Demokratiediskussion heute: Die realistische Überwindung „vulgärdemokratischer" Auffassungen
In der deutschen Politikwissenschaft verdichtet sich der Ideologieverdacht gegen den Begriff der Demokratie im Sinne von Volksherrschaft zusehends. Denn Wesensbestimmungen und Umschreibungen, welche die Demokratie als Volksherrschaft ausweisen sollen, treffen, so meinen viele, die Realität offensichtlich nicht. So täusche die Formel von der Identität von Regierenden und Regierten, die das Herrschaftsproblem erklären soll, über die fortdauernde und, wie es heißt, allen Gesellschaftsordnungen notwendig eigene Herrschaft hinweg: Herrschaft sei ein ewiges Phänomen. Die Rede vom Volkswillen, dem die Regierenden unterstehen, verschleiere, daß ein sachhaltiger und eindeutiger Volkswille nicht gefunden werden könne; Plebiszite brächten häufig nur von Propaganda und irrationalen Emotionen entstellte Willensäußerungen zutage und seien deshalb politisch gefährlich. Die Vorstellung, daß Demokratie erst dann verwirklicht sei, wenn sie die Selbstbestimmung des Bürgers oder, anders ausgedrückt, Emanzipation von Fremdbestimmung zum Inhalt habe, gilt dem neuen demokratietheoretischen Realismus als utopisch. Keine politische Ordnung könne ohne Fremdbestimmung gedacht werden; Selbstbestimmung und Emanzipation seien utopische und geschichtsmystische Formeln, die „nicht Grundlage einer klaren hic et nunc gestaltbaren Ordnung sein" könnten
Das traditionelle, auf Rousseau, linke Theoretiker der französischen Revolution und den deutschen Idealismus zurückgehende Demokratieverständnis, wonach sich das Volk durch Vermittlung des von ihm gewählten Parlaments und seiner von diesem abhängigen Regierung selbst regiert, enthält somit utopische und ideologische Elemente und kann mit Ernst Fraenkel als „vulgärdemokratisch" bezeichnet werden
Argumente von links zur Lage der parlamentarischen Demokratie
Zu den charakteristischen Merkmalen einer linken politischen Position muß man das Festhalten am klassischen Demokratieverständnis zählen. Die Vorstellung, daß Demokratie Selbstbestimmung und Emanzipation bedeute, wird als ernst zu nehmende Verheißung der frühbürgerlichen Philosophie begriffen. Zur Zeit der Durchsetzung der bürgerlichen Produktionsweise konnte die Illusion herrschen, daß damit jedem die Chance eröffnet sei, als Selbständiger in Produktion und Handel oder aber als gebildeter Staatsbeamter Zum selbst-verantwortlichen Vollbürger zu werden — daß mit der bürgerlichen Produktionsweise zugleich das Proletariat gesetzt war, blieb späterer Erkenntnis vorbehalten. Doch als das Proletariat immer massenhafter in Erscheinung trat, war das Bürgertum nicht bereit, seine politischen Privilegien auch den Lohnabhängigen zuzugestehen. Bekanntlich bedurfte es bis ins 20. Jahrhundert hinein erbitterter Kämpfe zur Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts.
Mag in früheren Phasen des Kapitalismus, so wird von links argumentiert, die Verteidigung der Privilegien des Bürgertums gegen die Forderungen des Proletariats einen gewissen Sinn gehabt haben, da durch Ausbeutung Kapital akkumuliert werden mußte, um die Produktionsmittel auf einen optimalen Stand zu bringen, so ist diese Situation angesichts der heutigen Produktivität nicht mehr gegeben. Die materiellen Voraussetzungen der Erfüllung der demokratischen Postulate, die vom frühen Bürgertum erhoben worden waren — prägnant zusammengefaßt in der Formel der französischen Revolution: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" —, sind vorhanden. Das demokratische Potential einer Gesellschaft sei daran abzulesen, meint Arnheim Neusüss, inwieweit sie den Postulaten der Demokratie Raum gibt: „Eine politische Position darf demgemäß in dem Maße als demokratisch gelten, indem sie für die Verwirklichung dieser Postulate eintritt." Zu beseitigen sei die „Differenz" zwischen den faktischen Lebensverhältnissen der
Mehrzahl der Menschen in einer Gesellschaft und den „Möglichkeiten, die der geschichtlich erreichte Stand gesellschaftlichen Reichtums und die Entwicklungshöhe der zu seiner Reproduktion und Vermehrung erforderlichen Technologien und Produktionskapazitäten jeweils im Sinne optimaler Befriedigung der menschlichen Lebensbedürfnisse bereitstellen." Dabei gehören zu diesen Bedürfnissen nicht nur die „Grundbedingung ausreichender und gesicherter materieller Versorgung, sondern gleichermaßen die Freiheit von gesellschaftlichen Zwängen und die Muße zu individuellem Verhalten. Die Differenz zwischen dem, was zur Befriedigung dieser Bedürfnisse historisch möglich wäre, und dem, was wirklich ist, zeigt das utopische Defizit einer Gesellschaft und damit zugleich ihre Distanz vom historisch erreichbaren Grad der Demokratieverwirklichung. "
Die parlamentarische Demokratie, so fährt Neusüss fort, sei der Versuch, „die Diskussion von Alternativen als die Bedingung der Verwirklichung von Demokratie institutionell zu sichern und zu rationalisieren. ... Sofern sich parlamentarische Demokratie, ein historisch spätes politisches Phänomen, als Ausdruck der Anerkennung transitiver demokratischer Postulate legitimiert, deren Erörterung zur Erhöhung ihrer gesamtgesellschaftlichen Effektivität institutionell gewährleistet werden soll, ist sie vorläufig Resultat eines Demokratisierungsprozesses. Sie bleibt dies, solang sie ihren Sinn, diesen Prozeß weiterzutreiben, erfüllt und sich nicht, im Namen eines operationellen Begriffs von Demokratie (d. h. einer Auffassung, die Demokratie bloß als vorteilhafte Sozialtechnik begreift, W. E.), zu verewigen sucht."
