Übersetzung: Karl Römer, Bad Godesberg
Das Problem: Die Fragwürdigkeit des Mandats
Eines der quälendsten Probleme dieses Jahrzehnts ist das Problem des Widerstands gegen die verfassungsmäßige Staatsgewalt. Jeder, der nachdenklich an dieses Problem herantritt, wird — so denke ich — feststellen, daß sich in Praxis und Theorie der Politik im Westen allmählich ein behutsames Gleichgewicht herausgebildet hat — ein behutsames Gleichgewicht zwischen menschlichen Satzungen und dem „unwandelbaren Gesetz des Himmels". Menschliche Satzungen geben ein positives, greifbares Mandat für das, was in ihrem Namen getan wird; aber sie können ungerecht sein oder sind, falls gerecht, dem Mißbrauch ausgesetzt. Die Staatsgewalt, welche die Satzungen handhabt, läuft in beiden Fällen Gefahr, ihre Legitimität zu verlieren und berechtigten Widerstand herauszufordern. Das Gesetz des Himmels, auf der anderen Seite, steht zwar höher, ist aber nicht zu greifen, bleibt ein Gegenstand der Skepsis; und es mag scheinen, daß Handlungen, die in seinem Namen gegen bloß menschliche Satzungen unternommen werden, der nachweisbaren Rechtfertigung ermangeln. Doch auch diese Handlungen — mit anderen Worten: Akte des Widerstands — brauchen ein Mandat, sollen sie einen gewissen Grad von _ Legitimität haben, sollen sie öicht reiner Gesetzlosigkeit den Weg bereiten und Vorzeichen bloßer Anarchie sein.
Das Mandat zum Widerstand ist schwer zu begründen. Es beruht schwerlich auf positivem Recht, und es beruht ganz sicher nicht auf den Aufträgen einer Wählerschaft. Gewöhnlich wird es von allgemeineren Prinzipien abgeleitet, etwa dem „Naturrecht", dem „Gemeinwohl“ oder dem „nationalen Interesse". Das sind erhabene Begriffe, aber sie sind, darauf muß hingewiesen werden, nicht ohne Gefahren und Zweideutigkeiten. Denn kann sich nicht jede Form von Widerstand — berechtigt oder nicht, aggressiv oder nicht — auf diese Werte in all ihrer hohen Abstraktheit berufen? Können sie nicht den Feinden der Freiheit ebenso wie ihren Verteidigern dienen
Doch mag das höhere Recht auch schwer zu fassen sein, so ist es darum doch nicht weniger existent-ia selbstverständlich. Wenn immer eine Regierung Recht und Gesetz verletzt und somit tyrannisch wird, dient es als oberste Berufungsinstanz. Das Mandat, das es verleiht, muß natürlich durch Sicherungen und einschränkende Bedingungen näher bestimmt werden
Der deutsche Widerstand gegen Hitler, mit dem ich mich hier beschäftigen will, hatte hingegen kein solch klares Mandat. Keine Volksbewegung stützte ihn. Er schritt von Komplott zu Komplott — zögernd zuerst, am Schluß ungestüm — und gipfelte in Oberst Claus von Stauffenbergs kühnem, aber erfolglosem Anschlag auf Hitlers Leben am 20. Juli 1944. Gewiß richteten sich wenige Widerstandsakte in der Geschichte gegen eine so ungeheuerliche Verbindung der Macht mit dem Bösen, wie sie der Nationalsozialismus darstellte. Dennoch hat gerade diese Widerstandsbewegung, deren Rechtmäßigkeit außer Zweifel stehen sollte, ihren Platz in der Geschichte mit einem höchst fragwürdigen Mandat eingenommen. Darin liegt eine tiefe, beunruhigende Ironie; und diese Ironie ist das Thema dieser Abhandlung.
