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Problemstellungen und Ergebnisse neuerer Wahlforschung mit besonderer Berücksichtigung der Wahlsystem-Simulationen | APuZ 35-36/1969 | bpb.de

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APuZ 35-36/1969 Marsch in den Krieg Die Praxis der Nachrichtenpolitik der Nationalsozialisten Problemstellungen und Ergebnisse neuerer Wahlforschung mit besonderer Berücksichtigung der Wahlsystem-Simulationen

Problemstellungen und Ergebnisse neuerer Wahlforschung mit besonderer Berücksichtigung der Wahlsystem-Simulationen

Joachim Wiesner

Im Rahmen dieses Beitrages soll versucht werden, am Beispiel bestimmter Fragestellungen der Wahlforschung und ihrer neueren Ergebnisse exemplarisch einige politikwissenschaftliche Ansätze und zugleich die aktuell-politischen Probleme des Komplexes „Wahlen", wie er uns im parlamentarischen Regierungssystem begegnet, zu entwickeln.

I. Problembezüge der Thematik

Abbildung 2

Wahlforschung, politische Bildung und praktische Politik Der Verfasser geht dabei von der Überzeugung aus, daß „Politische Wissenschaft“ nicht lediglich eine akademische Heimat für spezielle Forschungsprojekte sein darf, sondern vielmehr durch unverkürzte Weitergabe ihrer Kenntnisse und ihrer Forschungsergebnisse im engen Zusammenhang mit der „Politischen Bildung" stehen soll-, umgekehrt faßt er das Bemühen um politische Bildung aber auch so auf, daß hier die Bereitschaft für die Aneignung der neueren (und selbst der neuesten) Forschung gegeben sein muß, damit sich politische Bildung nicht lediglich auf Entwicklung des politischen Bewußtseins (was immer man darunter verstehen mag) beschränkt und letztlich sich auf Appelle an den persönlichen Anstand von Staatsbürgern und Politikern (eventuell gar auf Seelenmassage oder gar auf eine Art demokratischer Indoktrination) verkürzt 1). • Darüber hinaus hat die Wahlforschung nicht nur rein akademisches oder pädagogisches Interesse. Sie ist vielmehr im Zusammenhang mit der aktuellen verfassungspolitischen Diskussion über die Reform des Wahlrechts — nämlich Beibehaltung des personalisierten Verhältniswahlrechts oder Einführung eines „mehrheitenbildenden“ Wahlrechts — zu sehen. Man kann sogar feststellen, daß diese Reformabsicht, wie sie in der ersten Regierungserklärung der großen Koalition vom 13. Dezember 1966 ausgesprochen wurde, gerade auf der Kenntnisnahme von Ergebnissen spezieller Simulationsforschungen beruht, wie sie in diesem Beitrag noch vorgestellt werden sollen. Denn ihnen kann man beispielsweise entnehmen, welche Chancen und Vorteile für die beiden großen Parteien bestehen, allein (das heißt ohne Hilfe eines kleineren oder größeren Koalitionspartners) Regierungsmacht zu erwerben, oder man kann erkennen, welche funktionalen Probleme sich für das gesamte Regierungssystem (nicht nur für das Parteien-System) ergeben, etwa hinsichtlich der Beziehungen zwischen Regierungsmehrheit und Opposition oder hinsichtlich der partei-internen Strukturen

Fraktionsstärken von CDU/CSU, SPD und FDP

Gleichermaßen haben sich Befürworter wie Gegner des Reformprojektes der Simulationsforschungen bedient, um ihre eigenen verfassungspolitischen und parteipolitischen Positionen zu begründen Das gilt sowohl für die CDU wie für die SPD und FDP

Tabelle 4 Das Ergebnis der Bundestagswahl 1965

Das hier behandelte Thema erlaubt somit auch einen Einblick in den Zusammenhang von politischer Willensbildung und politischer Entscheidungsfindung einerseits mit wissenschaftlichen Arbeiten über komplexe Sachverhalte im institutioneilen Bereich andererseits. Die Rationalität der politischen Entscheidung stellt ja eine Vorbedingung für „sachgerechte" Politik dar, und wissenschaftliche Untersuchungen bereiten für den Laien (und als solche sind für die einzelnen Sachbereiche sowohl Parlamentarier wie Minister anzusehen) oft unübersichtliche Fragenkomplexe mit wissenschaftlichen Mitteln, das heißt letztlich: „rational", auf. Ziel solch rationaler wissenschaftlicher Beratung der politischen Entscheidungsfindung ist es in der Regel, die Vielfalt der Faktoren als solche zu erkennen, sie in ihren Wirkungen und vor allem in ihrem Zusammenspiel zu analysieren und eventuell alternative Entscheidungsmodelle zu entwickeln. 2. Wahlen und Wahlforschung als Gegenstand der Demokratieforschung Ehe man in das Spezialgebiet der Wahlforschung einsteigt, bedarf es einer Reflexion über den verfassungstheoretischen Ort des Gegenstandes der Wahlforschung, das heißt der Wahlen im Regierungssystem.

CDU/CSU und SPD bei ungefährem Mandatsgleichstand

In einer demokratischen, politischen Ordnung stellen Wahlen die zentrale Verfassungsinstitution dar, durch die die Staatsgesellschaft (in der älteren Terminologie hieße es „das Volk") in den Machtprozeß des Staatswesens eingreift. Dieser Machtprozeß äußert sich in der Demokratie in vielfältigen Formen, als deren gemeinsame Kriterien sich Machtausübung und Machtkontrolle sowie Machterwerb und Machtwechsel erkennen lassen

CDU/CSU und SPD

Wahlen sind nun jene Einrichtungen des Staatswesens, die speziell Machterwerb und Machtwechsel aufgrund der Willensbildung in der Staatsgesellschaft regulieren. In welchen Formen sich dieser Machtprozeß jedoch verwirklichen läßt, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Was unsere spezielle Themen-stellung betrifft, so haben wir besonders die Struktur des Parteiensystems zu beobachten: Eine Einparteien-Mehrheitsregierung in einem Zweiparteien-System arbeitet anders als eine Koalitionsregierung; in Koalitionen zwischen wenigen, gar ungleich großen Teilnehmern (etwa CDU/CSU und FDP) verlaufen wiederum die Willensbildungsprozesse anders als etwa in sehr heterogenen Koalitionen aus mehreren kleineren, programmatisch unterschiedlichen Parteien, wie das in der Weimarer Republik der Fall war. „Kleine" Koalitionen unterscheiden sich in ihrer Wirkungsweise (und in ihren außerparlamentarischen Konsequenzen!) sehr wesentlich von „großen", wie das Beispiel der Bundesrepublik lehrt. Die Bedeutung der Struktur eines Parteiensystems für den Ablauf des Machtprozesses kann schlaglichtartig erhellt werden mit dem Hinweis auf die Vorgänge in der Weimarer Republik, wo in den letzten Jahren der ersten deutschen Demokratie ein heterogenes, nämlich partei-mäßig zersplittertes Parlament sich selbst bis zur Funktionsunfähigkeit entmachtete, so daß in das Machtvakuum das unkontrollierte präsidiale Element eindringen konnte.

