Die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik ist in den letzten Jahren — vor allem seit der vorübergehenden Wirtschaftsrezession 1966/67 und der Bildung der Großen Koalition Ende 1966 — von Seiten extremer Kräfte auf der Rechten und der Linken zunehmend in Frage gestellt bzw. radikal angegriffen worden. Die vorliegende Untersuchung will die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten der dieser Kritik zugrunde liegenden Denk-und Verhaltensweisen herausarbeiten und dabei insbesondere das im Zentrum dieser Ideologien liegende Verständnis von Demokratie, Parlamentarismus und Pluralismus analysieren.
Dabei soll die Untersuchung sich einerseits auf die NPD, andererseits auf die Neue Linke beschränken; auf die organisatorisch und auch ideologisch sehr heterogenen gesellschaftlichen Gruppierungen der Neuen Linken aber nur insoweit, als sie die gegenwärtige Verfassung und Rechtsordnung für nicht legitimiert halten und zu deren Beseitigung die Anwendung nichtrechtsstaatlicher, undemokratischer Mittel — u. a. auch Gewalt durch eine „revolutionäre Elite" — als grundsätzlich gerechtfertigt ansehen. Damit gehören also bewußt nicht zum Gegenstand der Untersuchung jene links von der SPD stehenden, sich selbst auch häufig zur Neuen Linken zählenden Kräfte, die unter Ausschöpfung aller legalen, auch außerparlamentarischen Mittel auf demokratischem Wege, also u. a. durch Gewinnung einer Mehrheit, ein radikales Reformprogramm durchsetzen wollen, selbst wenn dieses die Ersetzung der kapitalistischen durch eine sozialistische Gesellschafts-und Wirtschaftsordnung zum Ziel hat.
Während die Neue Linke — jedoch nicht die Ende 1968 konstituierte Deutsche Kommunistische Partei — ihre Ziele offen darlegt, verhüllt die NPD in zunehmendem Maße ihre letz-ten Ziele, um bei den Wählern respektabler zu werden und einem Verbot durch das Bundesverfassungsgericht zu entgehen.
Die Berechtigung eines Vergleichs dieser beiden Gruppen — vor allem in bezug auf ihre Kritik am Parlamentarismus und Pluralismus — kann sich erst im Fortgang der Untersuchung erweisen.
I. Rechts gleich links?
Ein solcher Vergleich muß von der Existenz wesentlicher Unterschiede im Denken der links-und rechtsradikalen Kritiker ausgehen.
1. Während die Linken — zumindest ihrer Zielsetzung nach — primär vom Einzelmenschen und seiner Freiheit ausgehen, ist für die NPD die Gemeinschaft, das Volk, die Nation transzendental überhöht, vorgegeben und dem einzelnen übergeordnet. Die Partei vertritt eine organische Auffassung von Geschichte, besitzt einen biologistisch begründeten Volks-begriff und gewährt rassistischen Ideen — den Traditionen des deutschen Rechtsradikalismus folgend — Eingang in ihr Denken. Der Chefideologe der Partei, Ernst Anrich, einst NS-Historiker in Straßburg und Reichsschulungsleiter beim NS-Studentenbund, jetzt Leiter der Abteilung für politische Bildung beim Vorstand und Mitglied des Präsidiums der NPD, hat in einem für die Weltanschauung der NPD höchst kennzeichnenden Grundsatzreferat auf deren zweitem Parteitag in Karlsruhe 1966 insbesondere völkisch-rassistische Ideen eindeutig vertreten:
„Die Gemeinschaft ist vor dem einzelnen da, der Mensch lebt in einem Teil seines Wesens aus ihr . .. Nicht Buchen sind vor der nächsten Buche und waren vor der ersten da, sondern: Die Artkraft, Buche sein zu können, der Keim, aus dem sich Buchen entfalten, war das erste."
Geschichte wird nach Anrich im wesentlichen von der Begegnung, Bekämpfung, Durchdringung und Absonderung der Rassen bestimmt. Das Volk ist ein „biologischer Organismus besonderer Artung und Keimkraft", seine „eigentümliche Artkraft" ist das „Volkstum"
Im Gegensatz zu dieser die „Natur" des Menschen betonenden Ideologie sehen die Linken den Menschen als vor allem durch seine Geschichte und seine Umwelt, besonders aber durch die ökonomischen Bedingungen seiner Existenz geprägt und daher durch strukturelle Veränderungen und bewußte Erziehung wandelbar an. 2. Diesem Denkansatz entsprechend fehlt auf Seiten der Linken — trotz aller an der Haltung der kommunistischen Staaten orientierten Kritik an dem angeblichen Imperialismus der Israelis gegen ihre arabischen Nachbarstaaten — der Antisemitismus, der in der NPD eine, wenn auch von der Parteiführung aus Opportunitätsgründen zurückgedrängte, unterschwellige Strömung ausmacht. Typisch dafür ist etwa die Äußerung, daß der Antisemitismus der nationalsozialistischen Ära auf dem Verdacht beruht habe, „daß das russische Judentum sowie jüdische Bankhäuser in Amerika bei der Entstehung des Bolschewismus eine entscheidende Rolle gespielt hätten", oder daß der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg „auf das Wirken bestimmter antifaschistischer und antigermanjstischer Juden" zurückzuführen sei
Solche Südenbocktheorien gibt es kaum auf seifen der Neuen Linken, insofern sie gesellschaftlich-strukturelle Ursachen für Mißstände verantwortlich macht und ihre Veränderung fordert. Jedoch finden sich bei ihren weniger reflektierenden Vertretern Tendenzen, die Kritik an bestimmten Erscheinungsformen unserer Gesellschaft, wie der Pressekonzentration, zu personalisieren und einzelne, wie Springer oder die die radikalen Studenten angeblich im entscheidenden Moment verratenden „Scheinliberalen" Professoren, als Objekte für Aggressionen aufzubauen.
4. Völlig fehlen dagegen auf seifen der Neuen Linken der aggressive und expansive Nationalismus und der Mythos vom Reich
5. Ein weiterer wesentlicher Unterschied in der Ideologie liegt in dem an die autoritären und staatsverherrlichenden Traditionen bewußt anknüpfenden überhöhten Staatsbegriff der NPD. Dagegen ist für die Linksradikalen der Staat durch die historisch wechselnden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, insbesondere durch die Klassensituation bedingt. Im Gegensatz zu der Betonung der Notwendigkeit von Befehlsgewalt, Herrschaft und Autorität als der Kennzeichen jedes Staates durch die NPD geht es in der Zielvorstellung der radikalen Linken um die Schaffung einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Die Konzeption der Linken enthält hier ein den Traditionen der Aufklärung verpflichtetes humanes Moment, das dem Denken der Rechten abgeht. 6. Es fehlt auf selten der radikalen Linken der für die NPD typische Appell an traditionelle, kleinbürgerliche und mittelbürgerliche Tugenden wie Ordnung, Sauberkeit, Zucht und „anständige" Sexualmoral. Bei den Linksradikalen können dagegen Obszönitäten, da sie angeblich eine emanzipatorische Wirkung haben, zum politischen Vorgehen gehören. 7. Völlig verschieden interpretieren die hier verglichenen beiden Gruppen die deutsche Geschichte, besonders auch die des Nationalsozialismus. Während die Linke die klare Verurteilung des Nationalsozialismus durch die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik teilt, wobei sie allerdings den Aufstieg des Nationalsozialismus einseitig aus der Krise des Spätkapitalismus interpretiert, versucht die NPD durch eine angeblich „wertfreie" Darstellung, durch Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen, durch ihre Erklärung als Verfälschung richtiger Grundideen sowie durch die Aufrechnung deutscher Fehler mit den Sünden anderer Nationen die Politik der Jahre 1933 bis 1945 weitgehend zu rechtfertigen und die Kritik an der eigenen Vergangenheit als Produkt der reeducation zu denunzieren.
Der Nationalsozialismus erscheint als die nach dem Versagen aller demokratischen Parteien realpolitisch einzige Alternative zum Kommunismus: „Adolf Hitler oder Ernst Thälmann. Eine andere Möglichkeit existierte überhaupt nicht."
