Das Bonner Grundgesetz hat dem Bundeskanzler eine zentrale Stellung in unserem parlamentarischen Regierungssystem zugewiesen und damit eine auch in anderen parlamentarischen Demokratien — voran in Großbritannien — zu beobachtende Annäherung an das präsidentielle Regierungssystem vollzogen Die Klage des Politologen Wilhelm Hennis, daß „sich weder im öffentlichen Bewußtsein noch in der Wissenschaft die Einsicht in Sinn und Notwendigkeit der herausgehobenen Stellung des Bundeskanzlers voll durchgesetzt hat" hat ihre Berechtigung keineswegs verloren. Eher ist das Gegenteil zu befürchten. Um so notwendiger wird für die jetzt einsetzende Diskussion über eine Reform der Struktur der Bundesregierung die Besinnung auf die verfassungsrechtliche Funktion und Stellung des Bundeskanzlers sein.
Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Aufgabe und den zu deren Erfüllung übertragenen Befugnissen des Bundeskanzlers steht in innerem Zusammenhang mit der Frage nach seiner verfassungsrechtlich bestimmten parlamentarischen Verantwortung Ohne Verantwortung gibt es im Verfassungsrecht keine Aufgabe und keine Befugnis wie es umgekehrt ohne Kompetenz und ohne Zuständigkeit keine Verantwortlichkeit gibt.
Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich darauf, Aufgabe und Verantwortung des Bundeskanzlers unter den drei zentralen Aspekten zu betrachten: im Blick auf die Kabinetts-bildung (Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes — GG) und die damit zusammenhängende Organisation der Geschäftsbereiche der Minister, auf die Bestimmung der Richtlinien der Politik (Art. 65 Satz 1 GG) sowie im Blick auf die Gesamtleitung der Regierung (Art. 65 Satz 4 GG). Das Sonderproblem, daß der Bundeskanzler zugleich die Aufgaben und damit die Verantwortung eines Ressortministers mitübernimmt, soll hier nur am Rande gestreift werden, und zwar im Zusammenhang mit der abschließend zu behandelnden Frage nach der Stellvertretung des Bundeskanzlers (Art. 69 Abs. 1 GG).
I. Aufgabe und Verantwortung der Kabinettsbildung
1. Das materielle Kabinettsbildungsrecht Nach Art. 64 Abs. 1 GG werden die Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen. Das Vorschlagsrecht des Kanzlers ist keine rein formelle Befugnis, welche allein sichern könnte, daß gegen den Willen des Kanzlers niemand Minister werden oder bleiben kann Es impliziert vielmehr die materielle Befugnis, das Kabinett nach eigener Entscheidung zu bilden und umzubilden, das sogenannte materielle Kabinettsbildungsrecht Der Bundespräsident scheidet als Inhaber dieses Rechts schon aus Gründen fehlender parlamentarischer Verantwortlichkeit aus zumal auch die Möglichkeit, ihn vor dem Bundesverfassungsgericht anzuklagen (Art. 61 GG), kein gleichwertiger Ersatz, eher ein „verfassungsgeschichtliches Relikt" ist. Die lebhaft umstrittene Frage, ob der Bundespräsident wenigstens das Recht hat, Minister-vorschläge des Kanzlers in Einzelfällen abzulehnen wird man im Lichte des Verantwortlichkeitsproblems sehen und dementsprechend grundsätzlich verneinen müssen Da der Bundespräsident keinerlei Verantwortung für die Kabinettsbildung übernehmen kann, wird man ihm auch nicht über eine begrenzte Ermessensentscheidung Einfluß auf Bildung und Bestand der Regierung einräumen können Lediglich das Fehlen der für die Ernennung bzw. die Entlassung eines Ministers erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen kann der Bundespräsident in eigener Zuständigkeit geltend machen 2. Das Recht zur Organisation der Geschäftsbereiche der Minister Das materielle Kabinettsbildungsrecht findet seine notwendige Ergänzung und organisatorische Abstützung in dem Recht zur Errichtung der Ministerien und zur Abgrenzung ihrer Kompetenzen Das Grundgesetz erwähnt diese Befugnis nicht ausdrücklich. Kabinetts-bildung und Organisation der Geschäftsbereiche der Minister sind indessen in der parlamentarischen Demokratie der Gegenwart zwei sich bedingende Vorgänge: Da die Zahl der Ministerien — angesichts der wachsenden und sich wandelnden Staatsaufgaben — nicht ein für allemal bestimmt werden kann setzt jede Kabinettsbildung eine die Schwerpunkte und Prioritäten der künftigen Regierungspolitik berücksichtigende Festlegung der Ressorts voraus. Andererseits ist die Organisation der Geschäftsbereiche auch von den konkreten Forderungen aus den Reihen der Regierungsparteien, nach angemessener Beteiligung ihrer führenden Exponenten an der Regierungsarbeit abhängig, so daß die Festlegung der Ressorts nicht ohne die Frage der personellen Zusammensetzung des Kabinetts zu lösen ist.
Dieser Zusammenhang zeigt, daß das materielle Kabinettsbildungsrecht nicht von dem Recht zur Organisation der Geschäftsbereiche der Minister getrennt werden kann Er wird durch das Bundesministergesetz insofern bestätigt, als dieses in den Ernennungsurkunden der Bundesminister die Angabe des übertragenen Geschäftszweiges vorsieht Man wird dem Bundeskanzler diese organisationsrechtlichen Befugnisse um so eher zubilligen, als sie zugleich eine notwendige Ergänzung seiner Befugnisse sowohl zur Bestimmung der Richtlinien der Politik als auch zur Gesamtleitung der Regierung darstellen. 3. Grenzen des Kabinettsbildungsgrechts und der organisationsrechtlichen Befugnisse Das Recht des Bundeskanzlers zur Kabinetts-bildung und zur Organisation der Geschäftsbereiche der Minister wird prinzipiell nicht dadurch tangiert, daß der Handlungsspielraum des Kanzlers von den künftigen Regierungsparteien in der Regel eingeengt wird Darin offenbart sich vielmehr eine Eigentümlichkeit der parteienstaatlichen parlamentarischen Demokratie: Der Bundeskanzler ist bei der Erfüllung aller seiner verfassungsrechtlichen Aufgaben auf die Unterstützung der Regierungsparteien angewiesen und hat daher deren Vorstellungen Rechnung zu tragen. Das tut seiner parlamentarischen Verantwortlichkeit so lange keinen Abbruch, als seine Handlungs-und Entscheidungsfreiheit generell erhalten bleibt.
In praxi stehen der Inanspruchnahme seiner Befugnisse indessen nicht selten gravierende Hindernisse entgegen, welche seine Rechte auszuhöhlen, wenn nicht aufzuheben drohen. Hier nur zwei Beispiele: In Koalitionsvereinbarungen ist gelegentlich versucht worden, den Bundeskanzler zu verpflichten, von seinen Befugnissen einen bestimmten Gebrauch zu machen. Derartige Klauseln sind jedoch unzulässig und daher unbeachtlich Weit schwieriger zu fassen ist die namentlich in der Großen Koalition zu beobachtende Übung, dem Koalitionspartner für die ihm zugestandenen Ministerämter eine „faktische Präsentationsbefugnis" einzuräumen Sie stellt zwar eine handfeste Verletzung des dem Kanzler zugewiesenen Kabinettsbildungsrechts dar, aber dem Bundeskanzler bleibt nur die Wahl, diese Konzession gleichsam als Morgengabe für den Partner der Großen Koalition zuzugestehen, zumal sich der Wille der Teilhaber dieses Zweckbündnisses auf strikte Erfüllung der Koalitionsbedingungen zumeist als stärker erweist, — oder von der Regierungsbildung überhaupt Abstand zu nehmen; tertium non dafür.
Zulässige Beschränkungen bzw. Beschränkungsmöglichkeiten der Befugnisse des Bundeskanzlers können nur durch die Verfassung bestimmt oder von ihr legitimiert werden. Soweit das Grundgesetz einzelnen Ministern spezifische Funktionen zuweist, ist der Bundeskanzler verpflichtet, diese Aufgabenzuweisungen bei seiner Ressortfestlegung zu respektieren und entsprechende Ministerposten in seinem Kabinett vorzusehen und zu besetzen Solche Regelungen bestehen zugunsten von drei Bundesministern: des Bundesministers für Verteidigung, der nach Art. 65 a GG die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte bis zum Eintritt des Verteidigungsfalles (Art. 115 a Abs. 1 GG in Verbindung mit Art.
115 b GG) besitzt, des Bundesjustizministers, in dessen Geschäftsbereich die Aufsicht über eventuell zu errichtende Wehrstrafgerichte für die Streitkräfte (Art. 96 Abs. 2 Satz 4 GG) fällt, und des Bundesministers der Finanzen, dem in den Art. 108 Abs. 3 Satz 2, 112 und 114 Abs. 1 GG besondere Zuständigkeiten übertragen sind.
Auch Kompetenzzuweisungen durch Bundesgesetz oder die Geschäftsordnung der Bundesregierung können direkt oder indirekt dem Bundeskanzler Bindungen bei der Ausübung seines Rechts zur Organisation der Geschäftsbereiche der Minister auferlegen.
Bestritten wird diese Ansicht mit dem Hinweis auf eine „verfassungskräftige Prärogative des Inhabers der Organisationsgewalt", die auch der Bundesgesetzgeber beachten müßte Dieser Einwand dringt in der parlamentarischen Demokratie der Gegenwart jedoch nicht durch. Der Staatsrechtslehrer Ernst Friesen-hahn hat an die Bestimmungen erinnert, die schon von Verfassungs wegen eine Mitwirkung des Parlaments bei Regierungsakten vorsehen (Vertragsschluß, Entscheidung über Krieg und Frieden, Haushaltsplan und Organisationsgesetze) und erklärt, sie könnten „nicht notwendig als Ausnahme" betrachtet werden Sie sind eher der Ausdruck eines allgemeinen Prinzips der parlamentarischen Demokratie, welches auch bei Schweigen des Grundgesetzes die Beschränkung der Organisationsbefugnisse des Bundeskanzlers durch Gesetz zuläßt
Um keine Begrenzung der organisationsrechtlichen Befugnisse des Bundeskanzlers handelt es sich bei der Bewilligung der erforderlichen Mittel für die zu errichtenden Ministerien im Haushaltsplan. Dieser enthält nach allgemeiner Auffassung nur eine Ausgabenermächtigung für die Regierung Er schafft also lediglich eine wichtige Voraussetzung, daß die organisationsrechtlichen Entscheidungen des Kanzlers verwirklicht werden können bildet jedoch nicht „die verfassungsrechtliche Grundlage" dieser Entscheidungen selbst.