Die unterschiedlichen Strukturen des Parteien-systems stellen somit einen bedeutsamen Faktor für das Funktionieren der Demokratie dar. Die Politische Wissenschaft hat sich die Erforschung eben solcher Zusammenhänge zwischen institutioneilen Strukturen des Regierungssystems und des Parteiensystems auf der einen Seite und des Ablaufs der Funktionen auf der anderen Seite zum Gegenstand der Forschung gemacht. Einer der möglichen Frageansätze im historischen Bereich kann dabei etwa der nach den institutionellen und strukturell-funktionalen Ursachen des Zusammenbruchs der Weimarer Republik und ihrer Bewertung sein. Wahlforschung steht somit in enger Beziehung zur Erforschung der Ausbildung von Parteien-und Regierungssystemen und ihrer Funktionsweisen.

Bei dieser soeben skizzierten Ortsbestimmung der Wahlforschung innerhalb der politikwissenschaftlichen Demokratieforschung zeigt sich eine weitere Besonderheit dieses Themenkomplexes, der geeignet ist, exemplariss auf wissenschaftliche und politische Fragestellungen hinzuweisen: Es wird der normative Aspekt erkennbar, die Frage danach, wie etwa das Nichtfunktionieren eines Systems verhindert oder wie etwa eine bestehende politische Ordnung in ihren Funktionszusammenhängen umgestaltet oder gar verbessert werden könnte. Politische Wissenschaft braucht nicht nur empirische Beschreibung von Seiendem zu sein, sondern kann weiter fortschreiten zur normativen Wissenschaft mit Sollensaussagen. Von hier läßt sich wieder eine Brücke schlagen zu den Zielen der politischen Bildung.

Man hat Politische Wissenschaft als Demokratie-Wissenschaft qualifiziert; Wahlforschung befaßt sich mit jenem Teilbereich des demokratischen Regierungsprozesses, in dem Machtbildung, Machtausübung, Machtwechsel und Machtkontrolle der Demokratie sich konzentrieren. Wahlforschung stellt somit einen zentralen Forschungsbereich innerhalb der Demokratie-Forschung dar. Sie ist also keineswegs nur von tagespolitischem Interesse, geeignet, an Wahlabenden Hilfestellung für aktuelle Berichterstattung zu geben, sondern sie ist von grundsätzlicher verfassungstheoretischer und normativer Bedeutung für Politische Wissenschaft, politische Bildung und aktuelle Verfassungspolitik.

II. Anfänge deutscher Nachkriegs-Wahlforschung

Tabelle 1 Das Ergebnis der Bundestagswahl 1965 Quellen: 1. Statistisches Bundesamt Wiesbaden (Herausgeber): Bevölkerung und Kultur, Reihe nach Wahlkreisen, Sitzverteilung und Abgeordneten, Stuttgart und Mainz 1966, S. 14 und Simulation 1967/69“, Köln, Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln

Die deutsche Wahlforschung der Nachkriegszeit ist auf das engste verknüpft mit dem Entstehen und der allmählichen Konsolidierung der Politischen Wissenschaft in der Bundesrepublik. Rechtswissenschaft, Nationalökonomie und Statistik oder Soziologie betrachten ebenfalls jeweils ganz spezielle Aspekte von politischen Wahlen; sie befassen sich jedoch nicht mit dem gesamten Prozeß von politischer Willensbildung in der Staatsgesellschaft über die Wahlentscheidung und den Wahlakt hin zur Ausübung von Staatsmacht in Regierungssystemen.

Die älteren deutschen Wahlforschungen aus den Anfangsjahren der Politikwissenschaft sind schnell aufgezählt; es gibt im übrigen eine Reihe von Forschungsberichten — selbständig publizierten oder in Zeitschriften ver31 streut veröffentlichten —, die darüber eingehend informieren

Den Reigen eröffnete eine Studie über die Berliner Wahlen von 1950. Ihr Thema — „Wahlkampf und Machtverschiebung" — sowie die Begrenzung auf einen überschaubaren Raum kennzeichnen die Forschungssituation und den Frageansatz jener Jahre: Die Fragestellung war vorwiegend zeitgeschichtlich-chronologisch (nämlich auf die Berliner Nachkriegssituation und die Wahlkampfbeschreibung bezogen) und soziologisch (Sozialstatistik der Kandidaten, der Parteien und Wähler) ausgerichtet

Ebenfalls aus dem Berliner Institut für Politische Wissenschaft ist eine Untersuchung der Bundestagswahl 1953 von Wolfgang Hirsch-Weber und Klaus Schütz (dem jetzigen Berliner Regierenden Bürgermeister) hervorgegangen. Auch der Titel dieser Publikation ist symptomatisch für den damaligen Stand der Wahlforschung in Deutschland: Es ging um „Wähler und Gewählte". Wahlkampfstudien stellen den Mittelpunkt dar, umrahmt von zeitgeschichtlichen und soziologischen Analysen der Staatsgesellschaft, der Kandidaten und der Parlamentarier

In Heidelberg hatte sich Dolf Sternberger seit Kriegsende persönlich für die Institutionalisierung des britischen Mehrheitswahlrechts in den deutschen Ländern und in der Bundesrepublik eingesetzt und dafür mannigfache Aktivitäten entfaltet (z. B. durch Gründung der „Deutschen Wählergesellschaft"., die sogar eine eigene Zeitschrift her-ausgibt) Im engeren wissenschaftlichen Bereich untersuchte er mit seinen Schülern „Wahlen und Wähler in Westdeutschland" In den Studien dieser Sammlung wurden wieder historische und soziologische Methoden bevorzugt, wenn etwa die Wahlentwicklung seit dem Kaiserreich über die Weimarer Republik bis hin zur Bundestagswahl von 1957 geschichtlich verfolgt wird, wenn etwa Wahlberechtigung und Wahlbeteiligung sozialstatistisch verglichen oder Entwicklungen der Sozialstruktur der Wählerschaft der Bundesrepublik skizziert worden sind. Uber die bis dahin vorliegenden Studien hinausgehend, wird in dieser Heidelberger Arbeit jedoch der Steuerungsfunktion des Institutionenkomplexes „Wahlrecht und Wahlsystem" größere Beachtung geschenkt.