Besonders wichtig ist der NPD der Versuch, im Gegensatz zu den gesicherten Ergebnissen der Geschichtswissenschaft nachzuweisen, daß die Alliierten die Haupt-bzw. die Alleinschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges trügen: „Der Krieg gegen Polen 1939 war Verteidigungskrieg."
Besonders deutlich wird der Unterschied der Wirtschaftskonzeptionen in der Haltung zu den Gewerkschaften. Während die Linksradikalen unter Kritik der Tendenzen zur Zusammenarbeit mit den Unternehmern für bewußt klassenkämpferische Gewerkschaften plädieren, nimmt die NPD eine deutlich antigewerkschaftliche Position ein. Die Ansicht, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer „grundsätzlich in getrennten Organisationen stehen" müssen, wird als „ewig gestrig" kritisiert
Es würde zu weit gehen, hier die Differenzen der äußersten Linken und der NPD in der Stellungnahme zu konkreten politischen Problemen, die sich etwa in der Haltung zum Kommunismus, zu faschistischen Regimen und zur Agrarfrage zeigen ließen, im einzelnen aufzuführen und auf ihren ideologischen Gehalt hin zu untersuchen.
Auch in der inneren Organisation zeigen sich wesentliche Unterschiede. Die Neue Linke ist, im Gegensatz zu der eindeutig von der Partei-spitze beherrschten Kommunistischen Partei der späteren Jahre der Weimarer Republik, vor allem auf Grund der in ihr wirkenden starken anarchistischen Elemente vielfach zersplittert. Auch die zur Neuen Linken zu zählenden einzelnen Organisationen zerfallen häufig in sich bekämpfende Gruppen oder weitgehend autonome lokale Zweigorganisationen, die nur in gewissen gemeinsamen Aktionen von Zeit zu Zeit zusammenfinden. Dagegen ist die NPD, in der die Kader der alten Deutschen Reichspailei (DRP) das Rückgrat bilden, straff von der eindeutig dominierenden Zentrale her organisiert. Hinter der „demokratischen Fassade"
Parallel dazu läuft eine gewisse Wiederbelebung der Erklärung des Faschismus als eines Ausdrucks der Agonie des Spätkapitalismus, d. h. als eines bewußten Versuchs monopol-kapitalistischer Kräfte, die auf Demokratisierung und Sozialisierung drängenden Tendenzen einzudämmen. Der mögliche Nutzen dieser Analyse liegt darin, daß sie im Gegensatz zum Totalitarismuskonzept oder der Erklärung faschistischer Diktaturen aus der Geistesgeschichte und der politischen Struktur der einzelnen Staaten oder der Persönlichkeiten ihrer jeweiligen Führer eine umfassende sozialökonomische Begründung liefert. Die Schwäche dieser Konzeption
Anhängern dieser Theorie behauptet wird
II. Gemeinsamer Chiliasmus
Der folgende Versuch zur Herausarbeitung der Ähnlichkeiten der Ideologie und der Praktiken der Neuen Linken mit gegenwärtigen oder traditionellen rechtsextremen Ideen und Verhaltensweisen wird immer wieder derartige totalitäre Komponenten berühren, ohne sich jedoch auf sie zu beschränken. Worin liegen nun derartige Parallelen?
1. Entscheidend ist der gemeinsame Ausgangspunkt: der Anspruch, die objektive, ausschließliche und absolute Wahrheit zu besitzen, die nur allgemein erkannt und verwirklicht werden muß, um den paradiesischen Zustand einer dem Menschen vorausbestimmten, vollkommenen und konfliktfreien Gesellschaft herbeizuführen. Nach Ekkehart Krippendorff, der eine führende Rolle in der Außerparlamentarischen Opposition Berlins spielt, hat die Linke, „und zwar auch noch die extremste Linke . . ., immer das Element der historischen Wahrheit für sich", während die Rechte, „und zwar auch die nur gemäßigte Rechte, das Element der Unwahrheit und des Unrechts" repräsentiert
3. Das Problem, vor dem die extremen Kräfte angesichts dieser Situation für die Einleitung des Transformationsprozesses zu der von ihnen angestrebten Ordnung stehen, ist das der Umformung des „falschen" Bewußtseins der so manipulierten Massen. Auf seifen der Neuen Linken — wie früher auf der der extremen Rechten — wird daraus die Berechtigung zur Führung der Massen durch revolutionäre Eliten und — ansatzweise — das Recht zur Erziehungsdiktatur abgeleitet. Nach Auffassung Rudi Dutschkes kann sich das Proletariat als politisch wirksame Klasse, als revolutionäre Kraft erst im bewußten Klassenkampf bilden; andererseits setzt aber ein derartiger Klassenkampf dieses richtige Bewußtsein bereits voraus. Die Initialzündung zur Einleitung des revolutionären Prozesses und damit zur „massenhaften Veränderung der Menschen" muß daher die revolutionäre Elite geben, die durch Aufklärung und Aktion das Proletariat aus seiner Lethargie reißt
Elitäres Bewußtsein, z. T. mit derselben, eine Revolution rechtfertigenden Konsequenz, findet sich auch auf selten der NPD, die sich als „Aufstand der Mündigen"
Intoleranz und Einschränkung der Freiheit Andersdenkender ist selbstverständlich nicht nur Kennzeichen der alten kommunistischen und der Neuen Linken, sondern historisch auch ein typischer Bestandteil rechtsextremer Ideologien. Die NPD ist in diesem Punkt vorsichtiger. Immerhin bedauert sie, daß unter den „falschen Parolen der . Informationspflicht'und Unteilbarkeit der Pressefreiheit'fortgesetzte Attentate bestimmter Presseorgane auf Anstand und Menschenwürde, Geheimhaltung und nationale Solidarität" erfolgen, „die auf die Dauer kein Staat und keine politische Öffentlichkeit ohne Gegenwehr hinnehmen kann"
In der NPD wird das Recht ebenfalls historisiert. Relativierender Bezugspunkt und Basis der Kritik sind hier das „Volkstum und seine Gemeinschaft". Die nach dieser Auffassung bestehenden elementaren Störungen zwischen Volk und Recht würden die „gesamte innere Ordnung" gefährden und „eine Neuformulierung des Rechts des Ganzen über den einzelnen und seine Gruppenbildung" erforderlich machen
Wenn auch mit sehr verschiedenen Inhalten, findet sich links wie rechts das Bemühen, den tatsächlich immer bestehenden Bezug von Recht auf historische und soziale Situationen — aus denen es entsteht und auf die es einwirkt — nicht nur kritisch zu analysieren, sondern zu verabsolutisieren und als Basis der Berechtigung zu benutzen, dem gesetzten Recht Geltung und einen über den Dienst an einzelnen Partikularinteressen hinausgehenden Sinn abzusprechen. 7. Eng mit dieser Mißachtung des Rechts hängt zusammen die grundsätzliche Rechtfertigung der Anwendung von Gewalt gegen als „Feinde" verstandene politische Gegner durch die Nationalsozialisten und die Neue Linke. Die vielfach versuchte Differenzierung zwischen der Gewalt gegen Menschen, die abzulehnen, und gegen Sachen, die berechtigt sei, ist dabei wenig überzeugend, da ja Sachen durch Menschen — z. B. Eigentümer und Polizisten — geschützt werden. Tatsächlich hat Dutschke im Fernsehen am 3. Dezember 1967 zugegeben, daß er für seine revolutionären Ziele notfalls auch mit der Waffe in der Hand eintreten werde; und der Berliner Anwalt der Außerparlamentarischen Opposition, Horst Mahler, äußerte anläßlich des Todes des im Zusammenhang mit den Osterunruhen 1968 umgekommenen Münchner Pressefotografen Frings: „Wir mußten von vornherein mit solchen Unfällen rechnen. Es hat keinen Sinn, mit menschlichen Argumenten zu kommen . . . Das ist genauso, wie wenn ich mich an das Steuer eines Autos setze und damit rechnen muß, daß ein Reifen platzt."
