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Der Antiparlamentarismus und Antipluralismus der Rechts-und Linksradikalen | APuZ 34/1969 | bpb.de

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APuZ 34/1969 Der Antiparlamentarismus und Antipluralismus der Rechts-und Linksradikalen Aufgabe und Verantwortung des Bundeskanzlers nach dem Grundgesetz

Der Antiparlamentarismus und Antipluralismus der Rechts-und Linksradikalen

Gerhard A. Ritter

Die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik ist in den letzten Jahren — vor allem seit der vorübergehenden Wirtschaftsrezession 1966/67 und der Bildung der Großen Koalition Ende 1966 — von Seiten extremer Kräfte auf der Rechten und der Linken zunehmend in Frage gestellt bzw. radikal angegriffen worden. Die vorliegende Untersuchung will die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten der dieser Kritik zugrunde liegenden Denk-und Verhaltensweisen herausarbeiten und dabei insbesondere das im Zentrum dieser Ideologien liegende Verständnis von Demokratie, Parlamentarismus und Pluralismus analysieren.

Dabei soll die Untersuchung sich einerseits auf die NPD, andererseits auf die Neue Linke beschränken; auf die organisatorisch und auch ideologisch sehr heterogenen gesellschaftlichen Gruppierungen der Neuen Linken aber nur insoweit, als sie die gegenwärtige Verfassung und Rechtsordnung für nicht legitimiert halten und zu deren Beseitigung die Anwendung nichtrechtsstaatlicher, undemokratischer Mittel — u. a. auch Gewalt durch eine „revolutionäre Elite" — als grundsätzlich gerechtfertigt ansehen. Damit gehören also bewußt nicht zum Gegenstand der Untersuchung jene links von der SPD stehenden, sich selbst auch häufig zur Neuen Linken zählenden Kräfte, die unter Ausschöpfung aller legalen, auch außerparlamentarischen Mittel auf demokratischem Wege, also u. a. durch Gewinnung einer Mehrheit, ein radikales Reformprogramm durchsetzen wollen, selbst wenn dieses die Ersetzung der kapitalistischen durch eine sozialistische Gesellschafts-und Wirtschaftsordnung zum Ziel hat.

Während die Neue Linke — jedoch nicht die Ende 1968 konstituierte Deutsche Kommunistische Partei — ihre Ziele offen darlegt, verhüllt die NPD in zunehmendem Maße ihre letz-ten Ziele, um bei den Wählern respektabler zu werden und einem Verbot durch das Bundesverfassungsgericht zu entgehen.

Die Berechtigung eines Vergleichs dieser beiden Gruppen — vor allem in bezug auf ihre Kritik am Parlamentarismus und Pluralismus — kann sich erst im Fortgang der Untersuchung erweisen.

I. Rechts gleich links?

Klaus Kröger:

Aufgaben und Verantwortung des Bundeskanzlers nach dem Grundgesetz S. 28

Ein solcher Vergleich muß von der Existenz wesentlicher Unterschiede im Denken der links-und rechtsradikalen Kritiker ausgehen.

1. Während die Linken — zumindest ihrer Zielsetzung nach — primär vom Einzelmenschen und seiner Freiheit ausgehen, ist für die NPD die Gemeinschaft, das Volk, die Nation transzendental überhöht, vorgegeben und dem einzelnen übergeordnet. Die Partei vertritt eine organische Auffassung von Geschichte, besitzt einen biologistisch begründeten Volks-begriff und gewährt rassistischen Ideen — den Traditionen des deutschen Rechtsradikalismus folgend — Eingang in ihr Denken. Der Chefideologe der Partei, Ernst Anrich, einst NS-Historiker in Straßburg und Reichsschulungsleiter beim NS-Studentenbund, jetzt Leiter der Abteilung für politische Bildung beim Vorstand und Mitglied des Präsidiums der NPD, hat in einem für die Weltanschauung der NPD höchst kennzeichnenden Grundsatzreferat auf deren zweitem Parteitag in Karlsruhe 1966 insbesondere völkisch-rassistische Ideen eindeutig vertreten:

„Die Gemeinschaft ist vor dem einzelnen da, der Mensch lebt in einem Teil seines Wesens aus ihr . .. Nicht Buchen sind vor der nächsten Buche und waren vor der ersten da, sondern: Die Artkraft, Buche sein zu können, der Keim, aus dem sich Buchen entfalten, war das erste." Aus dieser biologistischen Auffassung von Gemeinschaft wird dann der Volks-begriff und die Bedeutung der Rassen entwikkelt: „Die Grundartung und die Gemeinschaft Menschheit entsproß nicht in einer völlig gleichen Art und Gemeinschaft, sondern in großen getrennten Räumen, in Unterarten und Unter-gemeinschaften, in Rassen mit verschiedenen leiblichen und geistigen Stilanlagen der Äußerung und Verarbeitung."

Geschichte wird nach Anrich im wesentlichen von der Begegnung, Bekämpfung, Durchdringung und Absonderung der Rassen bestimmt. Das Volk ist ein „biologischer Organismus besonderer Artung und Keimkraft", seine „eigentümliche Artkraft" ist das „Volkstum" Dieser völkischen Ideologie entspricht die Forderung nach Reinerhaltung der Rassen, da eine über ein bestimmtes Maß hinausgehende Rassenmischung zum „Verfall" führe die biologische Rechtfertigung der Überlegenheit der weißen über die farbigen Völker sowie die grundsätzlich positive Beurteilung der Nürnberger Gesetze und der Erb-und Rassenpolitik der Südafrikanischen Union und Rhodesiens

Im Gegensatz zu dieser die „Natur" des Menschen betonenden Ideologie sehen die Linken den Menschen als vor allem durch seine Geschichte und seine Umwelt, besonders aber durch die ökonomischen Bedingungen seiner Existenz geprägt und daher durch strukturelle Veränderungen und bewußte Erziehung wandelbar an. 2. Diesem Denkansatz entsprechend fehlt auf Seiten der Linken — trotz aller an der Haltung der kommunistischen Staaten orientierten Kritik an dem angeblichen Imperialismus der Israelis gegen ihre arabischen Nachbarstaaten — der Antisemitismus, der in der NPD eine, wenn auch von der Parteiführung aus Opportunitätsgründen zurückgedrängte, unterschwellige Strömung ausmacht. Typisch dafür ist etwa die Äußerung, daß der Antisemitismus der nationalsozialistischen Ära auf dem Verdacht beruht habe, „daß das russische Judentum sowie jüdische Bankhäuser in Amerika bei der Entstehung des Bolschewismus eine entscheidende Rolle gespielt hätten", oder daß der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg „auf das Wirken bestimmter antifaschistischer und antigermanjstischer Juden" zurückzuführen sei 3. Der Ideologie der NPD liegt die Anschauung zugrunde, daß für den unbefriedigenden Zustand der gegenwärtigen Verhältnisse klar umgrenzbare Personengruppen verantwortlich seien, als die neben den meist nur indirekt angegriffenen Juden vor allem die Gastarbeiter, aber auch Intellektuelle und Studenten, Sozialisten und Kommunisten identifiziert werden

Solche Südenbocktheorien gibt es kaum auf seifen der Neuen Linken, insofern sie gesellschaftlich-strukturelle Ursachen für Mißstände verantwortlich macht und ihre Veränderung fordert. Jedoch finden sich bei ihren weniger reflektierenden Vertretern Tendenzen, die Kritik an bestimmten Erscheinungsformen unserer Gesellschaft, wie der Pressekonzentration, zu personalisieren und einzelne, wie Springer oder die die radikalen Studenten angeblich im entscheidenden Moment verratenden „Scheinliberalen" Professoren, als Objekte für Aggressionen aufzubauen.

4. Völlig fehlen dagegen auf seifen der Neuen Linken der aggressive und expansive Nationalismus und der Mythos vom Reich die man als wesentliche Integrationsmomente der in der NPD vereinigten Kräfte ansehen kann.

5. Ein weiterer wesentlicher Unterschied in der Ideologie liegt in dem an die autoritären und staatsverherrlichenden Traditionen bewußt anknüpfenden überhöhten Staatsbegriff der NPD. Dagegen ist für die Linksradikalen der Staat durch die historisch wechselnden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, insbesondere durch die Klassensituation bedingt. Im Gegensatz zu der Betonung der Notwendigkeit von Befehlsgewalt, Herrschaft und Autorität als der Kennzeichen jedes Staates durch die NPD geht es in der Zielvorstellung der radikalen Linken um die Schaffung einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Die Konzeption der Linken enthält hier ein den Traditionen der Aufklärung verpflichtetes humanes Moment, das dem Denken der Rechten abgeht. 6. Es fehlt auf selten der radikalen Linken der für die NPD typische Appell an traditionelle, kleinbürgerliche und mittelbürgerliche Tugenden wie Ordnung, Sauberkeit, Zucht und „anständige" Sexualmoral. Bei den Linksradikalen können dagegen Obszönitäten, da sie angeblich eine emanzipatorische Wirkung haben, zum politischen Vorgehen gehören. 7. Völlig verschieden interpretieren die hier verglichenen beiden Gruppen die deutsche Geschichte, besonders auch die des Nationalsozialismus. Während die Linke die klare Verurteilung des Nationalsozialismus durch die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik teilt, wobei sie allerdings den Aufstieg des Nationalsozialismus einseitig aus der Krise des Spätkapitalismus interpretiert, versucht die NPD durch eine angeblich „wertfreie" Darstellung, durch Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen, durch ihre Erklärung als Verfälschung richtiger Grundideen sowie durch die Aufrechnung deutscher Fehler mit den Sünden anderer Nationen die Politik der Jahre 1933 bis 1945 weitgehend zu rechtfertigen und die Kritik an der eigenen Vergangenheit als Produkt der reeducation zu denunzieren.

Der Nationalsozialismus erscheint als die nach dem Versagen aller demokratischen Parteien realpolitisch einzige Alternative zum Kommunismus: „Adolf Hitler oder Ernst Thälmann. Eine andere Möglichkeit existierte überhaupt nicht." Zum Stichwort „Endlösung der Judenfrage" heißt es im parteioffiziellen „Politischen Lexikon", daß „im Rahmen kriegsbedingter Aktionen Juden zu Hunderttausenden (verhältnismäßig glaubwürdige Angaben schwanken zwischen 350 000 und 1 000 000) von deutschen oder in deutschen Diensten stehenden Spezialeinheiten ohne Wissen der deutschen Öffentlichkeit getötet worden sind“ Unter dem Stichwort „Konzentrationslager" werden vor allem die Grausamkeiten in den Lagern anderer Nationen erörtert, während von den deutschen Vernichtungslagern berichtet wird, daß es sich nicht feststellen ließe, „in welchem Umfang und auf wessen Befehl" Tötungsaktionen wirklich stattgefunden hätten. Doch wären „bereits vor 1945 durch SS-Gerichte Lagerführer und Chargen wegen Beteiligung an derartigen Übergriffen abgeurteilt und hingerichtet" worden. Insgesamt läuft die Tendenz der Partei darauf hinaus, nachzuweisen, daß die von den Alliierten begangenen Grausamkeiten und Kriegsverbrechen das Ausmaß der Verbrechen des Dritten Reiches überstiegen hätten und sie somit gleichsam kompensierten.

Besonders wichtig ist der NPD der Versuch, im Gegensatz zu den gesicherten Ergebnissen der Geschichtswissenschaft nachzuweisen, daß die Alliierten die Haupt-bzw. die Alleinschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges trügen: „Der Krieg gegen Polen 1939 war Verteidigungskrieg." Und unter Wiederholung der nationalsozialistischen Legende von der jüdischen Weltverschwörung wird in der Partei-zeitung „Deutsche Nachrichten" vom 24. Dezember 1965 ausgeführt: „Bedingungsloser Haß" hat die „jüdischen Funktionäre an den Schalthebeln der Macht. . . 1933 (sic!) 1939 und 1941 zu ihren tölpelhaften und als Handlangerdienst für Hitler sogar verbrecherischen Kriegserklärungen an Deutschland verführt." In der Geschichtsauffassung ist so die Kontinuität der NPD zum Nationalsozialismus am klarsten nachzuweisen. 8. Sowohl die NPD als auch die Neue Linke geben sich als Kritiker des Kapitalismus. So fordert die NPD in einer wirtschaftspolitischen Entschließung in fast wörtlicher Anknüpfung an seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts kontinuierlich artikulierte ideologische Formulierungen präfaschistischer Gruppen kleinbürgerlich-mittelständischer, agrarisch-konservativer und antisemitischer Provenienz die „Einschränkung des maßlosen, unsozialen und ruinösen Wettbewerbs durch die schrankenlose Ausbreitung von Warenhäusern, Supermärkten, Filialfirmen, Versandhandelsfirmen, Discount-Häusern usw. zu Lasten des selbständigen, leistungsfähigen Einzelhandels" und die „Verhinderung gefährlicher Machtballungen in den Händen einiger weniger" Die Überspitzung des freien Spiels der Kräfte führe zu Unfreiheit „durch Bildung von Unternehmerkonzentrationen (Monopole, Kartelle, Syndikate). In diese Richtung weist die heutige Liberalisierung in der BRD, die die einheimische Produktion schutzlos dem Fremd-kapital, dem , Ausverkauf in Germany', preisgibt" Auch der Protest gegen die durch den Kapitalismus bewirkte Entfremdung des Menschen, der „zum Mittel der Produktion und zum Opfer der Verbraucherwerbung" geworden sei, findet sich bei der NPD Trotz dieser deutlichen Anklänge an typische Thesen linker Kapitalismuskritik dürfen wir doch wesentliche Unterschiede nicht übersehen. Einmal hat die ökonomische Argumentation auf der Linken einen sehr viel höheren Stellenwert. Auch fehlt dort das Eintreten für typisch mittelständische Interessen, die den Kern des Wirtschaftsprogramms der NPD ausmachen. Noch bedeutsamer ist, daß nach Auffassung der extremen Linken erst die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die grundlegende Änderung der Eigentumsverhältnisse, eine harmonische, klassenlose Gesellschaft herstellen kann. Die NPD will dagegen nur die Kontrolle der Auswüchse des Kapitalismus und hält eine grundsätzliche Interessenharmonie in einer echten „Volksgemeinschaft" bereits unter dem gegenwärtigen, allerdings durch staatliche Eingriffe entschärften Sozial-und Wirtschaftssystem für möglich.

Besonders deutlich wird der Unterschied der Wirtschaftskonzeptionen in der Haltung zu den Gewerkschaften. Während die Linksradikalen unter Kritik der Tendenzen zur Zusammenarbeit mit den Unternehmern für bewußt klassenkämpferische Gewerkschaften plädieren, nimmt die NPD eine deutlich antigewerkschaftliche Position ein. Die Ansicht, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer „grundsätzlich in getrennten Organisationen stehen" müssen, wird als „ewig gestrig" kritisiert Die Stellung zu den gesellschaftlichen Kräften ist so in der NPD offensichtlich von stände-staatlichen Ideen und dem präfaschistischen und faschistischen Modell des korporativen Staates mitbestimmt.

Es würde zu weit gehen, hier die Differenzen der äußersten Linken und der NPD in der Stellungnahme zu konkreten politischen Problemen, die sich etwa in der Haltung zum Kommunismus, zu faschistischen Regimen und zur Agrarfrage zeigen ließen, im einzelnen aufzuführen und auf ihren ideologischen Gehalt hin zu untersuchen.