Damit ist der Spielraum, der für die Entwicklung einer die Demokratisierung vorantreibende Alternative zur Verfügung steht, entscheidend limitiert. Die auf der Verwertung privaten Kapitals beruhende Wirtschaft funktioniert nur, wenn die Kapitaleigentümer Profitaussichten haben: Also ist die gesellschaftspolitische Aktivität in der Bundesrepublik, auch die des Bundestages, auf das Ziel der Erhaltung des Wirtschaftswachstumes auf der Basis privatwirtschaftlicher Gewinnmaximierung hin zentriert. Vor diesem Ziel, das im Zeitalter des entwickelten Kapitalismus geradezu mit dem „Gemeinwohl" zusammenfällt, werden andere gesellschaftspolitische Ziele zweit-oder drittrangig: Bildungspolitik, Verkehrspolitik, Gesundheitspolitik oder gar Natur-und Landschaftsschutz. Die vom ökonomischen Sachzwang der profitorientierten Wirtschaft erzwungene Konjunkturpflege droht ständig, die Mittel des disponiblen Sozialprodukts aufzuzehren — so besteht kaum Aussicht, daß die demokratischen Reformbestrebungen der Sozialdemokraten über die Manifestation guter Absichten in den Aktionsprogrammen hinaus gelangen können
Von den Funktionsbedingungen des bestehenden gesellschaftlichen Systems scheint also ein — nicht nur von linken Beobachtern diagnostizierter — „Sachzwang" auszugehen, der das politische Leben der Bundesrepublik wesentlich tangiert. Zunächst einmal mindert er die Rolle des Parlaments bei der Lösung gesellschaftspolitischer Fragen herab, da über die von den Sachzwängen erheischten Maßnahmen die Fachleute der Technokratie besser befinden können als Parlamentarier (was nicht ausschließt, daß einige Abgeordnete auch Fach-leute sind). Die von der ökonomischen Basis ausgehenden fundamentalen Erfordernisse beengen jedoch auch den Bewegungsspielraum innerhalb der Parteien und des Parlaments: Es ließ sich beobachten, wie die Anpassung der SPD an den gesellschaftlichen Status quo, die in der Umarmungstaktik vor der Bildung der Großen Koalition kulminierte, auf die parlamentarische Diskussion lähmend gewirkt hat — die Debatten wurden von den parlamentarischen Geschäftsführern sorgfältig inszeniert, die Redner unternahmen größte Anstrengungen, um nicht durch falschen Zungenschlag den Eindruck zu erwecken, sie stellten die Grundlagen der bestehenden Gesellschaft und der Gesellschaftspolitik der Regierungsparteien in Frage. Ohne kontroverse Diskussion der Tragweite alternativer gesellschaftspolitischer Konzeptionen im Hinblick auf fortschreitende Demokratisierung kann aber die parlamentarische Debatte keine demokratische Relevanz besitzen: Sie verkümmert, was die Innenpolitik betrifft, zur Abwägung unterschiedlicher technischer Lösungen sozialer Einzelfragen von ungefähr gleichen Kosten. Das Fehlen wirklich alternativer Konzeptionen in der parlamentarischen Debatte beeinträchtigt endlich auch das mit dem parlamentarischen Regierungssystem notwendig verknüpfte Prinzip der Öffentlichkeit. Kommen im Parlament nicht mehr die für den Prozeß fortschreitender Demokratisierung relevanten Fragen zur Sprache, die danach in den Massenmedien und nicht zuletzt im Wahlkampf weiter diskutiert werden, so bleibt dem Bürger der intellektuelle Stoff zur rationalen politischen Willensbildung verwehrt
Zweifellos hat die strikt systemimmanente Politik der drei großen Parteien ihre eigene realistische Logik. Diese beinhaltet, daß das durch Konjunkturpflege aufrechtzuerhaltende Wirtschaftswachstum alle Bereiche der Gesellschaft voranbringen wird: Es erscheint — heute wenigstens — nicht als notwendig, über die Probleme der Optimierung der gesellschaftlichen Reproduktion auf privatwirtschaftlicher Basis im Rahmen der politischen Technik des parlamentarischen Systems hinauszugehen und die Frage nach dem Fortschreiten der Demokratisierung zu stellen. Der Kritik von links liegt dagegen die alte, noch wenig bewährte marxistische These zugrunde, daß allein mehr oder weniger radikale Korrekturen an der kapitalistischen Wirtschaftsweise oder aber eine völlige Umwälzung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse demokratische Zustände, die diesen Namen verdienen, schaffen könnten. Alle diese linken Positionen haben die Vorstellung gemeinsam, daß nur eine vom Profitmotiv losgelöste Disposition über die gesellschaftlichen Ressourcen die materiellen Voraussetzungen für eine demokratische Partizipation und Selbstentfaltung der Bürger verwirklichen könne: Partizipation und maximale Selbstbestimmung in allen gesellschaftlichen Bereichen, vom Betrieb über die Kommunen bis zur Verwaltung und Universität, über den Weg zu dieser Demokratisierung herrschen jedoch unter der Linken weit auseinandergehende Auffassungen.
Demokratisierung der Bundesrepublik im vom Grundgesetz gezogenen Rahmen
Vertreter des rechten Flügels der heutigen Linken halten an der Strategie fest, die Diskussion gesellschaftspolitischer Alternativen wieder in die bestehenden Institutionen, in die Parteien und das Parlament, hineinzutragen. Wolfgang Abendroths Demokratiebegriff bezieht sich auf die heute vorhandenen Institutionen, wenn er ausführt: „Demokratie ist ihrem Wesen nach . . . darauf gerichtet, die Identität von Regierenden und Regierten herzu-stellen. Daher kann ein Staat nur dann (und nur in dem Maße) als demokratisch bezeichnet werden, wenn (bzw. in dem) er einen möglichst großen Teil seiner Bürger an der politischen Willensbildung beteiligt und dem Prinzip nach jedem Bürger die Chance bietet, sich in diese Willensbildung einzuschalten. Als politisch muß dabei jede Willensbildung gelten, die sich auf die Tätigkeit der öffentlichen Gewalt bezieht, sei sie nach innen, auf ihr Verhältnis zu den ihr Unterworfenen, sei sie nach außen, auf ihr Verhältnis zu anderen Staaten, gerichtet, oder die die Verfassung der Gesellschaft sei es verändern, sei es durch Machtmißbrauch stabilisieren will."