Im Rahmen dieses Beitrages muß davon abgesehen werden, die mannigfaltigen sonstigen Einzelbeiträge zur Wählersoziologie (Abendroth, Blankenburg, Scheuch, Kaase), zur Geschichte der Wahlentwicklung (insbesondere die zahlreichen Bonner Dissertationen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, speziell die Arbeiten von Nielson, Bracher, Dittmer und Milatz zur Weimarer Republik), zum Wahlrecht als kodifizierter Norm (Braunias) eingehender als relevante Forschungsbeiträge zu behandeln. Erst recht müssen wir darauf verzichten, die Fülle von Arbeiten zu diskutieren, die in Nachbargebieten der Politikwissenschaft sich mit Problemen des Regierungsund Parteiensystems und der Wahlsystematik befaßt haben, etwa die Arbeiten aus der Parteiensoziologie oder aus Verfassungsrecht und allgemeiner Staatslehre.

III. Wahlsystem-Simulationen und ihre Ergebnisse

Tabelle 2 Das Ergebnis der Bundestagswahl 1965 Quellen: 1. Statistisches Bundesamt Wiesbaden (Herausgeber): Bevölkerung und Kultur, Reihe nach Wahlkreisen, Sitzverteilung und Abgeordneten, Stuttgart und Mainz 1966, S. 14 und Simulation 1967/69“, Köln, Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln

Damit stehen wir am Eingang zu jenen Frage-bereichen der Wahlforschung, die gerade hinsichtlich der aktuellen Reformdiskussion eine intensive wissenschaftliche Arbeit ausgelöst und interessante Resultate zustande gebracht haben, bei den Forschungen nämlich über den Zusammenhang zwischen Wahlsystem und Regierungssystem. 1. Verfassungstheoretische Vorfragen der Wahlsystem-Forschung Allerdings lassen sich Wahlsystem-Forschungen nicht ohne verfassungstheoretischen Bezugsrahmen durchführen. Aus den unterschiedlichen Wertvorstellungen, mit denen man eine politische Ordnung mißt, resultieren auch die unterschiedlichen Bewertungen der einzelnen Grundsysteme, also grob gesagt: der Verhältniswahl (VWR) und des Mehrheitswahlrechts (MWR). Wir können hier nicht im einzelnen auf die mannigfachen Kontroversen eingehen Man denke etwa an die bis in staatsphilosophische, ja bis in theologische Dimensionen hineinreichende Frage, welches Wahlrechtsprinzip — Verhältnismäßigkeit von Stimmen und Mandaten oder relative Mehrheit der Stimmen im Wahlkreis — „gerechter“ ist. Wollte man hierüber berichten, so wäre eine fast vierzigjährige Diskussion darzustellen, die schon rein quantitativ hier nicht wiederholt werden kann.

Die politische Diskussion über das angemessenste („beste") Wahlrecht reicht ohnehin bis in die vorkonstitutionelle Zeit zurück; sie ging aus den Wahlrechts-Mißständen des Kaiser-reichs, insbesondere der starren Wahlkreiseinteilung, hervor, die absichtlich die soziale Entwicklung, das heißt speziell das Aufkommen der Arbeiterschaft, ignorierte. Daraus hat sich gerade bei der SPD in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg eine lebendige Diskussion und eine präzise Willensbildung zugunsten eines Verhältniswahlrechts entwickelt, was dann 1919/20 zu der verfassungsrechtlichen Verankerung des Verhältniswahlrechts führte 2. Ältere Wahlsystem-Forschungen Vom Ansatz empirischer Sozialwissenschaft her hat F. A. Hermens, jetzt in Köln, bereits gegen Ende der Weimarer Republik sich vergleichend mit der Bedeutung der Wahlsysteme für die Verfassungsordnungen überhaupt befaßt und in der Emigration diese Studien systematisch ausgebaut, indem er sie in eine geschlossene Verfassungstheorie einbezogen hat Mitte der fünfziger Jahre hat dann der Mathematiker Unkelbach eine ausführliche Grundlegung der Wahlsystematik vorgelegt Hermens hat seit seiner Rückkehr auf einen deutschen politikwissenschaftlichen Lehrstuhl dann die empirisch-sozialwissenschaftliche Forschung gerade im Bereich der Wahlsystematik gezielt ausgebaut und weiter verfassungstheoretisch fundiert Andererseits haben seine Arbeiten auch wissenschaftliche Kontroversen durch akademische und politische Gegner ausgelöst Hier setzen dann die System-Forschungen ein, über die im letzten Teil des Beitrags berichtet werden soll 17a). 3. Wahlsystem-Simulationen Letztlich geht es dabei um nichts anderes als um den Versuch, die Aussagen über die verschiedenen Qualitäten der Wahlsysteme, über ihre Wirkungsweisen im Parteien-und Regierungssystem und damit zugleich über die Machterwartungen der einzelnen Parteien zu quantifizieren und damit zu objektivieren, zu entideologisieren, zu rationalisieren.

Methodisch kennzeichnet den Forschungsbereich der Wahlsystem-Simulationen ein analoger Ansatz wie die — neuerdings in Mode gekommene — Zukunftsforschung (Futurologie): Simulationstechniken können sogar ihrerseits Teilarbeiten von Zukunftsforschung sein. Die zentrale Grundlage beider — durch prognostische Orientierung gekennzeichneter — Arbeitsbereiche ist die angewandte Mathematik, darin vor allem die angewandte Wahrscheinlichkeitsrechnung. Damit hängt die methodische Sauberkeit solcher Methoden von der exakten Formulierung der zugrundegelegten Hypothesen ab, was erklärt, weswegen die wissenschaftlichen Dispute um die Simulationen und ihre Ergebnisse sich auf methodische Fragen konzentrieren. Alle empirischen, deskriptiven und sogar die spekulativen Wissenschaften dienen zunächst der Problemstellung und der Fragestellung (= Hypothesen-Formulierung) mit dem Ziel der maximalen Mathematisierung

Als solche qualitativen Aussagen, die man quantifizieren will, kann man beispielsweise formulieren: — das Mehrheitswahlrecht (MWR) bildet ein Zweiparteiensystem aus, — das Verhältniswahlrecht (VWR) ist proportional „gerechter", — das MWR „verödet" ganze Landschaften parteipolitisch (SPD in Bayern, CDU in Hessen), — das MWR ermöglicht Machtwechsel von einer Partei zur anderen leichter als das derzeitige VWR, — das MWR schafft klare Mehrheiten, — das VWR dagegen bildet nur starke Minderheiten aus.

Man untersucht nun etwa die Frage, wann bei einem „mehrheitenbildenden" Wahlrecht die SPD den Mandatsgleichstand erzielen könnte, dadurch, daß man eine Reihe von genau definierten Hypothesen formuliert, etwa: CDU/CSU verlieren gegenüber 1965 3°/o an Zweit-stimmen, die SPD gewinnt 3 °/o, die FDP bleibt konstant. Zur Erzielung größtmöglicher Genauigkeit rechnet man solche „Trends" von Wählerbewegungen für jeden einzelnen Wahlkreis aus und gewinnt auf diese Weise neue — als realistisch zu unterstellende, „simulierte" — Wahlergebnisse. Arbeitsmäßig sind dabei Tausende und Zehntausende von Rechenprozessen durchzuführen, die man nur mit modernen elektronischen Datenverarbeitungsanlagen bewältigen kann Im „Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln" wurden auf diese Weise seit 1961 mehrere Simulationsprojekte durchgeführt, in denen man unterschiedliche Wahlkreiseinteilungen, sich wandelnde Wählerentwicklungen von der SPD zur CDU sowie zur FDP und umgekehrt, unterschiedliche Wahlsysteme des VWR, des MWR und einer Reihe von Varianten „simulierte".

