Neue Entscheidungen sind nötig, wenn die politische Bildungsarbeit nicht in einer Sackgasse enden soll. Zahlreiche Aufsätze, Rückblicke und Bilanzen über die politische Bildung in der Bundesrepublik sprechen diesen Gedanken ohne Zögern aus. Die Unruhe und der politische Aktivismus innerhalb der Jugend rief mannigfache Besorgnisse hervor, weil sich Kritik und Engagement gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung wenden: Man lehnt sich gegen die Erstarrung demokratischer Ideale auf und fordert rasche und umfassende Reformen. Angesichts des wissenschaftlichen und technischen Entwicklungsstandes glaubt man Chancengleichheit und gerechte Güterverteilung in einer von allen Manipulationen und Repressionen befreiten Gesellschaft verwirklichen zu können. Da die politische Realität sich nicht in dieser Richtung entwickelt, regt sich das Unbehagen und artikuliert sich der Protest. In den Strudel der Kritik über Versäumnisse und Unzulänglichkeiten gerät auch die politische Bildung und der Politikunterricht. Wer die Erörterungen der letzten Jahre bis zur Bundestagsdebatte vom 15. November 1968 überblickt, kommt zu dem Ergebnis, daß allgemein die Auffassung besteht, daß die politische Bildung nicht das leistete, was man von ihr erwartete.
I. Kritik und Gegenkritik zur Zielsetzung politischer Bildung
Als Wolfgang Mickel Ende 1965 seinen Rückblick über die politische Bildung in der Bundesrepublik schrieb, bezeichnete er als vordringliche Aufgabe der politischen Pädagogik: politisches Bewußtsein, eine sozialethische Einstellung und eine tatbereite Haltung heranzubilden
Die Kritik, die sich mit dem IfS-Gutachten beschäftigte, monierte, daß die gefällten Wert-urteile sich auf empirische Untersuchungen stützen, die bereits in den Jahren 1961 und 1962 durchgeführt wurden. In der Zwischenzeit sei aber manches geschehen, was die Gutachter nicht berücksichtigen konnten. Besonders Felix Messerschmid, Sebastian Herkommer und Wolfgang Hilligen setzten sich kritisch mit dem IfS-Gutachten auseinander. Es genügt, auf diese Beiträge zu verweisen
Zwei Tendenzen wurden als bedenklich beschrieben: ein sich von allen Wertgrundlagen lösender Kritizismus und ein gefühlsmäßiger Aktivismus. Auch die Bundesregierung bringt zum Ausdruck, daß politische Bildung glaubwürdiger und überzeugender als bisher wirken sollte. Dazu müssen die „noch unzureichend geklärten didaktischen und methodischen Probleme der politischen Bildung in den verschiedenen Schulformen und -arten beschleunigt untersucht werden"
Zweifelslos hat die politische Bildungsarbeit in der Vergangenheit bestimmte Reaktionen ausgelöst, denn die Neigung zu Kritik und Engagement ist besonders unter der Jugend angestiegen. Man wäre freilich nicht so besorgt, wenn diese Reaktionen weniger emotionell und provokativ erfolgten
Die Erfolglosigkeit des Protestes wiederum steigerte die Frustration und verschärfte aggressive Tendenzen. Die radikale Linke, die sich für eine neue Ideologie einsetzt
Thomas Ellwein warnte 1964 vor dem „übermäßigen Betonen verantwortlichen Handelns, das oft in eine Art Aktivitätskult ausartet", weil diesem Aktivitätswillen eine politische Realität gegenübersteht, die sich dem Tun des einzelnen nicht so leicht öffnet
Daß die politische Bildungslehre mit dem Begriff politischer Beteiligung oder Mitbestimmung recht unkritisch umging, weil sie sich viel zu wenig Gedanken über die realen Möglichkeiten solcher Beteiligung machte und damit indirekt jenen „Aktivitätskult" förderte, darf nicht übersehen werden, obwohl es genügend Stimmen gab, die auf dieses Problem hinwiesen. So unterstrich Felix Messerschmid, daß das Aktivitätsprinzip nicht für die politische Bildung konstitutiv sei. „Das Aktivitätsprinzip hat ein Modell des Bürgers vor Augen, das idealistisch überhöht ist, es an Nüchternheit fehlen und sich daher nicht realisieren läßt."
Eine solche Wirkung erzielt die politische Bildung, wenn sie die Urteilsfähigkeit des Heranwachsenden so weit entwickelt, daß er weiß, wie er seine politische Bewußtseinshaltung in politischen Kontroversen zur Geltung bringt und welche Gruppe er zu unterstützen hat. Die Übung politischer Urteilsbildung und das Wissen um die konkreten Möglichkeiten sinnvoller demokratischer Beteiligung stellen das Herzstück des Politikunterrichtes dar. Das bloße Reden von politischer Aktivität und Mitbestimmung genügt in keinem Falle und ruft die akute Gefahr hervor, daß sich ein „Aktivitätskult" herausbildet, der mangels nüchterner Reflexionen sich an eine Sozialutopie verliert, die als ideologieverdächtig zu bezeichnen ist. Der mangelnde politische Realismus läßt die Stimmen anwachsen, die sich gegen einen Aktivitätskult richten
Hier werden alternative Ordnungsvorstellungen aufgestellt, die eine bewußte antidemokratische Tendenz besitzen, die Haß gegen das parlamentarische System predigen, die vor einer simplifizierten Schwarzweißzeichnung nicht zurückschrecken und ein schroffes Entweder-Oder als die letzte Möglichkeit ansehen. Politische Einsichten gewinnt man durch kritische Aufklärung, die nicht allein von der Soziologie geleistet wird. Dazu gehören auch philosophische und anthropologische, psychologische und ethische Erkenntnisse. Besonders die Sozialpsychologie und die Sozialpathologie machen die im Menschen vorhandenen Neigungen zur Aggression und Zerstörung sichtbar
Es gehört zu einer vordringlichen Aufgabe politischer Bildung, sich Gedanken über das Strukturmodell menschenwürdiger Ordnung zu machen, weil zugleich ein weltweites Problem angesprochen wird. Die starke Neigung zu Kritik und Aktivität in einem Teil der heutigen Jugend eliminiert nicht die subjektiven Komponenten im eigenen politischen Denken. Hier fehlt es an der ideologie-kritischen Überprüfung. Mit anderen Worten: Man darf Kritik nicht nur als Fremdkritik vortragen, sondern muß auch die Selbstkritik — im Sinne eines Selbsterziehungsprozesses — einbeziehen, denn der wahrhaft kritische Mensch zeichnet sich durch ein „gesundes Mißtrauen"
Da jede politische Schwarzweißzeichnung bei der Freund-Feind-Theorie endet, werden letztlich mit dieser Haltung nur Haßund Aggressionsgefühle angestachelt, die jeden vernünftigen Dialog unterbinden. Gerade der Dialog mit Andersgesinnten verhindert, daß sich eine ideologisch gefärbte Parteimeinung durchsetzt, weil sie ständig auf den Widerspruch Andersgesinnter stößt. Begriffliche Klarheit und Nüchternheit sind die unabdingbaren Voraussetzungen, einen vernünftigen Dialog zu führen. Suggestivität und auf Wirksamkeit bedachte Polemik, politische Phraseologie oder einseitig gefärbte Terminologie schalten den rationalen Dialog aus, der den Weg zur Erkenntnis und vernünftigen Urteilsbildung frei machen könnte.