Auch in der inneren Organisation zeigen sich wesentliche Unterschiede. Die Neue Linke ist, im Gegensatz zu der eindeutig von der Partei-spitze beherrschten Kommunistischen Partei der späteren Jahre der Weimarer Republik, vor allem auf Grund der in ihr wirkenden starken anarchistischen Elemente vielfach zersplittert. Auch die zur Neuen Linken zu zählenden einzelnen Organisationen zerfallen häufig in sich bekämpfende Gruppen oder weitgehend autonome lokale Zweigorganisationen, die nur in gewissen gemeinsamen Aktionen von Zeit zu Zeit zusammenfinden. Dagegen ist die NPD, in der die Kader der alten Deutschen Reichspailei (DRP) das Rückgrat bilden, straff von der eindeutig dominierenden Zentrale her organisiert. Hinter der „demokratischen Fassade" die die mit Rücksicht auf die Verbotsdrohung im November 1967 umformulierte Parteisatzung aufbaut, stehen der Parteiführung durch die Verbreitung von Richtlinien, Musterreden, Zitatenkarteien und Antwortschablonen, die Beschränkung der Redeerlaubnis auf die Inhaber eines parteiamtlichen Rednerausweises sowie das ausschließliche Recht der taktisch versierten Parteiführer, Interviews zu geben weitgehende Einflußmöglichkeiten zur Verfügung; diese dienen allerdings vor allem auch dazu, die Legalitätstaktik nicht durch nazistische Äußerungen der Mitglieder zu gefährden. Ein Vergleich der jeweiligen sozialen Basis der Rechts-und Linksradikalen ist nicht möglich, da es — weitgehend durch die organisatorische Zersplitterung der Neuen Linken bedingt — keine umfassenden empirischen Untersuchungen über deren Anhängerschaft gibt; offensichtlich stellen jedoch aus den Mittel-und Oberschichten kommende Studenten, ältere Schüler und Intellektuelle einen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung weit überproportionalen Anteil. Die NPD, unter deren Mitgliedern zunächst der Anteil der 45-bis 64jährigen, der Vertreter der selbständigen Mittel-schichten und der Berufssoldaten erheblich über dem der Industriearbeiter und Angestellten und deren durchschnittlichem Anteil an der Gesamtbevölkerung lag scheint inzwischen eine Sammelpartei geworden zu sein, die ihre Wähler fast proportional aus allen Alters-, Berufs-und Einkommensschichten der Bevölkerung mit allerdings deutlichem Über-gewicht der Männer über die Frauen und der Protestanten über die Katholiken rekrutiert Unter Berufung auf die hier skizzierten — und weitere — Unterschiede vor allem in der Funktion dieser links-und rechtsradikalen Bewegungen für die Gesamtgesellschaft gibt es starke Tendenzen, jeden Vergleich zwischen ihnen als Produkt einer „abstrakten Identität, die soziologisch nicht existiert und überdies vollkommen unhistorisch" sei zu tabuisieren. Diese Haltung findet ihre Entsprechung in vom Konzept des Totalitarismus, das den theoretischen Rahmen vieler Untersuchungen über Nationalsozialismus und Kommunismus bzw. Stalinismus in den vergangenen Jahrzehnten gebildet hat, als Ausdruck des Kalten Krieges, als zu stark wertend statt analysierend oder für konkrete empirische Untersuchungen überflüssig zu distanzieren.

Parallel dazu läuft eine gewisse Wiederbelebung der Erklärung des Faschismus als eines Ausdrucks der Agonie des Spätkapitalismus, d. h. als eines bewußten Versuchs monopol-kapitalistischer Kräfte, die auf Demokratisierung und Sozialisierung drängenden Tendenzen einzudämmen. Der mögliche Nutzen dieser Analyse liegt darin, daß sie im Gegensatz zum Totalitarismuskonzept oder der Erklärung faschistischer Diktaturen aus der Geistesgeschichte und der politischen Struktur der einzelnen Staaten oder der Persönlichkeiten ihrer jeweiligen Führer eine umfassende sozialökonomische Begründung liefert. Die Schwäche dieser Konzeption liegt in ihrer Unfähigkeit, faschistische Systeme von bürgerlichen Demokratien klar abzugrenzen, also in einem Merkmal, das sie, falls ausschließlich verwandt, als polemisches Kampfmittel der äußersten Linken brauchbarer macht denn als wissenschaftliches Instrumentarium. Zudem trägt diese Konzeption dem „von unten" kommenden, von enttäuschten Unter-und Mittelschichten bereitgestellten revolutionären Potential faschistischer Massenbewegungen, das für diese — neben ihrer häufigen Allianz mit reaktionären Kräften oder auch mit entwurzelten militärischen Desperados — charakteristisch ist, zu wenig Rechnung. Auch kann die gesamtgesellschaftliche Funktion etwa der nationalsozialistischen Bewegung, wie besonders die Forschungen von Schoenbaum gezeigt haben keineswegs so eindeutig zugunsten und im Interesse der traditionellen Herr-

Anhängern dieser Theorie behauptet wird Die Schwäche der am klarsten von Carl Joachim Friedrich entwickelten, die formalen Merkmale diktatorischer Herrschaft betonenden Totalitarismuskonzeption liegt in dem Verzicht auf eine sozialökonomische Erklärung des Aufkommens totalitärer Regime, der Tendenz zur Verwischung der grundsätzlichen und graduellen Unterschiede zwischen verschiedenen totalitären Systemen sowie der zunehmenden Erkenntnis des nicht völlig monolithischen Charakters auch kommunistischer und faschistischer Gesellschaften. Auch haben die Auflockerungserscheinungen im Ostblock nach dem Tode Stalins und der Herausbildung neuer Formen des Kommunismus, vor allem in einigen Ländern der Dritten Welt, sowie das Aufkommen von eindeutig nicht totalitären Einparteienregimen in den Entwicklungsländern das Totalitarismuskonzept geschwächt. Trotzdem bin ich mit Karl Dietrich Bracher der Meinung, daß der Totalitarismusbegriff bei differenzierter Anwendung nicht aufgegeben werden muß und daß zu seinen Komponenten vor allem gehören: die Absolutsetzung einer exklusiven Ideologie mit revolutionärem Anspruch; „die Glorifizierung der Gewalt im Dienste einer chiliastisch entworfenen Zukunftsordnung; . . . totale Erfassung und Ausrichtung der Gesellschaft mit dem Ziel, den . neuen Menschen'für diese Ordnung zu schaffen", sowie „die unvermittelte irrationale Identifizierung der Herrschaft einer unkontrollierten Führung — Diktator oder Clique — mit den Interessen des . Ganzen', der dekretierten Volksgemeinschaft oder einer absolut gesetzten Klasse"

II. Gemeinsamer Chiliasmus

Der folgende Versuch zur Herausarbeitung der Ähnlichkeiten der Ideologie und der Praktiken der Neuen Linken mit gegenwärtigen oder traditionellen rechtsextremen Ideen und Verhaltensweisen wird immer wieder derartige totalitäre Komponenten berühren, ohne sich jedoch auf sie zu beschränken. Worin liegen nun derartige Parallelen?

1. Entscheidend ist der gemeinsame Ausgangspunkt: der Anspruch, die objektive, ausschließliche und absolute Wahrheit zu besitzen, die nur allgemein erkannt und verwirklicht werden muß, um den paradiesischen Zustand einer dem Menschen vorausbestimmten, vollkommenen und konfliktfreien Gesellschaft herbeizuführen. Nach Ekkehart Krippendorff, der eine führende Rolle in der Außerparlamentarischen Opposition Berlins spielt, hat die Linke, „und zwar auch noch die extremste Linke . . ., immer das Element der historischen Wahrheit für sich", während die Rechte, „und zwar auch die nur gemäßigte Rechte, das Element der Unwahrheit und des Unrechts" repräsentiert Parallele, von einer ähnlichen irrationalen Vorentscheidung ausgehende Äußerungen von rechtsradikaler Seite, nach der die historische Wahrheit im Gegensatz zum „undeutschen" Internationalismus der Linken immer auf seifen der mit der Urkraft des Blutes und des Volkstums in Verbindung stehenden Rechten zu suchen seien, ließen sich aus der nationalsozialistischen Bewegung in Fülle zitieren; auch in der NPD finden sich Ansätze, die eigene Weltanschauung als „natürlich" oder „wissenschaftlich erwiesen" absolut zu setzen und alle anderen Wertvorstellungen zu verketzern. Hinter dieser Auffassung steht ein emphatischer Begriff von Politik, der hier die Aufgabe zugeschrieben wird, den Menschen gut und glücklich zu machen und das „Allgemeine" in einem äußerst anspruchsvollen Sinne zu verwirklichen. Tatsächlich kann jedoch richtige Politik nur die Bedingungen schaffen, die die Verwirklichung des Glücks des Einzelmenschen nicht an äußeren Faktoren scheitern läßt. Eine totale Politisierung, die Kunst, Philosophie, Theologie, Wissenschaften und zwischenmenschliche Beziehungen — wie die Liebe — zu erfassen versucht, verkennt das Wesen der Politik und ist, trotz der meist gegebenen subjektiven Aufrichtigkeit der sie fordernden Personen, zutiefst inhuman. Sie führt nicht nur zur Ablehnung einer vorstaatlichen bzw. vorvölkischen privaten Freiheitssphäre des einzelnen, sondern auch zur Ablehnung von Grundrechten und Gewaltenteilung. Es hängt mit diesem an absoluten Zielen und Wertvorstellungen orientierten Begriff des politisch Richtigen zusammen, daß die typischen politischen Tugenden liberaler Demokratie — die Anerkennung der Spielregeln politischer Auseinandersetzungen, Toleranz, Kompromißbereitschaft, Anpassungsfähigkeit und Pragmatismus — verachtet und verurteilt werden. 2. Die Ablehnung, auf die die eigenen Ideen bei den Massen stoßen, wird durch deren geschickte Manipulation seitens des bestehenden Systems, vor allem durch die Massenmedien, erklärt. Die teilweise berechtigten Angriffe der Linken aüf die Besitzkonzentration in der Presse finden ihr Echo in der Kritik der NPD an den „Massenmedien (Fernsehen, Rundfunk, Presse)", die angeblich die „Leitbilder" eines „liberalen Totalitarismus" verbreiten, der dem Individuum zwar Freiheiten zubilligt, es aber zugleich jeder Möglichkeit, davon Gebrauch zu machen, beraubt; seine Wirksamkeit wird dadurch erhöht, daß sich die Opfer auf Grund der relativen Gewaltlosigkeit „frei" fühlen Die Argumentation der Linken läuft hier völlig parallel. Neben den Massenmedien, besonders dem Fernsehen, verurteilt die NPD allerdings (im Gegensatz zur Linken) noch besonders die „Charakterwäsche" der reeducation, der „das deutsche Volk seit dem Zweiten Weltkrieg vor allem durch neuamerikanische Gruppen von Psychiatern, Soziologen und Politologen unterzogen wird" und die ein von Sigmund Freud und Karl Marx stammendes „liberalistisches Menschenbild" propagiert In solchen Äußerungen zutage tretende antiintellektuelle Ressentiments fehlen weitgehend auf seifen der Linken.

3. Das Problem, vor dem die extremen Kräfte angesichts dieser Situation für die Einleitung des Transformationsprozesses zu der von ihnen angestrebten Ordnung stehen, ist das der Umformung des „falschen" Bewußtseins der so manipulierten Massen. Auf seifen der Neuen Linken — wie früher auf der der extremen Rechten — wird daraus die Berechtigung zur Führung der Massen durch revolutionäre Eliten und — ansatzweise — das Recht zur Erziehungsdiktatur abgeleitet. Nach Auffassung Rudi Dutschkes kann sich das Proletariat als politisch wirksame Klasse, als revolutionäre Kraft erst im bewußten Klassenkampf bilden; andererseits setzt aber ein derartiger Klassenkampf dieses richtige Bewußtsein bereits voraus. Die Initialzündung zur Einleitung des revolutionären Prozesses und damit zur „massenhaften Veränderung der Menschen" muß daher die revolutionäre Elite geben, die durch Aufklärung und Aktion das Proletariat aus seiner Lethargie reißt Die „temporäre Trennung zwischen minoritären, radikalen Bewußtseinsgruppen und den breiten Massen" wird dabei bewußt in Kauf genommen Dutschkes Konzeption, die doch gerade die Massen ihrer Gängelung entreißen will, basiert also auf der Hybris, daß die selbsternannte revolutionäre Elite, die die Massen besser versteht als diese sich selbst, im Namen einer späteren Freiheit die Massen erzieht und manipuliert. „Die Revolutionierung der Revolutionäre" — also die Kaderbildung — ist nach Dutschke „die entscheidende Voraussetzung für die Revolutionierung der Massen" Nach dieser auf Herbert Marcuse zurückgehenden Vorstellung sind Studenten und Intellektuelle, da sie im Gegensatz zur Arbeiterschaft noch nicht in das kapitalistische System und die bestehenden Organisationen integriert und noch nicht durch übermäßigen Konsumgenuß korrumpiert worden sind, die prädestinierten Träger des erlösenden Umsturzes

Elitäres Bewußtsein, z. T. mit derselben, eine Revolution rechtfertigenden Konsequenz, findet sich auch auf selten der NPD, die sich als „Aufstand der Mündigen" die „Elite der Wählerschaft" und die Vereinigung der „Bewußten und Denkenden" versteht 4. Die Mißachtung der noch unaufgeklärten Massen zeigt sich auch in der Praxis ihrer hemmungslosen Manipulation durch die elitären Bewußtseinsgruppen. Die von Hitler mit zynischer Offenheit in „Mein Kampf" geschilderten Methoden, erfolgreicher Propaganda — die Simplifikation komplizierter Tatbestände, die Schwarzweißzeichnung, die monotone Wiederholung — werden heute mit wachsender Vir-• tuosität an einigen deutschen Universitäten in studentischen Versammlungen praktiziert. Das Ziel ist die Emotionalisierung der Versammlungsteilnehmer, die man u. a. durch das Schwenken roter Fahnen, das Zeigen von Bildern der „Heiligen" der Bewegung (wie „Che" Guevara), das Vorführen zur Aktion aufputschender Filme, rhythmische Ho Tschi Minh Rufe, den Aufbau von Feinden und Sünden-böcken und das Niederbrüllen aller oppositionellen Stimmen zu erreichen sucht. Gleichzeitig sorgt eine geschickte Regie dafür, daß durch kurze Einladungsfristen oder die Ausdehnung der Versammlungen bis zu einem Zeitpunkt, zu dem der Kern der Radikalen die Mehrheit hat, das gewünschte Abstimmungsergebnis erreicht wird Sollte das wider Erwarten nicht gelingen, so werden die gegen die eigenen Wünsche getroffenen Entscheidungen als Ausdruck eines „falschen" Bewußtseins ignoriert. Derartige Verhaltensweisen werden gerechtfertigt durch die Theorie, nach der in der kapitalistischen Gesellschaft alle Entscheidungen von kleinen Gruppen von Drahtziehern getroffen werden. Daraus leiten zahlreiche Gruppen das Recht auf Gegenmanipulation ab. 5. Toleranz im traditionellen Sinn wird abgelehnt, da sie, wie Herbert Marcuse in seiner „Kritik der reinen Toleranz" ausführt, nur die „Tyrannei der Mehrheit" festige An ihre Stelle soll nach Auffassung der Neuen Linken eine selektive, „befreiende" Toleranz treten, die „Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts" mit „Duldung von Bewegungen von links" verbindet Dabei ist es offensichtlich allein die Linke, die definiert, was als rechts, konservativ und rückschrittlich anzusehen ist. Im Einklang mit diesen Vorstellungen darf es nach Rudi Dutschke „innerhalb eines Konzeptes der sozialistischen Demokratie natürlich keine Freiheit für die Konterrevolution geben"

Intoleranz und Einschränkung der Freiheit Andersdenkender ist selbstverständlich nicht nur Kennzeichen der alten kommunistischen und der Neuen Linken, sondern historisch auch ein typischer Bestandteil rechtsextremer Ideologien. Die NPD ist in diesem Punkt vorsichtiger. Immerhin bedauert sie, daß unter den „falschen Parolen der . Informationspflicht'und Unteilbarkeit der Pressefreiheit'fortgesetzte Attentate bestimmter Presseorgane auf Anstand und Menschenwürde, Geheimhaltung und nationale Solidarität" erfolgen, „die auf die Dauer kein Staat und keine politische Öffentlichkeit ohne Gegenwehr hinnehmen kann" Das Programm der Partei sieht die Errichtung einer Pressekammer als „berufsständische Vertretung aller in der Publizistik Tätigen" vor, um „Ehre und Ansehen der Staatsbürger ausreichenden Schutz zu gewähren" 6. Eine weitere Gemeinsamkeit der Vorstellungen der Neuen Linken mit traditionell rechtsextremen Ideen liegt in der Verachtung des positiven Rechts als einer lediglich formaljuristischen Konstruktion. Innerhalb der Neuen Linken werden ihm Legitimität und prinzipieller Geltungsanspruch mit Hilfe eines ideologiekritischen Ansatzes abgesprochen, der es als bloßes Instrument der Herrschenden begreift, aus einer bestimmten Interessen-struktur ableitet und als Hindernis für bestimmte, als fortschrittlich gewertete politische Entwicklungen ablehnt.

In der NPD wird das Recht ebenfalls historisiert. Relativierender Bezugspunkt und Basis der Kritik sind hier das „Volkstum und seine Gemeinschaft". Die nach dieser Auffassung bestehenden elementaren Störungen zwischen Volk und Recht würden die „gesamte innere Ordnung" gefährden und „eine Neuformulierung des Rechts des Ganzen über den einzelnen und seine Gruppenbildung" erforderlich machen

Wenn auch mit sehr verschiedenen Inhalten, findet sich links wie rechts das Bemühen, den tatsächlich immer bestehenden Bezug von Recht auf historische und soziale Situationen — aus denen es entsteht und auf die es einwirkt — nicht nur kritisch zu analysieren, sondern zu verabsolutisieren und als Basis der Berechtigung zu benutzen, dem gesetzten Recht Geltung und einen über den Dienst an einzelnen Partikularinteressen hinausgehenden Sinn abzusprechen. 7. Eng mit dieser Mißachtung des Rechts hängt zusammen die grundsätzliche Rechtfertigung der Anwendung von Gewalt gegen als „Feinde" verstandene politische Gegner durch die Nationalsozialisten und die Neue Linke. Die vielfach versuchte Differenzierung zwischen der Gewalt gegen Menschen, die abzulehnen, und gegen Sachen, die berechtigt sei, ist dabei wenig überzeugend, da ja Sachen durch Menschen — z. B. Eigentümer und Polizisten — geschützt werden. Tatsächlich hat Dutschke im Fernsehen am 3. Dezember 1967 zugegeben, daß er für seine revolutionären Ziele notfalls auch mit der Waffe in der Hand eintreten werde; und der Berliner Anwalt der Außerparlamentarischen Opposition, Horst Mahler, äußerte anläßlich des Todes des im Zusammenhang mit den Osterunruhen 1968 umgekommenen Münchner Pressefotografen Frings: „Wir mußten von vornherein mit solchen Unfällen rechnen. Es hat keinen Sinn, mit menschlichen Argumenten zu kommen . . . Das ist genauso, wie wenn ich mich an das Steuer eines Autos setze und damit rechnen muß, daß ein Reifen platzt."