In der Ausgabe von „konkret" vom Juni 1968 werden von einem aus Rudi Dutschke, Hans Magnus Enzensberger, Jürgen Horlemann, Bahman Nirumand, Gaston Salvatore, Michael Schneider und Eckhard Siepmann bestehenden Redaktionskollektiv die Notwendigkeit der Gewalt, die ohnehin wesensmäßig zum Kapitalismus gehöre, unterstrichen und die Bedingungen ihrer Anwendung formuliert. Angestrebt wird dabei, durch ständige Provokation die manipulative — nicht offene — Gewalt der Herrschenden in offene Gewalt zurückzuverwandeln und damit die Befreiung der Gewalt der Unterdrückten zu bewirken.
Das letzte Beispiel der Anwendung von Gewaltmethoden von Seiten der Neuen Linken ist der „Psychoterror", der an verschiedenen Universitäten der Bundesrepublik gegen diejenigen Dozenten angewandt wird, die die Namen der an rechtswidrigen Handlungen beteiligten Studenten dem Rektor melden
In offiziellen Erklärungen der NPD findet sich bisher keine Befürwortung der Anwendung von Gewalt innerhalb der Bundesrepublik, wenn auch einige Äußerungen von Anrich in diese Richtung deuten. Der politische Terror wird aber keineswegs grundsätzlich für demokratische Rechtsstaaten abgelehnt, sondern offensichtlich nationalen Minderheiten als Recht zugebilligt. So kritisiert die Parteizeitung „Deutsche Nachrichten" die Verurteilung der Broschüre eines Südtiroler Terroristen durch die Strafkammer des Landgerichts München II, weil der Autor vernünftige Gründe angegeben habe, warum Demonstrationssprengstoffanschläge nötig und moralisch gerechtfertigt seien
9. Die radikalen Gruppen mit den für sie oft charakteristischen engen Beziehungen zwischen den Mitgliedern, die häufig die primären Bindungen an die Familie verloren haben, werden für diese nicht selten zu einem Gemeinschaftsersatz
Bei der NPD konkretisiert sich diese Reaktion in antimodernistischer Kritik, in spezifisch mit-telständischen Verhaltensweisen und in der Orientierung an Wertsystemen der Vergangenheit wie Volk, Rasse und Nation; bei der Neuen Linken führt diese Kulturkritik zur Verherrlichung des in direkter Aktion zu findenden Gemeinschaftserlebnisses, zur Partisanen-romantik sowie schließlich zur Forderung nach einer Rätedemokratie; deren Verwirklichung würde notvzendig die Voraussetzungen für das Funktionieren einer modernen Industriegesellschaft sowohl in kapitalistischen als auch gerade in den auf zentrale Wirtschaftsplanung und Kontrolle noch stärker zugeschnittenen sozialistischen Staaten beseitigen
III. Staatsautorität kontra Parteienstaat
Eine weitere, sehr wesentliche Parallele zwischen dem Links-und Rechtsradikalismus liegt in der von der Kritik am Liberalismus bestimmten Haltung zum Parlamentarismus und Pluralismus. Die NPD, die sich in ihren offiziellen Erklärungen immer wieder zur Demokratie bekennt, geht dabei von einem äußerst ambivalenten Demokratiebegriff aus. Einerseits wendet sich Anrich in seinem bereits erwähnten, für die Parteiideologie grundlegenden Referat auf dem Karlsruher Parteitag 1966 gegen eine „sogenannte Demokratie, in der das Volk als Addition der einzelnen Individuen nur als Gesellschaft aufgefaßt wird und die Volkssouveränität nicht aus der Hoheit des Volkstums und der Volksgemeinschaft verstanden, sondern mit der Souveränität einer Menge verwechselt wird"
Andererseits wird in neueren Erklärungen der Partei immer wieder betont, daß die Demokratie lediglich ein „Verfahren zur Durchsetzung des Mehrheitswillens"
In engem Zusammenhang mit diesem zwiespältigen Demokratiebegriff steht die Überhöhung des Staates, der nach Anrich „eine Urform des Lebens" darstellt. „Der Staat muß eine Befehlsgewalt über die einzelnen Menschen und über die gesamte Menge der jeweils augenblicklich lebenden Menschen haben. Eine echte Befehls-und Einordnungsgewalt muß aus einer echten Befugnis dazu, das heißt aus einer Hoheit kommen. Der Staat, der in seinem Wesen ausschließlich die zum Handeln herausgetretene Ganzheitskraft von Volkstum und Volk ist, hat eine solche Befehlsgewalt. Sie kommt ihm von diesem Wesen aus zu. Denn er hat aus ihm eine echte Souveränität über die einzelnen, über die Menge, über die Generationen. Eine Souveränität, die eben nicht aus einem aus praktischer Überlegung kommenden Beschluß der einzelnen kommt, von ihren individuellen Rechten einige auf den Staat — kündbar — zu übertragen (zu delegieren), sondern eine Souveränität, die vor ihnen und ihren Rechten und Beschlüssen da ist ... Der Staat ist höher als der Mensch und als die Menge der augenblicklich lebenden Menschen, er hat Souveränität über sie, denn er vertritt das Ganze des Volkes ..."
Hinter der Haltung der NPD zu Staat und Demokratie steht eine verfassungspolitische Konzeption, die von der Ablehnung der bestehenden parlamentarischen Repräsentativverfassung geprägt ist: Die NPD möchte an die Stelle des bestehenden parlamentarischen Systems der Bundesrepublik eine weitgehend plebiszitär geprägte „Volksdemokratie" setzen. Im einzelnen wird die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid als „Ausdruck wirklicher Volkssouveränität'', die Volkswahl des Bundespräsidenten und die Stärkung seiner Rechte gefordert
in den von Zeit zu Zeit von Hitler nach 1933 verordneten Plebisziten zur Bestätigung seiner Politik eine echte demokratische Legitimation des nationalsozialistischen Staates erblickt
Diejenigen, die heute von links die Forderung nach Stärkung der plebiszitären Elemente in unserem politischen System erheben, sollten sich darüber klar sein, daß die europäische Geschichte von Napoleon I. über Napoleon III. und Hindenburg bis zu de Gaulle und der das Frauenwahlrecht noch immer ausschließenden Schweiz die überwiegend konservative, z. T. aber auch emotionalisierende Wirkung der Verfassungsinstitutionen des Volksentscheids und der Direktwahl des Staatsoberhaupts erwiesen hat und z. B. die von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung geforderte Wiedereinführung der Todesstrafe eine der ersten Konsequenzen ihrer Aufnahme in das Grundgesetz der Bundesrepublik sein dürfte
In der Weimarer Republik gab z. B. das Volksbegehren gegen den Youngplan 1929 der NSDAP die resolut genutzte Chance, ihre politische Isolierung zu durchbrechen und sich durch ihre hemmungslose Demagogie in den Vordergrund zu spielen. Auch das vielfach zur Rechtfertigung der direkten Demokratie herangezogene Argument, daß sie zur Verbesserung der politischen Bildung und zur stärkeren Anteilnahme der Bürger an politischen Fragen führe, ist nicht unbedingt überzeugend. Vielmehr kann die Überforderung der Wähler gerade zur politischen Apathie führen
Weiterhin wäre ein direkt vom Volke gewählter Bundespräsident für eine parlamentarische Demokratie nicht nur systemwidrig
Neben dem offenen oder unterschwelligen Antiparlamentarismus ist im Aufgreifen traditioneller und besonders in der Weimarer Republik aktueller Stereotypen der politischen Rechten ein scharfer Antipluralismus ein typisches Kennzeichen der NPD. Der Pluralismus würde den „Liberalismus weiter bis an die Grenzen des Anarchismus" führen. Er habe eine „staatsnegierende Tendenz" und kenne ebenso wie der Liberalismus „keine Wertung oder Einstufung der verschiedenen Gruppen nach ihrer Lebensnotwendigkeit und Leistung für die Gemeinschaft, da er von keiner Werte setzenden Lebensordnung ausgeht"
Tatsächlich bedeutet das eine völlige Verzerrung der Wirklichkeit und der modernen Theorie der als Gegensatz zu totalitären Systemen verstandenen pluralistischen Gesellschaft, nach der die verschiedenen Gruppen im Rahmen eines als verbindlich anerkannten Verfassungssystems und einiger weniger ihm zugrunde liegender Normen und Spielregeln in Konflikt und Kooperation agieren. Der Antipluralismus wendet sich zunächst gegen die bestehenden Parteien, die als „Kartellparteien, Monopolparteien oder Lizenzparteien" verketzert werden
Wiedergeburt der deutschen Nation". Sie habe „einen geschichtlichen Auftrag zu erfüllen, dessen Maßstäbe weit über jedes Parteigezänk hinausgehen"
Im Gegensatz zu der grundsätzlichen Ablehnung des Einflusses von Interessengruppen und Lobbyisten ist die Ablehnung der Parteien, an denen vor allem konkrete Mißstände kritisiert werden, verdeckter. Ähnlich wie in ihrer Haltung zur Demokratie tendiert die NPD unter Ignorierung der Realitäten des politischen Lebens dazu, die Parteien an sie überfordernden puristischen Maßstäben zu messen, um sie dann wegen der Nichterfüllung dieser Maßstäbe als vom breiten Volk nicht getragene Vertreter selbstsüchtiger Interessen zu denunzieren. Hinter dieser Kritik von Parteien und Interessengruppen steht allerdings nicht nur völkische Gemeinschaftsideologie, sondern auch die im deutschen Konservatismus traditionell vorherrschende Auffassung des Staates als eines von Parteiinteressen losgelösten Wahrers eines fiktiven Gemeinwohls.