Die Kritiker des deutschen Widerstandes
Kurz nach dem Anschlag auf sein Leben trat Hitler vor das Mikrofon und sprach zum deutschen Volk: „Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet ..." Mit diesen Worten begann jene Verächtlichmachung der Verschwörer, die später lauten Widerhall finden sollte, und zwar auch bei nichtnationalsozialistischen Kritikern des deutschen Widerstandes. Zum Mangel an Rückhalt im Volke trat die grausame Schmach des Scheiterns. Noch schlimmer war natürlich: Die Verschwörung stand nicht im Einklang mit der augenblicklichen Hauptanstrengung der Nation, der Kriegführung; sie lief dem zuwider, was zumindest im herkömmlichen Sinne als „nationales Interesse" galt. Denn ein Erfolg des Komplotts hätte möglicherweise die Niederlage des Vaterlandes bedeutet. Die Verschwörer handelten in einer Situation, in der Heldentum an Verrat, Widerstand an Defätismus grenzte. Ihr Dilemma war marternd für sie, und es hat ihrem Ansehen bei ihren Landsleuten auf schwerste geschadet. Gewiß, seit dem Ende der vierziger Jahre sind gründliche, maßgebende Werke erschienen, in denen die Motive des deutschen Widerstands gerechtfertigt werden
Doch es ist vielleicht verständlich, daß Deutsche nach wie vor das Mandat des deutschen Widerstands in Frage stellen. Rätselhafter und verwirrender sind die Angriffe, die in anderen westlichen Ländern, besonders in den Vereinigten Staaten, immer wieder gegen ihn erhoben worden sind
Zunächst jedoch möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Grundannahme lenken, von der dieser Bericht ausgeht — die Annahme nämlich, die Männer des deutschen Widerstands hätten bei allem Heldentum ohne gültiges Mandat gehandelt; sie hätten die Tyrannei bekämpft, aber nicht im Namen der Freiheit, und sie hätten das Böse bekämpft, aber nicht im Namen allgemeingültiger Werte. Diese mit sehr schwachem Lob gemischte Verurteilung des deutschen Widerstands ging ursprünglich von primär politischen Erwägungen aus. Später tauchte sie, unterschiedlich stark akzentuiert, in den Werken von Historikern auf. So behauptete der britische Historiker John Wheeler-Bennett, die deutschen Verschwörer seien von keinem höheren Ziel inspiriert gewesen als dem, einen Führer und ein Regime zu vernichten, die ihnen nicht mehr von Nutzen waren
Soviel sei zum angeblichen Verrat und zum angeblichen Opportunismus der deutschen Verschwörer gesagt. Man hat ihnen auch ein steriles Elitedenken vorgeworfen. Ein Kritiker meint, sie hätten nicht die wahre Elite aller Klassen und Traditionen vertreten, sondern enge Klassen-und Standesinteressen. Die Verschwörer vom 20. Juli waren vorwiegend Adlige und Offiziere; sie vertraten — nach Meinung dieses Kritikers — eine Gesellschaftsschicht, die hochtrabend von Treue sprach, in Wirklichkeit aber nur sich selbst treu war, die „ohne weiteres Nation und Staat verriet, wenn ihre Privilegien in Gefahr waren"
Zur gleichen Zeit beschuldigt man jedoch die Verschwörer eines ganz unaristokratischen Kompromißlertums. Zwar gab es einen Konflikt der Klasseninteressen zwischen den überwiegend. adligen Frondeuren und den nationalsozialistischen homines novi, zwischen den traditionsbewußten Mitgliedern einer alten Oberklasse und einer Bewegung, welche die soziale Revolution verhieß; aber dessenungeachtet waren die beiden Gruppen eng miteinander verflochten. Zumindest in der ersten Zeit hatten Differenzen zwischen ihnen mehr mit dem persönlichen Stil als mit politischen Über-zeugungen zu tun
Ein weiterer Grund, die Widerstandsbewegung zu tadeln, ihr zumindest mit Vorbehalt zu begegnen, ergibt sich aus ihrer politischen Haltung. Ich habe schon auf die adlige Herkunft vieler ihrer Teilnehmer hingewiesen. Es ist nicht verwunderlich, daß ihre Ideologie ebenso wie ihre soziale Herkunft konservativ war — jedenfalls alles andere als liberal und kaum demokratisch. Hatte ihr Widerstand auch edle Züge, so bot er ein treffendes Beispiel für eine merkwürdige Tendenz in der deutschen Geschichte, auf die der Soziologe Ralf Dahrendorf aufmerksam gemacht hat: das Auseinandertreten von Moralität und Liberalität
Schließlich ist den deutschen Verschwörern der Vorwurf gemacht worden, sie seien auf allzu romantische und theoretische, das heißt „apolitische" Weise an ein Unternehmen herangegangen, das ein politisches Unternehmen hätte sein müssen. Anfangs seien sie von ihren eigenen Einwänden gegen die Massendemokratie gelähmt gewesen und sodann von der Tatsaehe, daß die deutschen Volksmassen nazifiziert waren. Das daraus resultierende Dilemma, die „Politik der Unsicherheit"
Die Anklage gegen den deutschen Widerstand ist also umfassend — oder man sollte vielleicht eher sagen, sie ist vielfältig. Sie kommt von verschiedenen Seiten, sogar von entgegengesetzten Seiten, und zuweilen ist sie in sich widersprüchlich. Wie wir gesehen haben, wirft man den Verschwörern Verrat und Kollaboration, unpolitische Romantik und allzu politische Schlauheit vor. Aber es ist nicht einfach so, daß sich die Vorwürfe, die hier aufgezählt wurden, gegenseitig aufheben. Der Historiker, der das Mandat des deutschen Widerstands aufspüren und beurteilen will, kann an ihnen nicht vorübergehen. Die Zweideutigkeiten der Geschichte mögen für die Geduld, für den Verstand, ja auch für die Selbstachtung der Menschen recht beschwerlich sein. Simplifizierende Ansichten von der Vergangenheit können ebenso verlockend sein wie simplifizierende Ansichten von der Gegenwart.
