es sprechen eine Vielzahl soziologischer Faktoren für die Richtigkeit dieser These) — erst in etwa einer halben Generation zu erwarten. Nur durch Koalitionen mit einem der früheren Regierungspartner — CDU/CSU oder FDP — kann und konnte die SPD überhaupt Regierungsmacht erlangen, allerdings um den Preis, in der Regierungsverantwortung ihre spezifisch sozialdemokratischen Vorstellungen nur mit Abstrichen — nämlich derzeit mit Konzessionen an die CDU/CSU — realisieren zu können.
Betrachtet man sich demgegenüber die Auswirkungen der verschiedenen mehrheitenbildenden Wahlsysteme, so stellt man fest, daß hier die SPD wesentlich früher den Mandats-gleichstand mit der dann noch allein konkurrierenden CDU/CSU erreichen würde als unter dem derzeitigen VWR. Die CDU/CSU braucht unter dem MWR britischen Typs mindestens 2, 5 bis 3, 20/0 an Zweitstimmen mehr als die SPD, um überhaupt mit dieser mandats-mäßig gleichzustehen, oder umgekehrt ausgedrückt: Die SPD erhält eine Art „Stimmen-Vorgabe" in dieser Größenordnung (die hier unterschiedlich genannten Eckdaten resultieren aus den verschiedenen Wahlkreiseinteilungen). Bei Harmonisierendem MWR und beim Modell der „Dreier-Wahlkreise" beträgt diese die SPD begünstigende „Vorgabe" rund 1 bzw. 2 %; beim „Dreier-Wahlkreis" liegt der Unterschied bei rd. 2 %, beim „Vierer-Wahlkreis" dagegen bei — 0, 7 °/o, das heißt es liegt dort ein Nachteil für die SPD vor. In diesen Daten wird ein Strukturproblem der mehrheitenbildenden Wahlsysteme deutlich, das aus der ungleichen regionalen Verteilung der CDU/CSU-Stimmen (nämlich ihrer teilweisen Akkumulation in Hochburgen) resultiert. Diese Strukturproblematik kannte man in der früheren deutschen Wahlsystem-und Wahlrechtsdiskussion überhaupt nicht. Die Tatsache war nur wenigen Experten aus der Beobachtung englischer Wahlentwicklungen erkennbar, wo man diesen strukturellen Effekt des dortigen Mehrheitswahlrechts als „accidental bias" (zufälliger Unterschied, Begünstigung, d. Red.) bezeichnet. Durch die Simulationen hat man ihn als auch in der Bundesrepublik bestehend festgestellt und darüber hinaus ihn sogar größenordnungsmäßig genau bestimmt. Tendenziell wird jedoch seit 1961 der „bias" abgebaut, da den Parteien jeweils Einbrüche in die Hochburgen der Konkurrenten gelingen. Tabelle 5 zeigt am Beispiel der „Dreier" -bzw. „ViererWahlkreise", wie sich im Falle eines ausgeglichenen Mandatsverhältnisses zwischen SPD und CDU/CSU die regional-strukturellen Parteiverhältnisse darstellen würden. Ein Vergleich mit Tabelle 2 ist aufschlußreich. Tabelle 6 gibt Auskunft über die intrafraktionellen Strukturen bei Stimmengleichstand. Solche Simulationsergebnisse haben bei den Parteien intensive Diskussionen ausgelöst: Bei der SPD haben Herbert Wehner und Alex Möller ausdrücklich darauf verwiesen, daß bei der Einführung etwa des relativen MWRs britischen Typs für die Sozialdemokraten die einmalige Chance bestünde, bereits dann zu einem Mandatsgleichstand zu kommen — und das heißt verfassungspolitisch: einen Machtwechsel herbeizuführen —, wenn die SPD noch gar nicht die absolute Stimmenmehrheit erreicht hat, ganz abgesehen von der relativen Unmöglichkeit, unter dem derzeitigen VWR überhaupt allein regieren zu können. Umgekehrt haben sich innerhalb der CDU/CSU aus diesem Ergebnis eine Zeitlang erhebliche innerparteiliche Widerstände gegen die Einführung eines derartigen Wahlrechtsmodells ergeben. Auch die regional-strukturelle Problematik, wie sie durch den Wegfall der Landeslisten beim relativen MWR bedingt sein würde (vgl. Tabelle 1), und der Vergleich der jetzigen Stimmenergebnisse mit den simulierten Reformergebnissen haben scharfe inner-(und auch zwischen-) parteiliehe Kontroversen hervorgerufen. Gleiches gilt für die verfassungspolitisch brisante Frage der Minderheitengarantie der jeweils unterliegenden Partei, falls diese — unter den einzelnen Systemen jedoch unterschiedlich schnell — an die verfassungssperrende Ein-Drittel-Grenze zurückfallen sollte (vgl. Tabelle 3/Spalten I und VI).
An alle derartigen Ergebnisse lassen sich weitgehende verfassungstheoretische und verfassungspolitische Folgerungen anknüpfen, die in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion tatsächlich umfangreich erörtert worden sind, die aber nicht mehr Gegenstand unseres Beitrags sein können. Man muß — unabhängig von aller unterschiedlichen Bewertung — betonen, daß es sich dabei um verfassungspolitische und nicht lediglich um parteipolitische Gesichtspunkte handelt, wenngleich auch diese eine entscheidende Rolle bei der politischen Willensbildung spielen.
Aus diesem knappen Überblick über Problemstellungen der Wahlforschung, über neuere Entwicklungen und neuere Ergebnisse wird deutlich geworden sein, daß dieses Teilgebiet der Politischen Wissenschaft eine erhebliche Bedeutung für die verfassungspolitische Ordnung und letztlich für die verfassungspolitische Neuordnung unserer Demokratie hat. Unabhängig davon, wie man zum Problem einer Wahlrechtsreform steht — ob man sie bejaht oder ob man sie ablehnt —, läßt sich erkennen, daß Wahlforschung sich mit einem zentralen Problembereich innerhalb der Demokratieforschung befaßt und daß insbesondere die Ergebnisse der Simulations-Techniken geeignet sind, Erkenntnisse zu liefern, die ihrerseits eine Voraussezung für eine rationale Bewältigung dieser risikoreichen Entscheidung liefern.