IV. Idealbild: direkte Demokratie
Die linksradikale Kritik am Verfassungssystem der Bundesrepublik und dem anderer westlicher Staaten geht von der Vorstellung aus, daß sich, wie es Dutschke formuliert hat, „Demokratie und Kapitalismus . . . per definitionem" ausschließen
Ein verbindendes Element aller radikalen Gruppen der Neuen Linken ist die grundsätzliche Verurteilung der parlamentarischen Repräsentativverfassung. Die Grundlage der Parlamentarismuskritik der Neuen Linken bildet Johannes Agnolis Abhandlung über „Die Transformation der Demokratie", eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der politisch-gesellschaftlichen Ordnung moderner westlicher Industrienationen. Agnoli geht dabei von der weitgehend richtigen Beobachtung des geringen politischen Interesses weiter Bevölkerungsgruppen, des Machtverlustes des Parlaments gegenüber der Exekutive und der Abgeordneten gegenüber den Fraktionsführungen, den Oligarchisie-B rungstendenzen in den Parteien sowie der Durchorganisation der Gesellschaft durch das enge Zusammenwirken von Staat und Interessengruppen aus. Der die Struktur der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft entscheidend prägende, wenn auch verhüllte Klassen-gegensatz
Die «Thesen Agnolis sind m. E. aus folgenden Gründen fragwürdig:
1. Die Annahme eines eindeutig klassengesellschaftlichen Grundantagonismus westlicher Gesellschaften, der auf dem Eigentum, der Verfügungsgewalt und dem Wissen weniger einerseits und der Abhängigkeit der Massen andererseits beruht
2. Agnolis Kritik am Machtverlust des Parlaments liegt als Leitmodell die Trennung zwischen kontrollierender Legislative und zu kontrollierender Exekutive zugrunde
4. Die von Agnoli geforderte „Fundamentalopposition" unterscheidet sich von Bestrebungen zu nur partiellen Veränderungen des Systems dadurch, daß sie die Aufhebung der kapitalistischen Wirtschaftsstruktur betreibt. Im Gegensatz zu Agnolis Auffassung
5. Das konkrete Problem, vor dem Agnoli steht, ist so auch nicht das der möglichen Anwendung von Gewalt zur Verhinderung einer von der Mehrheit gewünschten Änderung des Systems, sondern die Tatsache, daß die Masse ihre „wahren" Interessen nicht erkenne und die Bestrebungen der Fundamentalopposition nicht unterstütze. Agnoli erklärt das mit derem „falschen", manipulierten Bewußtsein, ohne allerdings nachzuweisen, wie das nach seiner Meinung ständig gegen die vitalen Interessen der überwältigenden Mehrheit der Abhängigen und Ausgebeuteten verstoßende System ohne Zwang, Zensur und Terror erhalten bleiben kann. Integration und Anpassung heißt ja nicht nur „einkaufen" der sich angleichenden Betroffenen, sondern auch Veränderung des Systems, das auf die Bedürfnisse und Wünsche dieser Rücksicht nehmen muß, und sei es nur aus Gründen der Selbsterhaltung. Da aber der empirisch nachweisbare Volkswille für Agnoli manipuliert und damit verfälscht ist, kann er im Namen des eigentlichen revolutionären Volkswillens, der im Wechselverhältnis von Massenspontaneität und Gegenmanipulation (nicht aber etwa: Aufklärung!) erst noch zu sich selbst kommen muß, souverän mißachtet werden. Das bedeutet jedoch, daß nicht die Massen selbst über ihre Wünsche und Interessen entscheiden, sondern eine offenbar im alleinigen Besitz der absoluten Wahrheit befindliche revolutionäre Elite, die zur Desintegration des politischen Systems und zur Revolutionierung der Massen auch die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit und der Verfassung ignorieren und Gewalt anwenden kann
7. Agnolis Kritik an der gegenwärtigen Ordnung ist von der Auffassung der Politik als eines Freund-Feind-Verhältnisses, eines erbitterten und kompromißlosen Kampfes zwischen miteinander nicht zu vereinbarenden Gegensätzen bestimmt. Von dieser Position aus kritisiert er an Parlamentarismus und Pluralismus gerade das, was auch als ihre tiefere Rechtfertigung angesehen werden kann: die Entbrutalisierung des politischen Kampfes und der geregelte Ausgleich politischer und sozialer Gegensätze durch Kompromiß im Rahmen einer Rechtsordnung und unter Anerkennung der dem System zugrunde liegenden politischen Verhaltensregeln.
8. Agnoli selbst zeigt keine Alternative zu dem von ihm kritisierten politischen System auf. Er ist also offensichtlich der Auffassung, daß eine revolutionäre Änderung der Produktions-und Eigentumsverhältnisse diese neue Ordnung, in der die Massen unmittelbarer am politischen Prozeß beteiligt sind, von selbst herstellen würde. Damit entfällt die Möglichkeit, rational zu erörtern, ob die angestrebte neue Ordnung durchführbar und besser ist als die kritisierte alte.
Es fehlt auch jeder Hinweis darauf, ob die sozialistische Revolution die Kopernikanische Wende darstellt, die den innenpolitischen Kampf aufhebt und zur konfliktlosen Gesellschaft führt oder ob der Widerstand gegen sich ständig neu herausbildende Hierarchien die permanente Revolution notwendig macht.