Die erste Kölner Simulation von Wildenmann-Kaltefleiter-Schleth ist diejenige Arbeit, von der eingangs berichtet wurde, daß sie die Entscheidungsfindung der führenden Politiker der großen Koalition für eine Wahlrechtsreform erheblich mit beeinflußt hat Die Bearbeiter untersuchten dabei die Eigenschaften des britischen Typs des MWR, modifizierter Systeme mit Listen, des gegenwärtigen VWR und des „Vierer-Wahlkreises" (vom Typ her ein VWR in kleinen Wahlkreisen). Die infas-Untersuchungen von 1967, Anfang 1968 veröffentlicht, beschränken sich auf die Untersuchung des britischen Typs des MWR Das Institut für angewandte Sozialforschung (= in-fas) hat 1968 außerdem die Auswirkungen des Systems der „Dreier-Wahlkreise", des Reformvorschlags der SPD, simuliert

Im Kölner Forschungsinstitut bearbeitete der Verfasser eine Simulation des Mehrheitswahlrechts britischen Typs im Vergleich mit zwei damals neu in die verfassungspolitische Diskussion eingebrachten modifizierten Modellen sowie unter Zugrundelegung neuer Variablen-Gruppen — insbesondere unter-unterschiedlicher Wahlkreiseinteilungen und differenzierterer Hypothesen über das Wählerverhalten Die seit 1968 von der SPD vertretenen Reformmodelle der Verhältniswahl in kleinen Wahlkreisen — nämlich „Dreier-Wahlkreis-System" und „ViererWahlkreis-System" — wurden in Köln 1968/69 ebenfalls in ihren Auswirkungen simuliert, jeweils auf der Basis der Stimmabgaben von 1965.

Durch solche Untersuchungen also versucht man, das Risiko, daß man bei einer politischen Entscheidung nicht genügend über die verfassungspolitische Brauchbarkeit solcher Reform-modelle orientiert ist, zu bewältigen. 4. Ergebnisse der System-Simulationen und ihre Bedeutung für die aktuelle verfassungspolitische Diskussion

Hier seien nun einige Ergebnisse dieser Arbeiten aufgeführt, aus denen auch klar erkennbar wird, welche verfassungspolitische Bedeutung solchen Simulationen zuzumessen ist.

In Politik und Wissenschaft wurden seit 1966 folgende Modelle eines möglichen künftigen Wahlrechts diskutiert: 1. Der traditionelle Typ britischer Mehrheitswahl mit 500 Einer-Wahlkreisen 2. Modelle relativer Mehrheitswahl mit kleinerer oder größerer Bundesliste, a) „System 400 + 100": 400 Einer-Wahlkreise sind mit einer Bundesliste von 100 Mandaten gekoppelt, die zwischen denjenigen Parteien, die Wahlkreise gewonnen haben, anteilig nach ihren Direktmandaten aufgeschlüsselt werden b) das „Harmonisierende Mehrheitswahlrecht" („System 250 + 250"): 250 Einer-

Wahlkreise sind mit einer Bundesliste von 250 Mandaten gekoppelt, die entsprechend zwischen den Parteien anteilig nach ihren Wahlkreissiegen aufgeschlüsselt werden;

die große Liste dieses Modells erlaubt es, innerhalb der jeweiligen Partei die regionalen Unterschiede auszugleichen 3. Modelle des Verhältniswahlrechts in kleinen Wahlkreisen, a) „Dreier-Wahlkreise": In 166 Wahlkreisen (die größenordnungsmäßig den 11/2-fachen Umfang der jetzigen Wahlkreise haben)

werden je drei (also insgesamt 498) Abgeordnete gewählt, wobei jedoch nicht — wie bei einem relativen MWR mit drei Kandidaten — die drei Kandidaten mit den höchsten (relativen) Stimmzahlen als gewählt gelten, sondern die Parteistimmen addiert und nach den Grundsätzen des VWRs (d'Hondt'sches Verfahren) aufgeschlüsselt werden; entsprechend ihrem Anteil entsenden die Parteien dann jeweils einen oder zwei (sehr selten alle drei) Abgeordnete des Wahlkreises in den Bundestag. In der Regel kommen nur die beiden stärksten Parteien zum Zuge, worin der „mehrheitsbildende", integrative Effekt liegt b) „Vierer-Wahlkreise": Nach demselben Prinzip wie beim System der „Dreier-Wahlkreise" werden in 125 Großwahlkreisen jeweils vier Kandidaten (insgesamt 500 Abgeordnete) gewählt

Im wesentlichen ging es bei den Simulationen all dieser Systeme um die sowohl wissenschaftlich wie verfassungspolitisch bedeutsame Frage, in welcher besonderen Weise jedes dieser neuen Modelle die Wählerstimmen in Mandate umsetzen würde.

Ein Beispiel macht diese Problematik deutlich. Bei der letzten Bundestagswahl 1965 ergaben sich folgende Stimmenverhältnisse: CDU/CSU = 47, 6 0/0 der Zweitstimmen, SPD = 39, 3 °/o, FDP = 9, 9 °/o, NPD = 2, 2 °/o, „Sonstige" Parteien ca. 3, 0 °/o. Nach dem geltenden personalisierten VWR resultierten daraus für die CDU/CSU 245 Mandate, für die SPD 202, für die FDP 49; NPD und „Sonstige" erhielten keine Abgeordnete. Hätte man dieselben Stimmenverhältnisse durch ein MWR britischen Typs (mit 500 Wahlkreisen) ausgerechnet, so wären nur CDU/CSU mit 294 und SPD mit 206 Mandaten parlamentarisch erfolgreich gewesen; außer NPD und „sonstigen" Parteien wäre auch die FDP nicht mehr in das Parlament eingezogen (Tabelle 1). Bei Einführung des SPD-Vorschlags der „Dreier-Wahlkreise" hätten CDU/CSU 267, SPD 230 und FDP einen einzigen Sitz erhalten. Unter dem „Harmonisierenden MWR" mit 500 Mandaten hätte das Ergebnis gelautet: CDU/CSU 300, SPD 200, FDP und „Sonstige" keine Mandate (Tabelle 2). Unsere genauen Simulationen erlauben weiterhin Aufschlüsselung und Vergleich der simulierten Fraktionsstärken nach Bundesländern (vgl. Tabellen 1 und 2), quantifizieren also nicht allein die qualitative Aussage, welche Partei beim Wählerverhalten 1965 die Mehrheit erhalten hätte und welche Partei demzufolge in der Lage gewesen wäre, allein die Regierung zu bilden, sondern verifizieren auch die regional-strukturelle These von der parteipolitischen „Verödung" ganzer Landstriche (Hessen ohne CDU, Schleswig-Holstein ohne SPD). Beim MWR britischen Typs ist diese These tendenziell durchaus erkennbar, beim „Dreier-Wahlrecht" und beim Harmonisierenden MWR bleiben jedoch die regionalen Paritäten von Stimmen und Mandaten der siegreichen Parteien größenordnungsmäßig erhalten.