II. Aufgabe und Verantwortung der Bestimmung der Richtlinien der Politik
ie zentrale Aufgabe und damit den zentralen spekt der Verantwortung des Bundeskanzus formuliert Art. 65 Satz 1 GG: „Der Buneskanzler bestimmt die Richtlinien der Polik." . Begriff der „Richtlinien der Politik" eine andere Regelung des VI. Abschnittes des irundgesetzes hat das verfassungsrechtliche nd politologische Schrifttum so beschäftigt ie diese, und über keine besteht so viel Uncherheit Die vorherrschende Verlegeneit resultiert aus dem letztlich fruchtlosen Belühen, den in der Verfassung nicht näher beimmten Begriff der „Richtlinien der Politik" n Sinne einer Legaldefinition festzulegen, war handelt es sich nicht lediglich um eine politische Formel" sondern durchaus um inen verfassungsrechtlichen Begriff, der aber resenseigentümlich unbestimmt ist. •ie vielfältigen Bemühungen der Literatur, die langelnde Bestimmtheit dieses Begriffs zu berwinden, sind von vornherein zum Scheiern verurteilt, insbesondere der Versuch, den ichtlinienbegriff durch eine Konfrontation it einer Reihe vermeintlicher Gegenbegriffe, rie etwa Richtlinie — Einzelweisung, Richtnie — Einzelfallentscheidung, Richtlinie — ahmenvorschrift mehr oder minder einzuenen Mit Formalkategorien läßt sich der in-ältlichen Unbestimmtheit dieses Begriffs geüß nicht begegnen. ereits in der Weimarer Republik ist dieser egriff zutreffend als „Richtung der zu gestalenden Gesamtpolitik" gedeutet und damit einer inhaltlichen Offenheit Rechnung getraen worden. Wenn die herrschende Lehre im eutigen staatsrechtlichen Schrifttum diese ormel für unzureichend hält, so vor allem deshalb, weil sie von einer nicht haltbaren Prämisse ausgeht: Sie spricht den „Richtlinien" einen spezifisch normativen Charakter zu Von diesem Ausgangspunkt her ist sie auf eine begriffliche Präzisierung und Abgrenzung der „Richtlinien" von anderen Rechtsakten unvermeidlich angewiesen. Sie verkennt dabei aber die Funktion der Richtlinienbestimmung: Diese kann nicht auf dem Gebiet der Rechtsetzung liegen, denn das verbietet sich bereits von ihrer Bezogenheit auf den Bereich der Regierung her Die Richtlinienbefugnis ist überhaupt keine echte Rechtsnorm; sie ist weder ein Gebot an den Bundeskanzler noch ein Verbot an andere Bundesorgane, die Richtlinien zu bestimmen, sondern „eine Ermächtigung für den Fall, daß der Ermächtigte über die Fähigkeit und die Gefolgschaft verfügt, sie wahrzunehmen"
Die Richtlinienbestimmung dient vielmehr — ebenso wie die Gesamtleitung der Regierung gemäß Art. 65 Satz 4 GG — der Direktion und Koordination der Politik: Wie schon die vergleichbare Regelung des Art. 56 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) so intendiert auch Art. 65 Satz 1 GG die politische Führung des Regierungschefs und entspricht damit einer Notwendigkeit des demokratischen Sozialstaates der Gegenwart, der ohne politische Führung nicht bestehen kann: Die dem Staat heute gestellten, ständig wachsenden Aufgaben und deren Erfüllung bedürfen einer ständigen Koordinierung und Lenkung an einem zentralen Ort, soll nicht die Regierungspolitik in ein Gewirr von vielfältig sich behindernder Aktionen auseinanderfallen und sich damit letztlich selbst aufheben Vermöge der Richtlinienbestimmung des Bundeskanzlers soll die Einheitlichkeit der Regie-rungstätigkeit hergestellt und gesichert und damit das solidarische Auftreten der Bundesregierung vor dem Parlament und allgemein in der Öffentlichkeit gewährleistet werden; und dadurch soll auch eine eindeutig bestimmbare Verantwortlichkeit für die Gesamt-politik der Regierung ermöglicht werden
Wenn es dem Grundgesetz auch weniger um eine präzisierende Festlegung der Richtlinien der Politik selbst geht, als mehr um die Leitung und Koordination der Regierungspolitik, so ist damit jedoch nicht jede begriffliche Fixierung ausgeschlossen. Die „Richtlinien" sind stets von allgemeiner und grundsätzlicher Bedeutung; sie geben die Richtung, das Prinzipielle der Regierungspolitik an und bedürfen in der Regel selbständiger, gestaltender Verwirklichung und Konkretisierung durch die zuständigen Ressortminister
Eine nähere Bestimmung der „Richtlinien" ist ebensowenig von der Verfassung vorgezeichnet wie eine detaillierte Abgrenzung von Richtlinien-und Ressortentscheidung. Das Grundgesetz läßt hier den realen politischen Kräften Raum für individuelle Ausgestaltungen, die weder durch Normen geschaffen noch durch gerichtsförmige Entscheidungen erzwungen werden können Die „Richtlinien" vertragen keine volle inhaltliche Gebundenheit; sie bedürfen der prinzipiellen Offenheit und Weite was aber nicht zu der Annahme verleiten darf, der Bundeskanzler könne nicht nur die einzelnen Richtlinien, sondern auch den der Richtlinien authentisch interpretieren Begriff 2. „Richtlinienbefugnis" und Ressortselbständigkeit der Bundesminister Das Recht zur Bestimmung der Richtlinien der Politik ist zweifellos die wichtigste Befugnis des Bundeskanzlers und begründet die hervorstechendste Besonderheit seiner Rechtsstellung: Es begrenzt die Ressortselbständigkeit und -Verantwortlichkeit der Bundesminister (Art. 65 Satz 2 GG) und bewirkt, daß die Minister insoweit dem Kanzler sachlich untergeordnet sind, ohne freilich in einem Untergebenenverhältnis zu ihm zu stehen Die vom Bundeskanzler bestimmten Richtlinien der Politik sind, wie § 1 Abs. 1 Satz 2 der Geschäftsordnung der Bundesregierung (GO BReg) präzisiert, „für die Bundesminister verbindlich und von ihnen in ihrem Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung zu verwirklichen" Welche Maßnahmen ein Minister im einzelnen für erforderlich hält und welche Wege er beschreiten will, ist also allein von ihm zu entscheiden. Der Kanzler darf diese Entscheidungen nicht an sich ziehen er hat lediglich das Recht, aber auch die Pflicht, in konkreten Fällen zu beanstanden, wenn die Richtlinien der Politik nicht oder nicht genügend beachtet worden sind (§ 1 Abs. 2 GO BReg).
Aus der Befugnis zur Bestimmung der Richtlinien der Politik ist das Recht des Bundeskanzlers herzuleiten, sich aus dem Geschäftsbereich der einzelnen Bundesminister „über Maßnahmen und Vorhaben" unterrichten zu lassen, die „für die Bestimmung der Richtlinien der Politik von Bedeutung sind" (§ 3 GO BReg). Die Minister sind zu den erforderlichen Informationen verpflichtet, und der Kanzler kann von sich aus für notwendig erachtete weitergehende oder unterbliebene Angaben verlangen, nicht jedoch die Vorlage von Akten und Schriftstücken der Ministerien anordnen.
Das Prinzip der Selbständigkeit der Ressort-leitung gebietet, daß jede Unterrichtung über „Maßnahmen und Vorhaben" eines Ministeriums in Kenntnis und nach vorhergehender Billigung des zuständigen Ministers erfolgt. Als verantwortlicher Leiter seines Geschäftszweiges muß er stets selbst Einfluß auf die Unterrichtung des Bundeskanzlers nehmen können: Nicht nur, weil die Angaben aus seinem Ge-schäftsbereich zur Grundlage künftiger Richtlinien der Politik werden können, an die er später gebunden wäre, sondern auch, weil er wie kein anderer berufen ist, den Bundeskanzler in Fragen seines Ressorts zu informieren und zu beraten
Auf diesen Standpunkt hat sich offenbar Bundesverteidigungsminister Gerhard Schröder gestellt, als er im Juli 1967 dem Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Josef Moll, verbot, einer ohne sein Wissen ergangenen Aufforderung zum Vortrag beim Bundeskanzler Folge zu leisten. In einer klärenden Aussprache mit Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger gab der Verteidigungsminister seine Einwilligung erst, als ihm zugesichert wurde, daß er selbst und der Generalinspekteur, General Ulrich de Mai-ziere, vorher Gelegenheit erhalten würden, ihre Vorstellungen über die Situation in der Bundeswehr darzulegen
Von der Informations-und Beratungsaufgabe der Ressortminister her ist auch die Regelung des § 4 GO BReg zu verstehen: „Hält ein Bundesminister eine Erweiterung oder Änderung der Richtlinien der Politik für erforderlich, so hat er dem Bundeskanzler unter Angabe der Gründe hiervon Mitteilung zu machen und seine Entscheidung zu erbitten." Sie stellt dem Informationsanspruch des Regierungschefs ein Informationsrecht des Bundesministers gegenüber, das nicht zuletzt der Sicherung seiner Ressortselbständigkeit und -Verantwortlichkeit dient.
Der Bundeskanzler kann ferner verlangen, daß alle Äußerungen der Bundesminister, „die in der Öffentlichkeit erfolgen oder für sie bestimmt sind", mit den Richtlinien der Politik in Einklang stehen (§ 12 GO BReg). Die Tragweite dieser Bestimmung ist im Schrifttum umstritten: Von einigen Autoren wird betont, daß für die Bundesminister, die zugleich Mitglieder des Bundestages sind, Art. 38 Abs.. 1 Satz 2 GG Vorrang vor dieser Geschäftsordnungsregelung habe von anderer Seite ist § 12 GO BReg als „systematische Schranke der Weisungsfreiheit der Abgeordneten" interpretiert worden, die aus der parlamentarischen Regierungsweise resultiere
Der hier entscheidende Gesichtspunkt ergibt sich aus dem Prinzip der Kabinettssolidarität, das in abgeschwächter Form über die Kompetenz zur Bestimmung der Richtlinien der Politik und zur Gesamtleitung der Regierung Eingang in das Grundgesetz gefunden hat Wenn es die Funktion der Richtlinienbestimmung wie der Gesamtleitung der Regierung ist, die Einheitlichkeit der Regierungstätigkeit und damit das solidarische Auftreten der Regierungsmitglieder in der Öffentlichkeit zu sichern, so bedeutet § 12 GO BReg lediglich eine Präzisierung dieser Aufgabe. Ein Bundesminister, der einzelne Richtlinien der Politik nicht mit seinem Gewissen zu vereinbaren vermag, soll nicht durch § 12 GO BReg zu einem Entscheid gegen sein Gewissen gezwungen werden. Vielmehr soll er sich immer wieder prüfen, ob er zur Vertretung der Gesamtpolitik der Regierung und — in diesem Rahmen — auch zur Leitung seines Ressorts noch in der Lage ist; anderenfalls hat er von seinem Ministeramt zurückzutreten 3. Richtlinienbestimmung durch den Bundestag?