In der Ausgabe von „konkret" vom Juni 1968 werden von einem aus Rudi Dutschke, Hans Magnus Enzensberger, Jürgen Horlemann, Bahman Nirumand, Gaston Salvatore, Michael Schneider und Eckhard Siepmann bestehenden Redaktionskollektiv die Notwendigkeit der Gewalt, die ohnehin wesensmäßig zum Kapitalismus gehöre, unterstrichen und die Bedingungen ihrer Anwendung formuliert. Angestrebt wird dabei, durch ständige Provokation die manipulative — nicht offene — Gewalt der Herrschenden in offene Gewalt zurückzuverwandeln und damit die Befreiung der Gewalt der Unterdrückten zu bewirken.

Das letzte Beispiel der Anwendung von Gewaltmethoden von Seiten der Neuen Linken ist der „Psychoterror", der an verschiedenen Universitäten der Bundesrepublik gegen diejenigen Dozenten angewandt wird, die die Namen der an rechtswidrigen Handlungen beteiligten Studenten dem Rektor melden

In offiziellen Erklärungen der NPD findet sich bisher keine Befürwortung der Anwendung von Gewalt innerhalb der Bundesrepublik, wenn auch einige Äußerungen von Anrich in diese Richtung deuten. Der politische Terror wird aber keineswegs grundsätzlich für demokratische Rechtsstaaten abgelehnt, sondern offensichtlich nationalen Minderheiten als Recht zugebilligt. So kritisiert die Parteizeitung „Deutsche Nachrichten" die Verurteilung der Broschüre eines Südtiroler Terroristen durch die Strafkammer des Landgerichts München II, weil der Autor vernünftige Gründe angegeben habe, warum Demonstrationssprengstoffanschläge nötig und moralisch gerechtfertigt seien Auch Revolutionen werden trotz der Verurteilung der revolutionären Bestrebungen der Linken und der Betonung von Autorität und Ordnung nicht grundsätzlich abgelehnt, über die soziale Revolution hinaus, die nach Meinung der NPD vom Nationalsozialismus vollzogen wurde, könne sich „aber nicht nur das Streben nach individueller Freiheit und Bindungslosigkeit, sondern auch das Bündnis breiter Volksschichten nach geordneten Verhältnissen, nach starker, zielbewußter Führung — vor allem in Krisenzeiten — sowie nach einer Politik, die dem Volkscharakter entspricht, bis zu einer Revolution] steigern. Diese Möglichkeit ergibt sich insbesondere dann, wenn liberale und soziale Tendenzen, zu lebensfremden Dogmen erstarrt, dem Staat einen restaurativen oder reaktionären Charakter gegeben haben." In der Ära des Nationalsozialismus sei die Chance für eine „spezifisch deutsche Revolution] gegeben gewesen. „Die Chance blieb ungenutzt. Deutschland brach folgerichtig in eine reaktionär-liberalistische und eine reaktionär-marxistische Hälfte auseinander. Das aber kann — geschichtlich gesehen — nur ein Übergangszustand sein. An einer gescheiterten Revolution stirbt ein Volk oder es vollendet sie im zweiten oder dritten Anlauf." Hiermit wird also von der NPD eine grundsätzliche Rechtfertigung der Revolution zur Rettung des Volkes und zur Überwindung des als „reaktionär-liberalistisch" angesehenen Staates der Bundesrepublik gegeben. 8. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen der Neuen Linken und der extremen Rechten liegt in der Schwäche und Verschwommenheit der theoretischen Begründung der eigenen Positionen. Während z. B. Dutschke im Jahre 1967 noch eine rationale Interpretation des Zustandes der Gesellschaft zu geben versuchte, wenn auch seine Ziele höchst unklar blieben, so haben die gegenwärtigen Agitatoren innerhalb der Neuen Linken jeden Anspruch auf rationale Rechtfertigung ihrer Handlungen praktisch aufgegeben. Hier liegt auch ein wesentlicher Unterschied zum Marxismus-Leninismus, in dem politische Entscheidungen vom Ergebnis einer gesamtgesellschaftlichen Analyse abhängig gemacht weden. Der hier untersuchte Teil der Neuen Linken vertritt dagegen weitgehend einen für politische Bewegungen der Rechten in den zwanziger Jahren typiscnen blinden, irrationalen Aktivismus, der, wie Jürgen Habermas hervorgehoben hat, vor allem der „Selbstbestätigung" dient Die Konsequenz ist nicht nur eine völlig irreale Über-schätzung des revolutionären Potentials unserer Gesellschaft, sondern auch eine Auffassung von Revolution als individueller Selbstexpression, in der jede konkrete Definition ihrer Ziele und deren Bezug auf die zu ihrer Verwirklichung angewandten Mittel und anfallenden Kosten vermieden und damit jede rationale kritische Auseinandersetzung mit ihnen unmöglich gemacht wird.

9. Die radikalen Gruppen mit den für sie oft charakteristischen engen Beziehungen zwischen den Mitgliedern, die häufig die primären Bindungen an die Familie verloren haben, werden für diese nicht selten zu einem Gemeinschaftsersatz Die Beteiligung an radikalen Protestaktionen und Auseinandersetzungen mit der Polizei oder anderen Exponenten des „Systems" ist dabei die teilweise bewußt gesuchte Bewährungsprobe, die die Stellung in der neuen Gemeinschaft begründet. Die Parallele zwischen den Verhaltensweisen und Themen des studentischen Protestes und denen der meist, aber nicht ausschließlich von rechten Ideologien gespeisten hündischen Jugend-bewegung ist dabei mit Recht betont worden 10. Ein weiteres verbindendes Moment zwischen der Neuen Linken und der NPD ist ihr Unverständnis der modernen Gesellschaft, ihr tiefes Unbehagen angesichts einer Situation, in der sich der in seinen Umweltbeziehungen verunsicherte Mensch nur noch als Rädchen einer komplizierten Maschinerie, als Objekt der Tätigkeit mächtiger und von ihm kaum noch zu beeinflussender bürokratischer Apparate versteht. Diese weitverbreitete Erfahrung führt in diesen Gruppen zu einer kulturpessimistischen Reaktion und dem oft unbewußten Wunsch nach Wiederherstellung einfacher, überschaubarer Verhältnisse.

Bei der NPD konkretisiert sich diese Reaktion in antimodernistischer Kritik, in spezifisch mit-telständischen Verhaltensweisen und in der Orientierung an Wertsystemen der Vergangenheit wie Volk, Rasse und Nation; bei der Neuen Linken führt diese Kulturkritik zur Verherrlichung des in direkter Aktion zu findenden Gemeinschaftserlebnisses, zur Partisanen-romantik sowie schließlich zur Forderung nach einer Rätedemokratie; deren Verwirklichung würde notvzendig die Voraussetzungen für das Funktionieren einer modernen Industriegesellschaft sowohl in kapitalistischen als auch gerade in den auf zentrale Wirtschaftsplanung und Kontrolle noch stärker zugeschnittenen sozialistischen Staaten beseitigen

III. Staatsautorität kontra Parteienstaat

Eine weitere, sehr wesentliche Parallele zwischen dem Links-und Rechtsradikalismus liegt in der von der Kritik am Liberalismus bestimmten Haltung zum Parlamentarismus und Pluralismus. Die NPD, die sich in ihren offiziellen Erklärungen immer wieder zur Demokratie bekennt, geht dabei von einem äußerst ambivalenten Demokratiebegriff aus. Einerseits wendet sich Anrich in seinem bereits erwähnten, für die Parteiideologie grundlegenden Referat auf dem Karlsruher Parteitag 1966 gegen eine „sogenannte Demokratie, in der das Volk als Addition der einzelnen Individuen nur als Gesellschaft aufgefaßt wird und die Volkssouveränität nicht aus der Hoheit des Volkstums und der Volksgemeinschaft verstanden, sondern mit der Souveränität einer Menge verwechselt wird" Damit enthält Demokratie einen besonderen Inhalt, sie wird zu der empphatisch geforderten „vollen Demokratie", zur „Volksdemokratie", zur „nationalen Demokratie"

Andererseits wird in neueren Erklärungen der Partei immer wieder betont, daß die Demokratie lediglich ein „Verfahren zur Durchsetzung des Mehrheitswillens" und kein „wertbezogenes politisches System" darstelle und „völlig unabhängig von Doktrinen begründet und angewendet werden kann" Allerdings entspräche nur eine nationale Politik den Forderungen des Grundgesetzes. Die Verfolgung fremder Interessen, insbesondere auch eine Einschränkung der Handlungsfreiheit der Bundesrepublik im außenpolitischen Bereich, sei verfassungswidrig, auch wenn sie einem Mehrheitswillen entspreche Im Gegensatz zu der westlich-liberalen Auffassung von Demokratie, wonach der Mehrheitswille seine Grenze an der Unantastbarkeit der vorstaatlichen Freiheitssphäre der Individuen findet und die Demokratie als eine wertgebundene Ordnung ihren tieferen Sinn u. a. im Schutz der Freiheit, der Gleichheit (auch der sozialen Chancen) und der Menschenwürde des einzelnen vor übermächtigen, repressiven, im Extrem totalitären Tendenzen des Staates und der Gesellschaft hat, findet der Mehrheitswille in der Sicht der NPD eine Schranke in den nationalen Interessen des als den Individuen übergeordnet aufgefaßten Volkes.

In engem Zusammenhang mit diesem zwiespältigen Demokratiebegriff steht die Überhöhung des Staates, der nach Anrich „eine Urform des Lebens" darstellt. „Der Staat muß eine Befehlsgewalt über die einzelnen Menschen und über die gesamte Menge der jeweils augenblicklich lebenden Menschen haben. Eine echte Befehls-und Einordnungsgewalt muß aus einer echten Befugnis dazu, das heißt aus einer Hoheit kommen. Der Staat, der in seinem Wesen ausschließlich die zum Handeln herausgetretene Ganzheitskraft von Volkstum und Volk ist, hat eine solche Befehlsgewalt. Sie kommt ihm von diesem Wesen aus zu. Denn er hat aus ihm eine echte Souveränität über die einzelnen, über die Menge, über die Generationen. Eine Souveränität, die eben nicht aus einem aus praktischer Überlegung kommenden Beschluß der einzelnen kommt, von ihren individuellen Rechten einige auf den Staat — kündbar — zu übertragen (zu delegieren), sondern eine Souveränität, die vor ihnen und ihren Rechten und Beschlüssen da ist ... Der Staat ist höher als der Mensch und als die Menge der augenblicklich lebenden Menschen, er hat Souveränität über sie, denn er vertritt das Ganze des Volkes ..." Anrich wendet sich damit gegen die Grundlagen liberaler westlicher Staatsauffassung, nach der der Staat auch als eine Art Treuhänder gerade zur Sicherung der vorgegebenen, unveräußerlichen, individuellen Freiheitsrechte der einzelnen angesehen wird. Ihm ist die Staatsform letztlich gleichgültig, sofern in ihr die „germanisch-deutsche Auffassung des Staates" zum Ausdruck kommt. Auch eine Diktatur könne, sofern nur der richtige Diktator gefunden wird, eine gute Verfassung sein Das formale Bekenntnis der NPD zur Demokratie wird aber nicht nur durch derartige Äußerungen, sondern auch durch die Verbindung einer starken Skepsis gegenüber der Einsicht und Urteilsfähigkeit der Menschen mit betont radikal-demokratischen Forderungen fragwürdig.

Hinter der Haltung der NPD zu Staat und Demokratie steht eine verfassungspolitische Konzeption, die von der Ablehnung der bestehenden parlamentarischen Repräsentativverfassung geprägt ist: Die NPD möchte an die Stelle des bestehenden parlamentarischen Systems der Bundesrepublik eine weitgehend plebiszitär geprägte „Volksdemokratie" setzen. Im einzelnen wird die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid als „Ausdruck wirklicher Volkssouveränität'', die Volkswahl des Bundespräsidenten und die Stärkung seiner Rechte gefordert Der laut Parteiprogramm als Verkörperung von „Volk und Staat" angesehene Bundespräsident sollte „aus der Legitimierung durch das Volk dann der Ganzheit Handlungsfähigkeit .. . geben, wenn unklare Mehrheitsverhältnisse oder sonstige bestimmte Situationen dem Parlament ein Handeln nicht ermöglichen" Hinter dem Eintreten der NPD für die unmittelbare, direkte Demokratie steht so offensichtlich das Ideal-bild eines überparteilichen Präsidialregimes, in dem die politische Führung in allen wesentlichen Fragen ein direktes Mandat ohne jede Zwischengewalt vom Volk erhält. Die Gefahr des Umschlags eines derartigen Systems in eine von der manipulierten Zustimmung des Volkes in akklamatorischen Abstimmungen getragene Führerdemokratie wird deutlich, wenn das Parteiblatt „Deutsche Nachrichten"

in den von Zeit zu Zeit von Hitler nach 1933 verordneten Plebisziten zur Bestätigung seiner Politik eine echte demokratische Legitimation des nationalsozialistischen Staates erblickt

Diejenigen, die heute von links die Forderung nach Stärkung der plebiszitären Elemente in unserem politischen System erheben, sollten sich darüber klar sein, daß die europäische Geschichte von Napoleon I. über Napoleon III. und Hindenburg bis zu de Gaulle und der das Frauenwahlrecht noch immer ausschließenden Schweiz die überwiegend konservative, z. T. aber auch emotionalisierende Wirkung der Verfassungsinstitutionen des Volksentscheids und der Direktwahl des Staatsoberhaupts erwiesen hat und z. B. die von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung geforderte Wiedereinführung der Todesstrafe eine der ersten Konsequenzen ihrer Aufnahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik sein dürfte

In der Weimarer Republik gab z. B. das Volksbegehren gegen den Youngplan 1929 der NSDAP die resolut genutzte Chance, ihre politische Isolierung zu durchbrechen und sich durch ihre hemmungslose Demagogie in den Vordergrund zu spielen. Auch das vielfach zur Rechtfertigung der direkten Demokratie herangezogene Argument, daß sie zur Verbesserung der politischen Bildung und zur stärkeren Anteilnahme der Bürger an politischen Fragen führe, ist nicht unbedingt überzeugend. Vielmehr kann die Überforderung der Wähler gerade zur politischen Apathie führen

Weiterhin wäre ein direkt vom Volke gewählter Bundespräsident für eine parlamentarische Demokratie nicht nur systemwidrig er würde auf Grund seiner Legitimation durch das Mandat des Volkes auch ohne Erweiterung seiner verfassungsmäßigen Kompetenzen notwendig eine stärkere Position erhalten, die ihn zumindest im Falle unklarer Mehrheitsverhältnisse im Parlament zu einem Konkurrenten und Gegenspieler der parlamentarischen Re-gierung und damit zu einem Faktor der Schwächung des Parlaments machen könnte.

Neben dem offenen oder unterschwelligen Antiparlamentarismus ist im Aufgreifen traditioneller und besonders in der Weimarer Republik aktueller Stereotypen der politischen Rechten ein scharfer Antipluralismus ein typisches Kennzeichen der NPD. Der Pluralismus würde den „Liberalismus weiter bis an die Grenzen des Anarchismus" führen. Er habe eine „staatsnegierende Tendenz" und kenne ebenso wie der Liberalismus „keine Wertung oder Einstufung der verschiedenen Gruppen nach ihrer Lebensnotwendigkeit und Leistung für die Gemeinschaft, da er von keiner Werte setzenden Lebensordnung ausgeht"

Tatsächlich bedeutet das eine völlige Verzerrung der Wirklichkeit und der modernen Theorie der als Gegensatz zu totalitären Systemen verstandenen pluralistischen Gesellschaft, nach der die verschiedenen Gruppen im Rahmen eines als verbindlich anerkannten Verfassungssystems und einiger weniger ihm zugrunde liegender Normen und Spielregeln in Konflikt und Kooperation agieren. Der Antipluralismus wendet sich zunächst gegen die bestehenden Parteien, die als „Kartellparteien, Monopolparteien oder Lizenzparteien" verketzert werden Die NPD dagegen sei „etwas ganz anderes als die in Bonn etablierten Parteien". Sie sei „das Sammelbecken für die

Wiedergeburt der deutschen Nation". Sie habe „einen geschichtlichen Auftrag zu erfüllen, dessen Maßstäbe weit über jedes Parteigezänk hinausgehen" Nach Meinung Anrichs sind die Parteien in der Bundesrepublik dabei, „den Staat zu unterjochen" Ein Staat, der aber den Dienst an Volk und Volkstum verläßt und andere Dienste, „eventuell an Gruppeninteressen", übernimmt, verliert „seine Souveränität und Befehlsgewalt über die Menschen. Die Beseitigung, der Umsturz dieser leeren Hülle ist dann unter Umständen sittliche Pflicht."