Diesem eindeutigen Bezug auf die verfassungskonformen Medien der Willensbildung entspricht Abendroths Vorstellung, daß der politische Kampf um eine sozialistische Ordnung an den gewerkschaftlichen Kampf um eine Erweiterung der betrieblichen Mitbestimmung anknüpfen könnte. Denn das Grundgesetz, obwohl es hinter die partiell sozialistischen Inhalte verschiedener Länderverfassungen der Zeit vor 1949 zurückgefallen ist, läßt als eine Verfassung des Kompromisses zwischen Bürgertum und sozialistischer Arbeiterschaft die Ausgestaltung der Bundesrepublik zu einem sozialistischen Gemeinwesen zu: „So bleibt daran festzuhalten, daß das Grundgesetz zwar das spätkapitalistische Wirtschaftssystem und seine sozialen Widersprüche und politischen Gefahren mit wenigen Veränderungen bestehen gelassen hat, aber die Chance garantiert, es mit gesetzlichen Mitteln und ohne Grundgesetzänderungen durch Entscheidung der Majorität der Legislative, die durch die Wähler erzwungen werden kann, in eine sozialistische Ordnung zu verwandeln."
Auch Jürgen Habermas scheint noch an der Vorstellung festzuhalten, daß eine Gesellschaft, welche das alles politische Leben letztlich tangierende Motiv der Kapitalverwertung und der Profitmaximierung hinter sich gelassen hat und ihren Bürgern, indem sie sie von „notwendiger Arbeit wie von gelenktem Verbrauch" weithin entlastet, die Chance der Emanzipation zur Mündigkeit offenläßt, im Rahmen der vom Grundgesetz vorgezeichneten Institutionen gestaltet werden kann. Eine entscheidende Bedingung der Demokratisierung ist für Habermas, daß der politische Prozeß in Parteien, Verbänden und staatlichen Institutionen dem Prinzip der Öffentlichkeit genügt. Denn nur so könnten Machtkonstellationen, gesellschaftliche Interessenlagen und politische Alternativen geklärt und durch Diskussion rational durchsichtig gemacht werden. Allein durch Herstellung von Öffentlichkeit könne der erste Schritt zur Demokratisierung der sozialstaatlich verfaßten Industriegesellschaft getan werden. An der Verwirklichung dieses Zieles lasse sich ablesen, „ob der Vollzug von Herrschaft und Gewalt als eine gleichsam negative Konstante der Geschichte beharrt" oder ob diese als historische Kategorien — also nicht als ewige Kategorien der conditio humana — substantiellen Veränderungen in Richtung auf Freiheit und Selbstbestimmung zugänglich seien
Eine diesem strategischen Ziel entsprechende politische Taktik hat das SHB-Mitglied Niels Kadritzke formuliert. Dieser möchte bei „prinzipiell evolutionärer Praxis" das „revolutio-näre Ziel, die radikale Umstellung der gesellschaftlichen Basis auf sozialistische Prinzipien, nicht aufgeben". Dies bedeute, „daß wir die Mittel dieser Politik systemimmanent anzuset-zen haben, d. h., daß wir untersuchen müssen, an welchen Punkten das bestehende System qualitativ verändert werden sollte, um nicht mehr das alte, sondern ein neues zu sein"
Rätesystem und Selbsttätigkeit der Massen
Während bei den bisher dargestellten Positionen einigermaßen faßbare Konzeptionen hinsichtlich der institutionellen Seite der demokratischen und sozialistischen Transformation erkennbar sind, beginnen links davon, im „antiautoritären Lager", die Vorstellungen über die institutionelle Ausgestaltung einer demokratischen, sozialistischen oder „freien" Gesellschaftsordnung zu verfließen. (Bezeichnenderweise findet man in den Texten der Antiautoritären den Begriff der Demokratie nur selten. Er scheint zu sehr dem schlechten Bestehenden verhaftet zu sein; deshalb gibt man anarchistischen Wendungen wie „freie Gesellschaft", die die Selbsttätigkeit der Massen ermöglicht, den Vorzug.) Präzision und inhaltliche Faßbarkeit des Ausdrucks ist häufig ungenauer Metaphorik gewichen. In den öffentlichen Diskussionen und den Massenmedien hat man dem antiautoritären Lager auch oft genug die Vagheit und mangelnde Konkretisierung ihrer institutionellen Vorstellungen hinsichtlich des Transformationsprozesses und der kommenden befreiten Gesellschaft vorgeworfen. Man muß jedoch den antiautoritären Theoretikern zugestehen, daß die zukünftige Verfaßtheit der freien Gesellschaft durch Definitionen und Modellkonstruktionen nur unzulänglich erhellt werden kann. Versuche, definitorisch zu bestimmen, was Selbstbestimmung oder Emanzipation bedeute, können über Tautologien kaum hinausführen; das Gefühl, daß sich Modellkonstruktionen im Transformationsprozeß nicht bewähren würden, dürfte durchaus realistisch sein. Alain Geismar, das Vorstandsmitglied einer französischen Hochschullehrergewerkschaft, hat vermutlich etwas Richtiges erkannt, wenn er meint, daß man einen Begriff wie Sozialismus (das gleiche gilt für Begriffe wie Selbstbestimmung, Emanzipation usw.) nur negativ umschreiben könne, nämlich indem man die sozialen Sachverhalte benennt, die heute Sozialismus und Emanzipation verhindern: „Ich kann den Sozialismus nur negativ anhand der bestehenden Verhältnisse definieren, als Ablehnung jedes Bürokratismus, jedes zentralen Dirigismus, als die Übergabe der Macht an die Produzenten in den Produktionsstätten selbst. Sagen wir, er besteht im wesentlichen in Selbstverwaltung;
obwohl auch das ein vager Begriff ist."