Die politische Erziehungsarbeit hat ihre Aufmerksamkeit auf zwei typische Gefahren zu lenken: auf den Subjektivismus, der ideologische Einstellungen verbreitet, und auf die Wertneutralität, die sich der bewußten Wert-entscheidung entzieht. Die Gefahr, einen „So-
ziologismus" in die politische Bildung hinein-zutragen, wird häufig übersehen. Auch das bekannte IfS-Gutachten erliegt dieser Tendenz, wenn es äußert: „Politische Bildung ist nach den Worten Adornos nur möglich als Soziologie."
Erst mit der Befähigung zum „vernünftigen Dialog" schafft man die nötige Vorbedingung für eine politische Urteilsbildung, die den Blick für menschenwürdige Ordnungsnormen frei macht. Der Rückfall in die geschilderten Tendenzen — in den politischen Subjektivismus, der das Telos staatlicher Herrschaft dezisionistisch setzt, oder in den „unreflektierten" Objektivismus, der die unpolitische Haltung begünstigt, — widerholt sich bei ungenügender Wachsamkeit. Weder eine politische Dogmatik
Die rationale Analyse der Ordnungsnormen der einzelnen politischen Herrschaftsformen, die im Wettstreit miteinander stehen, ihr kritischer Vergleich im vernünftigen Dialog kann die Urteilsbildung so fördern, daß eine Normenentscheidung möglich wird
Politische Bildung erhält in der Gegenwart einen übernationalen Aspekt, der sich in der Zielvorstellung menschenwürdiger Ordnung und übernationaler Gemeinschaft ausdrückt. Die Zeiten, in denen die Nation, aber auch die Rasse oder Klasse erstrebenswerte Zielvorstellungen waren, sind vorüber. Es geht heute im wachsenden Maße um die „Wertqualität" der Ordnungskonzeption. Menschenwürdige Ordnung kann zu einem weltweiten Leitbild für die Jugend werden. Die Vorbedingung für die Realisierung dieses Telos ist eine bewußte Friedenserziehung. Sie verlangt neue moralische Anstrengungen, denn Humanität und Freiheit werden sich erst dann verwirklichen, wenn der Mensch — durch politische Bildung — lernt, den anderen Menschen als „Mitmenschen" und nicht als „Feind" zu sehen.
Erst wenn das Verständnis für diese globale Erziehungsaufgabe wächst, vergrößert sich die Chance für die Realisierung menschenwürdiger Ordnung, die heute mehr noch eine Forderung als eine Realität ist. Dazu gehören nicht zuletzt Fortschritte in der politischen Ethik. Es war ein Verdienst von Friedrich Wilhelm Foerster, schon in den zwanziger Jahren auf die Notwendigkeit einer bewußten Friedenserziehung hingewiesen zu haben. Wer würde ihn heute — im Anblick unserer Weltlage — noch als Pazifisten und Utopisten verketzern
Die Teilnahme am politischen Dialog verlangt die Fähigkeit, politische Begriffe auf ihren Inhalt zu analysieren. Der Heranwachsende ist an begriffliche Korrektheit und sprachliche Dis-ziplin zu gewöhnen, er darf sich nicht mit Schlagworten zufrieden geben
II. über die Denkansätze in der politischen Bildung
Zweifellos steht die Qualitätsfrage politischer Ordnung im Mittelpunkt politischer Bildung in der Gegenwart. Die Schärfe, mit der selbst die grundgesetzliche Ordnung in der Bundesrepublik angegriffen und die Art, wie sie als Formaldemokratie abgewertet wird, weil der einzelne am politischen Entscheidungsprozeß so gut wie nicht beteiligt ist, ruft die Frage hervor, wie man einer menschenwürdigen Ordnung gerecht wird. Eine kritische Überprüfung der Vergangenheit ist dabei unerläßlich. Das unpolitische Weltbild unserer Erzieher
Wichtige Kriterien einer „unpolitischen" Haltung ergeben sich aus dem Antiparteienaffekt, der in der deutschen politischen Pädagogik eine große Rolle spielte
Das Unbehagen richtete sich auch auf die Partnerschaftserziehung, auf die Mitbürgerbildung, auf übersteigerte Anpassung und Kooperation. Die innere Berechtigung dazu erblickte man in dem Mißverständnis, das auch in diesem politischen Bildungsideal zur Wirklichkeit der pluralistischen Industriegesellschaft auftrat. Die Partnerschaftspädagogik änderte die politischen Erzieher mit ihrem unpolitischen Weltbild nur wenig. War es verwunderlich, daß sich viele Bürger im neuen demokratischen Staat von der Politik distanzierten? Dahrendorf traf den Nagel auf den Kopf, wenn er bemerkte: „Die demokratischen Institutionen werden akzeptiert, aber bleiben äußerlich, fern, letztlich gleichgültig."