Im Gegensatz zu der grundsätzlichen Ablehnung des Einflusses von Interessengruppen und Lobbyisten ist die Ablehnung der Parteien, an denen vor allem konkrete Mißstände kritisiert werden, verdeckter. Ähnlich wie in ihrer Haltung zur Demokratie tendiert die NPD unter Ignorierung der Realitäten des politischen Lebens dazu, die Parteien an sie überfordernden puristischen Maßstäben zu messen, um sie dann wegen der Nichterfüllung dieser Maßstäbe als vom breiten Volk nicht getragene Vertreter selbstsüchtiger Interessen zu denunzieren. Hinter dieser Kritik von Parteien und Interessengruppen steht allerdings nicht nur völkische Gemeinschaftsideologie, sondern auch die im deutschen Konservatismus traditionell vorherrschende Auffassung des Staates als eines von Parteiinteressen losgelösten Wahrers eines fiktiven Gemeinwohls.

IV. Idealbild: direkte Demokratie

Die linksradikale Kritik am Verfassungssystem der Bundesrepublik und dem anderer westlicher Staaten geht von der Vorstellung aus, daß sich, wie es Dutschke formuliert hat, „Demokratie und Kapitalismus . . . per definitionem" ausschließen das heißt, daß nur eine Änderung des gesellschaftlichen Inhalts, speziell der Produktionsverhältnisse, die Voraussetzungen für den Abbau von Herrschaft und die Errichtung einer wirklichen Demokratie schaffen könne. Die Verurteilung der als faschistisch denunzierten liberalen und parlamentarischen Realität der Demokratie geht dabei von einem Idealbild direkter Demokratie aus, deren konsequente Verwirklichung jedoch — jedenfalls ohne die m. E. nicht mögliche gleichzeitige radikale Veränderung der Menschen, ihres Bewußtseins, ihrer Gefühle, Bedürfnisse und Erfahrungen — nicht einen Abbau von Herrschaft, sondern die Beseitigung des Rechtsstaates, seiner Kontroll-und Sicherungsmechanismen und einer dem Staate entzogenen Freiheitssphäre des einzelnen, die Unterdrückung von Minderheiten und damit die Intensivierung von Herrschaft und Repression bis hin zur Minderheitsdiktatur bedeuten würde.

Ein verbindendes Element aller radikalen Gruppen der Neuen Linken ist die grundsätzliche Verurteilung der parlamentarischen Repräsentativverfassung. Die Grundlage der Parlamentarismuskritik der Neuen Linken bildet Johannes Agnolis Abhandlung über „Die Transformation der Demokratie", eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der politisch-gesellschaftlichen Ordnung moderner westlicher Industrienationen. Agnoli geht dabei von der weitgehend richtigen Beobachtung des geringen politischen Interesses weiter Bevölkerungsgruppen, des Machtverlustes des Parlaments gegenüber der Exekutive und der Abgeordneten gegenüber den Fraktionsführungen, den Oligarchisie-B rungstendenzen in den Parteien sowie der Durchorganisation der Gesellschaft durch das enge Zusammenwirken von Staat und Interessengruppen aus. Der die Struktur der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft entscheidend prägende, wenn auch verhüllte Klassen-gegensatz werde durch das Parlament nicht reproduziert und zum politischen Herrschaftskonflikt potenziert; dieses sei vielmehr zum „Transmissionsriemen der Entscheidungen politischer Oligarchien" zum Instrument zur Veröffentlichung von deren Entscheidungen in einer quasi-legitimierenden Form, zur Verschleierung der wirklichen Gegensätze und zur Integration der abhängigen Klassen „in das kapitalistische System der Produktion und in das bürgerliche System der Herrschaft" geworden Auch die Parteien und Interessenverbände seien in dieses System der Verhüllung und Domestizierung gesellschaftlicher Antagonismen zur Sicherung der bestehenden Herrschafts-und Wirtschaftsverhältnisse eingespannt. Parlamentarismus und Pluralismus sind so nach Agnoli scheindemokratische Mittel, die den abhängigen Klassen das Gefühl der Beteiligung am politischen Prozeß geben und sie damit befrieden, während sie in Wirklichkeit deren mögliche Solidarität und Aktion verhindern und ihre Bedürfnisse wie deren Befriedigung manipulieren, wobei das Raffinierte darin liegt, daß die so Regierten und Manipulierten sich subjektiv frei fühlen.

Die «Thesen Agnolis sind m. E. aus folgenden Gründen fragwürdig:

1. Die Annahme eines eindeutig klassengesellschaftlichen Grundantagonismus westlicher Gesellschaften, der auf dem Eigentum, der Verfügungsgewalt und dem Wissen weniger einerseits und der Abhängigkeit der Massen andererseits beruht wird von der empirischen Soziologie bestritten und widerspricht unseren Erfahrungen.

2. Agnolis Kritik am Machtverlust des Parlaments liegt als Leitmodell die Trennung zwischen kontrollierender Legislative und zu kontrollierender Exekutive zugrunde Er übersieht damit, daß das parlamentarische System — im Gegensatz zur konstitutionellen Monarchie oder zum präsidentiellen Regierungssystem — auf der engen Verbindung von Regierung und Parlamentsmehrheit beruht (auch von jeher beruhte!) und bei einer konsequent durchgeführten Trennung von Exekutive und Legislative nicht funktionieren kann. 3. Die Darstellung des Parlaments bleibt einseitig, weil sie nicht untersucht, inwieweit a) durch das allgemeine Wahlrecht, b) durch die relative Offenheit des Parteiensystems gegenüber den Staatsbürgern und gesellschaftlichen Gruppen, c) durch das Bemühen der Regierenden, zur Sicherung ihrer Wiederwahl die Wünsche der Bürger in ihren Handlungen zu antizipieren, sowie d) durch Wandlungsfähigkeit und Durchlässigkeit des parlamentarischen Systems Wünsche und Interessen der Bevölkerung in den politischen Prozeß eingehen und befriedigt werden. Solange die Rechtsstaatlichkeit erhalten bleibt und ein relativ gut funktionierendes System öffentlicher Information sichergestellt werden kann, ist nicht einzusehen, warum innerhalb des Systems nicht auch Fortschritte erzielt werden können, und sei es nur, um dem System die auch nach Agnoli notwendige Zustimmung der Massen zu erhalten. Agnoli polemisiert gegen die „Verwandlung des Fortschritts zu einer staatlich anerkannten Einrichtung" eine Erscheinung, die aus anderer Perspektive als großer Erfolg erschiene, wobei man allerdings fragen kann, ob sie tatsächlich voll verwirklicht ist.

4. Die von Agnoli geforderte „Fundamentalopposition" unterscheidet sich von Bestrebungen zu nur partiellen Veränderungen des Systems dadurch, daß sie die Aufhebung der kapitalistischen Wirtschaftsstruktur betreibt. Im Gegensatz zu Agnolis Auffassung muß aber solche Fundamentalopposition, sofern sie mit ihren Zielen und ihrem Vorgehen im Rahmen der Rechtsordnung bleibt, nicht mit staatlichen Sanktionen rechnen. So wird die Wirtschaftsordnung durch das Grundgesetz nicht festgelegt. Ließe sich eine Mehrheit der stimmberechtigten Bürger für ihre Änderung gewinnen — das allerdings ist notwendige Voraussetzung —, stände einer Umformung der Wirtschaftsstruktur und einer Neuverteilung gesellschaftlicher Macht auch innerhalb des parlamentarischen Systems nichts im Wege. Natürlich kann man argumentieren, daß die herrschenden, vom Kapitalismus profitierenden Kräfte ihrerseits die Verfassung brechen würden, um das zu verhindern. Eine derartige Argumentation wurde z. B. in den dreißiger Jah-ren von dem Theoretiker des linken Labour-Flügels, Harold Laski, in Großbritannien vertreten aber durch die politischen Tatsachen — die auf verfassungsmäßigem Wege durchgeführten Sozialisierungsmaßnahmen der Labour-Regierungen 1945 bis 1951 — widerlegt. Die Verfolgung gewisser Ziele, wie etwa die der Aufhebung der Grundrechte und der Vernichtung der Rechtsstaatlichkeit, ist allerdings innerhalb des Systems nicht möglich, aber auch nicht wünschbar.

5. Das konkrete Problem, vor dem Agnoli steht, ist so auch nicht das der möglichen Anwendung von Gewalt zur Verhinderung einer von der Mehrheit gewünschten Änderung des Systems, sondern die Tatsache, daß die Masse ihre „wahren" Interessen nicht erkenne und die Bestrebungen der Fundamentalopposition nicht unterstütze. Agnoli erklärt das mit derem „falschen", manipulierten Bewußtsein, ohne allerdings nachzuweisen, wie das nach seiner Meinung ständig gegen die vitalen Interessen der überwältigenden Mehrheit der Abhängigen und Ausgebeuteten verstoßende System ohne Zwang, Zensur und Terror erhalten bleiben kann. Integration und Anpassung heißt ja nicht nur „einkaufen" der sich angleichenden Betroffenen, sondern auch Veränderung des Systems, das auf die Bedürfnisse und Wünsche dieser Rücksicht nehmen muß, und sei es nur aus Gründen der Selbsterhaltung. Da aber der empirisch nachweisbare Volkswille für Agnoli manipuliert und damit verfälscht ist, kann er im Namen des eigentlichen revolutionären Volkswillens, der im Wechselverhältnis von Massenspontaneität und Gegenmanipulation (nicht aber etwa: Aufklärung!) erst noch zu sich selbst kommen muß, souverän mißachtet werden. Das bedeutet jedoch, daß nicht die Massen selbst über ihre Wünsche und Interessen entscheiden, sondern eine offenbar im alleinigen Besitz der absoluten Wahrheit befindliche revolutionäre Elite, die zur Desintegration des politischen Systems und zur Revolutionierung der Massen auch die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit und der Verfassung ignorieren und Gewalt anwenden kann Bei näherer Durchleuchtung entpuppt sich also die von scheinbar radikal-demokratischen Ideen ausgehende Konzeption Agnolis als eine Rechtfertigung des unbegrenzten Machtanspruchs einer sich selbst zum Interpreten des Gemeinwohls der angeblich blinden Massen aufwerfenden elitären Minderheitsgruppe. 6. Agnoli fragt nicht, inwieweit die richtig gesehene „Verfilzung" von Staat und Gesellschaft und die Stärkung zentraler Organisations-und Planungszentren vielleicht notwendige und von der Wirtschaftsordnung unabhängige Konsequenzen hochindustrialisierter Gesellschaften sind. Eine derartige Frage hätte aber angesichts der Tatsache nahegelegen, daß diese Erscheinungen in kommunistischen Ländern noch weitergehen als in kapitalistischen Ländern — nur daß dort der Staat noch weniger der Kontrolle seiner Bürger unterliegt und zudem die Sicherungen der Rechtsstaatlichkeit entfallen. Zweifellos ist es dabei ein zentrales Problem moderner, hochindustrialisierter Gesellschaften, daß mit der zunehmenden Komplexität technischer und wirtschaftlicher Prozesse und der Reduzierung des Sachverstandes in Einzelfragen auf immer kleinere Gruppen und der parallel dazu erfolgenden Entwicklung technokratischer Ideologien der Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß entdemokratisiert, der Raum des Politischen ausgehöhlt und die Staatsbürger entpolitisiert werden können. Einer derartigen Tendenz, vor der vor allem Jürgen Habermas mit Nachdruck gewarnt hat ist am besten durch die Betonung des spezifischen Charakters politischer Entscheidungen zu begegnen, die eben nicht auf wertneutrale Sachentscheidungen reduziert werden können, sondern verschiedene wirtschaftliche und soziale Gruppen jeweils anders in ihren Interessen berühren.

7. Agnolis Kritik an der gegenwärtigen Ordnung ist von der Auffassung der Politik als eines Freund-Feind-Verhältnisses, eines erbitterten und kompromißlosen Kampfes zwischen miteinander nicht zu vereinbarenden Gegensätzen bestimmt. Von dieser Position aus kritisiert er an Parlamentarismus und Pluralismus gerade das, was auch als ihre tiefere Rechtfertigung angesehen werden kann: die Entbrutalisierung des politischen Kampfes und der geregelte Ausgleich politischer und sozialer Gegensätze durch Kompromiß im Rahmen einer Rechtsordnung und unter Anerkennung der dem System zugrunde liegenden politischen Verhaltensregeln.

8. Agnoli selbst zeigt keine Alternative zu dem von ihm kritisierten politischen System auf. Er ist also offensichtlich der Auffassung, daß eine revolutionäre Änderung der Produktions-und Eigentumsverhältnisse diese neue Ordnung, in der die Massen unmittelbarer am politischen Prozeß beteiligt sind, von selbst herstellen würde. Damit entfällt die Möglichkeit, rational zu erörtern, ob die angestrebte neue Ordnung durchführbar und besser ist als die kritisierte alte.

Es fehlt auch jeder Hinweis darauf, ob die sozialistische Revolution die Kopernikanische Wende darstellt, die den innenpolitischen Kampf aufhebt und zur konfliktlosen Gesellschaft führt oder ob der Widerstand gegen sich ständig neu herausbildende Hierarchien die permanente Revolution notwendig macht.

Auf selten der Neuen Linken werden im wesentlichen zwei alternative Modelle zur parlamentarischen Demokratie angeboten. Bei dem einen handelt es sich um die in der Übernahme nur wenig modifizierte Leninsche Konzeption einer Diktatur des Proletariats, das seinerseits von einer elitären Kaderpartei — den Kommunisten — geführt wird. Auch Vertreter dieser, an der traditionellen Politik der kommunistischen Parteien Europas orientierten Richtung können sich für Räte einsetzen; diese sind dann jedoch faktisch nur als Mittel zur Revolutionierung der Massen vor der Revolution, nach dem Sieg der Revolution aber als Instrumente zur Manipulation der Arbeiter und anderen Staatsbürger durch die ein Monopol der politischen Macht beanspruchende kommunistische Partei gedacht

Die größere antiautoritäre Gruppe der Neuen Linken — die von anarchistischen Vorstellungen wesentlich beeinflußt ist — tritt für ein System unmittelbarer, direkter Demokratie ein und fordert neben dem Nahziel der Stärkung der plebiszitären Elemente des politischen Systems der Bundesrepublik die schließliche Ersetzung der parlamentarischen Demokratie durch eine in Kommunen organisierte so-genannteRätedemokratie Darunter versteht man ein politisch-gesellschaftliches System, in dem von den als wirtschaftliche und politische Grundeinheiten fungierenden Kommunen jederzeit absetzbare, rechenschaftspflichtige und an die Aufträge der Kommune-mitglieder gebundene „Räte" die gesamte gesetzgebende, vollziehende und richterliche Gewalt in der Hand haben und alle permanenten Bürokratien und die Berufsmilitärs beseitigt werden. Die Kommunen sollen dabei nicht nur Zentren der Politik und des Arbeitsprozesses, sondern auch Mittelpunkt des Lebens sein und den Ansatz zur Abschaffung der Familie bieten können. Die überflüssigen Bürokraten sollten in die Kommunen als einzelne zur Umwandlung ausgenommen oder zur Emigration gezwungen werden

Die Organisation der übergeordneten politischen Einheiten erfolgt, sofern diese nicht ganz aufgehoben werden, durch ein System mehrfacher indirekter Wahlen, wobei jeweils die Räte der tieferen Stufe einige ihrer ebenfalls auftragsgebundenen Mitglieder in das nächsthöhere Räteorgan delegieren. So wählen etwa die Kommuneräte den Stadtbezirksrat, die Stadtbezirksräte den Stadtrat, die Städträte und Kreisräte den Provinzialrat, die verschiedenen Provinzialräte den Länderrat und die Länderräte schließlich den Nationalrat. Es ist leicht nachweisbar, daß eine derartige, ihrem Anspruch nach überparteiliche Organisation demokratischer Selbstregierung, deren Verwirklichung trotz immer erneuter Versuche bisher regelmäßig scheiterte, nicht funktionsfähig ist, da sie erfahrungsgemäß von Parteien mediatisiert wird und die Probleme der zentralen Planung und Kontrolle der Wirtschaft ohne Hilfe von Staats-oder Parteibürokratien auch und gerade in einem sozialistischen Staat nicht gelöst werden können. Zudem ist sie nicht wünschenswert, da das System der mehrfach gefilterten indirekten Wahl der Vertreter der höheren Regierungsorgane und die unter den Bedingungen moderner, hochindustrialisierter Gesellschaften notwendig zur Konzentration der Macht bei Einzelpersonen führende Übernahme von Exekutivfunktionen die politische Mitwirkung des Volkes eher schwächen als stärken, die Ausschaltung von Parteien und Interessenverbänden sowie die Aufhebung der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Justiz den Schutz von Minderheiten und die Sicherung individueller Freiheitsrechte beseitigen und zudem ständig die Gefahr des Umschlags der Rätedemokratie in die Diktatur einer durch manipulierte Akklamationen bestätigten Minderheit bestehen würde

Noch nicht endgültig ausdiskutiert innerhalb der Neuen Linken ist die Frage, ob man sich trotz der grundsätzlichen Kritik am Parlamentarismus an Parlamentswahlen beteiligen soll. Während der SDS-Theoretiker Frank Deppe dafür plädiert, die Tribüne des Parlaments zur Entschleierung des Klassencharakters der Regierungsentscheidungen auszunutzen und damit den „Einfluß auf die Mobilisierung von Teilen der Werktätigen zu außerparlamentarischen Aktionen entscheidend" zu erweitern lehnt eine Berliner Projektgruppe „Räte“ die Wahlbeteiligung ab: „Radikalde-mokratische Linksparteien oder Wahlkartelle, die sich dem Mechanismus der herrschenden Realpolitik anvertrauen, um mehr politischen Einfluß zu gewinnen, übernehmen objektiv Hilfsdienste der etablierten Parteien, die für die außerparlamentarischen Gruppen ihre integrierende, beruhigende Wirkung verloren haben." Der wahre Grund für die z. Z. in den radikalen Gruppen der Neuen Linken überwiegende Tendenz zur Ablehnung einer Beteiligung an den Wahlen mit eigenen Kandidaten oder zur Unterstützung der Kandidaten anderer linksgerichteter Parteien dürfte allerdings sein, daß die Chancen für einen Erfolg sehr gering eingeschätzt werden und die Entlarvung der Schwäche ihrer Massenbasis in einer demokratischen Wahl nicht im Interesse dieser Gruppen liegt.