Bernd Rabehl vom SDS weist darauf hin, daß die Zukunft nicht entworfen werden könne, indem man nach der Art der Futurologie einfach die Kategorien der bestehenden Verhältnisse ins Zukünftige projiziere: „Und wenn hier ein sowjetischer Professor an einem SED-Abend sagt, daß der kommunistische Mensch ein sauberer Mensch sei, so ist in diesem Begriff der Sauberkeit die kapitalistische Wirklichkeit vollkommen reproduziert. Man kann sich den neuen Menschen nur in den Kategorien einer technisch kapitalistischen Gesellschaft vorstellen. Die Transformation wird nicht mehr mit-gedacht."
Eher noch stärker als Marx betonen die Theoretiker der Antiautoritären die Ablehnung des Prinzips der Repräsentation, da dieses die Unterscheidung von Herrschenden und Beherrschten in der von Repräsentierten und Repräsentierenden verewigt und dem Prinzip der Selbstbestimmung zuwiderlaufe: „Fest steht .. ., daß das Prinzip der Delegierung von Machtbefugnissen an einen Vorstand, an einen Abgeordneten, an einen Bezirksrat ein für alle Mal in Frage gestellt ist. Jeder gewählte Sprecher der Bewegung könnte während der ganzen Zeit ständig von der jeweiligen Vollversammlung abgewählt werden" (Alain Geismar); „wir (zielen) ein System von direkter Demokratie an — und zwar von Rätedemokratie, die es den Menschen erlaubt, ihre zeitweiligen Vertreter direkt zu wählen und abzuwählen, wie sie es auf der Grundlage eines gegen jedwede Form von Herrschaft kritischen Bewußtseins für erforderlich halten. Dann würde sich die Herrschaft von Menschen über Menschen auf das kleinstmögliche Maß reduzieren"
Am ausführlichsten scheint jedoch bisher das Demokratieverständnis des antiautoritären Lagers in der Diskussion zwischen Rudi Dutschke, Hans Magnus Enzensberger, Bernd Rabehl und Christian Semler zum Ausdruck zu kommen, in welcher diese sich — selbstverständlich im Bewußtsein der erkenntnistheoretischen und realpolitischen Fragwürdigkeit ihres Unternehmens — darum bemühen, ein Modell für die Umgestaltung West-Berlins in eine freie Gesellschaft zu entwerfen.
Der wichtigste erste Schritt einer solchen Umgestaltung wäre, daß die Arbeiter intellektuell in die Lage versetzt werden, die Fabriken zu übernehmen. Der Betrieb soll zum Zentrum der politischen Selbstbestimmung und der über das eigene Leben werden: „Man wird also im Betrieb täglich debattieren, es wird langsam ein Kollektiv entstehen, ein Kollektiv ohne Anonymität." Früher sei der Betrieb ein Ort gewesen, wo das Leben totgeschlagen wurde. „Doch indem die Fabrik unter eigene Kontrolle genommen wird, kann sich in ihr Leben entfalten. Arbeit kann dann Selbsterzeugung des Individuums bedeuten statt Entfremdung."
Die intellektuelle Formation der Arbeiter soll durch Errichtung von Räteschulen erreicht werden, in welchen tendenziell jeder Lernender und Lehrender zugleich ist. Betriebliche Voll-versammlungen bestimmen den Lehrplan: „In einer solchen Schule würde der Unterschied zwischen Theorie und Praxis, zwischen Arbeiter und Intelligenzler" verschwinden. Jeder würde die Fähigkeit erwerben, verschiedene Funktionen einschließlich der Betriebsleitung zu übernehmen. Der Jugend müßte ein polytechnischer Unterricht zuteil werden. Da die Abschaffung der überflüssig gewordenen Bürokratie kapitalsparend wirkt und eine Schicht intelligenter Produzenten herangebildet wird, besteht Aussicht, „intelligenzreiche Industriezweige" zu entwickeln und so die Produktivität der Arbeit zu steigern; dies ermöglichte eine systematische Verkürzung der Arbeitszeit. Die tendenzielle Aufhebung der Arbeitsteilung und die reduzierte Arbeitszeit ermöglichten außer der politischen Selbsttätigkeit auch noch die genauso wichtige Selbständigkeit auf dem Gebiet der Kultur und der Kunst.
Was die institutioneile Ausgestaltung der Kommune West-Berlin betrifft, so gliedert sich diese in viele einzelne Kollektive, die aus Wohn-, Arbeits-und Lerneinheiten gebildet sind und ungefähr 3000— 4000 Mitglieder umfassen sollen. Die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen städtischen Kommunen soll so aussehen, daß ein „oberster Stadtrat" geschaffen wird, „in den die Vertreter der einzelnen Kommunen, die einzelnen Räte, jederzeit wählbar und abwählbar, ihre Vertreter hineinschicken. Sie werden den Wirtschaftsablauf kontrollieren, und zwar ohne disziplinierende Anweisungen zu geben. Sie werden dafür sorgen, daß Wirtschaftspläne und städtebauliche Projekte ausgearbeitet werden." Dies soll unter Zuhilfenahme modernster technischer Errungenschaften wie von Computern geschehen; im Unterschied zu den wissenschaftlichen Zentren bei Großbetrieben soll die Technologie von vornherein zum Moment des Herrschaftsabbaues werden, statt Herrschaft zu verfestigen. Die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Kollektiven oder Kommunen soll so organisiert werden, daß dadurch „radikale menschliche und produktive Autonomie" mit Zentralismus und Planung verbunden wird. Als soziale Probleme, deren Lösung in Berlin besonders vordringlich sei, nennen die Diskussionsteilnehmer die Frage der Rentner und der in der Verwaltung tätigen alleinstehenden Frauen. Die Renter dürften auf keinen Fall nach Erreichung des Pensionsalters auf die Straße gesetzt werden; sie seien vielmehr weiterhin Mitglieder des Betriebskollektivs. Es müßten ferner Wege gefunden werden, wie sich die Frauen von der doppelten Last der entfremdeten Arbeit und der ihre intellektuelle Entwicklung hemmenden Stellung in der Familie befreien könnten
Eine andere Konzeption radikaldemokratischer oder sozialistischer Ausgestaltung der institutioneilen Struktur eines Großflächenstaates, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg von dem Austromarxisten Max Adler in die Debatte geworfen wurde, wird heute verhältnismäßig selten aufgegriffen (der österreichische Marxist Ernst Fischer hat dies kürzlich getan)
Die Vision der befriedeten Gesellschaft
Mit faszinierender spekulativer Kraft, deren Logik unweigerlich mit der eingeschliffenen common-sense-Denkweise in Konflikt gerät, entwickelt Herbert Marcuse sein Projekt einer befriedeten Gesellschaft, unbekümmert um die institutioneile Seite der zukünftigen Assoziation.