Die Kritik am unpolitischen Deutschen und seiner Gemeinschaftsideologie legte den Finger auf den Mangel an kritischer Selbstreflexion. Sie zeigte, daß Macht-, Interessen-und Wert-konflikte zum Tatbestand der pluralistischen Gesellschaft gehören. Gewiß konnte man den politischen Erzieher nicht zum alleinigen Sündenbock machen, denn er konnte schließlich nur die politische Grundhaltung der Gesellschaft reproduzieren
Nicht nur die traditionelle „Staatspädagogik", sondern auch die „Partnerschaftspädagogik" verstärkte das politische Unbehagen in der Bundesrepublik. Die letzte war aus dem „therapeutischen Denken" heraus nach dem Zusammenbruch als bewußte Abwehrhaltung gegen die „Unterwerfungspädagogik" des Nationalsozialismus entstanden. Mit gutem Recht trat Theodor Wilhelm gegen die phrasenhafte Dienst-und Hingabesittlichkeit zugunsten pragmatischer Kooperation und einer einfachen „Mitmenschlichkeit" auf. Sein bekanntes Buch von 1951 löste eine breite Diskussion über die Grundlagen politischer Bildung aus
Oetinger verstand demokratisches Leben als Kooperation der Gruppen, als Mitbestimmung und Mitverantwortung. Durch Kompromißbereitschaft und Toleranz sollte Solidarität entstehen. Die politische Bildung bemühte sich um eine friedensstiftende Funktion, weil sie den Feind in den Partner, den Untertan in den Vollbürger verwandeln wollte
Die politische Realität ließ sich mit dem „Partnerschaftsbegriff" nicht erschließen, denn erst auf der Grundlage der Machtprobleme im Anblick der Konfliktsituationen, wie sie sich in der Außen-und Innenpolitik ergeben, konnte sich jene Verantwortungsethik in den Kampf-situationen herausschälen, welche die staatliche Herrschaftsform gestaltete. Es war sinnlos, die kontroversen Konkurrenzprobleme als nicht existent zu bezeichnen oder ihre Friktionen zu leugnen
Der Kampf gehörte zur Politik, denn politische Entscheidungen fielen erst im Ringen der Persönlichkeiten und repräsentativen Gruppen miteinander. Ordnungsvorstellungen verwirklichte man nie ohne Kampf. Und Litt faßte seine Kernvorstellung in die Worte: „Was dem in diesem Kampf Obsiegenden zufällt, das ist die . Macht', daß heißt das Vermögen und die Befugnis, der ihm vorschwebenden Ordnungsidee zur Verwirklichung zu verhelfen. Alle Versuche, den Kampf aus dem politischen Leben zu verbannen, verraten ihr Un-genügen in der Unfähigkeit, der Macht im Gefüge des Menschlichen den rechten Platz anzuweisen."
Nicht zuletzt wendet sich heute der Protest der jungen Generation gegen die „Bewahrungsidee", denn zumindest besteht „die Demokratie aus der Übereinstimmung der Bürger, nicht übereinzustimmen", wie Rudolf Engelhardt feststellt, „sondern alle Entscheidungen auf dem Wege eines stets von neuem auszutragenden Konflikts sich bilden zu lassen"
Der „Konflikt" wird zum Begriff der politischen Bildung erhoben. Das Politische offenbart sich im Konflikt und zugleich dient der Konflikt als wichtige didaktische Kategorie. Weil sich die Gegensätze in der „Klassengesellschaft" verminderten, erscheint eine „Institutionalisierung" der Konflikte möglich. Die Harmonietheoretiker, die im Konflikt einen „Bazillus" sehen und ihn als „pathologische" Erscheinung abwerten, unterschätzen die schöpferische Kraft und leugnen den notwendigen dynamischen Prozeß
Der wunde Punkt dieses neuen Denkansatzes enthüllt sich in der Forderung, den „Konflikt" als Grundbegriff des Politischen anzuerkennen. Gewiß ist das Verständnis für soziale Konflikte in der politischen Bildung sehr vernachlässigt worden, so daß sich ein eklatanter Nachholbedarf für viele ergibt. Parteien und Verbände ringen in der Gesellschaft um politische und soziale Macht und jeder einzelne spielt seine Rolle in diesen Konflikten. Es wird nicht bestritten, daß der Politikunterricht den Heranwachsenden auf sein Rollenspiel in Konflikten sachgemäß vorzubereiten hat
Die Konflikte um die Durchsetzung der richtigen Ordnungskonzeptionen und um den sozialen Ausgleich beherrschen das Bild in der politischen Realität. Politische Bildung hat daher die Aufgabe, das Erkennen und Urteilen sowie die Handlungsbereitschaft und das Handeln zu fördern. • Karl Christoph Lingelbach bemühte sich darum, diese beiden Bereiche präzise zu beschreiben
Wir wollen zunächst seinen bemerkenswerten Ansichten folgen, um danach eine Kritik an der Konfliktpädagogik zu üben, denn auch sie schwebt in Gefahr, zu einer Konfliktideologie zu entarten. Nach Lingelbach gehört zur politischen Urteilsbildung die Einsicht, daß politische Entscheidungen nie „objektiv" fallen, weil ideelle und materielle Gruppeninteressen mitspielen. Die Vorstellung vom „Gemeinwohl"
Ideologie an. Während die Diktatur nur den Zwang zur Einheitsideologie kennt, gibt es in der pluralistischen Demokratie Gedankenfreiheit, weil der einzelne nicht genötigt wird, sich zu einer Einheitsideologie zu bekennen. Man erwartet von ihm, daß er sich mit den konkurrierenden Ordnungskonzeptionen auseinandersetzt und Klarheit über die „Qualität" der Ordnungsbilder gewinnt. Dazu ist jedoch kritisches Denken die unabdingbare Voraussetzung
Hat der Politikunterricht in der Bundesrepublik diese Fähigkeit zur rationalen Analyse und zur objektiven Bewertung der „Qualität" von Ordnungsbildern in ausreichendem Maße gefördert? Der gegenwärtige Zustand in unserer politischen Bildungssituation läßt eine positive Beantwortung der Frage kaum zu, weil die Neigung für politische Ideologien eher zunimmt als abnimmt.