Das Harmonisierende MWR erweist sich dabei als dasjenige, das dem Anspruch, durch eine Wahlrechtsreform dürfe die jeweils unterlegene der beiden großen Parteien nicht in einem Bundesland verschwinden oder zahlenmäßig (und damit politisch) bedeutungslos werden, am ehesten gerecht wird. Der Vorteil dieses Modells, so erkennt man aus weiteren (hier nicht veröffentlichten) Daten der Simulation, ist, daß es — genau wie das MWR britischen Typs — sehr reagibel ist gegenüber Stimmenveränderungen in der Wählerschaft und diese Stimmenveränderungen in klare Mehrheiten umsetzt; für das jetzt geltende VWR und das System der „Dreier-Wahlkreise" gilt dies weitaus weniger, was schon daran erkennbar wird, daß der große Stimmenvorsprung der CDU/CSU von 8, 3 °/o gegenüber der SPD (1965) nur eine Mehrheit von 43 bzw. 37 Mandaten bewirkt, während bei den Mehrheitswahl-Modellen 88 bzw. 106 Mandate Vorsprung erreicht wurden. Für den Fall von Wählerveränderungen zugunsten der unterlegenen Partei ist zu betonen, daß die Reagibilität der beiden letztgenannten Modelle naturgemäß dazu führt, daß solche klaren Mehrheiten auch ebenso schnell abgebaut und zugunsten der Oppositionspartei gegensätzliche Mehrheiten aufgebaut werden können. Aus den Simulationen kann man aber auch erkennen, daß diejenige Partei, die im gesamten Bundesgebiet siegreich ist, beim traditionellen britischen Typ des relativen MWRs bzw.seiner Listen-Modifikation relativ schnell die verfassungsändernde Mehrheit erreicht (vgl. Tabelle 3), dann also nicht mehr einer genügend wirksamen Kontrolle durch die Oppositionspartei unterworfen ist. Das gilt gleichermaßen für den Fall, daß die SPD die Zwei-Drittel-Mehrheit erhält, wie für den Fall der siegreichen CDU. Tabelle 3 zeigt in den Quer-spalten I und VI die simulierten Stimmenverhältnisse, bei denen — im Falle eines Mehrheitswahlrechts (modifizierten oder unmodifizierten Typs) des „Dreier" -bzw. „Viererwahlkreises" — eine der beiden großen Parteien jeweils die Zwei-Drittel-Mehrheit der Mandate erhalten haben würde. Bei „Dreierwahlkreisen" und „Viererwahlkreisen" besteht eine solche Situation selbst dann noch nicht, wenn eine der beiden großen Parteien (CDU/CSU oder SPD) den völlig unrealistischen Vorsprung von jeweils 15 0/0 der Stimmen haben würde.

Die Querspalten III und V geben an, wann ein Mandatsgleichstand erreicht wird; Spalte V geht vom Stimmengleichstand aus und zeigt, daß bei einem mehrheitsbildenden Wahlrecht dann die SPD bereits mehr als die Hälfte der Mandate erzielt haben würde, wenn sie noch gar nicht die Hälfte der Stimmen der Wählerschaft gewonnen hätte.

Damit sind bereits eine Reihe sehr wichtiger Simulationsergebnisse vorgeführt worden. Auch der Nicht-Fachmann erkennt daraus Methoden der Simulationstechnik: Welche Variablen man solchen Simulationen zugrunde legt, welche Veränderungen der Eingabehypothesen man vornehmen kann, in welcher Weise verschiedene Wahlsysteme unterschiedliche Stimmenverhältnisse in Mandate transformieren; wie (was hier im einzelnen erstmals für den „Dreier" -und „ViererWahlkreis" vorgestellt wird, vgl. Tabelle 4) unterschiedliche Wahlkreiseinteilungs-Schemata Mandatsergebnisse bei gleichen Stimmenverhältnissen verändern. Wichtig ist dabei stets, daß die eingegebenen Hypothesen realistische Situationen unterstellen, also nicht bloß reine Gedankenspielereien sind. Wir wenden — zur Verdeutlichung von Problemstellung, Ergebnisfindung und deren verfassungspolitischer Bedeutung — unser Augenmerk zum Abschluß noch auf einen besonderen Problembereich der Simulationsforschung. Wir fragen nach der Chance des Machtwechsels zwischen Regierung und Opposition. Beim derzeitigen VWR braucht eine beiden Parteien rund 0/0 der großen 49 der Stimmen, um % 50 der Mandate und damit die erringen. absolute Mehrheit zu Für die CDU ist diese Marke in Sichtweite: Sie verfehlte 1965 mit 47, 6 °/o der Zweitstimmen die absolute Mehrheit nur um drei Mandate; um jedoch allein regierungsfähig zu sein, bedarf es einer Mindestmehrheit von etwa 20 bis 30 Abgeordneten, damit eine solche Ein-Parteien-Regie-rung nicht von Zufallsminderheiten (infolge Abwesenheit von Abgeordneten) in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt wird. Eine derartige Mehrheit setzt beim VWR einen Stimmenanteil von mindestens 52— 53 °/o voraus. Für die SPD bedeutet dies, daß sie gegenüber 1965, als sie 39, 3% der Stimmen gewann, noch mindestens 10 % für die Erreichung der Gleichstands-Marke benötigt, für den Gewinn einer einigermaßen funktionsfähigen Mehrheit jedoch 12 bis 13 %. Blickt man zurück auf den Stimmenzuwachs der SPD von einer Bundestagswahl zur anderen, so ergibt sich seit 1953 ein stetiges Wachstum von jeweils rund 3 %. Das bedeutet, daß die SPD als frühere Oppositionspartei zur kleinen Koalition von CDU/CSU und FDP von 1965 an noch mindestens drei, wahrscheinlich aber vier Legislaturperioden brauchte, um allein regierungsfähig zu werden und ohne Kompromisse ihre ordnungspolitischen Vorstellungen in der Machtausübung durchsetzen zu können. Die Chance des Machtwechsels unter derzeitigem VWR ist also — immer jenes stetige Wachstum vorausgesetzt (und es sprechen eine Vielzahl soziologischer Faktoren für die Richtigkeit dieser These) — erst in etwa einer halben Generation zu erwarten. Nur durch Koalitionen mit einem der früheren Regierungspartner — CDU/CSU oder FDP — kann und konnte die SPD überhaupt Regierungsmacht erlangen, allerdings um den Preis, in der Regierungsverantwortung ihre spezifisch sozialdemokratischen Vorstellungen nur mit Abstrichen — nämlich derzeit mit Konzessionen an die CDU/CSU — realisieren zu können.