Marcuses Projekt einer befriedeten Gesellschaft liegt die marxistische These zugrunde, daß der heutige Stand der Produktivkräfte die materiellen Voraussetzungen einer von Not und Unterdrückung befreiten Menschheit gewährleisten könnte. Wenn die materiellen und intellektuellen Kräfte, die in der Lage wären, eine freie Gesellschaft zu realisieren, hierfür nicht eingesetzt werden, so liegt dies an der Verhinderung einer rationalen Verwendung der Produktivkräfte durch deren privatkapitalistische Organisation: „Daß sie nicht (für die Realisierung einer freien Gesellschaft, W. E.) eingesetzt werden, ist ausschließlich der totalen Mobilisierung der bestehenden Gesellschaft gegen ihre eigene Möglichkeit der Befreiung zuzuschreiben." 18) Weil aber die materiellen Voraussetzungen der Transformation objektiv bestünden, wehrt sich Marcuse dagegen, daß die befreite, sozialistische Gesellschaft als „Utopie“ bezeichnet w
Die freie Gesellschaft Marcuses entsteht durch Abbau jener repressiven Momente, die im antagonistischen, vom Konkurrenzprinzip beherrschten kapitalistischen Wirtschaftsprozeß entstanden sind und sich in den staatssozialistischen Gesellschaften des Ostens weithin erhalten haben. So wäre das von den Menschen verinnerlichte Leistungsprinzip abzubauen, das diese zur Konkurrenz gegen den Mitmenschen zwingt und sie im Lebenskampf nach Höchstleistungen streben läßt, ohne nach den Folgen für das vernünftige und gerechte Zusammenleben der Menschen zu fragen. Abzubauen ist ferner der Uberschuß an Aggressivität, der in den antagonistischen, auf dem Konkurrenzprinzip basierenden Strukturen der Gesellschaft entsteht und sich in der Psyche der Individuen eingegraben hat. Heute könne man geradezu von „technologischer Aggression" sprechen: Aggression durch Autos, Raketen, die modernen Massenvernichtungswaffen — eine Aggression, die auf Objekte gerichtet ist, aus diesem Grund frustrierend wirkt und deshalb zu Wiederholungszwängen führt: „Mehr Gewalt, erhöhte Geschwindigkeit, größere Reichweite." Um zu illustrieren, wie sehr Gewalt und Aggressivität die modernen Gesellschaften bereits durchzieht, zitiert Marcuse den amerikanischen Senator Russel: „Irgend etwas bewegt die Menschen, sorgloser Geld auszugeben, wenn sie Destruktion vorbereiten, als wenn sie für einen konstruktiven Zweck arbeiten. Warum das so ist, weiß ich nicht; aber während der dreißig Jahre, die ich dem Senat angehöre, habe ich beobachtet, daß beim Kauf von Waffen, die töten, zerstören, Städte auslöschen und Transportwege vernichten sollen, irgend etwas die Leute verleitet, mit dem Dollar nicht so genau zu rechnen, wie sie es tun, wenn sie sich mit dem Bau von angemessenen Wohnungen oder der gesundheitlichen Vorsorge für Menschen befassen." 19) Arbeit im Banne dieses antagonistischen, Aggressionen produzierenden Systems wäre zu ersetzen durch nicht entfremdete gesellschaftliche Arbeit: „Die wirkliche Gefahr für das Bestehende ist nicht die Abschaffung der entfremdeten Arbeit als Arbeitslosigkeit, sondern vielmehr die Möglichkeit, ja Notwendigkeit nichtentfremdeter Arbeit als gesellschaftliche Arbeit (totaler Neubau der Städte; Wiederherstellung menschlicher, eigener Wohnstätten und Einrichtungen; Neugestaltung der Landschaft nach Beseitigung der kommerziellen Vergewaltigung der Natur und Aufbau eines auf die Befriedigung des Kampfes ums Dasein zielenden Fürsorge-und Erziehungswesens könnten die Menschen noch ein Jahrhundert lang beschäftigen. ... Im Zuge solcher Veränderungen würden die dominierenden gesellschaftlichen Interessen auf der Strecke bleiben, mit anderen Worten, es würde zur Beschränkung des privaten Unternehmertums, zur Abschaffung der Marktwirtschaft und zum Abbau der Politik ständiger militärischer Bereitschaft und Intervention kommen; an deren Stelle würde die Zusammenarbeit zwischen Ost und West, zwischen den reichen und den armen Nationen treten.“ Am Ende des von der nicht entfremdeten Arbeit gebahnten Weges läge das „befriedete Dasein" — eine Assoziation freier Menschen, für die die Kategorien der bestehenden modernen Gesellschaften — Konkurrenz, Dynamik, Wirtschaftswachstum — nicht mehr gelten: Marcuses Schlüsselworte zur Beschreibung dieses Zustandes sind vielmehr Befriedung, Ruhe, Glück, Eros: „Einst konnte Landschaft natürlicher Raum des Eros sein:
eine sinnliche Welt der Ruhe, des Glücks, des Schönen; Flucht und Schutz vor der Macht des Kapitals, des Tauschwerts; Welt funktionslosen Werts — Erfüllung. Als Raum der Freiheit von der gesellschaftlichen Funktion, als Raum des gewünschten Alleinseins war Natur zugänglicher Bereich des Eros: Bereich des Sinnlich-Schönen, Nutzlosen im Widerspruch zum verwalteten Allgemeinen." Auf höherer Ebene, unter Zuhilfenahme von Technik und Industrialisierung, die nicht mehr vom Profitmotiv beherrscht werden, soll dieses stilisierte Bild der harmonischen Symbiose von Mensch und Natur verwirklicht werden; Marcuses Vision einer befriedeten Gesellschaft läßt sich als Paraphrase der Formel des jungen Marx von der Vermenschlichung der Natur und der Vernatürlichung des Menschen begreifen.