Wenn die parteienstaatliche parlamentarische Demokratie der Gegenwart die Staatsleitung Regierung und Parlament „gewissermaßen zur gesamten Hand" überträgt so kann der Bundestag nicht prinzipiell von jeder Mitbestimmung der Richtlinien der Politik ausgeschlossen sein Die überwiegende Meinung im heutigen Schrifttum bestreitet dies freilich mit dem Hinweis, Art. 65 GG regele nicht nur die Stellung des Bundeskanzlers und der Bundesminister innerhalb der Bundesregierung, sondern auch deren Verhältnis zu anderen Staatsorganen, insbesondere zum Bundestag Folglich stünde dem Bundeskanzler allein die Befugnis zur Richtlinienbestimmung zu Diese Auffassung ist jedoch nicht aufrechtzuerhalten: Der Aufbau des Art. 65 GG läßt bereits erkennen, daß diese Bestimmung sich mit den Rechtsverhältnissen innerhalb der Bundesregierung befaßt. Wenn im übrigen das Parlament unbestreitbar befugt ist, auch Ge-setze zu beschließen, die nicht mit den Richtlinien der Politik des Kanzlers übereinstimmen, so ist damit implicite schon dessen alleiniger Zuständigkeit zur Festlegung der Richtung der Gesamtpolitik der Boden entzogen Diese Frage hat indessen mehr theoretische als praktische Bedeutung. Alle wegweisenden Gesetze sind ebenso wie alle schlichten Parlamentsbeschlüsse zu Richtungsfragen der Politik bisher im Einklang mit den Richtlinien des Bundeskanzlers erlassen worden, und das dürfte auch weiterhin die Regel sein, weil in der parteienstaatlichen parlamentarischen Demokratie Kanzler und Regierungsparteien auf Zusammenarbeit angewiesen sind. 4. Mitwirkungsbefugnisse des Bundespräsidenten? Demgegenüber läßt das Grundgesetz keine Mitwirkungsbefugnis des Bundespräsidenten bei der Bestimmung der Richtlinien der Politik zu. Die Annahme, daß sich der Bundeskanzler bei der Festlegung der Richtlinien „zumindest nicht am Beginn seiner Amtszeit und zumindest nicht durchweg" in Widerspruch mit dem Bundespräsidenten setzen dürfe ist verfassungsrechtlich nicht zu begründen. Die Beteiligung des Präsidenten am Prozeß der politischen Willensbildung ist auf einen Kreis besonders hervorgehobener Einzelakte beschränkt Zu diesen gehört der Vorschlag des Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers (Art. Abs. 1 GG), nicht aber eine Mitwirkung bei der Bestimmung der Richtlinien der Politik. Der Bundespräsident soll lediglich bei gravierenden Stockungen der Regierungstätigkeit, wie der Politologe Theodor Eschen-burg gesagt hat, „die Weichen neu stellen" können, „ohne selbst Macht zu gewinnen" 63). Um so erstaunlicher ist die Behauptung, daß der Bundespräsident „Verhandlungen (führen) und sogar Vereinbarungen über die Richtlinien der künftigen Regierungspolitik" (!) treffen dürfe, bevor er von seinem Kanzlervorschlagsrecht Gebrauch mache Davon kann keine Rede sein. Sache des Präsidenten ist es, einen Kandidaten vorzuschlagen, der Aussicht hat, gewählt zu werden. Das ist in erster Linie eine Frage der gegebenen Mehrheitsverhältnisse im Parlament. Wie immer der Bundespräsident sie beurteilt, seinem Vorschlagsrecht läßt sich nicht entnehmen, daß er „im Konflikt zwischen seinen Präsentationsgesichtspunkten und den Wahlgesichtspunkten der politischen Kräfte des Bundestages" überhaupt einen politischen Spielraum hat Und schon gar nicht ist es seine Aufgabe, die Richtlinien der künftigen Politik der Bundesregierung zu billigen; eine solche Kompetenz besitzt nur der Bundestag
Dem Bundespräsidenten ist der Bundeskanzler weder „dienstlich" noch sonst irgendwie verantwortlich. Zwar hat er nach § 5 GO BReg den Präsidenten „laufend über seine Politik und die Geschäftsführung der einzelnen Bundesminister" zu unterrichten, aber diese Informationspflicht ist „vor dem Hintergrund der Bindung des Bundespräsidenten an die Regierungspolitik zu sehen, denn der Bundespräsident kann die offizielle politische Linie nur dann respektieren, wenn er sie kennt" Gewiß kann er im Gespräch mit dem Bundeskanzler seine Auffassung darlegen, Anregungen geben, von Plänen abraten, vor Gefahren warnen — aber die Entscheidung über die Richtlinien der Regierungspolitik ist nicht seine Sache. 5. Der Einfluß der Regierungsparteien auf die Richtlinienbestimmung Die Richtlinien der Politik bestimmen, heißt nicht unbedingt, sie selbstschöpferisch entwerfen oder eigenständig erarbeiten. Schon die Interdependenz der Lebensverhältnisse der modernen Industriegesellschaft macht dies nahezu unmöglich. In der Konsequenz des parlamentarischen Regierungssystems der Gegenwart liegt zudem die Notwendigkeit, die Richtung der Gesamtpolitik im Zusammenwirken mit den Leitungsgremien der Regierungspartei nd hrer Parlamentsiraktion iestzulegen — ei Koalitionsregierungen im Einvernehmen it den entsprechenden Organen aller die Reierung stützenden Parteien, verschiedentlich uch unter Einschaltung eines Koalitionsauschusses
Aufgabe und Verantwortung des Bundeskanzers, die Richtlinien der Politik zu bestimmen, werden durch die Mitwirkung von Parteigreien solange nicht prinzipiell in Frage gestellt, ls dem Bundeskanzler „genügend Spielraum ir eine sinnvolle Betätigung" seiner Richtliienbefugnis verbleibt Das ist nicht nur ine Frage des konkreten Einzelfalles, das eißt der politischen Überzeugungskraft des Tanzlers, seines persönlichen Geschicks und eines öffentlichen Ansehens in der Wählerchaft, bei den Abgeordneten, Verbandspolitiern und höheren Ministerialbeamten sonern auch und vor allem eine Frage der gegeenen Bedingungen seiner Regierungsführung, i erster Linie der Konstellation der im Parlaent vertretenen Parteien: Der Handlungspielraum des Kanzlers ist am größten, wenn ich die Bundesregierung auf eine Parlamentslehrheit stützen kann, die von einer Partei ebildet wird und deren Vorsitzender der Buneskanzler selbst ist. Er schrumpft zusammen, renn der Regierungschef auf die Unterstütung einer Koalition seiner eigenen Partei mit iner kleineren oder gar mit mehreren kleieren Parteien angewiesen ist. Und er erfährt eträchtliche Einbußen in einer Koalition zwei-r annähernd gleichstarker Parteien. Hier ist, rie der Publizist Johannes Gross zutreffend eobachtet hat der Bundeskanzler nur och formell Inhaber der Richtlinienkompenz: Die großen Linien der Regierungspolitik önnen nicht von ihm bestimmt, sondern nur n Einvernehmen mit den politischen Führern es Koalitionspartners, festgelegt und erst ann von ihm verkündet und verwirklicht rerden. Die Äußerung des Vizekanzlers und Außenministers Willy Brandt, es sei ausgechlossen, daß der Vorsitzende der SPD von em Vorsitzenden der anderen Partei Richtliien erhalte, denen er auch dann folgen müsse, wenn sie nicht seiner Überzeugung entsprachen gilt gewiß nicht nur für die gegenwärtige Koalition von CDU und SPD, sondern enthüllt eine unvermeidliche Bedingung jeder Großen Koalition.
Damit stellt sich unausweichlich die Frage, ob in einer Großen Koalition der Art. 65 Satz 1 GG überhaupt realisiert werden kann. Der Hinweis, daß „die Bundesregierung ihre Entscheidungen gemeinsam erarbeitet, und zwar im Rahmen der ... im Grundgesetz verankerten Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers" verschleiert nur den eigentlichen Tatbestand. Die Frage ist im Grunde lediglich in zwei Extremfällen zu bejahen: Zum einen, wenn zwischen dem Bundeskanzler und den führenden Kräften der Koalitionsparteien über alle wichtigen politischen Probleme ein hohes Maß an Übereinstimmung besteht, so daß in praxi die Willensbildung innerhalb der Regierungsparteien mit der Richtlinienbestimmung des Kanzlers schrittweise einhergeht — ein eher theoretischer als praktischer Fall —, zum anderen, wenn der Bundeskanzler willens und in der Lage ist, ständig einen Konfliktskurs zu steuern, der die Gefahr des Scheiterns der Großen Koalition bewußt in Kauf nimmt Das mag ihm zeitweilig gelingen; auf die Dauer dürfte indessen der Wille der Teilhaber der Großen Koalition auf Bewahrung ihres Zweckbündnisses stärker sein. Gewiß kann die im Grundgesetz festgelegte Verantwortung „zugleich eine Waffe in der Hand des Regierungschefs gegenüber den koalitionsbildenden Fraktionen" sein aber die Möglichkeiten des Bundeskanzlers sind begrenzt — oder bildlich gesprochen: „Viele Hunde sind des Hasen Tod." 6. Hilfsorgane des Bundeskanzlers Eine notwendige Ergänzung der Befugnis des Bundeskanzlers zur Bestimmung der Richtli-nien der Politik liegt in seinen organisationsrechtlichen Befugnissen, sich ein Instrumentarium zur Vorbereitung, kritischen Überprüfung, Durchsetzung und Überwachung seiner Richtlinien zu schaffen oder entsprechend aus-bzw. umzubauen.
Die meisten Hilfsaufgaben werden vom Bundeskanzleramt wahrgenommen, ohne das der Bundeskanzler — nach einem Wort von Wilhelm Hennis — „ein bedauernswerter Voll-invalide" wäre, der „nicht sehen, hören noch schreiben, geschweige denn Richtlinien bestimmen könnte". Wenn dieses Amt auch von einem Staatssekretär organisatorisch selbständig geleitet wird, ist es seiner Aufgabenzuweisung und seiner Tätigkeit nach doch in erster Linie ein ausgesprochenes Hilfsorgan des Bundeskanzlers für das dieser allein die parlamentarische Verantwortung trägt. Ausstattung, Organisation und Arbeitsweise dieses Amts die namentlich in der Publizistik der letzten Jahre nicht ohne Grund zunehmender Kritik begegnet sind hat also der Bundeskanzler selbst vor dem Parlament zu vertreten. Das gilt auch dann, wenn der Chef des Bundeskanzleramts Ministerrang hat, wie in den Jahren 1964— 1366 Ludger Westrick. Als Leiter diese Amtes besaß er weder ein eigenes Ressort noch einen ministeriellen Sachauftrag; er war seiner Funktion nach lediglich Minister „ohne Portefeuille". Im Kabinett war er zwar dem Kanzler gleichgestellt, als Chef des Bundeskanzleramtes hingegen ihm untergeordnet — eine äußerst problematische Doppel-stellung.