Betrachtet man sich demgegenüber die Auswirkungen der verschiedenen mehrheitenbildenden Wahlsysteme, so stellt man fest, daß hier die SPD wesentlich früher den Mandats-gleichstand mit der dann noch allein konkurrierenden CDU/CSU erreichen würde als unter dem derzeitigen VWR. Die CDU/CSU braucht unter dem MWR britischen Typs mindestens 2, 5 bis 3, 20/0 an Zweitstimmen mehr als die SPD, um überhaupt mit dieser mandats-mäßig gleichzustehen, oder umgekehrt ausgedrückt: Die SPD erhält eine Art „Stimmen-Vorgabe" in dieser Größenordnung (die hier unterschiedlich genannten Eckdaten resultieren aus den verschiedenen Wahlkreiseinteilungen). Bei Harmonisierendem MWR und beim Modell der „Dreier-Wahlkreise" beträgt diese die SPD begünstigende „Vorgabe" rund 1 bzw. 2 %; beim „Dreier-Wahlkreis" liegt der Unterschied bei rd. 2 %, beim „Vierer-Wahlkreis" dagegen bei — 0, 7 °/o, das heißt es liegt dort ein Nachteil für die SPD vor. In diesen Daten wird ein Strukturproblem der mehrheitenbildenden Wahlsysteme deutlich, das aus der ungleichen regionalen Verteilung der CDU/CSU-Stimmen (nämlich ihrer teilweisen Akkumulation in Hochburgen) resultiert. Diese Strukturproblematik kannte man in der früheren deutschen Wahlsystem-und Wahlrechtsdiskussion überhaupt nicht. Die Tatsache war nur wenigen Experten aus der Beobachtung englischer Wahlentwicklungen erkennbar, wo man diesen strukturellen Effekt des dortigen Mehrheitswahlrechts als „accidental bias" (zufälliger Unterschied, Begünstigung, d. Red.) bezeichnet. Durch die Simulationen hat man ihn als auch in der Bundesrepublik bestehend festgestellt und darüber hinaus ihn sogar größenordnungsmäßig genau bestimmt. Tendenziell wird jedoch seit 1961 der „bias" abgebaut, da den Parteien jeweils Einbrüche in die Hochburgen der Konkurrenten gelingen. Tabelle 5 zeigt am Beispiel der „Dreier" -bzw. „ViererWahlkreise", wie sich im Falle eines ausgeglichenen Mandatsverhältnisses zwischen SPD und CDU/CSU die regional-strukturellen Parteiverhältnisse darstellen würden. Ein Vergleich mit Tabelle 2 ist aufschlußreich. Tabelle 6 gibt Auskunft über die intrafraktionellen Strukturen bei Stimmengleichstand. Solche Simulationsergebnisse haben bei den Parteien intensive Diskussionen ausgelöst: Bei der SPD haben Herbert Wehner und Alex Möller ausdrücklich darauf verwiesen, daß bei der Einführung etwa des relativen MWRs britischen Typs für die Sozialdemokraten die einmalige Chance bestünde, bereits dann zu einem Mandatsgleichstand zu kommen — und das heißt verfassungspolitisch: einen Machtwechsel herbeizuführen —, wenn die SPD noch gar nicht die absolute Stimmenmehrheit erreicht hat, ganz abgesehen von der relativen Unmöglichkeit, unter dem derzeitigen VWR überhaupt allein regieren zu können. Umgekehrt haben sich innerhalb der CDU/CSU aus diesem Ergebnis eine Zeitlang erhebliche innerparteiliche Widerstände gegen die Einführung eines derartigen Wahlrechtsmodells ergeben. Auch die regional-strukturelle Problematik, wie sie durch den Wegfall der Landeslisten beim relativen MWR bedingt sein würde (vgl. Tabelle 1), und der Vergleich der jetzigen Stimmenergebnisse mit den simulierten Reformergebnissen haben scharfe inner-(und auch zwischen-) parteiliehe Kontroversen hervorgerufen. Gleiches gilt für die verfassungspolitisch brisante Frage der Minderheitengarantie der jeweils unterliegenden Partei, falls diese — unter den einzelnen Systemen jedoch unterschiedlich schnell — an die verfassungssperrende Ein-Drittel-Grenze zurückfallen sollte (vgl. Tabelle 3/Spalten I und VI).

An alle derartigen Ergebnisse lassen sich weitgehende verfassungstheoretische und verfassungspolitische Folgerungen anknüpfen, die in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion tatsächlich umfangreich erörtert worden sind, die aber nicht mehr Gegenstand unseres Beitrags sein können. Man muß — unabhängig von aller unterschiedlichen Bewertung — betonen, daß es sich dabei um verfassungspolitische und nicht lediglich um parteipolitische Gesichtspunkte handelt, wenngleich auch diese eine entscheidende Rolle bei der politischen Willensbildung spielen.

Aus diesem knappen Überblick über Problemstellungen der Wahlforschung, über neuere Entwicklungen und neuere Ergebnisse wird deutlich geworden sein, daß dieses Teilgebiet der Politischen Wissenschaft eine erhebliche Bedeutung für die verfassungspolitische Ordnung und letztlich für die verfassungspolitische Neuordnung unserer Demokratie hat. Unabhängig davon, wie man zum Problem einer Wahlrechtsreform steht — ob man sie bejaht oder ob man sie ablehnt —, läßt sich erkennen, daß Wahlforschung sich mit einem zentralen Problembereich innerhalb der Demokratieforschung befaßt und daß insbesondere die Ergebnisse der Simulations-Techniken geeignet sind, Erkenntnisse zu liefern, die ihrerseits eine Voraussezung für eine rationale Bewältigung dieser risikoreichen Entscheidung liefern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Es ist in diesem Zusammenhang müßig, auf die umfangreiche Literatur zur politischen Bildung und ihrer Beziehung zur politischen Wissenschaft einerseits sowie zur Politik und zur Demokratie als der politischen Organisationsform andererseits zu verweisen. Selbstverständlich läßt sich die oben sehr knapp skizzierte Position des Autors sowohl vom pädagogischen wie vom politikwissenschaftlichen Standpunkt her noch ergänzen.