Die Frage der neuen Bedürfnisse und der Bewußtseinsbildung durch revolutionäre Praxis
So vage und metaphorisch, wie die Gestalt der künftigen freien Assoziationen beschrieben werden, sind auch die Vorstellungen der antiautoritären Theoretiker hinsichtlich des Weges, der zur Transformation der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in die freie Gesellschaft führt. Das klassenbewußte Proletariat der alten marxistischen Theorie, das den Kampf um die Verwirklichung des Sozialismus führt, existiert heute — sieht man von den kommunistischen Parteien Frankreichs und Italiens ab — in den westlichen Industriestaaten nur noch in Ansätzen. Das Bewußtsein von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Transformation findet sich heute vor allem in intellektuellen Randgruppen. Wie aber ist diese Basis von Menschen, die sich für die Umwälzung der bestehenden Gesellschaft einsetzen wollen, zu verbreitern? Der französische Sozialist Andre Gorz hat eine Strategie entwickelt, die darauf ausgeht, das Interesse der Arbeiterschaft an einer sozialistischen Gesellschaftsordnung durch den Kampf um Zwischenziele zu wecken: „Der Kampf um die Macht und für den Sozialismus sind abstrakte Begriffe, die allein nicht mehr mobilisierend wirken. Daher bedarf dieser Kampf der . Vermittlung'durch Zwischenziele, die Arbeitnehmer mobilisieren für den Kampf um Teilziele, die tiefen Bedürfnissen entspreB chen und zugleich die kapitalistischen Strukturen in Frage stellen. Der Kampf um autonome Teilmacht und um ihre Ausübung soll den Massen ermöglichen, den Sozialismus als eine Realität zu erleben, die schon begonnen hat; eine Wirklichkeit, die auf freie Entfaltung drängt und den Kapitalismus von innen aushöhlt. Statt dichotomisch die Gegenwart der Zukunft gegenüberzustellen, wie das Böse dem Guten, die augenblickliche Ohnmacht der künftigen Macht, gilt es die Zukunft gegenwärtig und die Macht schon spürbar zu machen. Aktionen sollen den Arbeitnehmern ihre wirkliche Kraft zeigen, ihre Fähigkeit, sich mit der Macht des Kapitals zu messen und ihm ihren Willen aufzuzwingen."
Eine andere strategische Formel der Neuen Linken heißt „Weckung neuer Bedürfnisse". Herbert Marcuse hat sie am eindringlichsten dargelegt: „Die neuen Bedürfnisse, die nun wirklich die bestimmte Negation der bestehenden Bedürfnisse sind, lassen sich vielleicht summieren als die Negation der das heutige Herrschaftssystem tragenden Bedürfnisse und der sie tragenden Werte: zum Beispiel die Negation des Bedürfnisses nach dem Existenzkampf ... oder auch die Negation ...des Leistungsprinzips, der Konkurrenz, Negation des heute ungeheuer starken Bedürfnisses nach Konformität, nicht aufzufallen, kein Außenseiter zu sein, Negation des Bedürfnisses nach einer verschwendenden, zerstörenden Produktivität, die mit Destruktion untrennbar verbunden ist, Negation des vitalen Bedürfnisses nach verlogener Triebunterdrückung. Diese Bedürfnisse werden negiert in dem Bedürfnis nach Frieden, das heute ... auch kein Bedürfnis der Majorität ist, dem Bedürfnis nach Ruhe, dem Bedürfnis nach Alleinsein, der Sphäre der Privatheit, die, wie die Biologen uns sagen, ein notwendiges Bedürfnis des Organismus ist, dem Bedürfnis nach Ruhe, dem Bedürfnis nach Glück — alles dies nicht nur als individuelle Bedürfnisse verstanden, sondern als gesell-schaftliche Produktivkraft, als gesellschaftliche Bedürfnisse, die in der Organisation und in der Direktion der Produktivkräfte bestimmend zur Wirkung gebracht werden. Diese neuen vitalen Bedürfnisse würden dann als gesellschaftliche Produktivkraft eine totale technische Umgestaltung der Lebenswelt möglich machen, und ich glaube, daß erst in einer so umgestalteten Lebenswelt neue menschliche Verhältnisse, neue Beziehungen zwischen den Menschen möglich werden."
Die These von der Entfaltung neuer Bedürfnisse, die, einmal entwickelt, den Transformationsprozeß vorantreiben, ist allerdings mit einem Dilemma verbunden: nämlich mit der Frage, wie die von der herrschenden Gesellschaftsstruktur präformierte, entfremdete Psyche der Individuen, die ja die Bedürfnisse hat, welche die Gesellschaft ihr suggeriert, sich aus dem Bann des bestehenden Systems der Bedürfnisse lösen und neue Bedürfnisse entfalten soll. Es ist dies das Problem Münchhausens, der sich an seinen Haaren selbst aus dem Sumpf zieht. „Ihr Einwand ist", so meinte Marcuse in einer Diskussion, „daß, um die neuen revolutionären Bedürfnisse zu entwickeln, erst einmal die Mechanismen abgeschafft werden müssen, die die alten Bedürfnisse reproduzieren. Um die Mechanismen abzuschaffen, die die alten Bedürfnisse reproduzieren, muß erst einmal das Bedürfnis da sein, die alten Mechanismen abzuschaffen. Genau das ist der Zirkel, der vorliegt, und ich weiß nicht, wie man aus ihm herauskommt"
Offenbar liegt dieser Gedanke einem anonymen Artikel in der dem Dutschke-Flügel nahe-stehenden Oberbaumpresse zugrunde. Dort heißt es: „Jede Bewegung gegen das Bestehende trifft sofort auf die Schranken des Systems. Eine geschichtlich neue Form der Spontaneität wird sichtbar. Sie zu organisieren, ihr endlich klar zu sagen, wie ein Leben jenseits der entmenschlichenden Apparate möglich ist, ist die Aufgabe, die noch am allerwenigsten theoretisch und praktisch in Angriff genommen wurde. So erscheint unser Protest dem oberflächlichen Betrachter oft als Selbstzweck; er sieht nicht die tiefen Wünsche, Bedürfnisse, Sehnsüchte und Interessen der an den Aktionen beteiligten Menschen, die mit einem Leben in Isoliertheit und Einsamkeit nicht mehr einverstanden sind, ihr immer konkreter werdendes Unbehagen gegen das System wenden. Durch provokative und demonstrative Aktionen, besser durch Offensivaktionen mit Rückzugsmöglichkeit aktualisieren wir die Widersprüche, vergrößern das antiautoritäre Lager, schaffen die Voraussetzungen für eine . zukünftige'aktuell-revolutionäre Situation."