Ein nicht minder wichtiges Instrument des Bundeskanzlers ist das Presse-und Informationsamt der Bundesregierung, eine aus dem Kanzleramt im Jahre 1958 ausgegliederte und verselbständigte Dienststelle unter der Leitung eines eigenen Staatssekretärs Es dient neben der laufenden Unterrichtung der Bundesregierung auf „dem gesamten Nachrichtensektor"
der ständigen Erforschung der öffentlichen Meinung wie der Information der Öffentlichkeit über die politischen Ziele und die Arbeit der Bundesregierung. Im Bundeshaushaltsplan wird es als „Hauptstelle der Bundesregierung für den Verkehr mit der Presse und allen sonstigen Nachrichtenträgern" bezeichnet realiter ist es zugleich ein spezifisches Instrument des Bundeskanzlers. Diese Tatsache findet ihren sichtbarsten Ausdruck in den zur Verfügung des Bundeskanzlers stehenden Mitteln „für die Förderung des Informationswesens", dem sogenannten Reptilienfonds, der 1968 sieben Millionen DM betrug und durch die Titel „Öffentlichkeitsarbeit: Inland" (7 Millionen DM) und „politische Öffentlichkeitsarbeit: Ausland" (60 Millionen DM) praktisch ergänzt wurde
Seit April 1956 verfügt der Bundeskanzler über ein weiteres Instrument, den Bundesnachrichtendienst, der ihm allerdings nicht unmittelbar, sondern dem Bundeskanzleramt unterstellt ist Die parlamentarische Verantwortung trägt er indessen genauso für die Tätigkeit dieser Dienststelle wie für die des Kanzleramtes und des Presse-und Informationsamtes. Ein zwingender Anlaß, dem Kanzler auch die Verantwortung für den Bundesnachrichtendienst zu übertragen, besteht hingegen nicht; es mag sogar vorteilhafter sein, es nicht zu tun: „Die Taten und Untaten der Geheimdienste sollten die Unschuld eines Regierungschefs nicht leichthin gefährden können."
Die Bedingungen des modernen Sozialstaates und die zunehmende internationale Verflechtung der politischen Probleme machen in immer stärkerem Maße eine Mobilisierung des technischen und wissenschaftlichen Sachverstandes für die Bestimmung der Richtlinien der Politik erforderlich Mit der Schaffung eines Planungsstabes im Bundeskanzleramt als Instrument „mittelfristiger Vorausschau" Mitarbeiter auf Zeit und der Vergabe on Forschungsvorhaben an die Stiftung „Wis‘nschaft und Politik" zur Erarbeitung von olitisch verwertbaren Ergebnissen" auf den erschiedensten Gebieten der Politik, vorzüg: h in allen Fragen der Strategie, der Abrüung und der Rüstungskontrolle ist ein ster Anfang gemacht, allerdings auch nicht ehr. ufgabe der Experten kann es stets nur sein, oblemanalysen zu fertigen, Modellösungen i entwerfen, deren Konsequenzen zu zeigen id mögliche Alternativen zu projektieren id damit wichtige Voraussetzungen für eine ichdienliche politische Beratung und Entscheiing des Bundeskanzlers zu liefern. Das zenale Problem aller Indienststellung wissen-hässlicher und technischer Sachkunde bleibt e Frage, ob und inwieweit es gelingt, die vissenschaftliche Vorausschau" in alternative olitische Vorschläge zu übersetzen, welche ne verläßliche Grundlage für die Bestimung der Richtlinien der Politik bilden könm. ie Bindungen und Beschränkungen der mateell-rechtlichen Befugnis des Bundeskanzlers r Richtlinienbestimmung gelten entsprechend ich für seine organisationsrechtliche Zustängkeit, sich die erforderlichen Hilfsorgane zu hassen und für die Zwecke seiner verfasmgsrechtlichen Aufgaben einzurichten. Abenzungsfragen ergeben sich insbesondere im erhältnis zur Ressortselbständigkeit der Mister:
Ile über die unmittelbaren Bedürfnisse des mdeskanzleramts hinausgehenden Verwalngsangelegenheiten sind Ressortfragen und gen deshalb außerhalb der Kompetenz dies Amtes, gleichgültig ob es sich um Aufgan der gesetzesgebundenen oder der gesetsfreien Verwaltung handelt, ob sie vorüberhend oder dauernd wahrgenommen werden dien ir die einzelnen Ressorts darf das Bundesinzleramt nicht zu einem über-oder einem ebenministerium werden: Es hat die prinzielle Eigenständigkeit der ministeriellen Ge-schäftsbereiche zu respektieren und sich auf die — im Blick auf die verfassungsrechtlichen Funktionen des Kanzlers — gebotenen Hilfsaufgaben zu beschränken Den Beamten des Kanzleramtes ist es genauso wie dem Bundeskanzler selbst verwehrt, die Verwirklichung der Richtlinien in den Ressorts selbst anzuordnen und erforderliche Entscheidungen der Minister an sich zu ziehen.
Einen eklatanten Verstoß gegen diese Folgerung aus dem Prinzip der Ressortselbständigkeit enthalten die Ziffern 2 und 3 des Erlasses der Bundesregierung über die Aufgaben und Befugnisse des Bevollmächtigten der Bundesrepublik in Berlin der dem Kanzleramt eingegliedert, indes dem Bundeskanzler unmittelbar unterstellt ist. In Ziffer 2 heißt es wörtlich:
„Widersprechen nach Auffassung des Bundesbevollmächtigten die Sachbearbeitung oder die Ausführung von Weisungen der Bundesministerien durch ihre Vertretungen (zu ergänzen: in Berlin) den Richtlinien der Politik des Bundeskanzlers oder stehen sie nach seiner Ansicht nicht mit den politischen Erfordernissen in Berlin in Einklang, so sind sie auszusetzen; dem zuständigen Bundesminister wird unverzüglich Mitteilung gemacht. . . ." Und noch gravierender ist die Verletzung des Art. 65 Satz 2 GG durch die Ziffer 3 dieses Erlasses: „Sind in besonderen Fällen Maßnahmen der Vertretungen der Bundesministerien notwendig, die keinen Aufschub dulden, und ist die rechtzeitige Einholung einer Weisung des zuständigen Bundesministers nicht möglich, so kann der Bundesbevollmächtigte für den zuständigen Bundesminister die erforderlichen vorläufigen Anordnungen treffen 92). Er hat hiervon den zuständigen Bundesminister unverzüglich zu benachrichtigen." Erstaunlich ist, daß diese klaren Verfassungswidrigkeiten bisher kaum gerügt worden sind
Einen nicht ganz so offenkundigen Einbruch in die Ressortselbständigkeit läßt der § 81 Abs. 2 Satz 2 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien Teil I (GGO BMin I) erkennen „Verlautbarungen der Ministerien, die über die Behandlung fachlicher Angelegenheiten aus dem Geschäftsbereich eines Ministeriums hinausgehen und allgemein-politische Bedeutung haben, sind über das Presse-und Iniormationsamt zu leiten Verstärkt wird diese Regelung durch die den Ministerien auferlegte Pflicht, „das Presse-und Informationsamt so bald und so weit wie möglich über Absichten und Maßnahmen" zu unterrichten, „die eine Erörterung in der Öffentlichkeit erwarten lassen" Was, so ist zu fragen, bleibt danach schließlich noch übrig für die eigenen Verlautbarungen der einzelnen Ministerien? Offenbar nicht sehr viel, wenn man diese Formulierung ernst nimmt. Der dezidierten Schlußfolgerung aus dieser Befundnahme, daß das Presse-und Informationsamt „geradezu ein Instrument zur Verhinderung eigenständiger Pressepolitik durch die Ressorts geworden ist" kann man nicht jede Berechtigung absprechen. Die Gewichtsverschiebung zugunsten einer dem Bundeskanzler unmittelbar unterstellten Behörde und damit des Bundeskanzlers selbst wiegt um so gravierender, als eine erfolgreiche Ressortpolitik heute ohne selbständige Öffentlichkeitsarbeit kaum noch zu realisieren ist.
III. Aufgabe und Verantwortung der Gesamtleitung der Regierung
Neben dem materiellen Kabinettsbildungsrecht und der Befugnis zur Bestimmung der Richtlinien der Politik weist das Bonner Grundgesetz dem Bundeskanzler die Befugnis zur Leitung der Geschäfte der Bundesregierung zu (Art. 65 Satz 4). 1. Begriff und Funktion der Gesamtleitung der Regierung Die Befugnis zur Leitung der Regierungsgeschäfte trägt nicht rein technischen Charakter Sie gibt dem . Bundeskanzler das Recht, verpflichtet ihn aber auch zugleich, auf die „Einheitlichkeit der Geschäftsführung in der Bundesregierung hinzuwirken" (§ 2 GO BReg). Mit dieser Formel ist „weniger die Einheitlichkeit des Geschäftsablaufs (Geschäftsbetriebs) in den Bundesministerien gemeint, als vielmehr die Einheitlichkeit der von den Bundesministern zu vertretenden Politik" Hauptzweck der Geschäftsleitungsbefugnis ist die Koordination der Politik in jenen Fragen, die nicht Gegenstand der Richtlinienbestimmung sind, speziell in den Ressortangelegenheiten. Man wird in dieser Befugnis ganz allgemein das Recht des Bundeskanzlers zur Gesamtleitung der Regierung sehen können, das seine Ergänzung in der Befugnis zur Bestimmung der Richtlinien der Politik findet
In ihrer Funktion unterscheiden sich die Gesamtleitung der Regierung und die Richtlinien-bestimmung nicht voneinander: Beide sind auf die Koordinierung und leitende Zusammenfassung der Regierungspolitik und damit auf deren einheitliche Vertretung vor dem Parlament und allgemein in der Öffentlichkeit gerichtet. Mittel und Wege zu ihrer Erfüllung sind indessen verschieden: Bei der Gesamtleitung steht die gegenseitige Abstimmung, die Beratung, die ausgleichende Koordination im Vordergrund, bei der Richtlinienbestimmung mehr die Festlegung und dirigierende Kontrolle der Prinzipien, der Richtung und der Grundlinien der Regierungspolitik.