  2. Das gilt insbesondere für die erste deutsche Simulationsstudie von Rudolf Wildenmann, Werner Kaltefleiter, Uwe Schleth, Auswirkungen von Wahlsystemen auf das Parteien-und Regierungssystem der Bundesrepublik, in: Soziologie der Wahl, hrsg. von Erwin K. Scheuch und Rudolf Wildenmann, Köln und Opladen 1965, S. 74 ff., auf die im größeren Zusammenhang unserer Darstellung noch näher eingegangen wird.

  3. Die Parteien haben dabei u. a. auf die Arbeiten ihrer eigenen Forschungsinstitute zurückgegriffen; die CDU etwa auf Analysen des „Wissenschaftlichen Instituts der Konrad-Adenauer-Stiftung" (wikas) in Eichholz bei Köln; die SPD auf die des „Instituts für angewandte Sozialforschung'1 (infas) in Bad Godesberg; die FDP auf Arbeiten des „Instituts für Politische Planung und Kybernetik" (IPK), ebenfalls in Bad Godesberg. Vgl. dazu speziell Joachim Wiesner, Wahlrechtsforschung und Wahlrechtspolitik (Teil I), in: Die Neue Ordnung (Paderborn), Jg. 23 (Heft 2/April) 1964, S. 122 f. — Die Empfehlungen der Institute von SPD und CDU haben dabei durchaus nicht immer den politisch-strategischen Vorstellungen der Parteiführer und der Abgeordneten entsprochen (vgl. Anmerkung 4), zumal sich infas und wikas nicht nur auf die Erstellung von wissenschaftlichen Analysen beschränkt, sondern auch aktiv in den Prozeß der politischen Willensbildung der Politiker (durch Tagungen, Erstellung von Gutachten usw.) eingegriffen haben.

  4. Hier sind für die SPD insbesondere die Untersuchungen des infas zu nennen, die von der Institutsleitung im Januar 1968 öffentlichkeitswirksam gegen die Zielvorstellungen der eigenen (SPD-) Parteiführung aufbereitet wurden und die das Ziel verfolgten, auf dem Nürnberger Parteitag der SPD (März 1968) eine Entscheidung zugunsten einer Reform des Wahlrechts zu verhindern (vgl.: infas report — Für die Presse /15. 1. 1968 — 203/1584). Dagegen sind aus politikwissenschaftlicher Sicht ausführliche Stellungnahmen formuliert worden. Vgl. Ferdinand A. Hermens: Zur Wahlrechtsdiskussion in der Bundesrepublik, in: Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Bd. 3/Jahrbuch 1968 (Teil 1), S. 1 ff., insbesondere der umfangreiche Abschnitt über „SPD und Mehrheitswahl", S. 28 ff., sowie Wilhelm Hennis, Große Koalition ohne Ende — Die Zukunft des parlamentarischen Regierungssystems und die Hinauszögerung der Wahlrechtsreform, München 1968, insbesondere S. 58 ff., wo Hennis sich gegen das infas wendet. Den Standpunkt der Reformgegner wissenschaftlich zu formulieren, hat die (als politikwissenschaftliche Dissertation an der TU Hannover entstandene) Arbeit von Thomas von der Vring versucht: Reform oder Manipulation? Zur Diskussion eines neuen Wahlrechts, Frankfurt/Main 1968. Siehe auch die kritische Rezension von Ferdinand A. Hermens in: Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Bd. 3/Jahrbuch 1968 (Teil 2), S. 257 ff.

  5. Für die verfassungstheoretische Orientierung seien diejenigen politikwissenschaftlich begründeten Gesellschaftsund Staatstheorien genannt, denen der Autor verpflichtet ist: Karl Loewenstein, Verfassungslehre, Tübingen 1958, und Ferdinand A. Hermens, Verfassungslehre, Köln-Opladen, 19682, 3 4da*zu dessen frühere Schrift: Demokratie oder Anarchie? Untersuchung über die Verhältniswahl, Köln-Opladen 1968 2.

  6. Einen internationalen Vergleich stellt die (als Berliner politikwissenschaftliche Dissertation entstandene) Untersuchung von Nils Diederich dar: Empirische Wahlforschung, Köln-Opladen 1965. Eine größere Materialsammlung, zugleich unter Berücksichtigung der verfassungspolitischen Willensbildung im Zusammenhang mit der Reformdiskussion, stellen die Aufsätze von Hans-Gerd Schumann dar, die in der „Zeitschrift für Politik" erschienen sind: H. G. Schumann, Wahlrecht — Wahlkampf— Wahlanalyse in der Bundesrepublik, Teil I, in: ZfP Neue Folge IX (1962), S. 379 ff., Teil II, in: ZfP Neue Folge XII (1965), S. 286 ff., Teil III, in: ZfP Neue Folge XV (1968), S. 353 ff. — Diese Aufsätze sind jedoch nur als Hinführung zu der Literatur benutzbar; der Autor hat — insbesondere im dritten Aufsatz — nicht nur starke Polemik geführt, sondern sich auch sehr grobe wissenschaftliche Schnitzer geleistet, wenn er etwa über die infas-Simulationen berichtet und deren Ergebnisse nur aus Zeitungen zitiert, die ihrerseits jedoch die Zahlenverhältnisse verdreht haben. — Eine gute Auswahl-Bibliographie enthält die Schrift von Joachim Raschke, Wie wählen wir morgen? Verhältniswahl oder Mehrheitswahl in der Bundesrepublik, Schriften der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1967. Naturgemäß fehlt dort die neuere wissenschaftliche Forschung.

  7. Stephanie Münke, Wahlkampf und Machtverschiebung, Berlin 1952.

  8. Wolfgang Hirsch-Weber und Klaus Schütz, Wähler und Gewählte. Eine Untersuchung zu den Bundestagswahlen 1953, Berlin 1957.

  9. Seine Aufsätze aus zwei Jahrzehnten liegen jetzt gesammelt vor: Dolf Sternberger, Die große Wahlreform. Zeugnisse einer Bemühung, Köln-Opladen 1964.

  10. Hrsg, von der Deutschen Wählergesellschaft e. V., Frankfurt/Main, Nr. 1, 1951 ff.; Neue Folge Nr. 1, 1967 ff.

  11. Wahlen und Wähler in Westdeutschland, hrsg. von Erwin Faul, Villingen 1960.

  12. Einen guten Überblick, der dem Pädagogen hilfreich ist und inhaltlich völlig zulänglich informiert, bieten die beiden Schriften von Joachim Raschke (vgl. Anm. 6) sowie von Helmut Unkelbach und Rudolf Wildenmann: Grundfragen des Wählens (— Reihe „Demokratische Existenz heute", Heft 4), Frankfurt-Bonn 1961.

  13. Einige Aspekte bei Friedrich Schäfer: Sozialdemokratie und Wahlrecht, in: Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Bd. 2 /Jahrbuch 1967 (Teil 2), S. 157 ff.