Das Prinzip der „Bewußtseinsbildung durch revolutionäre Praxis" (Bahman Nirumand) wird auch in der Anfangsphase der künftigen sozialistischen oder „freien" Gesellschaft fortgelten: „Ebenso ist die Revolution die unerläßliche Voraussetzung, um jenen Prozeß der Bewußtseinsbildung zu Ende zu führen, ohne den reale Demokratie nicht vorstellbar ist. In den hochindustrialisierten Gesellschaften wird er begünstigt durch die Verkürzung der Arbeitszeit auf der Grundlage der Automatisierung der Produktion. Der Entfesselung der Produktiv-kräfte muß die durch sie ermöglichte Entfesse-lung des Bewußtseins'folgen; der Aufhebung der Klassen muß die Aufhebung der Klassen der Bewußtheit folgen; der permanenten Revolution der Gesellschaft muß die permanente Revolution des Bewußtseins entsprechen. Das Ziel dieser Emanzipation kann nicht sein, daß jeder einzelne die kompliziertesten technischen Vorgänge begreift . . ., sondern daß er lernt. . die Bedeutung der neuen gegenüber der alten Gesellschaft ... zu begreifen, und die Nachwirkungen der alten Gesellschaft zu überwinden. Es ist nicht notwendig, daß er technische Einzelheiten versteht, aber die Funktion jeder Einzelheit innerhalb der Totalität der Gesellschaft muß ihm bekannt sein."
Im Grunde kann eine derartige Gesellschaft, deren transparente Struktur der Herrschaft von Menschen über Menschen keinen Raum mehr lassen soll, nicht mehr mit dem Begriff der Demokratie im heutigen Verständnis erfaßt werden: Eine solche Gesellschaft wäre, verglichen mit den bestehenden Formen von Demokratie, selbst wenn es gelänge, diese institutionell und hinsichtlich des praktizierten politischen Stils zu verbessern, ein aliud. Dieser gesellschaftliche Zustand, über dessen institutionelle Verfaßtheit sich nichts konkret Bestimmtes aussagen läßt, wird immer noch am besten von den alten Marxschen und Engelsschen Formeln getroffen: „An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen" (Engels); „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Asso-ziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (Kommunistisches Manifest)
Die Verschwommenheit dieser Formeln hat nicht verhindern können, daß, seitdem sie von Marx und Engels niedergeschrieben wurden, sich in jeder Generation Menschen fanden, die sie zu ihrem politischen Leitbild nahmen: ein Zeichen, daß sie fortdauernde Bedürfnisse der Menschen zum Ausdruck bringen.
Einige Gesichtspunkte zur Kritik und Antikritik
Es ist keine Frage, daß das Demokratieverständnis der Neuen Linken — oder besser: deren Vorstellungen von einer „freien Gesellschaft" — kritischen common-sense-Argumenten wenig Handfestes entgegensetzen kann. Doch selbst der, welcher an der Vagheit der Formeln, welche jenen Zustand umschreiben, Anstoß nimmt und die parlamentarische Demokratie in ihrer jetzigen Form für das optimale Prinzip der politischen Gestaltung einer Gesellschaft hält, hat heute allen Grund, sich mit den Thesen der Linken von der „Involution" (Agnoli) der bürgerlichen Demokratien auseinanderzusetzen: den Thesen also, daß auf Grund der Reproduktionsbedingungen des modernen kapitalistischen Systems der politische Spielraum des Parlaments, der demokratischen Repräsentanz des Volkes, immer schmaler wird, daß die wahren Machthaber und Gestalter des politischen Lebens die Bürokratien aller Art sind und daß der Parlamentarismus heute dazu dient, einem de facto oligarchischen System den Schein demokratischer Legitimation zu verleihen. Besteht auch nur der Verdacht, daß hieran etwas richtig sein könnte, so müßten diese Thesen zu den Schwerpunkten politikwissenschaftlicher Untersuchungen gehören. Sollte der neue demokratie-theoretische Realismus sich dem Phänomen der „Involution" gegenüber problemblind erweisen, so könnte er der Gefahr, zur Ideologie einer heraufziehenden autoritären Leistungsgesellschaft zu werden, kaum entgehen.
Häufig wird der Totalitarismusverdacht gegen die Neue Linke mit deren Rätegedanken begründet. Räte als Organe direkter Selbstregierung seien prinzipiell funktionsunfähig; „die Hoffnung, daß Räte das Ende der Bürokratie sowie die Aufhebung oder zumindest weitgehende Reduzierung von Herrschaft bedeuten würden, hat sich empirisch nicht bestätigt und ist theoretisch widerlegbar" (Gerhard A. Ritter). Auch im Rätesystem reproduzierten sich zwangsläufig eine Expertokratie und eine neue politische Klasse; zudem entstehe die Gefahr eines „politisch-gesellschaftlichen Konformismus", der die Minderheiten unterdrücke und rechtlich ungeschützt lasse. So werde im Namen einer glücklicheren Zukunft die Tür zur Barbarei, zur Diktatur und zur Unterdrükkung der Menschen der Gegenwart weit aufgerissen
Die Linke hat Anlaß genug, solche auf historischen Erfahrungen beruhende Einwände ernst zu nehmen und sie einer genauen Prüfung zu unterziehen. Doch über das Problem der Emanzipation und Selbstbestimmung durch Räte befindet letztlich nicht der Kampf der Ideen und Modelle, sondern der reale historische Prozeß. Akzeptiert die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin den bestehenden Parlamentarismus als ihr politisches System, so haben alle Rätevorstellungen keine Chance. Erweist sich jedoch der von der Neuen Linken diskutierte Rätegedanke als virulent, sollte er wider Erwarten die Arbeiterschaft und die Intelligenz erfassen,, so wird das an den Verhältnis-sen des Status quo orientierte Verdikt der Funktionsunfähigkeit den Versuch einer gesellschaftlichen Neugestaltung nicht präjudizieren können. So wenig wie die Neue Linke ein unmittelbar einleuchtendes Modell einer funktionierenden Räteverfassung entwerfen kann, so wenig kann graue Theorie beweisen, daß sich unmöglich ein funktionstüchtiges, substantielle Demokratie weithin realisierendes System herausbilden könne, das auf Räten beruht und vielleicht mit parlamentarischen Repräsentationsorganen kombiniert ist.