V. Auf der Suche nach der Identität

Wie ist nun dieser auf der radikalen Linken und der radikalen Rechten so ähnliche Antiparlamentarismus und Antipluralismus historisch zu erklären?

Der beiden Richtungen zugrunde liegende totalitäre Ansatz fußt auf der Ignorierung des subjektiven, empirisch durch Wahlen, Abstimmungen und Befragungen feststellbaren Willens der Menschen, also ihrer eigenen Einschätzung des politisch Wünschbaren zugunsten eines absolut gesetzten, angeblich objektiv richtigen Gesellschaftsmodells, das durch den als Vertreter der „wahren" Interessen der Massen angesehenen Führer oder durch die Elite der Aufgeklärten verwirklicht werden soll.

Diese Auffassung geht, wie J. L. Talmon in seinem für ein Verständnis der historischen Herkunft rechts-und linksradikaler Ideologien der Gegenwart grundlegenden Werk über „Die Geschichte der totalitären Demokratie" überzeugend nachgewiesen hat, letztlich in wesentlichen Punkten auf den französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau und die seine Ideen teilweise aufgreifenden Jakobiner in der Französischen Revolution zurück Rousseaus Auffassung von Demokratie beruht, wie der in seiner Kritik am modernen Parlamentarismus unmittelbar an ihn anknüpfende rechte Kritiker der Weimarer Verfassung und spätere Staatsrechtslehrer des Nationalsozialismus Carl Schmitt betont hat, auf der „Identität von Regierenden und Regierten die ihrerseits auf der Auffassung von einem in der Interessenlage homogenen und sich daher einmütig verhaltenden Volk beruht Jede wirkliche Demokratie, die bei Schmitt im Einklang mit den Vorstellungen der radikalen Linken im unüberbrückbaren Gegensatz zum Liberalismus gesehen wird, basiere darauf, „daß nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens — nötigenfalls — die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen" Von diesem Demokratieverständnis aus, das den totalitären Regimen unserer jüngsten Vergangenheit die Begründung für die Vernichtung großer rassischer, sozialer und nationaler Minderheitsgruppen geliefert hat, ist es nur konsequent, wenn Rousseau und mit ihm die Anhänger der Konzeption der einheitlichen Volksgemeinschaft auf der Rechten und der klassenlosen Gesellschaft auf der Linken keine Parteien, keine Sonder-und Gruppeninteressen und keine Konkurrenz zu der der Gesellschaft zugrunde liegenden, herrschenden Religion oder Ideologie zulassen. Die Homogenität muß nach Rousseau sogar soweit gehen, daß politische Entscheidungen ohne „dornenvolle Disukussion" zustande kommen und selbst die Parteien in einem Rechtsstreit dasselbe wollen Die totalitäre Praxis der einstimmigen, akklamatorischen Bestätigung nicht diskutierter Gesetze und der Selbstanklage in Schauprozessen ist hier also vorweggenommen. Von der Grundlage der demokratischen Identität und der uneingeschränkten Souveränität des einheitlichen Volkswillens aus, die sowohl die Konzeption individueller Grundrechte als auch die der Gewaltenteilung ausschließt, verliert selbstverständlich auch das Parlament als Vertretung verschiedener Interessen und als Ort zur rationalen Diskussion von Alternativen seine Daseinsberechtigung. Für Rousseau und die in sein theoretisches Erbe eintretenden Vertreter der direkten „Volksdemokratie", die sich in Urversammlungen der Wähler, vor allem in der Form der Akklamation, betätigt, wird jede Form der Repräsentation — zumal, wenn die Abgeordneten nicht an die Mandate ihrer Auftraggeber, der Wähler, gebunden sind — als Verfälschung des wahren Volkswillens zugunsten der Sonderinteressen der Abgeordneten einseitig negativ beurteilt.

Rousseau verkennt nicht, daß die Summe der Einzelwillen der Bürger (volonte de tous) nicht mit der volonte generale — dem ideellen, am Gemeinwohl ausgerichteten Gemeinwillen — übereinzustimmen braucht. Das könne sogar zunächst gar nicht der Fall sein, da der von Natur aus gute und in seinen Handlungen am Gemeinwohl orientierte Mensch durch den Staat und die Zivilisation verdorben worden sei. Erst eine Veränderung seines am Eigeninteresse ausgerichteten „falschen" Bewußtseins durch Erziehung könne den in jedem Menschen angelegten Gemeinwillen wieder freilegen

und damit den für die von der volonte generale gelenkte, wahre Republik notwendigen „neuen" Menschen schaffen. Da derart gute, am Gemeinwohl orientierte Menschen jedoch erst ein Produkt der neuen Republik sein können, andererseits diese aber zu ihrem Bestehen jene bereits voraussetzt, kann die Initialzündung zu ihrer Entstehung nicht aus der Republik selbst kommen. Rousseau sieht daher einen weisen, von außen kommenden „lgislateur" als Erziehungsdiktator vor, dessen Gesetzen sich das Volk aus Einsicht freiwillig beugt In der Konzeption Rousseaus hat also der Staat die Heilsaufgabe, den entfremdeten Zivilisationsmenschen wieder zu erlösen.

In der quasi-religiösen Begründung der Aufgabe politischer Gemeinschaften, in der Abwertung des empirisch feststellbaren gegenüber dem „wahren" Volkswillen — der volonte generale —, in der Rechtfertigung der Erziehungsdiktatur zur Beseitigung des „falschen" Bewußtseins und zur Schaffung des „neuen" Menschen sowie im Antiparlamentarismus und Antipluralismus finden sich somit bei Rousseau entscheidende gemeinsame Wurzeln links-und rechtsradikaler Bewegungen.

Die moderne, rechtsstaatliche, repräsentative und pluralistische Demokratie, auf deren grundsätzlicher Bejahung bei aller Kritik an einzelnen ihrer Erscheinungsformen meine Auseinandersetzung mit dem Rechts-und Linksradikalismus basiert, geht im Gegensatz zu Rousseau von der Auffassung aus, daß die Unvollkommenheit und Entfremdung des Menschen als Realität akzeptiert werden muß, daß das Volk vielfältig differenziert ist und die Existenz verschiedener Parteien und autonomer Verbände, die die Pluralität der Ansichten und Interessen widerspiegeln, als Ausdruck des freiheitlichen Charakters des Gemeinwesens grundsätzlich positiv zu bewerten ist. Das Gemeinwohl wird dabei nicht als vorgegeben betrachtet, sondern kann nach dieser Auffassung nur „a posteriori als das Ergebnis eines dialektischen Prozesses der divergierenden Ideen und Interessen der Gruppen und Parteien erreicht werden" Dem Staat wird nicht die absolute Aufgabe der „Erlösung" des Menschen aus der Entfremdung und der Herbeiführung einer vollkommenen Gesellschaft gegeben; er wird vielmehr vor allem als notwendiges, aber seinem Wesen noch keineswegs vollkommenes Instrument zum Schutz der unveräußerlichen Grundrechte des einzelnen gesehen und in seiner Macht durch die Bindung an das Recht sowie das Prinzip der Gewaltenteilung begrenzt. Die Identität von Regierenden und Regierten wird als utopisch abgelehnt, jede Ausübung von Regierungsund parlamentarischen Vertretungsfunktionen wird dagegen, wie das besonders in der die ideelle Grundlage angelsächsischer Demokratie bildenden politischen Philosophie von John Locke zum Ausdruck kommt als eine Treuhandschaft aufgefaßt, wobei das Volk zugleich der Begründer und Nutznießer dieses „trust" ist und der Zweck der Regierung sich ausschließlich am Wohl der Regierten zu orientieren hat. Das Volk regiert nicht, es herrscht, indem es die Regierung kontrolliert sie in den Wahlen zur Rechenschaft zieht, an der Meinungs-und Willensbildung vor allem über die Öffentlichkeit, Parteien und Verbände teilnimmt und bei einem Bruch der Treuhandschaft ein Widerstandsrecht ausüben kann. Insofern ist auch die vielfach geäußerte Anschauung, daß Mißtrauen die Tugend der Demokratien sei, nur eine gefährliche Halbwahrheit. Da notwendig ein großer Teil des Regierungsprozesses, z. B. diplomatische Verhandlungen, Personalentscheidungen und das Aushandeln von Kompromissen, sich nicht unter ständiger, detaillierter Teilnahme der gesamten Öffentlichkeit abspielen kann, bedürfen alle demokratischen Institutionen und ihre Träger für ihre Arbeit des Vertrauens der Staatsbürger. Sie müssen ersetzt werden, wenn sie dieses nicht mehr besitzen. Ebenso falsch wäre natürlich ein absolutes Vertrauen, das die Abtötung politischer Diskussionen und den Verzicht auf Kontrolle beinhalten würde.

VI. Herrschaft der Elite

Der komplizierte und vielfach verschlungene Weg, in dem die totalitären Ansätze der politischen Philosophie Rousseaus, die selbstverständlich nicht den gesamten oder auch nur den für seine eigene Zeit bedeutendsten Inhalt seiner Ideen ausmachen, in den Links-und Rechtsradikalismus des 20. Jahrhunderts eingegangen sind, kann hier nur andeutungsweise verfolgt werden.

Auf seifen der Linken liegt das wesentliche Verbindungsglied zu der auf Rousseau zurückgehenden und vor allem von Babeuf und Buonarroti, aber auch Blanqui, Fourier und Bakunin weiter entwickelten radikalen Konzeption direkter Demokratie bei Karl Marx, der in seiner 1871 „auf der Grundlage unzureichender Informationen sowie unter Zeitdruck und bei stärkster emotionaler Anteilnahme" verfaßten Adresse der Internationalen Arbeiterassoziation „Uber den Bürgerkrieg in Frankreich 1871" in Abweichung von seinen früheren revolutionstheoretischen Vorstellungen das von ihm idealtypisch zugespitzte und idealisierte Beispiel der Pariser Kommune von 1871 zum allerdings offensichtlich bald wieder mit größerer Distanz betrachteten Modell der Diktatur des Proletariats gemacht hat. Die Zerschlagung der bürokratisch-militärischen Maschine des „Schmarotzerauswuchses" Staat das Zerbrechen der ihn tragenden Organe — stehendes Heer, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Richterschaft —, die unmittelbare Herrschaft der Volksmassen durch direkt gewählte verantwortliche und jederzeit abberufbare Volksbeauftragte mit imperativem Mandat und die Rotation der wie Arbeiter bezahlten Staatsfunktionäre sind wesentliche Kennzeichen der Marxschen Konzeption der Kommune, die den Umsturz der ökonomischen Grundlagen, „auf denen der Bestand der Klassen und damit der Klassenherrschaft" beruhe, zum Ziel hatte. Verbunden damit ist die grundsätzliche Ablehnung der aus dem angelsächsischen Bereich kommenden — wenn auch vor allem in Frankreich mit ideologischen Argumenten begründeten — parlamentarischen Repräsentativverfassung, die als politischer Ausdruck der bürgerlichen Klassenherrschaft verstanden wird.

Mit der Übernahme des Kommunemodells waren gleichzeitig — entgegen den ursprünglichen Bestrebungen von Marx zur Begründung eines wissenschaftlichen Sozialismus — wesentliche Elemente der vor allem aus Frankreich kommenden Tradition des Sozialutopismus und Anarchismus ausgenommen worden. Nicht Marx, sondern Fourier mit seiner Kon-* zepuon sogenannter rudlans teles J, riuuuhon, der sozialistische Putschist Auguste Blanqui und schließlich und vor allem auch der Anarchist Bakunin, der schon 1866 in seinen „Prinzipien und Organisation der internationalen revolutionären Gesellschaft" ein detailliertes Programm direkter, durch Räte ausgeübter Demokratie entwickelt hatte, sind die geistigen Vorbilder der Führer der Pariser Kommune gewesen Bakunin hat nicht zu Unrecht kritisiert, daß Marx, indem er das Programm der Kommune übernahm, sich in Widerspruch zu seinen bisherigen Ideen gesetzt hätte

Aus der Konzeption direkter Demokratie und besonders den Rätevorstellungen ist das anarchistisch-sozialutopische Element — das allerdings im Linksradikalismus Frankreichs, Italiens und Spaniens sehr viel stärkere Traditionen hat als im deutschen Sozialismus — nicht wegzudenken. In Deutschland hat es die Kommunistische Partei in der Entstehungsphase vor ihrer Bolschewisierung 1920 politisch handlungsunfähig gemacht, jetzt bildet es, durch Lateinamerika-Romantik, China-Begeisterung und radikal-syndikalistische Verherrlichung der Gewalt aufgeladen, einen der wesentlichen Bestandteile der antiautoritären Strömungen auf Seiten der Neuen Linken, die z. T. bewußt an die Lehren Blanquis und Bakunins anknüpft.

Im deutschen Sozialismus vor dem Ersten Weltkrieg hat die Idee der direkten, plebiszitären Demokratie, jedoch ohne die Verbindung mit der erst 1917/18 nach den Erfahrungen in Rußland vom linken Flügel aufgegriffenen Rätekonzeption, eine gewisse Rolle gespielt. So ist die Forderung nach direkter Volksgesetzge-UUIIU 111 UdD -lvIIHVLIVL VIUVV}r ------— (1875) und das Erfurter Programm (1897) der SPD ausgenommen worden.

Parallel lief in der Sozialdemokratie eine weit-verbreitete grundsätzliche Ablehnung des Parlaments das man allenfalls als Tribüne zur Revolutionierung der Massen ausnutzen wollte. Erst langsam wich diese Auffassung einem besseren Verständnis für die Chancen, durch parlamentarische Arbeit demokratische und sozialistische Forderungen durchzusetzen, ohne daß die gefühlsmäßige Neigung zur plebiszitären Demokratie und das mehr instinktive als bewußte Unbehagen am Parlament — ein typisches Kennzeichen nicht nur der Kritiker, sondern auch der Träger des Weimarer Staates -— voll überwunden worden wäre. Die Versuche, Minister und Abgeordnete als Mandatare der Partei aufzufassen und ihr Verhalten den Beschlüssen des Parteiapparats und außerparlamentarischen Gremien zu unterwerfen, legen davon Zeugnis ab. Erst die Erfahrungen vor allem der Endphase der Weimarer Zeit haben hier einen Wandel bewirkt und eine auch innere Bejahung der parlamentarischen Repräsentativverfassung, die selbstverständlich in der modernen Massendemokratie nicht ohne erhebliche plebiszitäre Elemente denkbar ist, bewirkt. Es ist dies einer der Gründe, warum sich die SPD den besonderen Zorn der Neuen Linken zugezogen hat. Antiparlamentarismus und Antipluralismus sind ebenso ein typisches Kennzeichen der kommunistischen Linken. Auch Lenin hat in Anknüpfung an die Pariser Kommune und ihre Interpretation durch Marx im Sommer 1917 in seiner Schrift „Staat und Revolution" eine Theorie der Selbstregierung der Massen durch Räte (Sowjets) entwickelt. Tatsächlich hat er jedoch in den nach der Februarrevolution 1917 in Rußland entstandenen Räten vor allem Kampfinstrumente zur Revolutionierung der Massen und zur Zersetzung des Staatsapparates gesehen. Eine Lösung der institutioneilen Probleme einer direkten Herrschaft der Massen, die nicht in die Diktatur einiger wenigerumschlägt, gelang den Bolschewik! jedoch ebensowenig wie ihren Vorgängern seit der Französischen Revolution. Da der ausschließliche Führungsanspruch der Bolschewistischen Partei auch über die Räte aufrechterhalten wurde, wurden diese schließlich faktisch zu Manipulationsinstrumenten einer straff disziplinierten und zentral dirigierten Elitepartei und deren Führung degradiert.