Auch Lingelbach betont, daß Analyse und Bewertung die Grundbedingungen für politisches Handeln sind. Anthropologische und ethische Implikationen sowie die Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit sind bei der politischen Urteilsbildung in Rechnung zu ziehen, wenn man Werturteil und Handeln verknüpfen möchte.
Problem für die politische Didaktik ist die Auswahl des Bildungsinhaltes, denn dieser muß so elementarisiert werden, daß ihn der Heranwachsende auf den verschiedenen Entwicklungsstufen versteht. Die Frage lautet deshalb: Mit welchen Lehrinhalten und Lehrformen entwickelt man politische Urteilsfähigkeit? Hier wird politische Bildung vom Aspekt der „Reflexion" betrachtet. Jedoch ist auch eine Lösung der Aufgabe vom Aspekt des „Handelns" her möglich, wenn man die Schule als „Erziehungsgemeinschaft" auffaßt. Die Frage müßte dann entsprechend lauten: Wie kann ich durch Regulierung zwischenmenschlicher Beziehungen in der Schulgemeinschaft Einsicht in politische Verhältnisse wecken? Besonders die Reformpädagogik mit ihrem Sinn für die Lebens-praxis versuchte, das Verhalten der Heranwachsenden vom Aspekt des Handelns und des Mittuns zu beeinflussen
Die in der gegenwärtigen Diskussion angebotenen Lösungen faßte Lingelbach in fünf Denkmodellen zusammen, die wir kurz skizzieren wollen:
Erstens verwies er auf Oetingers Partnerschaftslehre. So wichtig der Gedanke der Kooperation für das Politische ist, Macht und Konflikt, Streit und Zerwürfnis sind in die Reflexion mit einzubeziehen
Zweitens sah man als Zentralproblem didaktischer Theorie die politische Urteilsbildung, die zum Engagement ermutigt. Im Anschluß an Otto Woodtli charakterisierte Lingelbach drei Teilbereiche des Politikunterrichtes: die Analyse politischer Zusammenhänge, die das „Ganze von Staat und Gesellschaft" betreffen; das „Hineinversetzen" in die Verantwortungsund Entscheidungssituation; das Durchdenken der Auswirkungen einer Entscheidung. „Es führt zur Erkenntnis des persönlichen Betroffenseins, der bewußten oder unbewußten Teilhabe an jeder größeren Auseinandersetzung."
Drittens wird dieses didaktische Modell in einer wesentlichen Dimension durch „Gewissensbildung" ergänzt. Der Heranwachsende wird an die ethische Problematik konkreter Entscheidung herangeführt. Heinrich Schneider rückte die politische Verantwortungsethik in das Zentrum seiner Betrachtung. Verantwortungsethik schließt das Eigeninteresse nicht aus, aber sie entwickelt „die innere Kraft zur Bescheidung im Hinblick auf das Ganze". Schneider hebt das „Ineinander von Engagement" und „Askese" als Grundverhalt der Verantwortung hervor
Viertens konzentrieren einige Theoretiker den politischen Bildungsinhalt in einen Katalog von „Grundeinsichten". Fischer, Herrmann und Mahrenholz formulieren neun Grundeinsichten für den Politikunterricht
Damit gerät man jedoch in ein politisches Modelldenken, ohne die eigenen Voraussetzungen zu klären. Die realen Konflikte verlieren ihren Ernstcharakter, man fördert Gesinnungsbildung
Wir versagen uns an dieser Stelle ein kritisches Wort zur Beurteilung von „Grundeinsichten", wie sie von Lingelbach vorgetragen wird, um fünftens den Konflikt als Mittelpunkt didaktischer Theorie zu erörtern. Nach Giesecke erschließen aktuelle Konflikte die Kategorien des Politischen, die man in „sinnvolle Leitfragen" umwandelt und zu einem operativen Denkmodell zusammenfaßt
Das Auswahlkriterium für den Bildungsinhalt sieht Lingelbach in der verantwortlichen Lebensbewältigung. Weil sich aber Leben in den Konflikten darstellt, muß man jene Konflikte auswählen, die in das Leben des Jugendlichen einbezogen sind und die er als Verantwortlicher mitgestalten möchte. Damit sind aktuelle politische und soziale Konflikte angesprochen. Durch eine sachgemäße Analyse werden aus ihrer „objektiven Struktur" Kategorien abgeleitet, die der Politikunterricht in Leitfragen verwandelt. Die Übereinstimmung mit Giesecke ist hier unverkennbar
Der aktuelle Konflikt und sein öffentliches Interesse bewirken das Verständnis, daß alle davon berührt werden. Die Verbindung von politischem Geschehen und persönlichem Schicksal ruft Engagement hervor, das zur Parteinahme im Konflikt führt. Wenn man im Bewußtsein persönlicher Teilhabe die im politischen Geschehen entstehenden Intentionen mit den entsprechenden Dimensionen des politischen Konfliktes in Berührung bringt, entstehen Kategorien, die Lingelbach durch folgende Fragen ermittelt: 1. Welchen Vorteil habe ich von der einen oder anderen Lösung des Konfliktes? (Interesse) 2. Wie sollte eigentlich die Streitfrage geregelt werden? (Ideologie) 3. Welche Auswirkung hat die eine oder andere Lösung für das Schicksal der betroffenen Menschen? (Verantwortungsethik aus „objektiver" Sicht)
Inwieweit kommt es bei dieser Sache auf mich selbst an? (Verantwortungsethik aus „subjektiver" Sicht) 4. Auf welchen Wertmaßstäben beruhen die Forderungen der Opponenten? (normative Wertvoraussetzung aus „objektiver" Sicht)
Auf welchen Wertmaßstäben beruht meine eigene Entscheidung? (normative Wertvoraussetzung aus „subjektiver" Sicht)
Didaktische Kategorien gewinnt man aus sachgemäßer Analyse aktueller Konflikte. Durch die verantwortliche Teilnahme am politischen Geschehen entstehen aus der Reflexion darüber neue Fragen, die zur persönlichen Entscheidung und zur wertenden Stellungnahme hindrängen. Indem der aktuelle Konflikt von neuem befragt wird, erschließt Lingelbach neue Dimensionen des Politischen: 1. Wie kann ich in der Streitfrage meine Auffassung zur Geltung bringen? (Mitbestimmung) 2. Welcher Gruppe muß ich mich anschließen, wenn ich meine Vorstellungen verwirklichen möchte? (Solidarität)
Mit diesen Fragen vollzieht sich der Übergang von der „Reflexion" zur „Aktion", denn nach der Erkenntnis und Wertung soll verantwortliches Handeln einsetzen. Der Politikunterricht kann in diesem Sinne stimulierend wirken, indem er die Auseinandersetzung mit Anders-denkenden einübt, Fragen des Taktes behandelt, auf die Gewandheit und überzeugende Darstellung eines Sachverhaltes achtet und Beherrschung der nötigen Spielregeln lehrt.