Die gegenwärtige politische Ordnung entlastet den Bürger vom Zwang politischen Denkens und Handelns. Solange er seiner privaten Arbeit und seinen Vergnügungen nachgeht, besorgen die Politiker seines Vertrauens die politischen Geschäfte für ihn: Zur Zeit der Wahl mag er, obwohl nur unzureichend mit Kriterien ausgerüstet, die diese als rational auswiesen, sein Urteil über die Qualität der betriebenen Politik und ihrer Agenten sprechen. Dieses politische System hat in der Bundesrepublik Wohlstand und (mehr oder weniger) zufriedene Bürger hervorgebracht; insofern ist es vom Erfolg legitimiert. Nur ein Narr, könnte man daraus schließen, kann dieses ökonomische und soziale Erfolge erzielende System ändern wollen. Doch in Reflexionen dieser Art muß die Frage nach den Stabilitätsbedingungen dieses Systems fallen. Dessen Stabilität beruht (selbstverständlich neben anderen, auch außenpolitischen Faktoren) vor allem auf dem wirtschaftlichen Erfolg. Was aber geschieht, wenn sich dieser nicht beliebig verlängern läßt, wie verhält sich der primär unpolitische Bürger in der ökonomischen und politischen Krise? Damit ist die Frage nach der politischen Verfassung wieder gestellt. Der Bürger, der gewohnt ist, am politischen Prozeß seines Gemeinwesens effektiv teilzuhaben, wird möglicherweise eine politische Krise weniger als irrationales Schicksal empfinden und entsprechend weniger irrational darauf reagieren. Hält man es für wahrscheinlich, daß der emanzipierte, am politischen Prozeß partizipierende Bürger sich autoritären oder faschistischen Tendenzen entgegenstemmen würde, so kann man nicht apriori Organisationsweisen, etwa räteartige Gebilde, die diese Partizipation institutionalisieren könnten, verwerfen, weil sie ins bestehende Verfassungsgefüge nicht passen.
Eine andere Erwägung zum Rätegedanken, die die amerikanische Soziologin Hannah Arendt vorgetragen hat, betrifft das Gebiet der politischen Moral, nämlich die alte Frage der klassischen Politik, ob eine gut und richtig verfaßte Gesellschaft nicht den an der Politik seines Gemeinwesens teilhabenden Bürger voraussetze. Hannah Arendt erinnert daran, daß alle demokratischen Umwälzungen von der amerikanischen Revolution bis zum ungarischen Aufstand von 1956 spontan räteartige Gebilde hervorgebracht haben, welche an die Erkenntnis der klassischen griechischen Politik gemahnten, „daß keiner . glücklich'genannt werden kann, der nicht an öffentlichen Angelegenheiten teilnimmt, daß niemand frei ist, der nicht aus Erfahrung weiß, was öffentliche Freiheit ist, und daß niemand frei oder glücklich ist, der keine Macht hat, nämlich keinen Anteil an öffentlicher Macht." Die modernen Parteiensysteme hätten das alte Verhältnis zwischen einer regierenden Elite und dem Volk aufrechterhalten — in der Idee der Räte jedoch sei die „wahrhaft revolutionäre Hoffnung der europäischen Völker der Erde auf eine neue Staatsform, die es jedem inmitten der Massengesellschaften doch erlauben könnte, an-den öffentlichen Angelegenheiten der Zeit teilzunehmen", aufbewahrt
Der Utopismus des Demokratieverständnisses der Neuen Linken gilt dem gängigen common-sense-Verstand als schlagendes Gegenargument. Demgegenüber muß einmal daran erinnert werden, daß zwischen der Aussagekraft der Behauptungen „Herrschaft wird es immer geben" und „herrschaftslose Gesellschaften können verwirklicht werden", kaum Unterschiede bestehen: Es handelt sich in beiden Fällen um unbeweisbare Aussagen, wenngleich die historische Erfahrung den ersten Satz als den plausibleren erscheinen läßt. Auch setzt der Hinweis auf die bisherige Persistenz von Herrschaft die Gültigkeit der Forderung, daß eine herrschaftsfreie Gesellschaft, welche maximale Selbstbestimmung der Individuen zuläßt, anzustreben sei, nicht außer Kraft. Selbst wer die Ansicht vertritt, daß demokratische Zustände schon dann vorliegen, wenn die Wähler Personen ihres Vertrauens in politische Ämter berufen, jedoch wegen ihrer grundsätzlichen Uninformiertheit keine Entscheidungen über gesellschaftspolitische Alternativen treffen können — Selbstbestimmung im materialen Sinn also unmöglich ist —, wird dem Satz „Herrschaft soll selbst dort sein, wo sie gefahrlos abgebaut werden könnte", nicht zustimmen. Zum demokratischen Denken scheint notwendig die Idee zu gehören, daß Herrschaft überall, wo dies gefahrlos geschehen kann, zu minimisieren sei: Damit ist zugleich gesagt, daß der Spielraum für eigenverantwortliche Selbstbestimmung maximiert werden soll.
Zwar haben Ideen wie Emanzipation und Selbstbestimmung in der heutigen politischen Wissenschaft nur geringen Kurswert: Doch seitdem sie von den Denkern des sich emanzipierenden Bürgertums formuliert worden sind, sind sie aus dem Gedächtnis der Menschheit nicht mehr geschwunden. Auch heute noch ergreifen sie bisweilen die Massen und werden so zur materiellen Gewalt.