In der KPD der Weimarer Zeit setzte sich unter dem Druck Moskaus eine ähnliche Entwicklung gegen die ursprünglich sehr starken antiautoritären und anarchistischen Elemente durch. Im Gegensatz zur ursprünglichen Ablehnung der Beteiligung an parlamentarischen Wahlen wurde schließlich die Mitwirkung kommunistischer Abgeordneter im Parlament zum Zwecke der revolutionären Agitation und während des gemäßigten Kurses von 1926 bis 1928 auch als Mittel, um konkreten Einfluß auf die parlamentarische Arbeit zu erhalten, akzeptiert

Auf seifen der radikalen Rechten knüpft vor allem die Auffassung von der absolut gesetzten „einen und unteilbaren Nation" an Theorien direkter und plebiszitärer Demokratie des 18. Jahrhunderts an. In der auf einem extremen Nationalismus basierenden Konzeption von der Volksgemeinschaft beherrscht die Bindung an die Nation alle anderen Bindungen und Loyalitäten des Individuums. Die Ablehnung des Parlaments als einer Institution, in der diese Einheit zerredet werde, die Zurückweisung aller Partei-und Gruppenbildungen, seien sie lokaler, sozialer, politischer oder religiöser Natur, letztlich die Uniformierung und Gleichschaltung der Bürger und aller autonomen gesellschaftlichen Kräfte waren notwendige Konsequenzen. Die verfassungspolitische Verwirklichung der Einheit des Volkes wurde dabei in einem plebiszitären Cäsarismus, wie ihn Napoleon III. praktizierte und ideologisch begründete, und schließlich in der Herrschaft eines durch Akklamationen bestätigten Führers gesehen. Durch keine Zwischeninstanzen getrennt steht dieser in einem direkten, „mystischen" Verhältnis zum Volk — seiner Gefolgschaft. Auf Grund dieser seiner Legitimation als einer Verkörperung des Volkes braucht er auch keine rechtsstaatlichen oder durch Gewaltenteilung aufgelegten Schranken seiner Macht anzuerkennen.

Die Ideen der radikalen Rechten sind aber nicht nur als Weiterführung gewisser totali-tärer Ansätze der Französischen Revolution zu verstehen, sondern beruhen zumindest in gleichem Maße auf der gegen Aufklärung und Rationalität gerichteten, das Volk als Kultureinheit verklärenden romantischen Bewegung gegen die Französische Revolution sowie der spezifisch deutschen antidemokratischen Tradition einer Überbewertung des Staates. Der in der Französischen Revolution als Ausdruck antifeudalen Emanzipationsstrebens des sich zum „allgemeinen Stand" erklärenden Bürgertums politisch und vom Staate her geprägte Begriff der Nation wurde schließlich völkischbiologistisch begründet. Die Konzeption der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Nationen wurde durch den pseudoreligiösen Glauben an die besondere Sendung und die Überlegenheit der eigenen Nation abgelöst. Die Konzeption des Sozialdarwinismus von der Geschichte als einem ständigen Kampf der Völker, in dem — wie im Tierreich — nur die Widerstandsfähigsten überleben, verband sich mit dem traditionellen preußischen Militarismus und dem extremen Nationalismus zu einer zum Imperialismus übersteigerten Machtpolitik.

Gleichzeitig stieg, unter anderem bedingt durch den schmerzhaften Prozeß der Umformung der Gesellschaft durch die Industrialisierung sowie als Reaktion auf Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterschaft, unter den Privilegierten die Tendenz zur ideologischen Absicherung des Status quo und in breiten, von sozialer und ökonomischer Deklassierung bedrohten Schichten das Bedürfnis nach einfachen Erklärungsschemata und Sündenböcken. Jene aggressiv nationalistischen Ideologien, die häufig in einem immer weniger religiös und immer mehr sozial und schließlich rassisch begründeten virulenten Antisemitismus eine wichtige Ergänzung fanden, erfüllten diese Erklärungs-, Rechtfertigungs-und Stabilisierungsfunktionen.

Gleichzeitig sorgte die obrigkeitsstaatlich geprägte Verfassungsstruktur des Bismarckreiches und die sie begründende Ideologie von dem den Partikularinteressen angeblich übergeordneten, das Gesamtinteresse verkörpernden Staat dafür, daß Parlament und Parteien 1918/19 — in ihren inneren Strukturen und ihren Verhaltensweisen durch die konstitutionelle Monarchie geprägt und durch die Parlamentarismus- und Parteienkritik belastet — die politische Verantwortung unvorbereitet übernehmen mußten und ihre daraus resultierende Schwäche der parlamentarischen Demokratie angelastet wurde. Der deutsche Rechtsradikalismus beruht also historisch auf einer bereits seit den neunziger Jahren des 19. Jahr-B hunderts einsetzenden Synthese konservativ-reaktionärer und ursprünglich revolutionärer nationalistischer Ideen, die in der Umformung der alten Konservativen Partei von einer aristokratisch-autoritären, preußischen, gouvernementalen und ständischen Partei der Privilegierten und der von ihnen unmittelbar Abhängigen zu der mit allen Mitteln der Demagogie an die Massen appellierenden, völkischnationalen, oppositionellen und mittelständisch-antisemitischen Deutschnationalen Volkspartei — die schließlich der sie an Radikalität übertrumpfenden nationalsozialistisch-sehen „Bewegung" den Weg zur Macht ebnete — ihren klarsten Ausdruck fanden.

Trotz aller wesentlichen Differenzen zwischen rechts-und linksextremen Ideologien in bezug auf ihren Inhalt und vor allem in bezug auf ihre soziale Funktion liegen aber entscheidende, ihre Parallelsetzung rechtfertigende Gemeinsamkeiten vor: in der Absolutsetzung einer bestimmten Konzeption der zukünftigen Gesellschaft; in dem Glauben an die vorhandene oder nach der Änderung der Eigentumsverhältnisse zu erzielende Homogenität des Volkes; in der daraus abgeleiteten Ablehnung von Parlament, Parteien und Gruppenvertretungen; in dem Anspruch einer revolutionären Elite oder eines Führers, allein das wahre Gemeinwohl definieren und interpretieren zu können — notfalls auch gegen den Willen der Mehrheit und unter Mißachtung aller rechtsstaatlichen Schranken.

VII. Ideologische Ursprünge der Parlamentarismus-Kritik

Neben der auf Rousseau zurückgehenden grundsätzlichen Kritik an Parlamentarismus und Pluralismus als Abweichungen vom Ideal der direkten Demokratie und Mittel zur Zersetzung der erreichten oder doch möglichen Einheit des Volkes gibt es einen zweiten Strang der Kritik, der den modernen Parlamentarismus und den ihm zugrunde liegenden Pluralismus als einen Verfall des ursprünglichen, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als politische Form der bürgerlichen Gesellschaft ausgeprägten Parlamentarismus verurteilt.

Auf der Rechten fand diese Kritik ihre klarste und intelligenteste Zusammenfassung in der . ungemein einflußreichen Abhandlung Carl Schmitts über „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus" (1923). In dieser Schrift arbeitet Schmitt unter Berufung vor allem auf französische Theoretiker des Parlamentarismus aus der Zeit des Vormärz — besonders Guizot — „Diskussion" und „Öffentlichkeit", das heißt das Streben nach Auffindung der gesellschaftlichen und politischen Wahrheit durch die öffentliche Diskussion parteipolitisch und interessemäßig nicht gebundener Abgeordneter, als die Prinzipien heraus, in-denen das Parlament seine geistige Grundlage habe. Er kontrastiert damit die Wirklichkeit des modernen Parlamentarismus in einer Massendemokratie, in dem die Abgeordneten fraktionell gebunden sind, häufig von Gruppeninteressen bestimmt werden und die wirklichen Entscheidungen nicht im Plenum des Parlaments, sondern in geheimen Sitzungen der Ausschüsse, Fraktionen, interfraktionellen Ausschüsse usw., und zwar nicht als Ergebnis eines rationalen Klärungsprozesses, sondern als Resultat von Kompromissen fallen. Damit habe der Parlamentarismus seine geistige Grundlage, seine „moralische Wahrheit" verloren. Das Charakteristische aller Repräsentativverfassungen haben zu sein, „daß die Gesetze aus einem Kampf der Meinungen (nicht aus einem Kampf der Interessen) hervorgehen. Zur Diskussion gehören gemeinsame Überzeugungen als Prämissen, Bereitwilligkeit, sich überzeugen zu lassen, Unabhängigkeit von parteimäßiger Bindung, Unbefangenheit von egoistischen Interessen" Von dieser Basis aus wird der Kompromiß als dem Wesen des Parlamentarismus zuwiderlaufend abgelehnt.

Auf Seiten der Linken ist eine ähnliche Kritik am modernen Parlamentarismus und Pluralismus — zum Teil unter ausdrücklicher Berufung auf Carl Schmitt — vor allem von Jürgen Habermas in seinem bedeutenden Buch über „Strukturwandel der Öffentlichkeit" aufgegriffen worden und von dort in allerdings stark vergröberter Form in die Ideologie von Teilen der Neuen Linken eingegangen. Auch Habermas sieht das Wesen des Parlaments und der damit in enger Verbindung stehenden Öffentlichkeit darin, das im Sinne einer „Wahrheit" verstandene Allgemeininteresse, den Willen des Volkes, durch einen ständigen Prozeß öffentlicher Diskussion ans Licht zu bringen und somit die Vernunft zur Richtschnur der Gesetze zu machen. Zwar kritisiert er Rousseau, aber nicht wegen dessen Begriff der „volonte generale", sondern weil diese bei Rousseau „eher ein Konsensus der Herzen als der Argumente" ist das heißt unmittelbar und nicht erst als Ergebnis einer rationalen Diskussion und damit zumindest potentiell gewaltsam zustande kommt.

Hinter der Konzeption von Habermas steht die Hoffnung, daß es — genügend Zeit zur freien und unmanipulierten Diskussion vorausgesetzt — zumindest unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen möglich ist, politische Fragen bis zum allgemeinen Konsens auszudiskutieren, das heißt Herrschaft in Vernunft aufzuheben: „Veritas non auctoritas facit legem." Von dieser Grundlage aus ist der parlamentarische Prozeß, sobald in ihm nicht Wahrheit gesucht, sondern gegensätzliche Interessen ausgehandelt und Kompromisse erreicht werden, als Abirrung zu verurteilen. Habermas ist sich zwar darüber klar, daß sein Idealbild nie vollkommen der Wirklichkeit entsprach. Er begründet diese Unvollkommenheit aber nicht positiv im Sinne einer pluralistischen Theorie, die die Vielfalt von Interessen und Meinungen als Ausdruck eines freiheitlichen und nicht gleichgeschalteten Gemeinwesens auffaßt, sondern einseitig negativ als Störung, deren Grund er in der antagonistischen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft findet. Während jedoch zunächst — durch den Ausschluß der Nichteigentümer vom Wahlrecht — das System wegen der grundsätzlichen Interessenhomogenität der im Parlament vertretenen sozialen Kräfte im ganzen funktionierte habe die Demokratisierung des Wahlrechts und die Erweiterung des sich an der Politik beteiligenden Publikums die bisherige soziale Exklusivität beseitigt, die Interessengegensätze verschärft, so daß sie nicht mehr in rationaler Diskussion aufgelöst, sondern nur noch durch das Aushandeln, den „Kompromiß konkurrierender Privatinteressen überbrückt werden könnten. Von seiner aufklärerischen Interpretation des „ursprünglichen" Parlamentarismus her finden sich bei Habermas besonders in der Analyse des neuen Stellenwerts und der neuen Funktionen des Parlaments im modernen Sozialstaat Andeutungen, die in den Veränderungen ein Preisgeben der Prinzipien des „eigentlichen" Parlamentarismus sehen.

Das von Schmitt und Habermas vertretene Idealbild des Parlamentarismus, das ihrer durchaus verschieden akzentuierten und von völlig verschiedenen Zielvorstellungen geprägten Kritik am gegenwärtigen Parlamentarismus zugrunde liegt, ist das der auf dem europäischen Kontinent — vor allem in Frankreich — entwickelten, frühliberalen Ideologie vom Parlamentarismus, die mit ihrer Ablehnung von Parteien und Interessenvertretung nicht der Wirklichkeit der Länder mit einem parlamentarischen Regierungssystem entsprach. Es beruhte auf dem liberalen und aufklärerischen Glauben an die prinzipiell mögliche und herzustellende Identität privater und allgemeiner Interessen und die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, das Allgemeininteresse im Prozeß öffentlicher Diskussion eindeutig zu fixieren und ihm zum Sieg über alle damit als egoistisch entlarvten Einzelinteressen zu verhelfen.

Tatsächlich ist das Parlament, wie sich ohne Schwierigkeit an Hand der Geschichte des britischen Parlaments zeigen ließe, aber immer nicht nur ein Platz rationaler Diskussion und der Vertretung politischer Ideen, sondern vor allem auch stets ein Ort der Interessenvertretung und des Interessenausgleichs, des „bargaining" und des Kompromisses als Resultat dieses „bargaining" gewesen Auch setzt das Funktionieren des parlamentarischen Regierungssystems, in dem die Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängig ist und das Parlament sich nicht auf die negative oder positive Haltung zu den eingebrachten Gesetzgebungs-und Besteuerungsvorschlägen beschränken kann, die Schaffung konstanter parlamentarischer Mehrheiten, also eine Organisation des Parlaments voraus. Diese wurde in Großbritannien im 18. Jahrhundert durch ein ungemein kompliziertes System der Manipulation von Wahlen, der Ausnützung der Patronagefunktionen der Krone und der Cliquenbildung, im 19. Jahrhundert zunehmend durch politische Parteien gewährleistet. Selbst Burke, dessen Rede vor den Wählern in Bristol vom 3. November 1774 als die klassische Formulierung der Idee der Repräsentation gilt, wonach die Abgeordneten nur ihrem Gewissen und ihrem eigenen Urteil unterworfen sind, hat in der gleichen Rede von den weitgespannten und vielschichtigen Interessen gesprochen, die „erwogen . . ., verglichen und, wenn möglich, ausgeglichen werden müssen" und in anderem Zusammenhang die Praxis der parlamentarischen Parteibildung bejaht

Es ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Bedeutung, daß sich kontinentale Theoretiker des Parlamentarismus, soweit sie sich am Mutterland der Parlamente, nämlich Großbritannien, orientierten, zum Muster gerade jene Jahrzehnte zwischen der ersten und zweiten Reformbill (1832 bis 1867) nahmen, in denen nach dem Schwinden des Einflusses der Krone und vor der parallel zum Aufkommen moderner Massenparteien erfolgenden Verfestigung der Fraktionsdisziplin der Einfluß und die Unabhängigkeit der übrigens zum Teil stark interessengebundenen individuellen Abgeordneten am größten war, das parlamentarische System aber wegen des Fehlens klarer Mehrheitsverhältnisse am schlechtesten funktionierte. Selbstverständlich darf ein Parlament nicht nur ein des Ort Interessenausgleichs, sondern muß gleichzeitig auch Zentrum rationaler Diskussion sein, die allerdings nicht nur im Plenum, sondern auch in Fraktionen, Ausschüssen sowie interfraktionellen Gremien stattfinden kann. Reden, die zum Fenster hinaus gehalten werden, sind dabei nicht sinnlos, sondern ein Mittel, um den für eine lebendige Demokratie wichtigen Kontakt des Parlaments zur öffentlichen Meinung im Lande aufrechtzuerhalten und in einer Art ständigen, vorweggenommenen Wahlkampfes die Wähler für die eigene Position zu gewinnen. Parteien sind notwendiger Ausdruck einer pluralistischen Gesellschaftsstruktur und Organisationen zur Realisierung der Mitwirkung der Massen am politischen Prozeß; ihre relative Geschlossenheit, auf die die vom Dualismus Parlament—Regierung ausgehende konstitutionelle Monarchie oder das präsidentielle Regierungssystem notfalls verzichten kann, sind Voraussetzung für die Mehrheitsbildung im Parlament und damit das Funktionieren des parlamentarischen Systems. Die Existenz vieler, zum Teil entgegengesetzter Interessen ist ein Kennzeichen einer vielschichtigen, freiheitlichen Gesellschaft. Ihre

Vertretung durch Parteien und besondere Verbände ist legitim. Allerdings müssen die Parteien versuchen, nicht ein Einzelinteresse zur alleinigen Richtschnur ihres Handelns zu machen, sondern die verschiedenen Interessen auszugleichen und in den Rahmen einer vernünftigen Gesamtpolitik zu integrieren. Eine einerseits realistische, andererseits nicht zu unkritischer Anpassung an das Gegebene verführende Theorie des Parlamentarismus müßte den politischen Prozeß sowohl als Versuch, in einer gegebenen historischen Situation Vernunft im gesellschaftlich-politischen Bereich zu verwirklichen, wie auch als Konflikt und Ausgleich verschiedener Interessen begreifen, das heißt sowohl als einen auf Überzeugung und rationalen Konsens ausgerichteten, argumentativen Prozeß wie auch als Kampf und Kompromiß, wobei beide Aspekte in der Realität des politischen Lebens unauflöslich miteinander verknüpft sind und einander

Hinter der oft mit einem Schuß Kulturpessimismus gewürzten Kritik am Parlamentarismus, der vom Modell eines angeblich früher existierenden idealen Parlamentarismus ausgeht, steht nicht nur die teilweise berechtigte Kritik an dessen modernen Erscheinungsformen, sondern auch die Absolutsetzung des ersten jener beiden Aspekte bei tendenzieller Leugnung der Berechtigung des zweiten. Gemessen an einem Bild vom „ursprünglichen", „unverfälschten" Parlamentarismus, das sich eher an dessen ideologischem Anspruch als an dessen früherer Wirklichkeit orientiert, werden viele Merkmale des heutigen Parlamentarismus als Verlust und Verfall kritisert, ohne daß diese auf ihre eventuelle Notwendigkeit, ihren Sinn unter gegenüber früher sehr veränderten gesellschaftlichen Bedingungen befragt werden. Wenn der gegenwärtige Parlamentarismus hoffnungslos hinter diesem legendären Modell und jenem einseitigen Begriff von Politik zurückzubleiben scheint, so folgt daraus nicht nur die Notwendigkeit zur Kritik der gegenwärtigen politischen Wirklichkeit, sondern vor allem auch zur Revision der Maßstäbe und Ansprüche, die diese Kritik leiten.