Gesamtleitung und Richtlinienbestimmung sind um so notwendiger, je klarer das Prinzip der Ressortselbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Minister ausgeprägt ist. Das Grundgesetz trägt diesem Zusammenhang Rechnung. Art. 65 Satz 4 GG vermeidet zwar jeden Hinweis auf den „Vorsitz" in der Bundesregierung, weist aber ebenso wie Art. 55 WRV dem Kanzler die Aufgabe zu, „die Geschäfte der Regierung zu leiten".
Die Gesamtleitungsbefugnis des Bundeskanzlers schließt eine von ihr unabhängige gleich-lautende Befugnis des Kabinetts als des Kollegiums der Mitglieder der Bundesregierung aus Desgleichen besteht neben der Ver-antwortung des Bundeskanzlers für die Gesamtleitung der Regierung keine davon gesonderte Gesamtverantwortung des Kabinetts. Soweit dieses zu bestimmten Handlungen befugt ist, wird es nur auf Veranlassung des Bundeskanzlers tätig, der die Kabinettsbeschlüsse als besondere Akte der Gesamtleitung herbeizuführen und vor dem Parlament zu verantworten hat. Damit ist nicht gesagt, daß sich die Gesamtleitungsbefugnis des Kanzlers darin erschöpft, die erforderlichen Kabinettsbeschlüsse herbeizuführen und zu vertreten
Die mangelnde Gesamtverantwortung des Bundeskabinetts schließt indessen nicht jegliche Form der Kabinettssolidarität aus. Vielmehr konstituiert, wie schon erwähnt, Art. 65 Satz 1 und 4 GG die für die heutige Verfassung charakteristische Art der Kabinettssolidarität, welche auf das Verhältnis der Mitglieder der Bundesregierung zueinander beschränkt bleibt. Eine Art kumulativer Mitverantwortlichkeit aller im Kabinett mitwirkenden Bundesminister ist dem Grundgesetz unbekannt. Allenfalls trifft einzelne Mitglieder der Regierung eine Mitverantwortung. Verfehlt ist es jedoch, in der bloßen Unterwerfung eines Ministers unter einen Kabinettsbeschluß, „rechtlich betrachtet", die „eigene Tat des normalerweise zuständigen Ministers" zu sehen Eine Mitübernahme der parlamentarischen Verantwortung des Bundeskanzlers ist bei Kabinettsbeschlüssen nur für den „federführenden Minister" vorgesehen; sie bedarf — etwa bei Verordnungen der Bundesregierung — einer ausdrücklichen Bezeugung durch die Unterschrift des betreffenden Ministers (§ 30 GO BReg und §§ 66 ff. Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien Teil II — GGO BMin II ). Die Verantwortung des Bundeskanzlers als des Inhabers der Gesamtleitungsbefugnisse der Regierung bleibt davon unberührt; im Verfassungsrecht ist für eine —. zivilrechtlich gesprochen — „privative Verantwortungsübernahme" kein Raum. 2. Die Befugnisse des Bundeskanzlers zur Gesamtleitung der Regierung Ohne Zweifel stehen im Mittelpunkt der Gesamtleitungsbefugnisse des Bundeskanzlers die verfassungsrechtlich begründeten Zuständigkeiten des Kabinetts. Deren besondere Hervorhebung durch das Grundgesetz ist dadurch gerechtfertigt, daß es sich hier um Aufgaben handelt, die nicht vom Bundeskanzler allein, aber auch nicht ohne ihn oder seinen Vertreter gelöst werden dürfen.
Das Grundgesetz überträgt dem Kollegium der Mitglieder der Bundesregierung ausdrücklich die Funktion, über Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern zu entscheiden (Art. 65 Satz 3 GG); im übrigen hat das Kabinett die nicht speziell dem Bundeskanzler oder den Bundesministern zugewiesenen Einzelausgaben der Bundesregierung wahrzunehmen. Schon ein flüchtiger Blick auf die über das Grundgesetz verstreuten Zuständigkeiten zeigt, daß dem Bundeskabinett im wesentlichen nur die Rolle einer Kontaktstelle zur Kommunikation, Beratung und ausgleichenden Koordination zufällt Im Vordergrund stehen dabei Aufgaben des vergleichsweise schmalen Sektors zwischen Richtlinien-kompetenz des Bundeskanzlers (Art. 65 Satz 1 GG) und Ressortkompetenz der einzelnen Bundesminister (Art. 65 Satz 2 GG), kurz: der ressortübergreifenden oder -überschneidenden Angelegenheiten, die nicht zugleich die Richtung der Gesamtpolitik berühren. In all diesen Fragen geht es vornehmlich um eine Verhinderung präjudizieller Entscheidungen einzelner Fachminister zu Lasten ihrer Kollegen oder, positiv ausgedrückt, um einen gemeinsamen Ausgleich, eine Koordination im Einvernehmen der Mitglieder der Bundesregierung, nicht zuletzt, um die Ressortselbständigkeit aller Minister gleichermaßen zu sichern aber auch um ein Minimum an Verständigung und gemeinsamer Beratschlagung als unabdingbare Voraussetzung einer effizienten Kabinettssolidarität zu gewährleisten.
Es ist Sache des Bundeskanzlers, kraft seiner Befugnis zur Gesamtleitung der Regierung dafür zu sorgen, daß die Zuständigkeiten des Kabinetts wahrgenommen werden. Nach seiner näheren Anweisung sind die Kabinettssitzun-gen durch den Staatssekretär des Bundeskanzleramtes festzusetzen, die einzelnen Tagesordnungspunkte zusammenzustellen und die Einladungen an die Kabinettsmitglieder zu veranlassen (§ 21 Abs. 1 GO BReg). Der Bundeskanzler oder sein amtierender Stellvertreter hat die Sitzungen des Bundeskabinetts zu leiten (§ 22 Abs. 1 GO BReg), den Wortlaut der Beschlüsse der Bundesregierung im Anschluß an die mündliche Beratung eines Gegenstandes festzulegen (§ 25 GO BReg) und verabschiedete Gesetzentwürfe den gesetzgebenden Körperschaften zuzuleiten (§ 28 Abs. 1 GO BReg). Ferner obliegt letztlich dem Kanzler die Entscheidung, ob die mündliche Beratung einer Angelegenheit nicht erforderlich und daher die Zustimmung der Mitglieder der Bundesregierung auf schriitlichem Wege einzuholen ist (sog. Umlaufsache)
Der überragende Einfluß des Bundeskanzlers auf den Gang der Beratungen und auf die Beschlüsse des Kabinetts ist nicht zu übersehen. Er ist um so gewichtiger, als die Gesamtleitung der Regierung und die Bestimmung der Richtlinien der Politik in der Hand des Kanzlers vereinigt sind. Was mit den Grundsätzen und der Richtung der Gesamtpolitik nicht zu vereinbaren ist, läßt sich auch im Kabinetts-saal nicht durchsetzen. Daß der Bundeskanzler von der Mehrheit der Minister einmal überstimmt werden könnte, ist ein höchst unwahrscheinlicher, im Grunde rein theoretischer Fall Durch die Richtlinienbestimmung ist vielfach bereits der Rahmen der Ressort-und ressortübergreifenden Angelegenheiten abgesteckt; und richtlinienwidrige Entwürfe eines Bundesministers sind als nicht zulässige Kabinettsvorlagen vom Kanzler zurückzuweisen bzw. nicht auf die Tagesordnung einer Kabinettssitzung zu setzen. Findet im übrigen die Auffassung des Kanzlers nicht die Unterstützung der Mehrheit der Kabinettsmitglieder, so wird er es in der Regel nicht zu einer abschließenden Abstimmung kommen lassen, sondern vielmehr um eine Lösung im Einvernehmen möglichst aller Regierungsmitglieder bemüht bleiben.
Ist indessen ein iörmlicher Kabinettsbeschluß gefaßt worden, so liegt ein für alle Mitglieder der Bundesregierung verbindlicher Akt vor, den auch der Kanzler nicht einseitig umstoßen kann. Abzulehnen ist deshalb die Ansicht, er könne sich, „symbolisch ausgedrückt, aus der Kabinettssitzung in sein Arbeitszimmer zurückziehen und noch einmal die Entscheidung für sich (!) fällen, die dann die endgültige" sei Ein derartiges Evokationsrecht des Bundeskanzlers läßt sich verfassungsrechtlich nicht begründen: Die ausdrückliche Trennung von Kabinettszuständigkeit und Einzelzuständigkeit des Kanzlers verbietet es, daß Angelegenheiten, die von der Bundesregierung als Kollegium zu entscheiden sind, letztlich vom Kanzler allein bestimmt werden. Dieser kann auch dann die Entscheidung nicht an sich ziehen, wenn in einer Frage die Beschlußfassung des Kabinetts unterblieben ist weil es bei den Kabinettszuständigkeiten um die Wahrung von Mitwirkungsrechten der Bundesminister geht, die der Kanzler nicht übergehen darf. Deshalb ist auch der Einwand, es sei vom Blickpunkt der parlamentarischen Verantwortlichkeit her im Grunde gleichgültig, ob nun der Bundeskanzler allein oder im Zusammenwirken mit den Bundesministern entscheide nicht stichhaltig.
Die Zuständigkeiten des Bundeskabinetts werden in § 15 in Verbindung mit § 18 GO BReg zusammengefaßt, zugleich aber nicht unbedenklich ausgeweitet:
Wenn nach § 15 Abs. 1 GO BReg „alle Angelegenheiten von allgemeiner innen-oder außenpolitischer, wirtschaftlicher, sozialer, finanzieller oder kultureller Bedeutung" der Bundesregierung zur Beratung und Beschlußfassung (!) zu unterbreiten sind, so bedeutet das unvermeidlich eine Beeinträchtigung der Richtlinienbefugnis des Bundeskanzlers. Würde es sich allein darum handeln, daß die Bundesminister in einer Frage der Richtlinienbestimmung zuvor informiert und gehört werden und der Bundeskanzler mit den Meinungen seiner Kabinettskollegen konfrontiert wird bedürfte es nicht vieler Worte. Eine solche Verständigung innerhalb der Bundesregierung ist ohne weiteres von der Funktion der Gesamtleitung der Regierung her legitimiert. Verfassungsrechtlich bedenklich ist aber jeder Versuch, Richtlinienentscheidungen der Beschlußfassung des Kabinetts zu unterwerfen So unrealistisch die Vorstellung auch ist, daß der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik „ganz allein" zu bestimmen habe so wenig kann ihm die durch Art. 65 Satz 1 GG begründete Zuständigkeit zur Richtlinienbestimmung durch eine Geschäftsordnungsregel auf weiten Bereichen praktisch wieder entzogen werden. Wenn der Bundeskanzler sich in Fragen der Richtung der Gesamtpolitik der ausdrücklichen Zustimmung des Bundeskabinetts versichern möchte, bleibt ihm dies unbenommen, aber er kann nicht dazu gezwungen werden.