Dennoch: Wenn es um die augenscheinlichen Helden der Vergangenheit geht, um Männer wie die Verschwörer vom 20. Juli, dann reicht unkritische Verherrlichung nicht aus. Und auch das Umgekehrte genügt nicht — das schicke, leichte, besserwisserische Herunterreißen. Billiges Moralisieren wird den Problemen des Widerstands gegen ein totalitäres Regime wie dieses nicht gerecht. Es war ein Regime, unter dem die Deutschen alle „gefangen in einem großen Zuchthaus" waren, wie ein sozialistisches Mitglied der Widerstandsbewegung, Wilhelm Leuschner, am Vorabend des Krieges sagte
Wie stand es um die Kommunisten? Vor 1933 hatten die Kommunisten jede Chance für eine gemeinsame proletarische Front zunichte gemacht; sie bezeichneten die Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“ und lehnten die Zusammenarbeit mit ihnen ab. Für kommunistische Parteidoktrinäre waren die Sozialdemokraten ein größeres Übel als die Nationalsozialisten. Tatsächlich machten die Kommunisten mit den Nationalsozialisten gemeinsame Sache bei der Zerstörung der Weimarer Republik. Später — nach dem Januar 1933 — war die Partei merkwürdig unvorbereitet für die Untergrund-arbeit. Und in den wenigen Fällen, wo sie wirklich organisiert handelte, traf sie der nationalsozialistische Terror hart
Die proletarischen Widerstandsorganisationen waren also durch die Kontrolle und den Terror der Nationalsozialisten praktisch neutralisiert. Und die Massen — das heißt die untere und die mittlere Mittelschicht — waren nazifiziert. Unter diesen Umständen konnte Widerstand, wenn überhaupt, nur aus den Reihen des traditionellen deutschen Establishments kommen
Die Widerstandskreise und die Weimarer Republik
Der Vorwurf, das Establishment habe nur aus Opportunismus angesichts der bevorstehenden Niederlage Widerstand geleistet, ist offenkundig unbegründet, betrachtet man ihn im Lichte der Ereignisse von 1938. In jenem Jahr bildete sich das militärische Zentrum des Widerstan-des aus Persönlichkeiten, die in Opposition zu Hitlers Kriegsplänen standen. Viel zutreffen-der wäre der Vorwurf der politischen Unreife, Unerfahrenheit, ja Unverantwortlichkeit in den Jahren der Weimarer Republik. Die Politik der Reichswehr trug in den zwanziger Jahren entscheidend dazu bei, die Demokratie in Deutschland zu untergraben. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, begrüßte das die Armee im großen und ganzen als ein Ereignis, das ihr selbst größere Bewegungsfreiheit und dem Lande neuen Glanz verhieß. Derselbe General Oster, der später, 1940, bereit war, bis zum Landesverrat zu gehen, besaß keine Bindung an den „bankerotten Parteien-staat" von Weimar; anfänglich feierte er die nationalsozialistische Revolution als „nationale Erhebung"
Wir spüren hier deutlich einen leicht entflammbaren Unwillen gegen die hausbackene, schwerfällige Rechtmäßigkeit der Demokratie, wie man sie in Deutschland zwischen 1918 und 1933 zu praktizieren versuchte. Hinter diesem Unwillen steckte viel politische Unreife, viel mißleitete Romantik; und daraus nährten sich die großen Erwartungen, die man an die nationalsozialistische Verheißung eines Tausendjährigen Reiches knüpfte. Die weitverbreitete Nachgiebigkeit gegenüber dem Nationalsozialismus, wie wir es heute nennen mögen, war zugleich die häßliche Frucht einer bewußten Politik Hitlers, nämlich der trügerischen Politik der Legalität und Respektabilität, die er seit dem fehlgeschlagenen Münchener Putsch vom November 1923 verfolgte. Man kann, glaube ich, feststellen, daß dem Faschismus, im Gegensatz zum Kommunismus, stets eine fest-umrissene Gestalt gefehlt hat und daß er deshalb viel schwerer zu identifizieren war. Der Kommunismus war von Anfang an eine klare, augenscheinliche Gefahr für die herrschenden Mächte; der Faschismus hingegen wurde oft — zum Teil gerade wegen dieser Gefahr — als Bundesgenosse rechtschaffener und wohlmeinender Bürger angesehen. „Die große Maske -rade des Bösen hat alle ethischen Begriffe durcheinandergewirbelt", schrieb Pastor Dietrich Bonhoeffer in einem Hitlerschen Gefängnis. Und in der Tat hat der Faschismus dadurch, daß er „in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten" erschien, so manchen im herkömmlichen Sinne anständigen Menschen getäuscht. Bonhoeffer, einer der am klarsten blikkenden und klügsten Männer der Widerstandsbewegung, durchschaute dieses Täuschungsvermögen: „. . . für den Christen", schrieb er, „ist es gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen"