  14. Hermens, Demokratie oder Anarchie? (vgl. Anm. 5).

  15. Helmut Unkelbach: Grundlagen der Wahl-systematik, Göttingen 1956. — Gleichfalls als mahtematisch begründete Untersuchung, aber auf gegensätzlichen verfassungstheoretischen Vorstellungen basierend ist das umfangreiche Buch von Peter Felix Müller anzusehen: Das Wahlsystem — Neue Wege der Grundlegung und Gestaltung, Zürich 1959.

  16. Vgl. Anm. 5.

  17. Die Gegenpositionen weichen im wesentlichen nicht von den traditionellen Befürwortungen des Verhältniswahlrechts ab, wie sie bei Raschke und Unkelbach-Wildenmann (vgl. Anmerkungen 6 und 11) zusammengestellt sind.

  18. Zur Einführung in den Problemkreis für den Laien geeignet (und stellvertretend für andere Veröffentlichungen) ist die Publikation: Material zum Thema Futurologie, Prognostik, Planung — Hrsg, von der Politischen Akademie Eichholz, Oktober 1968, speziell S. 7 ff., ferner die dort, S. 193 ff., zusammengestellte Bibliographie.

  19. Genau an dieser Stelle ist übrigens auch der methodische Ausgangspunkt der inzwischen populär gewordenen „Hochrechnungen" zu sehen, die das infas für die ARD und Prof. Wildenmann für das ZDF regelmäßig an Wahlabenden produzieren.

  20. Vgl. Anm. 2.

  21. Institut für Angewandte Sozialwissenschaft — politogramm: Wählerstimmen und Mandate. Ergebnisse einer Wahlrechtsstudie, hektografiertes Manuskript, Bad Godesberg, März 1968 (Nr. 207/16668). — Die in der infas-Studie formulierte Behauptung, man habe auch verschiedene Wahlkreis-Einteilungen untersucht, ist von der wissenschaftlichen Kritik derart als wissenschaftlich ungenügend zurückgewiesen worden (vgl. Hermens, Anm. 4 dieses Beitrages), daß dieses Institut in seinem

  22. Institut für Angewandte Sozialwissenschaft — politogramm: Wählerstimmen und Mandate: Dreierund Viererwahlkreise. Ergebnisse einer Wahlrechtsstudie, hektografiertes Manuskript, Bad Godesberg, Juli 1968 (207/1904).

  23. Ein ausführlicher Forschungsbericht bei Joachim Wiesner, Britischer Typ und modifizierte Formen der relativen Mehrheitswahl. Ihre Auswirkungen auf das Parteiensystem der Bundesrepublik — Ergebnisse einer Computer-Simulation, in: Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Jahrbuch 1968/Bd. 3 (Teil 2), Seite 183 ff.

  24. Der Vierer-Wahlkreis wurde — in Anlehnung an die ersten Kölner Simulationen von Wilden-mann u. a. — während der gesamten Reform-diskussion zunächst bei der CDU „akademisch"

  25. Dieses Modell stand von Anfang an bei allen, politischen Parteien und in der Wissenschaft im Mittelpunkt der Diskussion. Seine verfassungspolitischen Wirkungsweisen in Großbritannien hat eingehend untersucht: Thomas Oppermann, Britisches Unterhauswahlrecht und Zwei-Parteiensystem, Karlsruhe 1961. Das britische Vorbild ist in der Bundesrepublik von manchen Politikern und Wissenschaftlern quasi-dogmatisiert worden, etwa von Paul Lücke und Herbert Wehner (zum letzteren vgl. Günter Gaus: Staatserhaltende Opposition oder hat die SPD kapituliert? — Gespräche mit Herbert Wehner, Reinbek bei Hamburg 1966, S. 105, wo Modifikationen schlicht als „manipuliertes Mehrheitswahlrecht" verdächtigt werden). — Für die unmodifizierte Übernahme des britischen Musters haben sich von den wissenschaftlich und politisch ernstzunehmenden Institutionen ausgesprochen: Die Wahlrechtskommission der CDU/CSU (1967) in ihren bislang nicht publizierten „Empfehlungen", die jetzt nachlesbar sind bei: Paul Lücke, Ist Bonn doch Weimar? Der Kampf um das Mehrheitswahlrecht, Frankfurt/M. -Berlin 1968, S. 164 ff., sowie der wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium des Innern (1968): Zur Neugestaltung des Bundestagswahlrechts. Bericht des vom Bundesminister des Innern eingesetzten Beirats für Fragen der Wahlrechtsreform (Hrsg.: BMI), Februar 1968, S. 11 ff.

  26. Für dieses Modell hat sich insbesondere der frühere Innenminister Paul Lücke stark engagiert. Das Statistische Bundesamt hat während seiner Amtszeit und auf seine Veranlassung hin sogar eine

  27. Dieses Modell basiert auf Vorarbeiten einer informellen „Arbeitsgruppe für Wahlrechtsfragen" der CDU, die im August 1965 bereits ihren Vorschlag vorlegte (s. Materialien, wie Anm. 24, S. 27 ff.). Das damals vorliegende Modell hatte noch eine Reihe komplizierter Elemente (bias-Korrektur durch die sogenannte „Kubus-Regel"), vgl. dazu Ferdinand A. Hermens und Helmut Unkelbach, Die Wissenschaft und das Wahlrecht, in: Politische Vierteljahresschrift, 8. Jahrgang (Heft 1), März 1967, S. 2 ff. — Die Junge Union hat diesen Vorschlag dann im Frühjahr 1967 modifiziert und als „Harmonisierendes MWR" (250: 250) innerparteilich und in der Öffentlichkeit vertreten. Die bisher einzige Analyse der Wirkungsweisen dieses Systems durch Simulation gibt der Verfasser in seinem in Anm. 23 zitierten Beitrag’.

  28. Dieses Modell ist der von der SPD-Wahlrechts-kommission im Juni 1968 offiziell empfohlene Reformvorschlag. Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Hrsg.), SPD-Bericht der Wahlrechts-Kommission, Bonn, Juni 1968, S. 7 ff.,

  29. Der „Vierer-Wahlkreis" geht (ebenso wie der im Prinzip gleiche „Dreier-Wahlkreis") auf Überlegungen zur Verfassungsreform der Weimarer Zeit zurück (vgl. dazu: Grundlagen eines deutschen Wahlrechts-Berichtes der vom Bundesminister des Innern eingesetzten Wahlrechtskommission, Bonn 1955, S. 18; ferner: Helmut Unkelbach, Grundlagen der Wahlsystematik, Göttingen 1956.

  30. Diese und alle folgenden Forschungsergebnisse, auch die Daten der hier vorgelegten Tabellen, sind entnommen: Renate Prast und Joachim Wiesner: Zahlenwerk zur Kölner Simulation 1967/69, Unveröffentlichte Maschinen-Tabellen, Köln, Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln, 1969.

Weitere Inhalte

Joachim Wiesner, Dr. phil., geb. 1934, Mitarbeiter im Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen an der Universität zu Köln.