VIII. Strukturprobleme des gegenwärtigen parlamentarischen Systems

Tatsächlich sind Parlamentarismus, Parteiwesen und Pluralismus in der Bundesrepublik in vielen und wesentlichen Punkten reformbedürftig. So ist der Einfluß des Bundestags als des Typs eines vor allem in Sachausschüssen detailliert arbeitenden Parlaments, dessen Plenum noch keine angemessene Funktion gefunden hat, auf die öffentliche Meinungsbildung zu gering. Auch ist der Willensbildungsprozeß zu wenig durchsichtig, so daß nicht genügend klar wird, auf welchen Kompromissen welche Entscheidungen beruhen und welche Alternativen bestanden. Dadurch wird die mangelnde Information der Bevölkerung und die Entpoli25 tisierung, z. T. Verzerrung der nur von wenigen geführten öffentlichen Diskussion ebenso gefördert wie durch einen geringen Stand der allgemeinen politischen Bildung und andere Faktoren. Der häufig zu Recht kritisierte Zustand der öffentlichen Meinung bedeutet eine schwere Bürde für ein parlamentarisches System, das auf die kritische Öffentlichkeit als eine seiner Voraussetzungen angewiesen ist.

Die Aushöhlung der Kompetenzen des Parlaments durch die zunehmende Komplexität von Verwaltung und Politik und durch den Machtzuwachs der Bürokratie, die Übertragung weitgehender Funktionen, vor allem in der Verteidigungs-, Wirtschafts-und Außenpolitik an übernationale Organisationen und die Präjudizierung von Entscheidungen des Parlaments durch Absprachen der Regierung mit außerparlamentarischen Gruppen sind weitere, für den modernen Parlamentarismus höchst bedenkliche Erscheinungen. Die Antwort darauf darf nicht nur in der Schaffung einer Gegenbürokratie parlamentarischer Experten gesehen werden, sondern muß vor allem auch in der Betonung der politischen Aufgabe des Parlaments als des zentralen Orts zur Festlegung von Prioritäten und zur Wahl von Alternativen liegen. Auch dürfen wichtige Parlamentsausschüsse nicht von den Interessenvertretern einzelner Gruppen beherrscht werden, wie das im Bundestag z. B. mit dem Agrarausschuß, dem Innenausschuß und dem Sozialausschuß, in dem offenbar die Vertreter der Bauernverbände, der Beamtenbünde bzw.der Gewerkschafts-und Arbeitgeberverbände die entscheidende Rolle spielen der Fall ist.

Die plebiszitären Elemente des Regierungssystems könnten dadurch verstärkt werden, daß, im Einklang mit den Wünschen vieler Vertreter des Parlamentarischen Rats bei der Schaffung des Grundgesetzes (u. a. Dehler und v. Brentano), das Parlament nicht nur auf Antrag des Bundeskanzlers, sondern auch auf eigenen Beschluß aufgelöst werden kann. Eine derartige Regelung hätte vielleicht 1966 die Bildung der Großen Koalition überflüssig machen können. Da die früher vom Gesamtparlament ausgeübten Kontrollaufgaben wegen der engen Verbindung von Parlamentsmehrheit und Regierung heute weitgehend auf die Opposition übergegangen sind, ist eine leistungsfähige Opposition mit einer echten Chance zur Übernahme der Regierung nach der nächsten Wahl eine wesentliche Voraussetzung nicht nur für politische Dynamik, sondern auch für ein voll* funktionsfähiges parlamentarisches Regime. Die Große Koalition darf so nur ein Ausnahmefall sein. Die Reibungswiderstände gegen Reformen innerhalb des Systems dürfen nicht so groß werden, daß sie zur Ausklammerung der zur Lösung anstehenden Fragen führen. Die Parteien sind als notwendige Vehikel einer modernen Massendemokratie, um die Bevölkerung am politischen Prozeß zu beteiligen und die Regierung in der Wahl zur Verantwortung zu ziehen, grundsätzlich und ohne Vorbehalt zu akzeptieren. Es besteht aber die Gefahr, daß der für das Funktionieren der demokratischen Willensbildung in ihnen notwendige wechselseitige Prozeß der Beeinflussung „von unten nach oben" und „von oben nach unten" durch die Einbahnstraße eines einseitigen Einflusses der Parteiführer auf die Mitglieder ersetzt wird, die Parteien verkrusten und die Verbindung zu den Wählern und wichtigen Interessen zu verlieren drohen.

Der Pluralismus muß als „essentielles Merkmal einer jeden freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie" verstanden werden. Die organisierte Vertretung von Sonderinteressen ist ein Ausdruck der Vielschichtigkeit moderner Gesellschaften, ein unentbehrliches Gegengewicht zu einer sonst omnipotenten und von den Wünschen der Bürger isolierten staatlichen Bürokratie, ein Mittel zur Sicherung von Minderheitsrechten und zur Verhinderung von Konformismus und Gleichschaltung. Die von Links-und Rechtsradikalen geforderte Reduzierung des Menschen auf eine einzige, alle anderen im Konfliktfall letztlich ausschließende Loyalität — sei es zur Klasse oder zur Nation — muß demgegenüber als totalitär entlarvt und mit der eine humane Gesellschaft erst ermöglichenden pluralistischen Wirklichkeit — der gleichzeitigen, wenn auch vielfach abgestuften Loyalität zu vielen, sich teilweise überschneidenden Gemeinschaften wie Familie, Religionsgemeinschaft, Berufsverband, Klasse, Nation, Staat, Sportklub usw. — kontrastiert werden.

Diese grundsätzliche Rechtfertigung des Pluralismus bedeutet allerdings nicht, daß es auf dem Gebiet der Interessenvertretung keine Mißstände gebe. Erstens sind zweifellos nicht alle wichtigen Gruppen (wie z. B. Hausfrauen und Konsumenten) in adäquater Weise organisiert, so daß einzelne finanzstarke, gut organisierte, einen Interessenbereich monopolisierende und geschickt operierende Interessenverbände einen ihre reale Bedeutung weit übersteigenden Einfluß auf Kosten anderer Interessen ausüben können. Zweitens besteht die Gefahr, daß die etablierten Gruppen von Bürokratie, Parlament und Parteien zuungunsten der sich neu herausbildenden Gruppen bevorzugt und die zwischen den alten Gruppen bestehenden Kompromisse trotz der Veränderung der sozialen und politischen Situation nicht korrigiert werden, so daß die Flexibilität und Dynamik des politisch-gesellschaftlichen Systems leidet. Drittens besteht die Gefahr, daß das Gruppeninteresse nur noch von einem bürokratischen Verbandsapparat definiert wird und nicht mehr das Resultat eines lebendigen und differenzierten Willensbildungsprozesses innerhalb des Verbandes darstellt.

Vor allem benötigt ein parlamentarisch-pluralistisches System die Existenz einer wachen und gut informierten, aufgeklärten und kritischen, kontrollierenden, aber auch eigene Impulse entwickelnden öffentlichen Meinung; ohne diese gerät es in Gefahr, sich zur Stätte eines quasi-oligopolistischen Wettbewerbs kleiner Eliten zu verengen und damit dem Anspruch parlamentarischer Demokratie nicht mehr zu genügen. Permanente, jedoch schwierig zu leistende Aufklärungsarbeit, Veränderungen im Bereich der Massenmedien und vor allem auch größere Investitionen auf dem Bildungssektor sind dringende Erfordernisse im Interesse der Stabilisierung und Weiterentwicklung unseres parlamentarischen Systems.

Die Lösung der hier aufgezeigten Probleme liegt so nicht in einer grundsätzlichen Abwendung vom Parlamentarismus und Pluralismus, sondern in deren Festigung, Ausdehnung und ständigen Belebung. Die Anhänger der repräsentativen, pluralistischen und freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie haben sich zu Unrecht angesichts der Angriffe auf dieses System durch den linken und rechten Radikalismus in eine Defensivposition drängen lassen. Durch eine zwar gutgemeinte, aber nicht an der Realität demokratischer Regierungssysteme orientierte Harmonielehre der Demokratie verursacht, sind Erscheinungen wie Kanzlerdemokratie, Macht der Parteien, Fraktionsdisziplin, der geringe Anteil der Komponenten direkter Demokratie und die politische Mitwirkung der Interessengruppen zu häufig mit schlechtem Gewissen entschuldigt statt als notwendige Bestandteile des demokratischen Prozesses in einem modernen, hochindustrialisierten, parlamentarischen Staat erklärt worden. Der in der Praxis vollzogene Strukturwandel der Demokratie ist in der politischen Wissenschaft und im Staatsrecht trotz wichtiger Ansätze theoretisch noch nicht voll verarbeitet worden und noch weniger ins allgemeine Bewußtsein gedrungen. Demokratie ist zu häufig allein als eine Sache der guten Gesinnung und nicht genug als die allseitige Bereitschaft zur Toleranz und zur Anerkennung bestimmter Spielregeln für das Austragen von Konflikten angesehen der demokratische Prozeß in seiner Komplexität nicht verstanden worden.

Moralischer Rigorismus in der Politik ist aber nicht nur als Begründung von die Demokratie an einem absoluten Maßstab messenden und sie daher überfordernden Ansprüchen, sondern noch mehr als bequeme Ausrede für politische Abstinenz und damit als Motiv für die mangelnde Bereitschaft zum Eintreten für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gefährlich. Es heißt jedoch den Teufel mit Beelzebub austreiben und die Position der freiheitlich-rechtsstaatlichen, pluralistischen, parlamentarischen Demokratie aufgeben, wollte man als Alternative zu den angebotenen Utopien eine eigene Utopie absolut setzen. Damit würde man das Wesen der Politik verkennen, die nicht der Verwirklichung einer Heilslehre dient, sondern den Versuch darstellt, den Fortbestand einer differenzierten Gesellschaft mit Toleranz und Einsicht in das Mögliche, mit Kompromiß-und Reform-bereitschaft bei weitestgehender Verwirklichung der Freiheit der einzelnen und Gruppen zu sichern, die innere Ordnung zu schützen und die äußere Sicherheit zu garantieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Mensch —-Volk — Staat — Demokratie, abgedruckt in Deutsche Nachrichten, Nr. 25, 24. 6. 1966, S. 9.

  2. Ebenda.

  3. Das führt Anrich in einem Sonderdruck der Parteizeitung Deutsche Nachrichten vom 24. 2. 1967 aus.

  4. Vgl. dazu Hans Maier/Hermann Bott, Die NPD, Struktur und Ideologie einer „nationalen Rechts-partei", 2. Ausl., München 1968, S. 40.

  5. Vgl. die Sachworte „Nürnberger Gesetze" und „Apartheid" in dem von den Deutschen Nachrichten herausgegebenen parteioffiziellen Politischen Lexikon.

  6. Politisches Lexikon, Sachwort „Antisemitismus", sowie Deutsche Nachrichten, Nr. 36, 9. 9. 1966, S. 4. Für weitere Belege über die antisemitischen Tendenzen der NPD vgl. Giselher Schmidt, Ideologie und Propaganda der NPD, Schriften der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1968, S. 8 f.

  7. Vgl. dazu Reinhard Kühnl, Rainer Rilling, Christine Sager: Die NPD. Struktur, Ideologie und Funktion einer neofaschistischen Partei, Frankfurt/Main, 1969, S. 179 ff.

  8. Vgl. Bundesminister des Innern, Erfahrungen aus der Beobachtung und Abwehr rechtsradikaler und antisemitischer Tendenzen im Jahre 1967, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitschrift Das Parlament, B 15/68 vom 10. 4. 1968, S. 8 f.

  9. Deutsche Nachrichten Nr. 3, 19. 1. 1968, S. 3.

  10. Nach dem Stand der gegenwärtigen Forschung bewegen sich die Gesamtverluste des Judentums zwischen fünf und sieben Millionen. Dieser Völkermord war dabei „weder eine Kriegs-noch eine Terrormaßnahme". Er gründete „im biologistischen Wahnsinn der NS-Ideologie." (Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln-Berlin 1969, S. 466.)

  11. Politisches Lexikon, Sachwort „Präventivkrieg".

  12. 1966 als Flugblatt ohne Datum verbreitet.

  13. Politisches Lexikon, Sachwort „Liberalismus“.

  14. Programm der NPD.

  15. Politisches Lexikon, Sachwort „Unbelehrbar".

  16. So Bracher, a. a. O., S. 523.

  17. Vgl. Kühnl, a. a. O., S. 41 ff.

  18. Ebenda, S. 221 ff.

  19. Vgl. die Zahlen bei Maier-Bott, a. a. O., S. 12 ff.

  20. So Horst Krüger in seinem Artikel: Die falsche Gleichung. Warum klingt die Formel von den „extremen Kräften rechts und links" so faul?, in: Die Zeit, 4. 4. 1969, S. 18.

  21. Das begründet mit m. E. überzeugenden Argumenten Peter Christian Ludz: Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung, Köln und Opladen 1968, S. 12. über den Stand der Totalitarismusdiskussion informiert der von Bruno Seidel und Siegfried Jenkner herausgegebene Sammelband: Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968.

  22. Vgl.deren eindringliche Analyse durch Wolfgang Sauer, National Socialism: Totalitarism or Fascism?, in: The American Historical Review, Bd. 73, Dez. 1967, S. 409 ff. — Sauer betont mit Recht, daß die Aufgabe der Forschung darin liege, eine nichtmarxistische Theorie des Faschismus mit einer sozialökonomischen Dimension zu bilden (S. 415).

  23. David Schoenbaum, Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, Köln-Berlin 1968.

  24. Typisch dafür Reinhard Kühnl, Der Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Ein Literaturbericht, in: Politische Vierteljahresschrift, Bd. IX, Sept. 1968, S. 425 f.

  25. Vgl.dessen Buch „Totalitäre Diktatur", Stuttgart 1957, wo auf S. 19 f.sechs Wesenszüge totalitärer Diktatur zusammengefaßt werden. Für die gegenwärtige Auffassung Carl Joachim Friedrichs vgl.dessen Artikel: The Changing Theory and Practice of Totalitarism, in: II Politico 1968, S. 53- 74.

  26. Vgl. dazu bes. Gerhard Schulz, Der Begriff des Totalitarismus und der Nationalsozialismus, in: Wege der Totalitarismus-Forschung, a. a. O., bes.

  27. Bracher, a. a. O., S. 534. Die weiteren von Bracher aufgezählten Merkmale totalitärer Diktatur:

  28. Ekkehart Krippendorfs, Die Rechte in der Bundesrepublik — Zehn Thesen, in: Die Restauration entläßt ihre Kinder oder Der Erfolg der Rechten in der Bundesrepublik, hrsg. von Freimut Duve, Reinbek 1968, S. 158.