Die Widerstandsbewegung und der „Triumph des Bösen"
Erst spät, viel zu spät trennten sich die Wege der alten Oberschicht von denen Hitlers. Zwischen 1933 und 1938 kamen mehrere kritische Augenblicke, in denen die Wehrmacht hätte handeln können, aber sie konnte sich nicht dazu entschließen. Zu einer Zeit, da es für sie vielleicht noch Wirkungsmöglichkeiten gab, ging sie der politischen Verantwortung aus dem Wege. Doch im Sommer 1938 sprach der Chef des Generalstabs des Heeres, General Ludwig Beck, in einer dienstlichen Aufzeichnung von der „Grenze" soldatischen Gehorsams, und er faßte sogar eine „innere Auseinandersetzung" ins Auge, die sich in Berlin abspielen werde
So rang sich denn endlich ein hoher Offizier zu dem Gedanken durch, daß die Pflicht des Soldaten nicht nur in sklavischem Gehorsam bestehe und daß die Wehrmacht vielleicht aktiv in die Innenpolitik eingreifen könne. Was bisher nur individueller Nonkonformismus und das Murren einer privilegierten Gruppe gewesen war, nahm endlich die Form einer organisierten Verschwörung an. Obzwar spät genug, geschah dies keineswegs zu einer Zeit, da Hitlers Stern im Sinken war — im Gegenteil, er stieg immer höher am Firmament der europäischen Diplomatie. Die führenden Köpfe der Verschwörung waren General Beck — nach seinem erzwungenen Rücktritt sein weniger kraftvoller Nachfolger General Franz Halder —, Staatssekretär Ernst von Weizsäcker vom Auswärtigen Amt und der geheimnisvolle Admiral Wilhelm Canaris von der Abwehr. Indes erwies sich, daß ihre Strategie auf einer falschen Kalkulation beruhte: Sie machten Hitlers Absetzung durch die Armee abhängig von einem starken britischen Widerstand gegen seine Aggressionspläne. In Großbritannien jedoch neigte man nicht nur allzusehr zur Beschwichtigungspolitik; leider bestärkten auch die Abgesandten der Rebellen aus Berlin unbeabsichtigt einen alten Argwohn in Downing Street Nr. 10 — die Furcht vor einem „neuen Preußentum", einem Wiederaufleben des Wilhelminischen Militarismus. Chamberlain verglich einen von ihnen mit den Jakobiten am französischen Hof zur Zeit König Wilhelms III
Es war vielleicht unrealistisch von den Verschwörern, eine Erhebung in Deutschland auf einen Kurswechsel der britischen Außenpolitik gründen zu wollen. Die Neigung zum Appeasement war stark in Großbritannien — zu stark, als daß die Regierung ihre Sorgsam genährte Verständigung mit Adolphus paciiicus zugunsten eines abenteuerlichen Pakts mit einer hypothetischen Rebellenregierung hätte opfern können. Außerdem erschienen die Rebellen, was ihre Ansichten über Deutschlands rechtmäßige Ziele in West-und Osteuropa betraf, reaktionärer und unnachgiebiger als Hitler. Und wie konnte man ihnen Vertrauen schenken, da sie doch so lange Hitlers Politik mitgemacht hatten? Schließlich: Gab es irgendwelche Sicherheiten, daß das Komplott in Deutschland genügend vorbereitet war, um eine Erfolgsaussicht von mehr als fünfzig Prozent zu haben? Angesichts solcher Fragen ist es nicht verwunderlich, daß die britische Regierung nicht nach den Vorschlägen der deutschen Emissäre handelte. Natürlich ist es eine Übertreibung, die Westmächte wegen ihres Verhaltens in München für die Dezimierung der Anti-Hitler-„Front" in Deutschland verwortlich zu machen
Der Ausbruch des Krieges im September 1939 erschwerte es den Verschwörern noch mehr, Gehör bei den Alliierten zu finden. Sowohl die Briten wie die Amerikaner verhielten sich starr abweisend gegen alle Annäherungsversuche, die von Deutschen unternommen wurden. Natürlich hatten die Westmächte jetzt alle ihre Illusionen über Adolphus pacilicus verloren, aber sie fuhren fort, die Deutschen — ja sogar jede Gruppe von Deutschen — mit den Nazis gleichzusetzen. Diese Politik kam klar zum Ausdruck in der Formel von der „bedingungslosen Kapitulation", die im Januar 1943 in Casablanca verkündet wurde. Sie hatte die Wirkung, die deutschen Massen noch mehr in die Arme Hitlers zu treiben und die Widerstandskräfte gänzlich zu isolieren. So verdichtete sie jene seltsame Wolke des Schweigens, die in der totalitären Landschaft des 20. Jahrhunderts die Andersdenkenden und Unterdrückten, die potentiellen Vorkämpfer für Vernunft und Menschlichkeit einhüllt.