Die Erziehung zu Grundeinsichten und zur Anerkennung allgemeinverbindlicher Prinzipien traf auf seine Kritik, weil der Blick für sich ereignende Konflikte nicht getrübt werden sollte. Andererseits wollte Lingelbach auf demokratische Bewußtseinsbildung nicht gänzlich verzichten, denn seine Überlegungen basierten auf den ethischen Prinzipien des Grundgesetzes, die er aber nicht zum Gegenstand politischer Bildung machen wollte. Demokratische Bewußtseinsbildung ließ sich pädagogisch verantworten, wenn sie als Teilaspekt bei der Konfrontation mit politischen Konflikten -auf trat, weil ja dann der Heranwachsende seine Stellung bezog und man hoffen durfte, daß er sich für demokratische Prinzipien einsetzte, als Grundlage da er diese seiner eigenen Existenz erkannte. Aus der Befähigung zur Analyse und Beurteilung konkreter politischer Probleme leitete Lingelbach die Möglichkeit ab, daß sich der Heranwachsende seiner eigenen Prämissen bewußt wurde und seine Position an den gesellschaftlichen Folgen überprüfte. Mit dieser Konzeption verband Lingelbach einige methodische Folgerungen, die er aus seiner didaktischen Analyse zog. Er formulierte vier methodische Thesen: 1. Der Politikunterricht sollte von der Analyse eines aktuellen Konfliktes ausgehen oder seine Wissensvoraussetzungen erarbeiten. Der politische Konflikt steht im Mittelpunkt im Unterschied zur traditionellen politischen Pädagogik. 2. Er verlangt eine distanzierende Erkenntnis-haltung zum Gegenstand, damit sachgemäße Analyse möglich wird. Erst danach erfolgt eine engagierte Stellungnahme: die Wertentscheidung, welche eine Aktionshaltung auslöst, die die Bedingungen und Möglichkeiten für persönliche Einflußnahme prüft. 3. Der Heranwachsende soll in die Verantwortungssituation des Politikers hineinversetzt werden. Lingelbach denkt an das von Heinrich Roth entwickelte Prinzip der Vergegenwärtigung. 4. Er fordert als Unterrichtsstil die von Dahrendorf beschriebene „rationale Haltung" gegenüber sozialen und politischen Konflikten
Wir referierten Lingelbachs Denkansatz so ausführlich, weil er sich aus einer kritischen Analyse und Besinnung anderer Denkansätze aufbaut und manche Details einbezieht, die höchst bemerkenswert sind. Der Konflikt als Grundbegriff politischer Bildung wird jedoch nicht in Frage gestellt. Auch er gehört in die Reihe der Konflikttheoretiker, die mit Recht gegen die alte Behauptung ankämpfen: Schüler und Jugendliche seien für eine Beurteilung politischer Kontroversen nicht reif genug; diese Behauptung rechtfertigt in keiner Weise das Verschweigen sozialer und politischer Konflikte
Befremdend wirkt die Kritik an jenen Theoretikern, die sich für fundamentale Einsichten einsetzen. Gewiß kann eine Fixierung auf ein bestimmtes „Wertapriori" zum Mangel an kognitiver Distanz führen und damit ideologische Tendenzen fördern, wer jedoch die methodischen Thesen von Lingelbach beachtet — Trennung von Erkenntnis und Wertung — und seine politische Verantwortungsethik ernst nimmt, kann den Gedanken einfach nicht verwerfen, daß es Grundeinsichten und vernünftige Ordnungsnormen gibt, die freilich einer ständigen kritischen Reflexion bedürfen. Die Abwertung der Begriffe Konsensus, Grundeinsicht, Gemeinwohl, Kooperation, Solidarität, Ordnungsnorm stimmt bedenklich, weil damit Aspekte politischer Bildung verschüttet werden, die als ebenso wichtig wie die Bewältigung von Konfliktsituationen anzusehen sind. Wir stellen mit diesen Bemerkungen das Konfliktmodell nicht in Frage und halten es auch nicht für ein „großangelegtes Täuschungsmanöver", das überhaupt nicht funktioniert
III. Zur Kritik der Konflikttheorie in der politischen Bildung
Es ist meine These, daß man der Dialektik des Politischen nicht mit dem Tatbestand des Konfliktes allein gerecht wird. Der von den Theoretikern des Konfliktes gemachte Vorschlag, „in Zukunft nur noch in diesem engen, dafür aber jeweils verifizierbaren Sinne vom Politischen zu sprechen"
Konflikte sind Symptome dafür, daß sich das innen-oder außenpolitische Gleichgewicht verschob. Sie signalisieren Diskrepanzen und Antagonismen, die man wieder beseitigen muß, wenn nicht gefährliche Zuspitzungen und Zerreißproben entstehen sollen, denn Konflikte können Ordnungen zerstören und Chaos und Anarchie hervorrufen. Damit deuten wir die Möglichkeit einer Übersteigerung des Konfliktdenkens an. Das Konfliktdenken ruft auch Perversionen hervor, die den Bestand einer funktionsfähigen Ordnung ernstlich in Frage stellen. Der Blick fällt auf das Ordnungsproblem, dem in der politischen Bildung der gleiche Rang wie dem Konfliktproblem zukommt. Im Zusammenleben der Menschen spielen Ordnung und Konflikt eine grundlegende Rolle: Sie sind die beiden Pole, um die das politische Denken kreist
Dieses Normative wird nicht durch eine Dezision ausgedrückt, sondern durch einen rationalen Prozeß im vernünftigen Dialog ermittelt. Die distanzierende Erkenntnishaltung zum Gegenstand, daß heißt die sachgemäße Analyse der realen Ordnungstypen ist eine conditio, wie Lingelbach in aller wünschenswerten Klarheit betonte
Die Ideologiekritik vermag Ordnungsnormen zu enthüllen, die sich nicht in den Dienst der menschenwürdigen Ordnung stellen, sondern dem Machtmißbrauch, gruppenegoistischen oder individuellen Zwecksetzungen entgegenkommen. Politische Urteilsbildung muß in der Lage sein, sich von „ideologischen" Normen zu befreien, denn Ideologien stiften Verwirrung und bauen ein „falsches" Bewußtsein von den Realverhältnissen auf; sie sind nicht seins-
kongruent. Man benutzt sie als „politische Waffe" in der weltanschaulichen Auseinandersetzung. Nicht der vernünftige Dialog mit dem Andersdenkenden ist das Ziel, sondern die Verteufelung des Gegners, der sich nicht für das gesetzte „Wertapriori" engagieren möchte, weil dieses „kollektive Bewußtsein" einseitigen Machtinteressen und nicht dem Gemeinwohl durch eine menschenwürdige Ordnung dient. Politische und soziale Veränderungen werden revolutionär verfolgt. Ideologien sind die dafür notwendigen Instrumente.