Nicht weniger problematisch ist die Regelung des § 15 Abs. 1 GO BReg im Blick auf die Ressortselbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Bundesminister. Nach dem Grundgesetz besitzt das Bundeskabinett kein Beschlußfassungsrecht, das über eine ausgleichende Koordination von ressortübergreifenden Fragen hinausgeht. Jede Kabinettszuständigkeit findet ihre Grenze in dem Prinzip der Ressort-selbständigkeit der Minister, und zwar auch dann, wenn es sich um „Angelegenheiten von allgemeiner Bedeutung" handelt Um so weniger kann dem Kabinett ein Recht zur Beratung und — wie aus der Formulierung des § 15 Abs. 2 lit. c) GO BReg zu schließen ist — auch zur Beschlußfassung über die Ernennung der sogenannten politischen Beamten und die Anstellung von übertariflich bezahlten Angestellten (§ 15 Abs. 2 lit. a) und b) in Verbindung mit § 18 GO BReg) zustehen Wenn es spezifisch ressortinterne Angelegenheiten gibt, die unter allen nur erdenklichen Gesichtspunkten nicht die Belange eines anderen Ministeriums berühren, so sind es die Personalfragen. Für eine Koordinationszuständigkeit des Bundeskabinetts gibt es weder einen zwingenden Anlaß noch eine verfassungsrechtliche Grundlage.
Unabhängig von den Kabinettszuständigkeiten fiat der Bundeskanzler eine eigenständige Koordinationskompetenz Die Geschäftsordnung der Bundesregierung setzt sie als gegeben voraus, wenn sie dem Bundeskanzler die Aufgabe zuweist, den Bundespräsidenten laufend über die Gesamtrichtung der Politik und die Geschäftsführung der einzelnen Bundesminister zu unterrichten (§ 5), Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bundesministern auch vor der Beratung im Kabinett in einer Besprechung mit den Beteiligten unter seinem Vorsitz zu erörtern (§ 17 Abs. 2) und die „präsidierenden Mitglieder der Landesregierungen mehrmals im Jahre persönlich zu gemeinsamen Besprechungen mit der Bundesregierung" einzuladen (§ 31). Auch die im Grundgesetz er-wähnten Informationspflichten der Bundesregierung (Art. 53 Satz 3, Art. 53 a Abs. 2 Satz 1 GG) die in erster Linie der Bundeskanzler als Leiter der Regierung zu erfüllen hat setzen dessen eigenständige Koordinationszuständigkeit voraus.
Nur wer diese Befugnis des Kanzlers außer acht läßt, kann zu der summarischen Feststellung gelangen, daß „übergeordnete Planung, Koordination und Zielausrichtung . . . sich (im Grundgesetz) von vornherein nur schwach zur Geltung bringen können" So sehr auch die Koordinierungszuständigkeit des Kabinetts begrenzt ist, so wenig verzichtet das Grundgesetz auf eine oberste Leitungs-und Koordinierungsbefugnis des Bundeskanzlers. Es hält ein durchaus zulängliches Instrumentarium bereit, um den Kanzler in den Stand zu setzen, die wachsenden, zunehmend interdependenten Regierungsaufgaben des demokratischen Sozialstaates erfüllen zu können. 3. Hilfseinrichtungen zur Gesamtleitung der Regierung Das Bundeskanzleramt ist nicht nur Hilfsorgan des Kanzlers zur Vorbereitung, kritischen Überprüfung, Durchsetzung und Überwachung der Richtlinien der Politik, sondern es fungiert auch als zentrales Instrument zur Gesamtleitung der Regierung: Es hat den Bundeskanzler über die Tätigkeit in den Bundesministerien zu unterrichten, deren Arbeiten zu koordinieren sowie die Sekretariatsgeschäfte der Bundesregierung zu erledigen Daneben dient es als Verbindungsstelle der Regierung zum Bundestag und zum Bundesrat
Im Vordergrund dieser Aufgaben steht heute die Koordinierung aller Regierungstätigkeit, ohne die eine Gesamtleitung der Regierung nicht mehr möglich ist, zumal die Verflechtung der Aufgaben und der Arbeit der einzelnen Ministerien eher zu-als abnimmt. Im neueren Schrifttum findet nicht von ungefähr diese Koordinierung unterhalb der Kabinettsebene — vom Kanzleramt zu den Ministerien hin-und herüber — stärkere Beachtung freilich begegnet auch die nicht zureichende Organisation und Ausstattung des Kanzleramts für diese Aufgabe wachsender Kritik Am klarsten hat der Politologe Harm Prior auf die Mängel aufmerksam gemacht: Das Bundeskanzleramt übt in keinem Referentenausschuß auf interministerieller Ebene die Federführung aus und stellt weder einen Vorsitzenden noch Beamte für die Geschäftsführung eines solchen Ausschusses; es ist in den meisten Ausschußsitzungen nicht einmal durch einen Beamten vertreten (I); ja, man glaubt seinen Ohren nicht zu trauen, wenn man von einem Organisationsreferenten vernimmt: „Es gibt Ausschüsse, von denen man im Bundeskanzleramt keine Ahnung hat"
Als besondere Instrumente der Koordinierung der Regierungstätigkeit dienen zunehmend die Kabinettsausschüsse, deren Zahl in den letzten Jahren rasch zugenommen hat; heute sind es nicht weniger als zehn 1. Der ministerielle Koordinierungsausschuß für Wirtschaftsfragen (sogenanntes Wirtschaftskabinett)
seit März 1951;
2.der Kabinettsausschuß für Sozialreform (sogenanntes Sozialkabinett) wurde im August 1955 konstituiert und — nachdem er viele Jahre nicht mehr zusammengetreten war — im Oktober 1968 neubegründet als Kabinettsausschuß für Sozialbudget und soziale Strukturfragen
3.der Bundesverteidigungsrat seit Oktober 1955;
4.der Kabinettsausschuß für Raumordnungsfragen seit April 1965;
5.der Kabinettsausschuß für wissenschaftliche Forschung, Bildung und Ausbildungsförderung (sogenanntes Wissenschaftskabinett)
seit Februar 1966; 6.der Kabinettsausschuß für innerdeutsche Beziehungen seit März 1967
7.der Kabinettsausschuß für mittelfristige Finanzplanung seit April 1967;
8.der Kabinettsausschuß für das Agrarprogramm (sogenanntes Agrarkabinett) seit November 1968
9.der Kabinettsausschuß für die Reform der Struktur von Bundesregierung und Bundesverwaltung seit Dezember 1968
10. ein Kabinettsausschuß, der sich mit den Unruhen an den Hochschulen sowie der Tätigkeit terroristischer Minderheiten befaßt, besteht seit Januar 1969
Die Koordinationsaufgaben der Kabinettsausschüsse sind nicht, wie die vorherrschende Lehre annimmt auf rein vorbereitende oder vorberatende Tätigkeiten beschränkt. Die Geschäftsordnung des Bundesverteidigungsrates spricht in § 1 Abs. 2 ausdrücklich davon, daß dieser Kabinettsausschuß „Vorentscheidungen trifft, soweit sie möglich sind", und daß er auch „endgültig entscheiden kann, soweit nicht nach dem Grundgesetz oder einem Bundesgesetz ein Beschluß der Bundesregierung erforderlich ist". Nach einer mündlichen Auskunft aus dem Bundeskanzleramt steht in gleichem Rahmen auch den übrigen Kabinettsausschüssen, für die es keine Geschäftsordnungen gibt, die Befugnis zu, „im Einvernehmen aller beteiligten Minister Beschlüsse zu fassen"
In dieser Begrenzung wird gegen ein Beschlußrecht der Käbinettsausschüsse nichts einzuwenden sein, soweit auch die dem jeweiligen Ausschuß nicht als Mitglieder angehörenden Bundesminister zu den Sitzungen hinzugezogen werden, wenn Angelegenheiten, die ihren Geschäftsbereich berühren, beraten werden Diese Lösung ist um so unbedenkli-eher, als jedes Mitglied der Bundesregierung unter Berufung auf seine entgegenstehende Meinung eine Entscheidung des Kabinetts gemäß Art. 65 Satz 3 GG herbeiführen kann. Im Ergebnis dürfte das Beschlußrecht der Kabinettsausschüsse allerdings kaum über den Kreis „minder wichtiger Fragen" hinausgehen Deshalb kann von diesen Ausschüssen weder eine nennenswerte Entlastung des Kabinetts noch eine allzu große Intensivierung der interministeriellen Koordination erwartet werden
Die Beschlüsse der Kabinettsausschüsse sind ebenso wie die des Kabinetts Akte der Gesamtleitung der Regierung. Nicht zuletzt aus diesem Grunde hat grundsätzlich der Bundeskanzler den Vorsitz in diesen Ausschüssen inne und trägt für deren Beschlüsse die Verantwortung vor dem Parlament. Im Einzelfall kann der Vorsitz einem Bundesminister ständig übertragen werden — mit der unvermeidlichen Folge, daß insoweit Gesamtleitungsbefugnisse des Kanzlers und damit auch ein Teil seiner parlamentarischen Verantwortlichkeit auf jenen übergehen Würde diese Ausnahme indessen zur Regel, wäre die Kompetenz des Bundeskanzlers nach Art. 65 Satz 4 GG bedenklich ausgehöhlt, was gleichsam zu einer Art Selbstmatt des Regierungschefs führen müßte.
Die Geschäftsführung für die einzelnen Kabinettsausschüsse wird in der Regel von Beamten des Bundeskanzleramtes besorgt. Lediglich für den Bundesverteidigungsrat lag sie in den Jahren 1964— 1966 bei dem eigens geschaffenen Ministerium für die Angelegenheiten des Bundesverteidigungsrates, das nach der Bildung der Regierung der Großen Koalition aufgelöst worden ist. Seither wird die Geschäftsführung wieder vom Bundeskanzleramt wahrgenommen
Als von der Verfassung nicht vorgesehenes Koordinierungsinstrument wird heute der so-genannte Kressbronner Kreis tätig, der inoffizielle Koalitionsausschuß der Großen Koalition. Er hat die unausgesprochene Aufgabe, einen allgemeinen Ausgleich aller Differenzen und Auffassungsunterschiede zwischen den Koalitionsparteien, aber wohl auch zwischen den einzelnen Regierungsmitgliedern beider Parteien herbeizuführen. Seine Tätigkeit ist solange mit dem Grundgesetz vereinbar, als sie die verfassungsrechtliche Grundstruktur der Bundesregierung, insbesondere die Kompetenz-und Verantwortungsregelungen nicht inhibiert. Die Grenzziehung von zulässiger und nichtzulässiger Koordination wird nicht immer leicht sein und nur von Fall zu Fall vorgenommen werden können, sieht man von dem eklatanten Fall ab, in dem dieser Kreis die Funktion einer Nebenregierung oder eines Vorschaltkabinetts übernimmt
Mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist die Berufung von nicht der Bundesregierung angehörenden sogenannten politischen Beratern, die zur zentralen politischen Beratschlagung und Entscheidung hinzugezogen werden Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um einen „braintrust" nach dem Vorbild des Beraterstabes des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy handelt oder um einen nur gelegentlich zusammenkommenden „Sonderkreis" vorzüglich jüngerer Publizisten, den Bundeskanzler Ludwig Erhard zu Rate zog oder um einzelne „politische Berater" ohne Ministerrang
Die vom Grundgesetz festgelegte Organisationsstruktur der Bundesregierung läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß für den Bundeskanzler die Stätte der zentralen politischen Beratschlagung der Kabinettssaal ist und seine „politischen Berater" die Bundesminister sein sollen Nicht von ungefähr ist für die or-ganisationsrechtliche Stellung des Ressortministers die institutionelle Verbindung von Kabinettsmitgliedschaft und Leitung eines Geschäftsbereiches charakteristisch.