Der deutsche Widerstand wurde mehr und mehr geprägt von reiner Isolierung. Die soge-nannte „Clique" der Verschwörer war eine Gruppe von Menschen, die den notwendigen Zusammenhalt und die notwendige Unabhängigkeit besaß, isoliert und im Widerspruch gegen das zu handeln, was Graf Helmuth von Moltke den „Sumpf von äußerem Glück, Wohlbehagen und Wohlstand" nannte
Die Überwindung von Tabus
Es ist zu unterstreichen, daß das Mandat des deutschen Widerstands mehr als ein enges Klassenmandat war. Es war keine vorübergehende Aufwallung, was Graf Moltke zu der Erklärung trieb, er stehe vor dem NS-Volks-gerichtshof „nicht als Protestant, nicht als Großgrundbesitzer, nicht als Adliger, nicht als Preuße, nicht als Deutscher" — sondern „als Christ und als gar nichts anderes". Die Männer und Frauen des deutschen Widerstands brachen mit vielen überkommenen Tabus und rangen sich durch zu Einsichten höherer Ordnung. „Wir Deutschen", schrieb Bonhoeffer im Gefängnis, „haben in einer langen Geschichte die Notwendigkeit und die Kraft des Gehorsams lernen müssen." Was den Deutschen jedoch fehle, sei Zivilcourage. In einer Situation, wo Gehorsam keine Ehre bringen konnte, bekräftigte Bonhoeffer das Lutherwort von der „Freiheit des Christenmenschen" und forderte „das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat"
Und weiter: So unglaublich es vom Standpunkt der Jahrhundertmitte erscheinen mag, der soldatische Treueeid hatte für die deutsche Wehrmacht seine bedingungslos bindende Kraft behalten, auch wenn er seit dem Tode Hindenburgs im Jahre 1934 entgegen allen Verfassungsbestimmungen nicht mehr dem Reich, sondern der Person des Führers geschworen wurde. Für viele deutsche Offiziere war dieser Eid das einzige, was sie hinderte, sich den Verschwörern anzuschließen. Aber die Männer des Widerstands machten sich von einer sklavischen Auffassung des Eides frei. Beck wies einen General zurecht, der erklärt hatte, der Eid binde ihm die Hände: „Sie sprechen von Eid? Hitler hat seinen Eid auf die Verfassung, er hat seine Treupflicht gegenüber dem Volke hundertfach gebrochen. Wie können Sie sich einem solchen Eidbrüchigen gegenüber auf Ihren Treueid berufen!"
So durchbrachen die Verschwörer die engen Schranken von Kaste, Klasse und Nation und schlugen einen Weg ein, der in der deutschen Geschichte-praktisch nirgends vorgezeichnet war. Das höhere Recht der Natur als Alternative zur Tyrannei der Staatsgewalt hat in deutschen Büchern und in der deutschen Gesetzestafel nie viel Anerkennung gefunden
Theorie und Sozialromantik im Widerstand
Die deutsche'Widerstandsbewegung litt nicht unter der latenten Spaltung in Kommunisten und Nichtkommunisten, die den meisten anderen europäischen Widerstandsbewegungen zu schaffen machte; aber ihre Mitglieder waren keineswegs alle gleichgesinnt. Die Anschauungen General Becks und Carl Goerdelers, des designierten Kanzlers der vorgesehenen neuen Regierung, waren im wesentlichen restaurativ
über die meisten dieser Grundsätze stimmten Moltke und sein Kreis mit Stauffenberg überein. Nicht einig waren sie sich über den Tyrannenmord: Moltke lehnte ihn entschieden ab, während Stauffenberg ihn seit Ende 1942 unerbittlich anstrebte. Die Verschwörung geriet mehr und mehr unter die Führung Stauffenbergs und seiner Gruppe jüngerer Offiziere und steuerte so auf das unglückliche Attentat vom 20. Juli zu.