Ebenso wichtig wie die Heranbildung eines Verständnisses für Konflikte, die man in einer pluralistischen Gesellschaft nicht unterdrücken darf, weil Kontroversen und Streitfragen bereinigt werden müssen — durch Toleranz, Kompromiß und vernünftigen Ausgleich —, ist die „ideologiekritische" Haltung
Die ideologiekritische Haltung, die im Politik-unterricht anzustreben ist, stärkt das Reformbewußtsein. Reformen sind mühsamer zu verwirklichen als die Reaktion, die den Status quo beibehält, und die Revolution, die den Konflikt auf die Spitze treibt, bis sich die alte Ordnung auflöst. Die Ideologiekritik stellt Fehlentwicklungen und Versäumnisse des „Systems" heraus. Sie durchleuchtet auch die demokratische Grundordnung und weist auf die Widersprüche von Norm und Wirklichkeit hin. Unzulänglichkeiten in der politischen Willensbildung, im Parteiensystem, im Verhältnis der politischen Führung zum einzelnen Bürger, gleiche Start-chancen im Bildungssystem sind nur einige Hinweise für Reformmaßnahmen, die im Interesse einer „menschenwürdigen Ordnung" zü-ig durchzuführen sind. Die Ideologiekritik eigt, daß totale Demokratisierung ein hohles >chlagwort darstellt, weil menschenwürdige Ordnung nicht der Autorität entbehren kann ind weil Freiheit ohne Autorität in die Anarhie führt. Ohne eine verantwortliche, freilich luf Zeit begrenzte Führung liefert man den lürger den Macht-und Interessengruppen us, die sich bedenkenlos über das „Gemein-vohl" hinwegsetzen. Zur Aufhellung solcher Verhältnisse ist politische Bildung nötig, weihe die ideologiekritische Dimension in alle schichten unseres Volkes hineinträgt. ie enthüllende Wirkung der Ideologiekritik chafft eine politische und soziale Solidarität, im die gewonnene Erkenntnis für das Ord-lungswissen nutzbar zu machen und Ordungsverhältnisse anzustreben, die Menschen-vürde, Freiheit und Gemeinwohl realisieren.
ie Entfaltung der geistigen und moralischen Iräfte wirkt der Manipulation des Menschen n der modernen Industriegesellschaft entge-en, weil die nötige Selbstkritik entwickelt vird. Diese bewahrt vor jeder Dogmatisierung nd vor einer Verengung des Denkens. Das eordnete Zusammenleben erfordert gemeiname „Grundeinsichten". Ohne diese Basis önnen unvermeidbare Konflikte nicht gechlichtet und ausgeglichen werden
Konflikte entstehen, da sich in der pluralistichen Gruppengesellschaft Interessen durchseten wollen und dies zu Kontroversen führt. Veil der einzelne viel zu ohnmächtig ist, chließt er sich in Interessengruppen zusamien, um seine politische und soziale Solidariät zum Ausdruck zu bringen. Parteien und Verbände kämpfen für Interessen und Werte. as ist legitim. Solche Konflikte fördern den ortschritt und besitzen eine schöpferische Dyamik, solange sie nicht jene erträgliche irenze überschreiten, durch die der Bestand iner freiheitlichen, humanen und sozialen ) rdnung gefährdet wird. Wenn sich Konflikte o auswirken, daß man das Gemeinwohl korumpiert, verlieren sie ihre „qualitative" Be-eutung, denn dann erfolgt der Umschlag in ie Destruktion.