Die zentrale politische Beratschlagung steht in der parlamentarischen Demokratie nicht außerhalb der Regierungstätigkeit, sondern ist einer ihrer integrierenden Bestandteile. Sie darf daher nur von Mitgliedern der Bundesregierung selbst ausgeübt werden, nicht aber von parlamentarisch nicht verantwortlichen Experten oder Vertrauten „Allein die Ministerstellung verleiht außerhalb der Volksvertretung (und ihrer Fraktionen und Ausschüsse) das öffentliche und zugleich parlamentarisch verantwortliche Amt, das die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine politische Berater-funktion erfüllt."
IV. Der Zusammenhang der drei Aufgaben-und Verantwortungsbereiche
Aufgabe und Verantwortung des Bundeskanzlers nach dem Grundgesetz sind hier aus Gründen der Übersichtlichkeit gesondert unter den drei Aspekten der Kabinettsbildung, der Bestimmung der Richtlinien der Politik und der Gesamtleitung der Regierung dargestellt worden. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich nur um drei unterscheidbare, nicht aber um drei voneinander zu trennende Teilbereiche handelt, denn sie stehen in einem Funktions-und Verantwortungszusammenhang.
Die drei Einzelaspekte veranschaulichen zu ihrem Teil die verfassungsrechtlich begründete Besonderheit der Aufgaben und Befugnisse und der ihnen korrespondierenden Verantwortung des Bundeskanzlers. Sie zeigen, daß schon rein quantitativ die Verantwortlichkeit des Kanzlers vor dem Parlament nicht mit der seiner Kabinettskollegen zu vergleichen ist, weil sie sich nicht bereichsmäßig eingrenzen läßt. Das qualitativ Besondere seiner Verantwortlichkeit liegt in derem Bezug auf das Ganze der Regierungsführung, die Richtung, das Prinzipielle, das Allgemeine der Regierungspolitik. Nichts anderes meinte bereits der Staatsrechtslehrer Gerhard Anschütz, als er die Stellung des Reichskanzlers nach der Weimarer Verfassung als die „eines nicht für die Einzelheiten, sondern für das Ganze verantwortlichen leitenden Staatsmannes" charakterisierte
V. Aufgabe und Stellung des Stellvertreters des Bundeskanzlers
Das Grundgesetz sieht in Art. 69 Abs. 1 vor, daß der Bundeskanzler einen Bundesminister zu seinem Stellvertreter ernennt, regelt indessen keine näheren Einzelheiten. 1. Die Vertretungsfälle Die Stellvertretung des Bundeskanzlers soll — anders als die des Bundespräsidenten (Art. 57 GG) — offenbar nur im Verhinderungslall, nicht auch bei Erledigung des Amtes des Bundeskanzlers stattfinden Das ergibt sich aus der Bestimmung des Art. 69 Abs. 2 GG, die mit dem Amt des Bundeskanzlers das aller Minister und somit auch das des zum Stellver-treter ernannten Kabinettsmitgliedes endigen läßt.
Ein Ersuchen des Bundespräsidenten an den bisherigen Stellvertreter, geschäftsführend die Aufgaben des Bundeskanzlers wahrzunehmen, könnte keine Stellvertretung im Sinne des Art. 69 Abs. 1 GG begründen, sondern würde die Erteilung eines besonderen befristeten Amtsauftrages im Sinne des Absatzes 3 dieses Artikels bedeuten. Ein solches Ersuchen wäre jedoch verfassungswidrig, weil ein Bundesminister nur mit der Weiterführung seines vorher verfassungsgemäß übertragenen Amts, nicht aber mit der Übernahme eines anderen Amtes ohne den vom Grundgesetz vorgeschriebenen Bestellungsakt beauftragt werden darf Der Stellvertreter des Bundeskanzlers ist demnach kein verfassungsmäßiger Verweser bei vorzeitiger Beendigung der Amtszeit des Bundeskanzlers, erst recht kein vom Grundgesetz'ausersehener präsumtiver Nachfolger. Seine Aufgabe ist allein darauf beschränkt, den Bundeskanzler im Verhinderungsfälle einstweilig in der Amtsführung zu vertreten.
In diesem Sinne präzisiert auch die Geschäftsordnung der Bundesregierung die Stellvertretung: „Ist der Bundeskanzler an der Wahrnehmung der Geschäfte allgemein verhindert, so vertritt ihn der gemäß Art. 69 GG zu seinem Stellvertreter ernannte Bundesminister in seinem gesamten Geschäftsbereich" (§ 8 Satz 1). „Allgemein verhindert" ist der Kanzler, wenn und solange er nicht in der Lage ist, die Regierungsgeschäfte zu führen, nicht bereits, wenn er sie noch teilweise selbst erledigt Ob eine Verhinderung vorliegt, wird in aller Regel von der persönlichen Feststellung des Kanzlers abhängen, sieht man von den möglichen Fällen seiner vorübergehenden tatsächlichen Handlungsunfähigkeit ab In denkbaren, aber wohl seltenen Zweifelsfällen wird es allerdings nicht die beruhigende Gewißheit einer Art „politischen Entmündigungsverfahrens" geben können; ebensowenig kann der Bundespräsident als vermeintlicher Hüter einer „Reserve an letztinstanzlicher Entscheidungsmacht" eingreifen
Besteht die „allgemeine Verhinderung" nicht nur vorübergehend, sondern dauert sie ständig an, liegt kein Fall der Stellvertretung mehr vor — eher könnte von einem verdeckten Tatbestand vorzeitiger Beendigung der Amtszeit des Bundeskanzlers gesprochen werden, der zur unverzüglichen Neuwahl führen muß. Die Stellvertretung ist ihrem Wesen nach keine Dauererscheinung; sie kann immer nur ein prinzipiell begrenztes Interim sein 2. Der Umfang der Stellvertretung Im Unterschied zur Geschäftsordnung der Reichsregierung von 1924 enthält die Geschäftsordnung der Bundesregierung keine ganz eindeutige Regelung über den Umfang der Stellvertretung des Bundeskanzlers: Nach § 8 Satz 1 GO BReg vertritt der zum Stellvertreter ernannte Bundesminister den Bundeskanzler bei dessen „allgemeiner Verhinderung" in dessen „gesamtem Geschäftsbereich", während der Satz 2 dieses Paragraphen hinzufügt: „Im übrigen kann der Bundeskanzler den Umfang seiner Vertretung näher bestimmen." Die vorherrschende Lehre im heutigen Schrifttum nimmt an, daß bei „allgemeiner Verhinderung" des Kanzlers stets ein voll an seine Stelle tretender Stellvertreter vorhanden sein müsse und insoweit Einschränkungen der Vertretungsbefugnisse nicht zulässig seien; der Satz 2 des § 8 GO BReg gelte lediglich bei einer Vertretung in einzelnen Fällen Diese Auffassung kann nicht überzeugen. Es ist schwer einzusehen, warum der Bundeskanzler nicht wie der Reichskanzler der Weimarer Republik den Umfang der Vertretungsbefugnisse in jedem Falle selbst festlegen sollte. Wenn er zu seiner Entlastung im Wege der Delegation — was unbestritten ist — einzelne Befugnisse einem anderen Regierungsmitglied zu eigenverantwortlicher Wahrnehmung übertragen darf so bleibt unerfindlich, weshalb er nicht auch bei einer „allgemeinen Verhinderung" den Umfang einer lediglich einstweiligen Vertretung in der Amtsführung bestimmen sollte Daß dabei ein genereller Ausschluß jeglicher Stellvertretung angesichts der klaren Regelung des Art. 69 Abs. 1 GG unzulässig ist, bedarf keiner weiteren Erörterung.
Auch die Interpretation des § 8 Satz 2 GO BReg durch die überwiegende Lehrmeinung ist wenig einleuchtend. Danach müßte diese Regelung eigentlich überflüssig sein, denn es dürfte sich von selbst verstehen, daß bei einer Vertretung nur in einzelnen Fällen der Kanzler den Umfang der Vertretungsbefugnisse eingrenzen kann. Wie könnte es anders sein? Sinnvoll erscheint § 8 Satz 2 GO BReg allein, wenn er auf den vorhergehenden Satz bezogen wird: Bei einer „allgemeinen Verhinderung" vertritt der Stellvertreter den Bundeskanzler in dessen „gesamtem Geschäftsbereich" (Satz 1), es sei denn, daß der Kanzler den Umfang seiner Vertretung „näher bestimmt" (Satz 2).
In Betracht kommen vor allem zwei Möglichkeiten: Zum einen vermag der Kanzler für einzelne Befugnisse eine gesonderte Vertretungsregelung zu treffen. So hat zum Beispiel Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger — wie teilweise auch schon seine Vorgänger — für die Kabinettsausschüsse jeweils einen von deren Aufgabenkreis her besonders berufenen Bundesminister zu seinem ständigen Vertreter im Vorsitz ernannt und damit beauftragt, bei seiner Verhinderung die Sitzungen zu leiten Diese speziellen Anordnungen bedeuten eine Einschränkung der Vertretungsbefugnisse des gemäß Art. 69 Abs. 1 GG ernannten „allgemeinen" Stellvertreters des Bundeskanzlers.