Auf selten der Neuen Linken werden im wesentlichen zwei alternative Modelle zur parlamentarischen Demokratie angeboten. Bei dem einen handelt es sich um die in der Übernahme nur wenig modifizierte Leninsche Konzeption einer Diktatur des Proletariats, das seinerseits von einer elitären Kaderpartei — den Kommunisten — geführt wird. Auch Vertreter dieser, an der traditionellen Politik der kommunistischen Parteien Europas orientierten Richtung können sich für Räte einsetzen; diese sind dann jedoch faktisch nur als Mittel zur Revolutionierung der Massen vor der Revolution, nach dem Sieg der Revolution aber als Instrumente zur Manipulation der Arbeiter und anderen Staatsbürger durch die ein Monopol der politischen Macht beanspruchende kommunistische Partei gedacht
Die größere antiautoritäre Gruppe der Neuen Linken — die von anarchistischen Vorstellungen wesentlich beeinflußt ist — tritt für ein System unmittelbarer, direkter Demokratie ein und fordert neben dem Nahziel der Stärkung der plebiszitären Elemente des politischen Systems der Bundesrepublik die schließliche Ersetzung der parlamentarischen Demokratie durch eine in Kommunen organisierte so-genannteRätedemokratie
Die Organisation der übergeordneten politischen Einheiten erfolgt, sofern diese nicht ganz aufgehoben werden, durch ein System mehrfacher indirekter Wahlen, wobei jeweils die Räte der tieferen Stufe einige ihrer ebenfalls auftragsgebundenen Mitglieder in das nächsthöhere Räteorgan delegieren. So wählen etwa die Kommuneräte den Stadtbezirksrat, die Stadtbezirksräte den Stadtrat, die Städträte und Kreisräte den Provinzialrat, die verschiedenen Provinzialräte den Länderrat und die Länderräte schließlich den Nationalrat. Es ist leicht nachweisbar, daß eine derartige, ihrem Anspruch nach überparteiliche Organisation demokratischer Selbstregierung, deren Verwirklichung trotz immer erneuter Versuche bisher regelmäßig scheiterte, nicht funktionsfähig ist, da sie erfahrungsgemäß von Parteien mediatisiert wird und die Probleme der zentralen Planung und Kontrolle der Wirtschaft ohne Hilfe von Staats-oder Parteibürokratien auch und gerade in einem sozialistischen Staat nicht gelöst werden können. Zudem ist sie nicht wünschenswert, da das System der mehrfach gefilterten indirekten Wahl der Vertreter der höheren Regierungsorgane und die unter den Bedingungen moderner, hochindustrialisierter Gesellschaften notwendig zur Konzentration der Macht bei Einzelpersonen führende Übernahme von Exekutivfunktionen die politische Mitwirkung des Volkes eher schwächen als stärken, die Ausschaltung von Parteien und Interessenverbänden sowie die Aufhebung der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Justiz den Schutz von Minderheiten und die Sicherung individueller Freiheitsrechte beseitigen und zudem ständig die Gefahr des Umschlags der Rätedemokratie in die Diktatur einer durch manipulierte Akklamationen bestätigten Minderheit bestehen würde
Noch nicht endgültig ausdiskutiert innerhalb der Neuen Linken ist die Frage, ob man sich trotz der grundsätzlichen Kritik am Parlamentarismus an Parlamentswahlen beteiligen soll. Während der SDS-Theoretiker Frank Deppe dafür plädiert, die Tribüne des Parlaments zur Entschleierung des Klassencharakters der Regierungsentscheidungen auszunutzen und damit den „Einfluß auf die Mobilisierung von Teilen der Werktätigen zu außerparlamentarischen Aktionen entscheidend" zu erweitern
V. Auf der Suche nach der Identität
Wie ist nun dieser auf der radikalen Linken und der radikalen Rechten so ähnliche Antiparlamentarismus und Antipluralismus historisch zu erklären?
Der beiden Richtungen zugrunde liegende totalitäre Ansatz fußt auf der Ignorierung des subjektiven, empirisch durch Wahlen, Abstimmungen und Befragungen feststellbaren Willens der Menschen, also ihrer eigenen Einschätzung des politisch Wünschbaren zugunsten eines absolut gesetzten, angeblich objektiv richtigen Gesellschaftsmodells, das durch den als Vertreter der „wahren" Interessen der Massen angesehenen Führer oder durch die Elite der Aufgeklärten verwirklicht werden soll.
Diese Auffassung geht, wie J. L. Talmon in seinem für ein Verständnis der historischen Herkunft rechts-und linksradikaler Ideologien der Gegenwart grundlegenden Werk über „Die Geschichte der totalitären Demokratie" überzeugend nachgewiesen hat, letztlich in wesentlichen Punkten auf den französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau und die seine Ideen teilweise aufgreifenden Jakobiner in der Französischen Revolution zurück
Rousseau verkennt nicht, daß die Summe der Einzelwillen der Bürger (volonte de tous) nicht mit der volonte generale — dem ideellen, am Gemeinwohl ausgerichteten Gemeinwillen — übereinzustimmen braucht. Das könne sogar zunächst gar nicht der Fall sein, da der von Natur aus gute und in seinen Handlungen am Gemeinwohl orientierte Mensch durch den Staat und die Zivilisation verdorben worden sei. Erst eine Veränderung seines am Eigeninteresse ausgerichteten „falschen" Bewußtseins durch Erziehung könne den in jedem Menschen angelegten Gemeinwillen wieder freilegen
und damit den für die von der volonte generale gelenkte, wahre Republik notwendigen „neuen" Menschen schaffen. Da derart gute, am Gemeinwohl orientierte Menschen jedoch erst ein Produkt der neuen Republik sein können, andererseits diese aber zu ihrem Bestehen jene bereits voraussetzt, kann die Initialzündung zu ihrer Entstehung nicht aus der Republik selbst kommen. Rousseau sieht daher einen weisen, von außen kommenden „lgislateur" als Erziehungsdiktator vor, dessen Gesetzen sich das Volk aus Einsicht freiwillig beugt
In der quasi-religiösen Begründung der Aufgabe politischer Gemeinschaften, in der Abwertung des empirisch feststellbaren gegenüber dem „wahren" Volkswillen — der volonte generale —, in der Rechtfertigung der Erziehungsdiktatur zur Beseitigung des „falschen" Bewußtseins und zur Schaffung des „neuen" Menschen sowie im Antiparlamentarismus und Antipluralismus finden sich somit bei Rousseau entscheidende gemeinsame Wurzeln links-und rechtsradikaler Bewegungen.
Die moderne, rechtsstaatliche, repräsentative und pluralistische Demokratie, auf deren grundsätzlicher Bejahung bei aller Kritik an einzelnen ihrer Erscheinungsformen meine Auseinandersetzung mit dem Rechts-und Linksradikalismus basiert, geht im Gegensatz zu Rousseau von der Auffassung aus, daß die Unvollkommenheit und Entfremdung des Menschen als Realität akzeptiert werden muß, daß das Volk vielfältig differenziert ist und die Existenz verschiedener Parteien und autonomer Verbände, die die Pluralität der Ansichten und Interessen widerspiegeln, als Ausdruck des freiheitlichen Charakters des Gemeinwesens grundsätzlich positiv zu bewerten ist. Das Gemeinwohl wird dabei nicht als vorgegeben betrachtet, sondern kann nach dieser Auffassung nur „a posteriori als das Ergebnis eines dialektischen Prozesses der divergierenden Ideen und Interessen der Gruppen und Parteien erreicht werden"
VI. Herrschaft der Elite
Der komplizierte und vielfach verschlungene Weg, in dem die totalitären Ansätze der politischen Philosophie Rousseaus, die selbstverständlich nicht den gesamten oder auch nur den für seine eigene Zeit bedeutendsten Inhalt seiner Ideen ausmachen, in den Links-und Rechtsradikalismus des 20. Jahrhunderts eingegangen sind, kann hier nur andeutungsweise verfolgt werden.
Auf seifen der Linken liegt das wesentliche Verbindungsglied zu der auf Rousseau zurückgehenden und vor allem von Babeuf und Buonarroti, aber auch Blanqui, Fourier und Bakunin weiter entwickelten radikalen Konzeption direkter Demokratie bei Karl Marx, der in seiner 1871 „auf der Grundlage unzureichender Informationen sowie unter Zeitdruck und bei stärkster emotionaler Anteilnahme"
Mit der Übernahme des Kommunemodells waren gleichzeitig — entgegen den ursprünglichen Bestrebungen von Marx zur Begründung eines wissenschaftlichen Sozialismus — wesentliche Elemente der vor allem aus Frankreich kommenden Tradition des Sozialutopismus und Anarchismus ausgenommen worden. Nicht Marx, sondern Fourier mit seiner Kon-* zepuon sogenannter rudlans teles J, riuuuhon, der sozialistische Putschist Auguste Blanqui und schließlich und vor allem auch der Anarchist Bakunin, der schon 1866 in seinen „Prinzipien und Organisation der internationalen
Aus der Konzeption direkter Demokratie und besonders den Rätevorstellungen ist das anarchistisch-sozialutopische Element — das allerdings im Linksradikalismus Frankreichs, Italiens und Spaniens sehr viel stärkere Traditionen hat als im deutschen Sozialismus — nicht wegzudenken. In Deutschland hat es die Kommunistische Partei in der Entstehungsphase vor ihrer Bolschewisierung 1920 politisch handlungsunfähig gemacht, jetzt bildet es, durch Lateinamerika-Romantik, China-Begeisterung und radikal-syndikalistische Verherrlichung der Gewalt aufgeladen, einen der wesentlichen Bestandteile der antiautoritären Strömungen auf Seiten der Neuen Linken, die z. T. bewußt an die Lehren Blanquis
Im deutschen Sozialismus vor dem Ersten Weltkrieg hat die Idee der direkten, plebiszitären Demokratie, jedoch ohne die Verbindung mit der erst 1917/18 nach den Erfahrungen in Rußland vom linken Flügel aufgegriffenen Rätekonzeption, eine gewisse Rolle gespielt. So ist die Forderung nach direkter Volksgesetzge-UUIIU 111 UdD -lvIIHVLIVL VIUVV}r ------— (1875) und das Erfurter Programm (1897) der SPD ausgenommen worden.