Aber welcher Gruppe des deutschen Widerstands wir uns auch zuwenden, überall finden wir einen ausgesprochen theoretischen, ja apolitischen Zug. Man ist versucht zu sagen, die Widerstandsbewegung habe zwar die traditionelle deutsche Auffassung von bedingungslosem Gehorsam überwunden, sei jedoch dem deutschen Hang zu abstraktem Theoretisieren erlegen. Allein die Dinge lagen so, daß sich die deutsche Widerstandsbewegung mit den höchsten Werten auseinandersetzen mußte. Im Unterschied zu nichtdeutschen Widerstandsbewegungen konnte sie sich nicht einfach dadurch rechtfertigen, daß sie an den aufgebrachten Nationalstolz und die empörte Weltmeinung appellierte. Der deutsche Widerstand mußte in bedrückender Isolierung sein Mandat finden und seine Ziele formulieren. Deshalb entstanden so gründliche Denkschriften wie „Das Ziel" und „Der Weg"
Was diesen Punkt betrifft, haben Kritiker wie Dahrendorf ganz recht. Zwar lehnte die Widerstandsbewegung im großen und ganzen Restauration und Autoritarismus ab, doch entging sie nicht den Gefahren einer Sozialromantik: sie war nicht willens und nicht fähig, Vielfalt, Pluralismus sowie politische und soziale Interessenkonflikte als gegeben hinzunehmen
Landschaft des Schweigens und die Schwäche des Anfangs
Ich möchte an dieser Stelle einen Satz aus einer Studentenarbeit zitieren, der mir als außerordentlich scharfsichtig auffiel; er gehört zu meinem Thema: „Politisch stark engagiert zu sein, bedeutete damals entweder Propaganda oder Schweigen." Hitlers Propaganda, die die Widerstandsbewegung als kleine „Clique" abtat, beherrschte das Feld, solange er lebte; sie ließ die Feigen und die Schüchternen, die Leidenden und auch die Tapferen nicht zu Wort kommen — ihr Los war Schweigen. Ein trauriges Kapitel in den schrecklichen Annalen der totalen Herrschaft ist die Beteiligung der westlichen Diplomatie und auch der westlichen Geschichtsschreibung an dem abscheulichen Geschäft, die Landschaft des Schweigens unter Aufsicht zu halten. Das Tuch des Schweigens, das über die deutsche Widerstandsbewegung gebreitet lag und an dem westliche Zweifler ebensosehr mitgewebt hatten wie Apologeten der Nazis, ist jetzt entfernt worden. Aber nicht behoben sind die Zweifel über das Mandat; es ist nach wie vor in Frage gestellt —• das heißt ein „Streit ohne Ende". Meine Aufgabe kann es hier nicht sein, das Problem säuberlich zu lösen; es geht mir vielmehr darum, es von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Können wir nach dem, was ich bisher gesagt habe, nicht den Vorwurf des Verrats fallenlassen? Können wir uns nicht wenigstens darauf einigen, die außergewöhnliche Furchtlosigkeit und Seelenstärke anzuerkennen, die diese Menschen selbst angesichts der Maskerade des Bösen befähigte, den Kopf oben und den Geist klar zu behalten und sich miteinander zum Handeln zu verschwören? Freilich, das Zögern, mit dem der Widerstand in Gang kam — ein deutscher Jesuit hat es die „Schwäche" des Anfangs genannt
Feudaler Ethos und Religion im Widerstand
Ich muß hier noch einmal auf den erwähnten britischen Geheimdienstbericht zurückkommen, auf seine Vorbehalte gegen die Verschwörung vom 20. Juli, auf seine These, die Verschwörer hätten kein wirkliches Mandat besessen, weil ihre Ideen nicht die „einer echten liberalen Widerstandsbewegung" gewesen seien. Tatsache ist, daß die Widerstandsbewegung, die nach dem Zusammenbruch der organisierten Arbeiterbewegung Gestalt annahm, vorwiegend aristokratisch und konservativ war. Doch die deutschen Aristokraten erhoben sich, was sie nie zuvor in der deutschen Geschichte getan hatten, in elfter Stunde stellvertretend für die deutsche Nation. Ihr Konservatismus war in der politischen Landschaft des 20. Jahrhunderts sicher etwas Anachronistisches; aber er diente als freiheitliche, wenn auch nicht liberale Alternative zum Nationalsozialismus. Die härteste der Tatsachen, welche Kritiker der Widerstandsbewegung gewöhnlich ignorieren, ist, daß es eben keinen liberalen Widerstand gab. Seit seinen Anfängen verzweifelte der deutsche Liberalismus an sich selbst, wie Thomas Mann einmal sagte; und angesichts des Nationalsozialismus gab er den Geist auf. Das bestätigen auf jeden Fall die Wahlergebnisse von 19. 30 an. Könnte deshalb nicht die früher erwähnte Trennung von Moralität und Liberalität in Deutschland auf das Schuldkonto des Liberalismus gehen? Das Bürgertum, die soziale Stütze des Liberalismus in Deutschland, reagierte auf die Wirtschaftskrise der zwanziger und frühen dreißiger Jahre damit, daß es in die Reihen der Hitlerpartei strömte. Es besaß keine wirklichen eigenen Überzeugungen und überließ sich deshalb der leidenschaftlichen Bewegtheit der Nationalsozialisten, die es im Grunde nicht teilte.