Politische Bildung, die den Gemeinwohlbegriff nicht zur Sprache bringt, verzichtet auf die Klärung eines Grundbegriffes politischer Ethik. Sie könnte dann die friedlose und ungerechte Welt nur aus der unverbesserlichen Natur des Menschen — also durch eine negative Anthropologie — oder durch Repression und Manipulation der politischen Gesellschaften — also rein soziologisch — deuten. Die ethische Komponente ginge dabei völlig verloren. Wenn es der humanen Vernunft nicht mehr gelingt, Frustration durch allseitige Gerechtigkeit, Repression und Manipulation durch ein soziales Gewissen abzubauen, um so das Gemeinwohldenken zu fördern, bleibt ein Mißbehagen zurück, das sich zur aggressiven Erregung steigert und im Konflikt die tödliche Destruktion sucht
Mit radikal destruktiven Konfliktsituationen wird man in Zukunft zu rechnen haben, wenn es nicht gelingt, aggressive Triebenergien durch ein weltweites Gemeinwohldenken zu sublimieren. Die ungerechte Güterverteilung in der Welt, die Konzentration des Reichtums, die wachsende Armut und die Bevölkerungsexplosion verursachen ein Weltdefizit an Gütern und an Bildung, das ideologisch gefärbten Revolutionstheorien Aufschwung gibt, weil das Fehlen einer Gemeinwohltheorie den erträg -lichen Ausgleich der Spannungen verhindert
Die Unterdrückung der Konflikte ist ebenso unsinnig wie die Verherrlichung des Konfliktes, der mit taktischen und strategischen Mitteln forciert wird, um revolutionäre Ziele zu verwirklichen. Eine vernünftige Konflikttheorie sorgt sich um die Wiederherstellung des Gemeinwohls, sucht den „begrenzten" Konflikt, weil nur durch Kontroversen Interessen sichtbar werden. Die unverhüllte Konfliktlage ruft das Verständnis strittiger Probleme, aber auch die Bereitschaft zu ihrer Lösung hervor. Der geregelte und institutionalisierte Konflikt bietet Chancen für die Problemlösung an. Genau hier liegt der große Wert der „begrenzten" Konflikttheorie, die für eine politische Bildung äußerst fruchtbar ist. Der berechtigte Einwand gegen diese Konflikttheorie lautet gewöhnlich: Wer verbürgt sich dafür, daß der „begrenzte" Konflikt auch progressiv und evolutionär wirkt? Solche Konflikte könnten ja dem Status und guo dienen damit jeden Fortschritt verhindern. Dann allerdings stünde der Konflikt im Dienste der Reaktion, er wäre nichts anderes als ein großes Scheinmanöver
Der Vorwurf lautet: Die begrenzte Konflikt-theorie erweist sich als Stütze der restaurati-ven Ideologie. Auch diese Möglichkeit sollte die politische Bildung kritisch betrachten, denn Konflikte können durch geschickte Manipulationen massiven oder auch sublimen Interessen dienen. Die schonungslose Enthüllung solcher Vorgänge, die durchaus möglich und realisierbar sind, kann allein durch die Ideologiekritik erfolgen, die solche Perversionen des Konfliktmodelles verhindert. Die Konflikttheorie wird zur Konfliktideologie, wenn sie sich für die Reaktion und die Revolution engagiert. Die Konflikte werden im ersten Fall manipuliert und damit verharmlost und im zweiten Fall so intensiviert, daß sie dysfunktional und destruktiv wirken. Zwischen Reaktion und Revolution vollzieht sich jedoch der mühevolle Weg der Reform, die den „begrenzten" Konflikt so nötig braucht wie die Wiederherstellung des Gemeinwohls, die beide für die menschenwürdige Ordnung unentbehrlich sind.
Gegensätzliche Ideen und Interessen sollen in einem geregelten Kampf zum Austrag kommen, ohne daß diese Auseinandersetzung zur Vernichtung des Andersdenkenden führt. Zivilcourage und Fairness sind Tugenden, die in einer pluralistischen Gesellschaft zur Humanisierung der Konfikte beitragen und den rationalen Dialog in Gang setzen. In aller Offenheit und mit der Bereitschaft, strittige Fragen zu lösen, ist der Dialog zu führen. Eine Konflikttheorie, die diesen Aspekt beachtet, erfüllt eine wichtige Teilaufgabe politischer Bil-B düng
Eine setzt erfolgreiche Konfliktschlichtung eine Einigung über Prinzipien freiheitlicher demokratischer Grundordnung voraus. Ohne ein einheitsstiftendes Band als Fundament lassen sich keine wirklichen Lösungen der Probleme vorstellen. Hier kommt das Ordnungswissen ins Spiel, das eine geistige Substanz beinhaltet, die mit religiösen oder politischen Dogmen nichts zu tun hat, sondern sich aus der Struktur des Menschen selbst ableitet
Es ist problematisch, im „Konflikt" den Grundbegriff der Theorie politischer Bildung zu erblicken, denn wir geraten leicht in eine „Konfliktideologie" hinein, wenn man die Augen vor der Ordnungsaufgabe verschließt. Ein „theoretischer Monismus" kann immer nur einen Teilaspekt beachten. Die Verabsolutierung eines Gesichtspunktes hat stets die Gefahr der Ideologisierung hervorgerufen. Aber auch andere Perversionserscheinungen der Konflikttheorie sind möglich, wenn sie sich entweder in den Dienst restaurativer Tendenzen oder revolutionärer Zielsetzungen stellt. Eine Konflikttheorie, die sich als „Scheinmanöver" erweist oder ihren berechtigten Aspekt verabsolutiert oder bis zur Destruktion steigert, trifft nicht das Anliegen, das man von ihr erwartet: einen konstruktiven Beitrag zur Erklärung von politischen Phänomenen zu leisten. Wir erinnern an Theodor Litts zitiertes Wort, daß die Theorie von einer Einseitigkeit in die andere verfällt, um das eine mit dem anderen zu kompensieren. Die Theorie der politischen Bildung nach 1945 ging diesen Weg von der Partnerschaftstheorie zur heute dominierenden Konflikttheorie, wobei sich nur zu sehr bewahrheitet, worauf Hans Albert erst jüngst wieder aufmerksam machte, daß „jede Theorie, wie die Geschichte der Wissenschaft zeigt, irgendwelche Schwächen" besitzt
Der absolute Anspruch der Konflikttheorie, das politische Geschehen adäquat zu erklären, muß zurückgewiesen werden, weil zur Analyse politischer Strukturen die Ordnungstheorie neben der Konflikttheorie gute Dienste leistet. Das Dialektische des Politischen enthüllt sich in Ordnung und Konflikt, in Werten und Interessen, und dieser Dialektik wird man am besten mit einem „theoretischen Pluralismus" gerecht, denn beide Theorien erfassen einen wichtigen Teilaspekt. Die politische Bildung sollte daher den Blick ebenso auf den Zustand der Ordnung wie auf die vorhandenen Konflikte lenken. Auf dieser Grundlage wäre ein neuer Denkansatz zu erarbeiten, der hier nur andeutungsweise zu leisten ist.