Zum anderen kann der Kanzler — namentlich bei kurzfristiger Verhinderung — sich die Entscheidung in bestimmten Sachfragen selbst vorbehalten, sei es, daß er sie ganz aus dem Kreis der Vertretungshandlungen ausklammert, sei es, daß er seinem Stellvertreter bestimmte Weisungen erteilt, wie er eine Angelegenheit behandelt wissen möchte. Je prinzipieller und je wegweisender die Sachfrage, desto stärker wird er von dieser Vollmacht des § 8 Satz 2 GO BReg Gebrauch machen: Eine Frage der Kabinettsbildung und der Organisation der Geschäftsbereiche der einzelnen Minister dürfte in aller Regel nicht dem Stellvertreter zur Entscheidung überlassen werden; auch die Bestimmung der Richtlinien der Politik der Regierung wird der Kanzler höchstens in besonderen Fällen aus der Hand geben Die Mehrzahl der Vertretungshandlungen dürfte im Bereich der Gesamtleitung der Regierung liegen. Die Geschäftsordnung der Bundesregierung trägt diesem Umstand Rechnung, indem sie die Befugnis des Stellvertreters zur Leitung der Kabinettssitzungen bei Verhinderung des Bundeskanzlers besonders hervorhebt und zudem eine Regelung vorsieht, falls auch der Stellvertreter verhindert sein sollte (§ 22 Abs. 1). 3. Die Rechtsstellung des Stellvertreters Wenn der Stellvertreter den Bundeskanzler bei dessen „allgemeiner Verhinderung" einstweilig in der Amtsführung vertritt, wird er an Stelle des Kanzlers und für ihn tätig. Er nimmt dessen verfassungsrechtliche Aufgaben nicht eigenverantwortlich wahr — dazu wäre er gar nicht legitimiert —, sondern, der Name sagt es, nur stellvertretend. Die Verantwortung des Kanzlers geht mithin im Vertretungsfall nicht auf seinen Stellvertreter über Anderenfalls wäre die Beschränkungsbefugnis des Kanzlers nach § 8 Satz 2 GO BReg nicht recht verständlich. Für die hier vertretene Ansicht spricht ferner, daß das konstruktive Mißtrauensvotum des Art. 67 GG — die charakteristische und zugleich schärfste Form der Realisierung der parlamentarischen Verantwortlichkeit des Bundeskanzlers — nicht gegen dessen Stellvertreter geltend gemacht werden kann und ebenso, daß dieser nicht von sich aus die Vertrauensfrage gemäß Art. 68 GG stellen kann — eine Befugnis, die gleichsam als antizipiertes persönliches Gegenrecht des Kanzlers zum parlamentarischen Mißtrauensvotum anzusehen ist.
Der Stellvertreter des Bundeskanzlers nimmt daher keine verfassungsrechtliche Sonderstellung gegenüber seinen Kabinettskollegen ein — weder vor noch nach dem Eintritt des Vertretungsfalles Auch wenn er die vollen Befugnisse des Bundeskanzlers ausübt, bleibt er stets nur sozusagen dessen Platzhalter ohne eigene Verantwortung.
Diese Entscheidung des Grundgesetzes ist gelegentlich— jedoch zu Unrecht — als bedenklich angesehen worden Sie wäre es nur, wenn während der Stellvertretung überhaupt keine parlamentarische Verantwortlichkeit für die Regierungsführung bestünde. In jedem Falle bringt sie einen unbestreitbaren Vorteil mit sich: Dadurch, daß der Bundeskanzler der Adressat des Parlaments für alle Einwendungen gegen die Leitung der Regierung bleibt, wird das Eigengewicht der Stellvertretung weitgehend ausgeschaltet und die Rückkehr des Kanzlers zu seinen Geschäften begünstigt. Dem Parlament steht in dem Recht des Art. 67 GG ein wirksames Instrument zur Verfügung, um jeden Versuch einer quasi kontinuierlichen Stellvertretung zu verhindern. 4. Die Bestellung des Stellvertreters Wenn der Bundeskanzler für die Tätigkeit seines Stellvertreters parlamentarisch verantwortlich ist, muß ihm auch die Entscheidung —d--E-•—>IEIIEIlr wen ei zu beiiiem veiutiei ernennen will. Diese Befugnis impliziert auch das Recht, den Stellvertreter wieder abzuberufen und durch einen anderen zu ersetzen Angesichts der strikten Formulierung des Art. 69 Abs. 1 GG kann er indessen nicht auf jegliche Stellvertretung verzichten
Bei der Ernennung seines Vertreters ist der Kanzler weder an die Mitwirkung des Bundespräsidenten noch an die des Bundestages gebunden In Koalitionsregierungen wird häufig der Vorsitzende der anderen bzw.der zweitstärksten Koalitionspartei zum Stellvertreter bestellt; der Bundeskanzler kann indessen nicht dazu verpflichtet werden: Denn im Blick auf seine parlamentarische Verantwortlichkeit darf seine Entscheidungsfreiheit nicht prinzipiell in Frage gestellt werden. — In formeller Hinsicht unterliegt die Ernennung bzw. die Abberufung keinen besonderen Erfordernissen; sie bedarf freilich der Bekanntgabe
Nach Art. 69 Abs. 1 GG kann nur ein Bundesminister Stellvertreter des Kanzlers sein. Es ist dabei gleichgültig, ob er einem Ressort vorsteht oder der Regierung als Sonderminister angehört Nicht zur Vertretung befugt ist der Staatssekretär des Bundeskanzleramtes. Die für die Minister in § 14 GO BReg vorgenommene Scheidung zwischen der Vertretung „in der Regierung" (durch einen Ministerkollegen) und „in der Leitung einer obersten Bundesbehörde" (durch den Staatssekretär) gilt nicht für den Bundeskanzler; sein gesamtes Tun ist Tätigkeit „in der Regierung" Verschiedentlich ist die Praxis des früheren Bundeskanzlers Konrad Adenauer gerügt worden, der bei seiner Abwesenheit gelegentlich den Chef des Bundeskanzleramts zum Sachwalter der Regierungsgeschäfte gemacht hatte Dabei ist indessen nicht immer bedacht worden, daß nicht jede Entfernung des Kanzlers von seinem Amtssitz zu seiner „allgemeinen Verhinderung" im Sinne des § 8 GO BReg führen muß. Wenn er sich des Staatssekretärs im Bundes-
Kanzlerdi dIS •veliituel seiel Eilucel-düngen und Weisungen bedient, muß nicht unbedingt bereits der zum Stellvertreter des Bundeskanzlers ernannte Bundesminister übergangen sein. 5. Inkompatibilitäten innerhalb der Bundesregierung ?
Im Schrifttum der Gegenwart ist die These vertreten worden, daß der Bundeskanzler bei der Wahl seines Stellvertreters Beschränkungen unterliege. Sie wird auf die Annahme von bestimmten Inkompatibilitäten innerhalb der Bundesregierung gestützt: Einzelne Ministerämter dürften nicht mit dem Amt des Stellvertreters des Bundeskanzlers in einer Hand vereinigt sein, weil dadurch eine „unzulässige Machtkonzentration" eintreten könnte Diese Behauptung präjudiziert zugleich die Antwort auf die weitere Frage, inwieweit der Bundeskanzler selbst die Aufgaben bestimmter Ressortminister mitübernehmen darf.
Als erster hat der Jurist Wolfgang Plaum die Auffassung vertreten, daß der Bundesfinanzminister nicht Stellvertreter des Bundeskanzlers sein könnte, weil das ihm nach § 21 Abs. 3 der Reichshaushaltsordnung und § 26 Abs. 1 GO BReg eingeräumte Widerspruchs-recht dazu führen müsse, daß er „in allen Finanzfragen allein in seiner Person die-Entscheidung der Bundesregierung fällen könnte". Das „würde für einen großen Teil der Aufgaben der Bundesregierung die Verwirklichung des reinen Kanzlerprinzips und die Beseitigung des in Art. 65 GG festgelegten Kollegial-prinzips bedeuten" Da auch der Bundesschatzminister das Vetorecht des § 26 Abs. 1 GO BReg in bestimmten Fällen auszuüben berechtigt sei, käme er ebenfalls nicht als Stellvertreter des Bundeskanzlers in Betracht Schließlich wird auch eine Verbindung des Amtes des Bundesjustizministers und des Bundesinnenministers mit dem des Kanzler-Stellvertreters — im Blick auf das Widerspruchsrecht dieser Minister gemäß § 26 Abs. 2 GO BReg — für unzulässig gehalten Diesen Inkompatibilitäten ist jetzt eine weitere hinzugefügt worden: Der Bundeskanzler bzw.sein Stellvertreter dürfte in Friedenszeiten nicht zugleich Bundesverteidigungsminister sein Zur Begründung wird auf die „machthemmende Strukturierung des Grundgesetzes" verwiesen, welche es verbiete, über den Art. 115 b GG hinausgehend, dem Bundeskanzler auch außerhalb des Verteidigungsfalles die Befehls-und Kommandogewalt über die Streitkräfte zu übertragen
So unerwünscht eine Machtkonzentration bei einzelnen Mitgliedern der Bundesregierung auch sein mag, so wenig wird sie von der Verfassung ausgeschlossen. Es kann hier dahingestellt bleiben, wie die Widerspruchsrechte der einzelnen Bundesminister verfassungsrechtlich zu beurteilen sind. Jedenfalls kann die gleichsam abstrakte Berufung auf das grundsätzlich gebotene Nebeneinander der drei Struktur-prinzipien der Bundesregierung (des Kanzler-, des Ressort-und des Kabinettsprinzips) noch keine Inkompatibilität rechtfertigen. Das Verhältnis dieser Organisationsprinzipien zueinander wird allein durch die einschlägigen Artikel des Grundgesetzes bestimmt. Diese aber erwähnen mit keinem Wort eine Unvereinbarkeit des Amtes einzelner Ressortminister mit dem des Stellvertreters des Bundeskanzlers.
Es ist daher daran festzuhalten, daß der Bundeskanzler bei der Wahl seines Stellvertreters aus dem Kreis der Bundesminister ebensowenig Beschränkungen unterliegt wie vor ihm der Reichskanzler der Weimarer Republik, dem die Geschäftsordnung der Reichsregierung ein unbegrenztes Auswahl-recht ausdrücklich bestätigte
Ebenso ist die Personalunion zwischen dem Amt des Bundeskanzlers und dem des Ressort-ministers unbeschränkt für zulässig zu erachten. Allerdings dürfte der Kanzler die Leitung eines Ministeriums nur in Ausnahmefällen selbst übernehmen, schon wegen der damit verbundenen Mehrbelastung Im Verteidigungsfall ist er bekanntlich sogar verpflichtet, einen Teil der Befugnisse des Verteidigungsministers wahrzunehmen, nämlich die Befehls-und Kommandogewalt (Art. 115 b GG).
Für die Frage der parlamentarischen Verantwortlichkeit ergeben sich daraus keine besonderen Probleme: Soweit der Kanzler Befugnisse eines Ressortministers selbst wahrnimmt, trägt er auch zugleich dessen spezifische Verantwortung für den Geschäftsbereich: Mit dem Aufgabenzuwachs geht eine Kumulation seiner Verantwortung einher.