Die Männer des 20. Juli hingegen hatten ausgeprägte Überzeugungen. Dem Weimarer Regime hatten sie ablehnend, ja ausgesprochen destruktiv gegenübergestanden, und für die Zukunft entwarfen sie mehr oder weniger romantische Konstruktionen, die in Wirklichkeit Rekonstruktionen einer utopischen Vergangenheit waren. Aber wenn es zum Äußersten kam, konnten sich ein Beck, ein Moltke, ein Stauffenberg an einen fast feudalen Begriff von Stolz und Anstand halten
Die Widerstandsbewegung, das muß ich schließlich betonen, fand Kraft nicht nur in ihrem feudalen Ethos, sondern auch in der Religion. Fast alle Verschwörer waren religiöseMenschen. Für Pastor Bonhoeffer waren die zwei Gefängnisjahre vor der Hinrichtung dank der Gewißheit, von Gottes Hand geführt zu werden, kein niederdrückendes, sondern ein schöpferisches Erlebnis
All changed, changed utterly: A terrible beauty is born.
Alles ist ganz verwandelt worden: Eine schreckliche Schönheit ist geboren.
Die Männer des 20. Juli 1944 waren ebenso leidenschaftlich und feudal, wie die irischen Rebellen unbändig und hitzig gewesen waren. Auch sie waren ganz verwandelt worden. Die Verschwörer transzendierten Kaste, Klasse und Partei, ja Nation und Kirche und folgten den Befehlen Gottes und ihres Gewissens. In diesem Wandel, dieser Transzendenz war ihr Mandat zum Widerstand begründet. Das Mandatwurde in seiner Gültigkeit nicht beeinträchtigt durch die Tatsache, daß das Scheitern nahezu gewiß war. Widerstand vermag die Politik und ihre realistischen Berechnungen über Erfolg und Mißerfolg zu transzendieren. Wenn es zum Äußersten kommt, wenn die Last unerträglich wird, gewinnt er einen Eigenwert. Der zögernde Anlauf des deutschen Widerstands war also nicht bloß ein Zeichen von „Schwäche", die nach Sühne verlangte. Der überfällige Aufstand gegen eine Staatsgewalt, die schon lange zur Tyrannei geworden war, kann als zwiefaches Monument dienen: als makabres Denkmal des Gehorsams, aber auch als heroisches Denkmal eines zum Äußersten getriebenen Widerstands. Das Mandat des deutschen Widerstandes wurde schließlich in der Symbolik einer Opfertat verwirklicht. Weder sein Scheitern noch die Kompliziertheit und Unklarheit seines Mandats nehmen also dem deutschen Widerstand etwas von seiner Legitimität. Sie bestätigen vielmehr jene Sehweise, der sich die Geschichte als eine sophokleische Tragödie darstellt.
Schlußbetrachtung: Uber passiven und aktiven Widerstand und über den Widerstand der Vorbeugung und der heroischen Geste
Meine Betrachtungen kreisten um das Problem der Legitimität des Widerstandes. Ich erwähnte Schwejk, der listig, schlau, verschlagen war, aber alles in allem doch ein passiver Soldat des Widerstandes. Und auf passiven Widerstand hat jedermann unter allen Umständen ein Recht. Wer ihn praktiziert, gibt der Gesellschaft nichts, er nimmt ihr aber auch nichts weg. Er erfüllt sein Minimum an Bürgerpflichten. Er ist ein Bürger mit einer reservatio mentalis,mit Humor und Verschmitztheit. „Wer spricht von Siegen?" fragte Schwejks Landsmann, der Dichter Rainer Maria Rilke: „überstehen ist alles." Schwejk wollte überstehen. Legitim ist auch aktiver Widerstand, wenn ein klares Mandat vorliegt. Das war der Fall beim außerdeutschen Widerstand während des Zweiten Weltkriegs. Unter dem Gesichtspunkt des Naturrechts und des nationalen Interesses ist das Mandat dieses Widerstands unbestritten.