  29. Vgl. die Nachweise bei Maier-Bott, a. a. O., S. 37 f.

  30. Politisches Lexikon, Sachwort „Totalitarismus".

  31. Ebenda, Sachwort „Reeducation".

  32. Rudi Dutschke, Die Widersprüche des Spätkapitalismus, die antiautoritären Studenten und ihr Verhältnis zur Dritten Welt, in: Bergmann, Dutschke, Lefevre, Rabehl, Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, Reinbek 1968, S. 38 und S. 47.

  33. Dutschke, Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf, in: Rebellion der Studenten, a. a. O., S. 90.

  34. Ebenda, S. 93.

  35. Vgl. dazu Rene Ahlberg, Die politische Konzeption des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 20/68 vom 15. 5. 1968, S. 19.

  36. Wahlzeitung Schleswig-Holstein 1967.

  37. So der Hamburger NPD-Vorsitzende Horst Günter Schwelmer, vgl. Der Spiegel, Nr. 15 vom 4. 4. 1966, S. 31.

  38. über diese Praktiken vgl.den aufschlußreichen Artikel von Günther Gillessen, Kostproben studentischer Mitbestimmung. Manipulierte Wahlen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 5. 1969.

  39. Herbert Marcuse, Repressive Toleranz, in: Robert Paul Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse: Kritik der reinen Toleranz, 5. Ausl., Frankfurt/Main 1968, S. 94.

  40. Ebenda, S. 120.

  41. konkret, Nr. 5, Mai 1968, S. 21.

  42. Politisches Lexikon, Sachwort „Pressefreiheit".

  43. Weiter wird gefordert, daß in den kultur-und bildungspolitischen Sendungen von Funk und Fernsehen „ein ausgewogenes Verhältnis zwischen deutschem und fremden Kulturgut hergestellt" wird.

  44. Für Quellenbelege vgl. Bundesminister des Innern, Rechtsradikalismus, a. a. O., S. 8.

  45. Der Spiegel, Nr. 20 vom 13. 5. 1968, S. 42.

  46. Vgl. Karlheinz Renfordt: Das Programm „Psychoterror", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 5. 1969.

  47. Deutsche Nachrichten, Nr. 41, 13. 10. 1967, S. 3; vgl. dazu auch Nr. 28, 15. 7. 1966, S. 3.

  48. Politisches Lexikon, Sachwort „Revolution".

  49. Jürgen Habermas, Die Scheinrevolution und ihre Kinder. Sechs Thesen über Taktik, Ziele und Situationsanalysen der oppositionellen Jugend, in: Die Linke antwortet Jürgen Habermas, Frankfurt/Main, 1968, S. 13.

  50. Vgl. dazu die Beobachtungen von Erwin K. Scheuch, Soziologische Askepte der Unruhe unter den Studenten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 36/68 vom 4. 9. 1968, S. 10.

  51. Vgl. Rudolf Krämer-Badoni, Die Zweite Jugend-bewegung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 44/67 vom 1. 11. 1967, S. 7 ff.

  52. Zur Begründung dieser Aussage vgl. Gerhard A. Ritter, „Direkte Demokratie" und Rätewesen in Geschichte und Theorie, in: Erwin K. Scheuch (Hg), Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft. Eine kritische Untersuchung der „Neuen Linken" und ihrer Dogmen, Köln 1968, bes. S. 208 und S. 210 f.

  53. Anrich, a. a. O., S. 10.

  54. Ebenda, S. 12.

  55. So NPD-Präsidiumsmitglied und Richter am Bayrischen Verfassungsgericht Dr. Wolfgang Huber in seinem Grundsatzreferat über „Die freiheitlich-demokratische Grundordnung nach dem Grundgesetz und dem NPD-Programm" auf dem außerordentlichen NPD-Bundesparteitag Bayreuth/Schwabach, abgedruckt in: Deutsche Nachrichten, Nr. 10, 7. 3. 1969, S. 14 f.

  56. So Wulf-Dieter Burwitz in seinem Artikel „Zur Klärung des Begriffes . Demokratie'", in: Deutsche Nachrichten, Nr. 15, 11. 4. 1969, S. 15.

  57. So Huber a. a. O. Die juristische Grundlage dieser Auffassung ist dabei, daß eine nichtnationale Politik den Bestand der Bundesrepublik gefährde und daher die sie verfolgende Partei nach Art. 21 des Grundgesetzes verfassungswidrig sei.

  58. Grundsatzreferat Anrich, a. a. O., S. 9.

  59. Ebenda, S. 10.

  60. Vgl. Politisches Lexikon, Sachworte „Mehrheitsprinzip" und „Demokratie".

  61. NPD-Programm.

  62. Anrich, a. a. O., S. 12.

  63. Deutsche Nachrichten, Nr. 18, 30. 4. 1965, S. 3.

  64. Nach einem in Der Spiegel vom 23. 12. 1968 (S. 36) veröffentlichten Umfrageergebnis sprachen sich 69% der FDP-und CDU/CSU-Anhänger, 68% der NPD-Wähler und 67% der SPD-Anhänger für eine Wiedereinführung der Todesstrafe aus.

  65. Darauf weist Werner Kaegi in einem instruktiven Aufsatz über „Das Massenproblem in der direkten Demokratie" hin. Abgedruckt in: Masse und Demokratie, Erlenbach/Zürich und Stuttgart 1957, S. 106 f. Kaegi erwähnt als Beispiel einer derartigen Überforderung die Tatsache, daß die Stimmbürger des Kreises 7 der Stadt Zürich an einem Sonntag durch Stimmzettel vierzig Personal-und sechs Sachentscheidungen treffen mußten.

  66. Vgl. dazu vor allem die überzeugende Kritik von Ernst Fraenkel an-dem Einbau des Amtes des plebiszitär gewählten Reichspräsidenten in das parlamentarische System der Weimarer Republik: Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, in: Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, S. 103 ff.

  67. Politisches Lexikon, Sachwort „Pluralismus".

  68. Vgl. Schmidt, Ideologie, a. a. O., S. 17.

  69. Rede Adolf v, Thaddens auf dem NPD-Parteitag vom November 1967, zitiert nach Deutsche Nachrichten, Nr. 46, 17. 11, 1967, S. 11.

  70. Anrich, a. a. O., S. 10,

  71. Ebenda, S. 9.

  72. konkret, Nr. 5, Mai 1968, S. 21.

  73. Der Pluralismus in der Verteilungssphäre sei zwar — so meint Agnoli — eine Realität, verhülle aber die eigentlich entscheidende, sehr viel tiefer reichende Polarität zwischen Besitzenden und Besitzlosen, Herrschenden und Abhängigen (Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie, in: Johannes Agnoli und Peter Brückner, Die Transformation der Demokratie, Berlin 1967, S. 23).

  74. Ebenda, S. 68.

  75. J hannes Agnoli, Thesen zur Transformation der Demokratie und zur außerparlamentarischen Opposition, in: Neue Kritik, Nr. 47, April 1968, S. 26.

  76. Agnoli-Brückner, a. a. O., S. 8 f.

  77. Vgl. dazu bes. ebenda, S. 66.

  78. Ebenda, S. 78.

  79. Ebenda, S. 85.

  80. Parliamentary Government in England, A Commentary, 3. Ausl., London 1948 (1. Ausl. 1938), S. 186 ff.

  81. Agnoli-Brückner, a. a. O., S. 29 ff.

  82. Ebenda, S. 24.

  83. Praktische Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Anmerkungen zu einer Kontroverse, in: Gesellschaft, Recht und Politik, hrsg. von Heinz Maus, Neuwied und Berlin 1968, bes. S. 142 ff.

  84. Vgl. Jochen Ebmeier, Von der Einheitsfront zum Aufstand, in: Positionen, 2. Jg., Nr. 3, April 1968. „Positionen" ist eine theoretische Zeitschrift der Berliner Falken.

  85. Für die Quellenbelege zur Räteauffassung der Neuen Linken vgl. Ritter, a. a. O., bes. S. 207 ff. Seit dem Erscheinen dieses Aufsatzes sind von Seiten der Neuen Linken weitere Schriften zum Rätewesen erschienen, von denen hier Wilfried Gottschalch, Parlamentarismus und Rätedemokratie, Rotbuch 10, Berlin 1968, Erik Ertl, Alle Macht den Räten?, Frankfurt/Main 1968 sowie Bernd Rabehl, Bemerkungen zum Problem der Rätedemokratie in der hochindustrialisierten Gesellschaft (I), in: Berliner Zeitschrift für Politologie, 9. Jg., Nr. 4, Dezember 1968, S. 14 ff. erwähnt werden sollen. In diesen Veröffentlichungen wird entweder einer Auseinandersetzung mit der Kritik der Rätekonzeption völlig ausgewichen bzw. werden nur Teilaspekte dieser Kritik berührt. Eine scharfsinnige Diskussion der von den Vertretern der Räteidee bisher kaum erörterten institutionellen Implikationen des Räte-wesens enthält: Udo Bermbach, Ansatz zu einer Kritik des Rätesystems, in: Berliner Zeitschrift für Politologie, 9. Jg., Nr. 4, Dezember 1968, S. 21 ff.

  86. Vgl. „Ein Gespräch über die Zukunft" mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler, in: Kursbuch 14, hrsg. von Hans-Magnus Enzensberger, August 1968, bes. S. 164 ff.

  87. Für eine ausführliche Begründung der Kritik vgl. Ritter, a. a. O., S. 210 ff.

  88. Frank Deppe, Parlamentarismus — Parlamentarische Aktion — Sozialistische Politik, in: Neue Kritik, Nr. 44, November 1967, S. 64.

  89. Vorwort der Projektgruppe „Räte" zu: Parlamentarismusdebatte, Pannekoek, Lukäcs, Friedländer, Rudas, Berlin 1968, S. 6.

  90. Die Geschichte der totalitären Demokratie, Bd. I: Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln-Opladen 1961, S. 34 ff. und S. 89 ff.

  91. Diese bewußt an Rousseau anknüpfende Konzeption von Demokratie wird von Carl Schmitt erstmals in seinen Schriften „Politische Theologie" (1922) und „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus" (1923, 3. Ausl., Berlin 1961, S. 21 und S. 35), entwickelt. Sie ist zum Verständnis seiner politischen Theorie und seiner Verfassungskonzeption von grundlegender Bedeutung.

  92. Vgl. dazu Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’Origine de LTnegalite parmi les Hommes, in: J. J. Rousseau, Du Contrat Social ou Principes du Droit Politique, Paris, Classiques Garnier 1962, S. 26.

  93. Carl Schmitt, Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie, in: Hoch-land, Jg. 23, 1926, Bd. II, S. 263.

  94. Contrat Social, Buch II, Kap. 3.

  95. Ebenda, Buch III, Kap. 4 sowie Buch II, Kap. 4.

  96. Vgl. The Political Writings of J. J. Rousseau, ed. C. C. Vaughan, Bd. I, Cambridge 1915, S. 248.

  97. Contrat Social, Buch II, Kap. 6 und 7.

  98. So Ernst Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der Freiheitlich-Rechtsstaatlichen Demokratie, in: Verhandlungen des 45. Deutschen Juristentages Karlsruhe 1964, Bd. II Teil B, München und Berlin 1964, S. 8.

  99. Vgl. Locke's Two Treatises of Government, The Second Treatise, bes. §§ 142, 149, 155, 164, 171, 210, 221, 222, 226, 227, 231, 239, 240, 242.

  100. Vgl. dazu Ernst Fraenkel, Parlament und Öffentliche Meinung, in: Deutschland, a. a. O., S. 128.

  101. Henryk Skrzypczak, Marx, Engels, Revolution, Standortbestimmung des Marxismus der Gegenwart, Berlin 1968, S. 86.

  102. So lehnt er in einem Brief an Ferdinand Domela Nieuwenhuis vom 22. 2. 1881 jede Festlegung des revolutionären Vorgehens ab: „Sie werden mich vielleicht auf die Pariser Kommune verweisen; aber abgesehen davon, daß dies bloß Erhebung einer Stadt unter ausnahmsweisen Bedingungen war, war die Majorität der Kommune keineswegs sojzialjistisch, konnte es auch nicht sein. Mit geringem Quantum common sense hätte sie jedoch einen der ganzen Volksmasse nützlichen Kompromiß mit Versailles — das allein damals Erreichbare — erreichen können. Die Appropriation der Banque de France allein hätte der Versailler Großtuerei ein Ende mit Schrecken gemacht, etc. etc.... Die doktrinäre und notwendig phantastische Antizipation des Aktionsprogramms einer Revolution der Zukunft leitet nur ab von dem gecenwärtigen Kampf" (Marx-Engels, Werke, Bd. 35, Berlin (Ost) 1967, S. 160 f.).

  103. Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Marx-Engels Werke, Bd. 17, Berlin (Ost) 1962, S. 340.

  104. Ebenda, S. 342.

  105. Charles Fourier, Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, hrsg. von Theodor W. Adorno, eingeleitet von Elisabeth Lenk, Frankfurt/Main 1966, bes. S. 50 ff. Vgl. weiter Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage. II. Bd.: Die industrielle Gesellschaft. Der Sozialismus und Kommunismus Frankreichs von 1830 bis 1848, München 1921, bes. S. 324 ff.

  106. Vgl, Charles Rihs, La Commune de Paris. Sa Structure et ses Doctrines (1871), Geneve 1955, S. 47 ff., sowie weiter: Jean T. Joughin, The Paris Commune in French Politics, 1871— 1880. The History of the Amnesty of 1880, 2 Bde., Baltimore 1955.

  107. Vgl. Fritz Brupbacher, Marx und Bakunin, Berlin 1922, S. 114 f.

  108. Das entscheidende Verdienst an der Neuentdeckung von Auguste Blanqui für die extreme Linke hat der SDS-Theoretiker Frank Deppe, der einige der wichtigsten Schriften Blanquis unter dem Titel „Instruktionen für den Aufstand, Aufsätze, Reden, Aufrufe," Frankfurt/Main 1968, mit einer ausführlichen Einleitung in deutsch herausgegeben hat.

  109. Beim SDS-Kongreß in Hannover 1968 hing ein Bakunin-Plakat an der Wand.

  110. Zu den schärfsten Gegnern des Parlamentarismus gehörte zunächst Wilhelm Liebknecht, der in einer immer wieder neu gedruckten Rede vom 31. März 1869 eine Beteiligung der Sozialisten am Reichstag des Norddeutschen Bundes ablehnte. Die gewählten sozialistischen Abgeordneten sollten „mit einem Protest in den Reichstag eintreten und ihn dann sofort wieder verlassen" (über die politische Stellung der Sozialdemokratie, insbesondere in Bezug auf den Reichstag. Ein Vortrag, gehalten in der öffentlichen Versammlung des demokratischen Arbeitervereins zu Berlin am 31. März 1869. Neue unveränderte Auflage, Berlin 1893, S. 11 f.). Liebknecht hat später seine Auffassung revidiert und sich für die Notwendigkeit auch der konkreten Arbeit der SPD im Reichstag ausgesprochen.

  111. Vgl. dazu Hermann Weber, Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitng Das Parlament, B 2/69, vom 11. 1. 1969, S. 46 ff.

  112. Schmitt, Der Gegensatz, a. a. O., S. 258.

  113. Ebenda, S. 260.

  114. Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 2. Ausl., Neuwied/Rhein und Berlin 1965, S. 94.

  115. Ebenda, S. 111.

  116. Ebenda, S. 95.

  117. Ebenda, S. 216.

  118. Ebenda, S. 146.

  119. Ebenda, S. 215 ff.

  120. Für die Gegenwart ist die Äußerung Churchills typisch: „We are not supposed to be an assembly of gentlemen who have no interest of any kind and no associations of any kind. That is ridiculous. That might happen in Heaven, but not, happily, here" (Report, Committee of Privileges, House of Commons Papers Nr. 118 der parlamentarischen Session 1946- 47, Minutes of Evidence, S. 8).

  121. Edmund Burke, The Works, A new edition, 16 Bde., Bd. 3, London 1808, S. 21.

  122. Edmund Burke, Thoughts on the Cause of the present Discontents, in: Works, 12 Bde., London 1887, Bd. 1, S. 530 f.

  123. Vgl. die Rede von Dr. Wörner (CDU/CSU) in der Bundestagsdebatte über Parlamentsreform vom 27. 3. 1969, Deutscher Bundestag, 225. Sitzung, S. 12369 ff.

  124. So Fraenkel, in: Der Pluralismus, a. a. O., S. 5.

  125. Vgl. dazu die treffenden Bemerkungen von Manfred Hättich, Demokratie und Demokratismus — zum Demokratieverständnis der Neuen Linken, in: Scheuch (Hg.), Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft, a. a. O., S. 125.

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Professor Dr. Gerhard A. Ritter ist Ordinarius für Neuere Geschichte in Münster.