Parallel lief in der Sozialdemokratie eine weit-verbreitete grundsätzliche Ablehnung des Parlaments
In der KPD der Weimarer Zeit setzte sich unter dem Druck Moskaus eine ähnliche Entwicklung gegen die ursprünglich sehr starken antiautoritären und anarchistischen Elemente durch. Im Gegensatz zur ursprünglichen Ablehnung der Beteiligung an parlamentarischen Wahlen wurde schließlich die Mitwirkung kommunistischer Abgeordneter im Parlament zum Zwecke der revolutionären Agitation und während des gemäßigten Kurses von 1926 bis 1928 auch als Mittel, um konkreten Einfluß auf die parlamentarische Arbeit zu erhalten, akzeptiert
Auf seifen der radikalen Rechten knüpft vor allem die Auffassung von der absolut gesetzten „einen und unteilbaren Nation" an Theorien direkter und plebiszitärer Demokratie des 18. Jahrhunderts an. In der auf einem extremen Nationalismus basierenden Konzeption von der Volksgemeinschaft beherrscht die Bindung an die Nation alle anderen Bindungen und Loyalitäten des Individuums. Die Ablehnung des Parlaments als einer Institution, in der diese Einheit zerredet werde, die Zurückweisung aller Partei-und Gruppenbildungen, seien sie lokaler, sozialer, politischer oder religiöser Natur, letztlich die Uniformierung und Gleichschaltung der Bürger und aller autonomen gesellschaftlichen Kräfte waren notwendige Konsequenzen. Die verfassungspolitische Verwirklichung der Einheit des Volkes wurde dabei in einem plebiszitären Cäsarismus, wie ihn Napoleon III. praktizierte und ideologisch begründete, und schließlich in der Herrschaft eines durch Akklamationen bestätigten Führers gesehen. Durch keine Zwischeninstanzen getrennt steht dieser in einem direkten, „mystischen" Verhältnis zum Volk — seiner Gefolgschaft. Auf Grund dieser seiner Legitimation als einer Verkörperung des Volkes braucht er auch keine rechtsstaatlichen oder durch Gewaltenteilung aufgelegten Schranken seiner Macht anzuerkennen.
Die Ideen der radikalen Rechten sind aber nicht nur als Weiterführung gewisser totali-tärer Ansätze der Französischen Revolution zu verstehen, sondern beruhen zumindest in gleichem Maße auf der gegen Aufklärung und Rationalität gerichteten, das Volk als Kultureinheit verklärenden romantischen Bewegung gegen die Französische Revolution sowie der spezifisch deutschen antidemokratischen Tradition einer Überbewertung des Staates. Der in der Französischen Revolution als Ausdruck antifeudalen Emanzipationsstrebens des sich zum „allgemeinen Stand" erklärenden Bürgertums politisch und vom Staate her geprägte Begriff der Nation wurde schließlich völkischbiologistisch begründet. Die Konzeption der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Nationen wurde durch den pseudoreligiösen Glauben an die besondere Sendung und die Überlegenheit der eigenen Nation abgelöst. Die Konzeption des Sozialdarwinismus von der Geschichte als einem ständigen Kampf der Völker, in dem — wie im Tierreich — nur die Widerstandsfähigsten überleben, verband sich mit dem traditionellen preußischen Militarismus und dem extremen Nationalismus zu einer zum Imperialismus übersteigerten Machtpolitik.
Gleichzeitig stieg, unter anderem bedingt durch den schmerzhaften Prozeß der Umformung der Gesellschaft durch die Industrialisierung sowie als Reaktion auf Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterschaft, unter den Privilegierten die Tendenz zur ideologischen Absicherung des Status quo und in breiten, von sozialer und ökonomischer Deklassierung bedrohten Schichten das Bedürfnis nach einfachen Erklärungsschemata und Sündenböcken. Jene aggressiv nationalistischen Ideologien, die häufig in einem immer weniger religiös und immer mehr sozial und schließlich rassisch begründeten virulenten Antisemitismus eine wichtige Ergänzung fanden, erfüllten diese Erklärungs-, Rechtfertigungs-und Stabilisierungsfunktionen.
Gleichzeitig sorgte die obrigkeitsstaatlich geprägte Verfassungsstruktur des Bismarckreiches und die sie begründende Ideologie von dem den Partikularinteressen angeblich übergeordneten, das Gesamtinteresse verkörpernden Staat dafür, daß Parlament und Parteien 1918/19 — in ihren inneren Strukturen und ihren Verhaltensweisen durch die konstitutionelle Monarchie geprägt und durch die Parlamentarismus- und Parteienkritik belastet — die politische Verantwortung unvorbereitet übernehmen mußten und ihre daraus resultierende Schwäche der parlamentarischen Demokratie angelastet wurde. Der deutsche Rechtsradikalismus beruht also historisch auf einer bereits seit den neunziger Jahren des 19. Jahr-B hunderts einsetzenden Synthese konservativ-reaktionärer und ursprünglich revolutionärer nationalistischer Ideen, die in der Umformung der alten Konservativen Partei von einer aristokratisch-autoritären, preußischen, gouvernementalen und ständischen Partei der Privilegierten und der von ihnen unmittelbar Abhängigen zu der mit allen Mitteln der Demagogie an die Massen appellierenden, völkischnationalen, oppositionellen und mittelständisch-antisemitischen Deutschnationalen Volkspartei — die schließlich der sie an Radikalität übertrumpfenden nationalsozialistisch-sehen „Bewegung" den Weg zur Macht ebnete — ihren klarsten Ausdruck fanden.
Trotz aller wesentlichen Differenzen zwischen rechts-und linksextremen Ideologien in bezug auf ihren Inhalt und vor allem in bezug auf ihre soziale Funktion liegen aber entscheidende, ihre Parallelsetzung rechtfertigende Gemeinsamkeiten vor: in der Absolutsetzung einer bestimmten Konzeption der zukünftigen Gesellschaft; in dem Glauben an die vorhandene oder nach der Änderung der Eigentumsverhältnisse zu erzielende Homogenität des Volkes; in der daraus abgeleiteten Ablehnung von Parlament, Parteien und Gruppenvertretungen; in dem Anspruch einer revolutionären Elite oder eines Führers, allein das wahre Gemeinwohl definieren und interpretieren zu können — notfalls auch gegen den Willen der Mehrheit und unter Mißachtung aller rechtsstaatlichen Schranken.
VII. Ideologische Ursprünge der Parlamentarismus-Kritik
Neben der auf Rousseau zurückgehenden grundsätzlichen Kritik an Parlamentarismus und Pluralismus als Abweichungen vom Ideal der direkten Demokratie und Mittel zur Zersetzung der erreichten oder doch möglichen Einheit des Volkes gibt es einen zweiten Strang der Kritik, der den modernen Parlamentarismus und den ihm zugrunde liegenden Pluralismus als einen Verfall des ursprünglichen, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als politische Form der bürgerlichen Gesellschaft ausgeprägten Parlamentarismus verurteilt.