Wie üblich sind die Grenzfälle problematisch. Der Widerstand, den ich „vorbeugenden Widerstand" genannt habe, wirft mindestens ebenso viele Probleme auf, wie er löst. Vorbeugenden Widerstand propagieren einige besonders stimmgewaltige und radikale Angehörige unserer heutigen Jugend. Sie mögen an das denken, was 1933 und danach in Deutschland geschah. Warum warten, bis es zu spät ist? Warum nicht rechtzeitig handeln? Doch wenn solche Vorbeugung in einem noch intakten, obzwar vielleicht erschütterten Gesellschaftsgefüge praktiziert wird, so erhebt sich gerade dadurch das Gespenst der Willkür, der Selbstjustiz einzelner Bürgergruppen, der Gesetzlosigkeit, die ihrerseits die Freiheiten der Bürgerschaft bedroht. Nur in einer Gesellschaft, die völlig von tyrannischer Gewalt beherrscht wird, wo alle friedlichen und gesetzlichen Mittel erschöpft sind, alle Opposition geknebelt ist, nur da wird aktiver Widerstand legitim. Das war in Hitlers Deutschland der Fall.
Das Hauptproblem des deutschen Widerstands war die Kompliziertheit und vor allem die Unklarheit seines Mandats. Und die Pseudo-Konstitutionalität, Pseudo-Legalität, Pseudo-Respektabilität des Hitler-Regimes hielt vom Widerstand ab und verstärkte die deutsche Tendenz, der Obrigkeit zu gehorchen. Wenn der deutsche Widerstand es unterließ, vorbeugend zu handeln, so weniger aus Fügsamkeit gegenüber der gesetzlichen Ordnung als aus falscher Fügsamkeit gegenüber dem Nationalsozialismus. Diese sogenannte „Schwäche" des Anfangs war verhängnisvoll. Auch wenn man die Kompliziertheit und Unklarheit des Mandats, die ein schnelles und geeintes Handeln verhinderte, in Anschlag bringt, so hätte doch 1934, bei Hindenburgs Tod, klar sein müssen, daß die Zeit zum Widerstand gekommen war. Moralisch und politisch wäre die Hand des deutschen Widerstands 1934 unvergleichlich stärker gewesen als 1938 — und 1938 unvergleichlich stärker als 1944.
Dennoch ist das Dilemma der deutschen Verschwörer insofern von allgemeiner Bedeutung, als ihr Handeln ohne klares Mandat ein letzter Ausweg war. Alle, die sich heute verständlicherweise der gesetzlichen Ordnung fügen, können morgen, wenn die friedlichen und verfassungsmäßigen Mittel erschöpft sind, selbst in der Lage sein, handeln zu müssen. Aber dieses Handeln könnte, eben weil es so spät kommt, zum Scheitern verurteilt sein. In diesem Fall würde jeder Widerstand wie der deutsche für seine Taten büßen müssen. Der Lohn für das Handeln läge nicht im Sieg, sondern in der heroischen Geste selbst.
Der deutsche Widerstand ist ein isoliertes Phänomen in der deutschen Geschichte. Er hatte keine nennenswerte Tradition und keine Folgen. Die Deutschen der älteren Generationen werden mit ihm entweder nicht fertig oder möchten ihn vergessen oder beides. Die jüngere Generation, zumindest ihre stimmkräftigeren und radikaleren Mitglieder, fühlt sich zu einem Widerstand anderer Art hingezogen, dem vorbeugenden Widerstand. Die kurze, dramatische Phase des Widerstands teilt somit das Schicksal der meisten anderen Phasen der deutschen Geschichte. Sie ist nicht in die allgemein akzeptierte Tradition eingegangen, sondern bleibt in hohem Grade umstritten. In diesem Sachverhalt spiegelt sich der unstete Verlauf der deutschen Geschichte ebenso wider wie die tiefen Risse, die nach wie vor durch die deutsche Gesellschaft gehen. Was aber bleiben wird vom Erbe eines Leber, eines Beck, eines Moltke, eines Stauffenberg, das ist, wenn nicht die politische Klugheit ihres Tuns, so doch ihr Mut zum Widerstand und die Würde, mit der sie den Tod auf sich nahmen.