Die Ordnungstheorie untersucht politische Strukturen der konkreten Herrschaftsformen und beschreibt ihre konstitutiven Ordnungsnormen, welche die Funktionsfähigkeit des integrierten Systemes aufrechterhalten. Bei dieser Analyse stellt sich ein „qualitatives" Gefälle ein, deren dominante Kennzeichnung sich aus dem Unterschied von freiheitlicher Ordnung und Zwangsordnung ergibt. Es ist eine primäre Aufgabe der Ordnungstheorie, objektive Gründe für den Unterschied von Demokratie und Diktatur zu erarbeiten
Die Ordnungstheorie analysiert die bestehenden politischen Strukturen, sie erfaßt die grundlegenden Ordnungsnormen und führt einen kritischen Vergleich durch, der die wesentlichen Qualitätsunterschiede festlegt. Die kognitive Distanz bleibt bis zur Wertentscheidung erhalten, die nach dem Gesichtspunkt von Freiheit und Menschenwürde gefällt wird. Objektiv ist diese Entscheidung nach der gewählten übernorm. Nur der totale Zwangs-und Unrechtsstaat wird diese übernorm ablehnen und sie durch andere ersetzen
Die Entscheidung für eine politische Ordnung, die qualitativ anderen Ordnungsformen überlegen ist, erfolgt mit Hilfe der Ideologiekritik, welche nicht nur die konkreten Ordnungsformen, sondern auch die in der politischen Gesellschaft vorhandenen, miteinander konkurrierenden Ordnungsvorstellungen kritisch überprüft. Der Heranwachsende muß befähigt werden, sich sein Urteil über kontroverse Ordnungsvorstellungen zu bilden und seine Wahl zu treffen. Die Chance der Ordnungstheorie besteht in der Fixierung eines „Soll-Wertes", das heißt der menschenwürdigen Ordnung, für die man sich aus Erkenntnis ihres Wertes einhellig entscheidet und für deren Realisierung man sich engagiert. Ohne ideologiekritische Haltung wird man Erkenntnis — Wertung — Engagement für die menschenwürdige Ordnung nicht vollziehen.
Die Konflikttheorie untersucht die unvermeidbaren Konflikte in der freiheitlichen Ordnung. Die totale Zwangsordnung unterdrückt jeden Konflikt durch das Frage-, Kritik-und Informationsverbot. Da sie jede kritische Regung durch ein ideologisches Bewußtsein erstickt, bleibt der Dialog, der den Andersdenkenden voraussetzt, nur einer kleinen Führungsschicht vorbehalten, falls der Diktator nicht selbstherrlich entscheidet. Die Konflikttheorie ist bereits ein Symptom dafür, daß wir es mit einer freiheitlichen Ordnung zu tun haben. Im demokratischen Pluralismus werden Macht-, Interessen-und Wertkonflikte in aller Öffentlichkeit ausgetragen, weil unterschiedliche Interessen und Meinungen aufeinanderstoßen. Der öffentlich ausgetragene Konflikt stärkt das kritische Bewußtsein, weil um Problemlösungen gerungen wird, die bei einer Unterdrückung des Konfliktes sich nur im Verborgenen abspielen und unsichtbar bleiben. Daher wirken öffentlich ausgetragene Konflikte schöpferisch und fortschrittlich, wenn man Alternativen entwickelt, die zur Systemverbesserung beitragen und den Wandel der Verhältnisse in Fluß halten. Solche Konflikte sind als „konstitutiv" zu bezeichnen, denn sie fördern die freiheitliche Gesinnung. Die schöpferische und stimulierende Kraft, die sich durch den Konflikt im Prozeß des Wandels und der permanenten Systemverbesserung äußert, kann weder durch Zwang noch durch Konformität im Sinne harmonischer Übereinstimmung bewirkt werden, weil in der Auseinandersetzung, im Streit der Meinungen, jene Energien frei werden, welche die besseren Problemlösungen hervorbringen. „Konstruktive" Konflikte wirken solange progressiv, als sich die-bestehen-den Konfliktfronten im fairen Wettbewerb um echte Problemlösungen bemühen und hierfür Kontrastprogramme anbieten, die zu alternativen Entscheidungen auffordern. Konflikte, die sich in dieser Form abspielen, sind Auseinandersetzungen, die zwischen Regierung und Opposition, zwischen den Parteien und Verbänden gewöhnlich ausgetragen werden. Solche „manifesten" Konflikte verlangen nach geregelter Konfliktschlichtung, die im rationalen Dialog der Beteiligten durch Toleranz und Konpromißbereitschaft herbeizuführen ist. Erst wenn eine Konfliktschlichtung nicht mehr gelingt, wenn der Konflikt sich zum Dauerkonflikt entwickelt und die Konfliktfronten sich verhärten, kann eine Intensitätsstufe erreicht werden, die zur Zerreißprobe führt und die Stabilität der politischen Gesellschaft ernsthaft gefährdet. Solche Situationen bedrohen nicht nur die Stabilität der Gesellschaft, sondern auch den Weltfrieden, wenn das Krisenmanagement versagt und die Konflikte nicht lokalisiert werden können. Das überschreiten der atomaren Schwelle müßte dann eine Eskalation auslösen, die zur Destruktion führt
Im Erkennen dieser Dialektik des Politischen liegt eine wesentliche politische Bildungsaufgabe, weil sich Ordnungsund Konfliktwissen fruchtbar zu einem Aktionswissen ergänzen, das Stabilität und Fortschritt zu gewährleisten vermag, während man Stagnation und Destruktion verhindert. Die für jeden theoretischen Monismus charakteristische Einseitigkeit wird durch einen theoretischen Pluralismus überwunden, der wichtige Teilaspekte zusammenfügt. Ordnung schöpferisches Freiheitsbewußtsein bilden die „Grundkonstanten" der politischen Bildung, die der Weltgesellschaft von morgen gerecht werden. Der Politikunterricht, der den Heranwachsenden in dieser Weise erzieht, vermittelt Wertvorstellungen, die der politischen Ordnung in Freiheit und Würde entsprechen. Die Grundkategorien Ordnung und Konflikt sind das Fundament politischer Bildung. Auf dieser Grundlage ist ein differenziertes Kategorien-system zu erarbeiten, das alle politischen Phänomene kategorial durchdringt.