Auf der Rechten fand diese Kritik ihre klarste und intelligenteste Zusammenfassung in der . ungemein einflußreichen Abhandlung Carl Schmitts über „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus" (1923). In dieser Schrift arbeitet Schmitt unter Berufung vor allem auf französische Theoretiker des Parlamentarismus aus der Zeit des Vormärz — besonders Guizot — „Diskussion" und „Öffentlichkeit", das heißt das Streben nach Auffindung der gesellschaftlichen und politischen Wahrheit durch die öffentliche Diskussion parteipolitisch und interessemäßig nicht gebundener Abgeordneter, als die Prinzipien heraus, in-denen das Parlament seine geistige Grundlage habe. Er kontrastiert damit die Wirklichkeit des modernen Parlamentarismus in einer Massendemokratie, in dem die Abgeordneten fraktionell gebunden sind, häufig von Gruppeninteressen bestimmt werden und die wirklichen Entscheidungen nicht im Plenum des Parlaments, sondern in geheimen Sitzungen der Ausschüsse, Fraktionen, interfraktionellen Ausschüsse usw., und zwar nicht als Ergebnis eines rationalen Klärungsprozesses, sondern als Resultat von Kompromissen fallen. Damit habe der Parlamentarismus seine geistige Grundlage, seine „moralische Wahrheit"
Auf Seiten der Linken ist eine ähnliche Kritik am modernen Parlamentarismus und Pluralismus — zum Teil unter ausdrücklicher Berufung auf Carl Schmitt
Hinter der Konzeption von Habermas steht die Hoffnung, daß es — genügend Zeit zur freien und unmanipulierten Diskussion vorausgesetzt — zumindest unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen möglich ist, politische Fragen bis zum allgemeinen Konsens auszudiskutieren, das heißt Herrschaft in Vernunft aufzuheben: „Veritas non auctoritas facit legem."
Das von Schmitt und Habermas vertretene Idealbild des Parlamentarismus, das ihrer durchaus verschieden akzentuierten und von völlig verschiedenen Zielvorstellungen geprägten Kritik am gegenwärtigen Parlamentarismus zugrunde liegt, ist das der auf dem europäischen Kontinent — vor allem in Frankreich — entwickelten, frühliberalen Ideologie vom Parlamentarismus, die mit ihrer Ablehnung von Parteien und Interessenvertretung nicht der Wirklichkeit der Länder mit einem parlamentarischen Regierungssystem entsprach. Es beruhte auf dem liberalen und aufklärerischen Glauben an die prinzipiell mögliche und herzustellende Identität privater und allgemeiner Interessen und die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, das Allgemeininteresse im Prozeß öffentlicher Diskussion eindeutig zu fixieren und ihm zum Sieg über alle damit als egoistisch entlarvten Einzelinteressen zu verhelfen.
Tatsächlich ist das Parlament, wie sich ohne Schwierigkeit an Hand der Geschichte des britischen Parlaments zeigen ließe, aber immer nicht nur ein Platz rationaler Diskussion und der Vertretung politischer Ideen, sondern vor allem auch stets ein Ort der Interessenvertretung und des Interessenausgleichs, des „bargaining" und des Kompromisses als Resultat dieses „bargaining" gewesen
Es ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Bedeutung, daß sich kontinentale Theoretiker des Parlamentarismus, soweit sie sich am Mutterland der Parlamente, nämlich Großbritannien, orientierten, zum Muster gerade jene Jahrzehnte zwischen der ersten und zweiten Reformbill (1832 bis 1867) nahmen, in denen nach dem Schwinden des Einflusses der Krone und vor der parallel zum Aufkommen moderner Massenparteien erfolgenden Verfestigung der Fraktionsdisziplin der Einfluß und die Unabhängigkeit der übrigens zum Teil stark interessengebundenen individuellen Abgeordneten am größten war, das parlamentarische System aber wegen des Fehlens klarer Mehrheitsverhältnisse am schlechtesten funktionierte. Selbstverständlich darf ein Parlament nicht nur ein des Ort Interessenausgleichs, sondern muß gleichzeitig auch Zentrum rationaler Diskussion sein, die allerdings nicht nur im Plenum, sondern auch in Fraktionen, Ausschüssen sowie interfraktionellen Gremien stattfinden kann. Reden, die zum Fenster hinaus gehalten werden, sind dabei nicht sinnlos, sondern ein Mittel, um den für eine lebendige Demokratie wichtigen Kontakt des Parlaments zur öffentlichen Meinung im Lande aufrechtzuerhalten und in einer Art ständigen, vorweggenommenen Wahlkampfes die Wähler für die eigene Position zu gewinnen. Parteien sind notwendiger Ausdruck einer pluralistischen Gesellschaftsstruktur und Organisationen zur Realisierung der Mitwirkung der Massen am politischen Prozeß; ihre relative Geschlossenheit, auf die die vom Dualismus Parlament—Regierung ausgehende konstitutionelle Monarchie oder das präsidentielle Regierungssystem notfalls verzichten kann, sind Voraussetzung für die Mehrheitsbildung im Parlament und damit das Funktionieren des parlamentarischen Systems. Die Existenz vieler, zum Teil entgegengesetzter Interessen ist ein Kennzeichen einer vielschichtigen, freiheitlichen Gesellschaft. Ihre
Vertretung durch Parteien und besondere Verbände ist legitim. Allerdings müssen die Parteien versuchen, nicht ein Einzelinteresse zur alleinigen Richtschnur ihres Handelns zu machen, sondern die verschiedenen Interessen auszugleichen und in den Rahmen einer vernünftigen Gesamtpolitik zu integrieren. Eine einerseits realistische, andererseits nicht zu unkritischer Anpassung an das Gegebene verführende Theorie des Parlamentarismus müßte den politischen Prozeß sowohl als Versuch, in einer gegebenen historischen Situation Vernunft im gesellschaftlich-politischen Bereich zu verwirklichen, wie auch als Konflikt und Ausgleich verschiedener Interessen begreifen, das heißt sowohl als einen auf Überzeugung und rationalen Konsens ausgerichteten, argumentativen Prozeß wie auch als Kampf und Kompromiß, wobei beide Aspekte in der Realität des politischen Lebens unauflöslich miteinander verknüpft sind und einander
Hinter der oft mit einem Schuß Kulturpessimismus gewürzten Kritik am Parlamentarismus, der vom Modell eines angeblich früher existierenden idealen Parlamentarismus ausgeht, steht nicht nur die teilweise berechtigte Kritik an dessen modernen Erscheinungsformen, sondern auch die Absolutsetzung des ersten jener beiden Aspekte bei tendenzieller Leugnung der Berechtigung des zweiten. Gemessen an einem Bild vom „ursprünglichen", „unverfälschten" Parlamentarismus, das sich eher an dessen ideologischem Anspruch als an dessen früherer Wirklichkeit orientiert, werden viele Merkmale des heutigen Parlamentarismus als Verlust und Verfall kritisert, ohne daß diese auf ihre eventuelle Notwendigkeit, ihren Sinn unter gegenüber früher sehr veränderten gesellschaftlichen Bedingungen befragt werden. Wenn der gegenwärtige Parlamentarismus hoffnungslos hinter diesem legendären Modell und jenem einseitigen Begriff von Politik zurückzubleiben scheint, so folgt daraus nicht nur die Notwendigkeit zur Kritik der gegenwärtigen politischen Wirklichkeit, sondern vor allem auch zur Revision der Maßstäbe und Ansprüche, die diese Kritik leiten.
VIII. Strukturprobleme des gegenwärtigen parlamentarischen Systems
Tatsächlich sind Parlamentarismus, Parteiwesen und Pluralismus in der Bundesrepublik in vielen und wesentlichen Punkten reformbedürftig. So ist der Einfluß des Bundestags als des Typs eines vor allem in Sachausschüssen detailliert arbeitenden Parlaments, dessen Plenum noch keine angemessene Funktion gefunden hat, auf die öffentliche Meinungsbildung zu gering. Auch ist der Willensbildungsprozeß zu wenig durchsichtig, so daß nicht genügend klar wird, auf welchen Kompromissen welche Entscheidungen beruhen und welche Alternativen bestanden. Dadurch wird die mangelnde Information der Bevölkerung und die Entpoli25 tisierung, z. T. Verzerrung der nur von wenigen geführten öffentlichen Diskussion ebenso gefördert wie durch einen geringen Stand der allgemeinen politischen Bildung und andere Faktoren. Der häufig zu Recht kritisierte Zustand der öffentlichen Meinung bedeutet eine schwere Bürde für ein parlamentarisches System, das auf die kritische Öffentlichkeit als eine seiner Voraussetzungen angewiesen ist.
Die Aushöhlung der Kompetenzen des Parlaments durch die zunehmende Komplexität von Verwaltung und Politik und durch den Machtzuwachs der Bürokratie, die Übertragung weitgehender Funktionen, vor allem in der Verteidigungs-, Wirtschafts-und Außenpolitik an übernationale Organisationen und die Präjudizierung von Entscheidungen des Parlaments durch Absprachen der Regierung mit außerparlamentarischen Gruppen sind weitere, für den modernen Parlamentarismus höchst bedenkliche Erscheinungen. Die Antwort darauf darf nicht nur in der Schaffung einer Gegenbürokratie parlamentarischer Experten gesehen werden, sondern muß vor allem auch in der Betonung der politischen Aufgabe des Parlaments als des zentralen Orts zur Festlegung von Prioritäten und zur Wahl von Alternativen liegen. Auch dürfen wichtige Parlamentsausschüsse nicht von den Interessenvertretern einzelner Gruppen beherrscht werden, wie das im Bundestag z. B. mit dem Agrarausschuß, dem Innenausschuß und dem Sozialausschuß, in dem offenbar die Vertreter der Bauernverbände, der Beamtenbünde bzw.der Gewerkschafts-und Arbeitgeberverbände die entscheidende Rolle spielen
Die plebiszitären Elemente des Regierungssystems könnten dadurch verstärkt werden, daß, im Einklang mit den Wünschen vieler Vertreter des Parlamentarischen Rats bei der Schaffung des Grundgesetzes (u. a. Dehler und v. Brentano), das Parlament nicht nur auf Antrag des Bundeskanzlers, sondern auch auf eigenen Beschluß aufgelöst werden kann. Eine derartige Regelung hätte vielleicht 1966 die Bildung der Großen Koalition überflüssig machen können. Da die früher vom Gesamtparlament ausgeübten Kontrollaufgaben wegen der engen Verbindung von Parlamentsmehrheit und Regierung heute weitgehend auf die Opposition übergegangen sind, ist eine leistungsfähige Opposition mit einer echten Chance zur Übernahme der Regierung nach der nächsten Wahl eine wesentliche Voraussetzung nicht nur für politische Dynamik, sondern auch für ein voll* funktionsfähiges parlamentarisches Regime. Die Große Koalition darf so nur ein Ausnahmefall sein. Die Reibungswiderstände gegen Reformen innerhalb des Systems dürfen nicht so groß werden, daß sie zur Ausklammerung der zur Lösung anstehenden Fragen führen. Die Parteien sind als notwendige Vehikel einer modernen Massendemokratie, um die Bevölkerung am politischen Prozeß zu beteiligen und die Regierung in der Wahl zur Verantwortung zu ziehen, grundsätzlich und ohne Vorbehalt zu akzeptieren. Es besteht aber die Gefahr, daß der für das Funktionieren der demokratischen Willensbildung in ihnen notwendige wechselseitige Prozeß der Beeinflussung „von unten nach oben" und „von oben nach unten" durch die Einbahnstraße eines einseitigen Einflusses der Parteiführer auf die Mitglieder ersetzt wird, die Parteien verkrusten und die Verbindung zu den Wählern und wichtigen Interessen zu verlieren drohen.
Der Pluralismus muß als „essentielles Merkmal einer jeden freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie"
Diese grundsätzliche Rechtfertigung des Pluralismus bedeutet allerdings nicht, daß es auf dem Gebiet der Interessenvertretung keine Mißstände gebe. Erstens sind zweifellos nicht alle wichtigen Gruppen (wie z. B. Hausfrauen und Konsumenten) in adäquater Weise organisiert, so daß einzelne finanzstarke, gut organisierte, einen Interessenbereich monopolisierende und geschickt operierende Interessenverbände einen ihre reale Bedeutung weit übersteigenden Einfluß auf Kosten anderer Interessen ausüben können. Zweitens besteht die Gefahr, daß die etablierten Gruppen von Bürokratie, Parlament und Parteien zuungunsten der sich neu herausbildenden Gruppen bevorzugt und die zwischen den alten Gruppen bestehenden Kompromisse trotz der Veränderung der sozialen und politischen Situation nicht korrigiert werden, so daß die Flexibilität und Dynamik des politisch-gesellschaftlichen Systems leidet. Drittens besteht die Gefahr, daß das Gruppeninteresse nur noch von einem bürokratischen Verbandsapparat definiert wird und nicht mehr das Resultat eines lebendigen und differenzierten Willensbildungsprozesses innerhalb des Verbandes darstellt.
Vor allem benötigt ein parlamentarisch-pluralistisches System die Existenz einer wachen und gut informierten, aufgeklärten und kritischen, kontrollierenden, aber auch eigene Impulse entwickelnden öffentlichen Meinung; ohne diese gerät es in Gefahr, sich zur Stätte eines quasi-oligopolistischen Wettbewerbs kleiner Eliten zu verengen und damit dem Anspruch parlamentarischer Demokratie nicht mehr zu genügen. Permanente, jedoch schwierig zu leistende Aufklärungsarbeit, Veränderungen im Bereich der Massenmedien und vor allem auch größere Investitionen auf dem Bildungssektor sind dringende Erfordernisse im Interesse der Stabilisierung und Weiterentwicklung unseres parlamentarischen Systems.
Die Lösung der hier aufgezeigten Probleme liegt so nicht in einer grundsätzlichen Abwendung vom Parlamentarismus und Pluralismus, sondern in deren Festigung, Ausdehnung und ständigen Belebung. Die Anhänger der repräsentativen, pluralistischen und freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie haben sich zu Unrecht angesichts der Angriffe auf dieses System durch den linken und rechten Radikalismus in eine Defensivposition drängen lassen. Durch eine zwar gutgemeinte, aber nicht an der Realität demokratischer Regierungssysteme orientierte Harmonielehre der Demokratie verursacht, sind Erscheinungen wie Kanzlerdemokratie, Macht der Parteien, Fraktionsdisziplin, der geringe Anteil der Komponenten direkter Demokratie und die politische Mitwirkung der Interessengruppen zu häufig mit schlechtem Gewissen entschuldigt statt als notwendige Bestandteile des demokratischen Prozesses in einem modernen, hochindustrialisierten, parlamentarischen Staat erklärt worden. Der in der Praxis vollzogene Strukturwandel der Demokratie ist in der politischen Wissenschaft und im Staatsrecht trotz wichtiger Ansätze theoretisch noch nicht voll verarbeitet worden und noch weniger ins allgemeine Bewußtsein gedrungen. Demokratie ist zu häufig allein als eine Sache der guten Gesinnung und nicht genug als die allseitige Bereitschaft zur Toleranz und zur Anerkennung bestimmter Spielregeln für das Austragen von Konflikten angesehen
Moralischer Rigorismus in der Politik ist aber nicht nur als Begründung von die Demokratie an einem absoluten Maßstab messenden und sie daher überfordernden Ansprüchen, sondern noch mehr als bequeme Ausrede für politische Abstinenz und damit als Motiv für die mangelnde Bereitschaft zum Eintreten für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gefährlich. Es heißt jedoch den Teufel mit Beelzebub austreiben und die Position der freiheitlich-rechtsstaatlichen, pluralistischen, parlamentarischen Demokratie aufgeben, wollte man als Alternative zu den angebotenen Utopien eine eigene Utopie absolut setzen. Damit würde man das Wesen der Politik verkennen, die nicht der Verwirklichung einer Heilslehre dient, sondern den Versuch darstellt, den Fortbestand einer differenzierten Gesellschaft mit Toleranz und Einsicht in das Mögliche, mit Kompromiß-und Reform-bereitschaft bei weitestgehender Verwirklichung der Freiheit der einzelnen und Gruppen zu sichern, die innere Ordnung zu schützen und die äußere Sicherheit zu garantieren.