I. Versuch einer literarischen Ortsbestimmung
Vor etwa zwölf Jahren, später als etwa in Frankreich, Italien und England, setzte im deutschsprachigen Raum Europas eine Entwicklung ein, die bis heute nicht abgeschlossen ist und auch, trotz zwölfjähriger Erfahrungen, noch immer seltsam unwirkliche, der Realität nur schwach verbundene Züge trägt. Es handelt sich um die geistige Neuentdeckung Lateinamerikas, die — objektiv betrachtet — gar keine Wieder-, sondern eine Erstentdeckung ist. Vor allem dort, wo diese Entdeckung die Literaturen des Subkontinents betrifft, hat sich in den Beziehungen zwischen Europa und der indianisch-lateinischen Hälfte Amerikas eine nahezu hektische Geschäftigkeit entwickelt, die nur in seltenen Ausnahmefällen den Wirklichkeiten gerecht, meist aber durch Ignoranz und Verkennung gekennzeichnet wird. Sind die Verlage im kommunistischen Teil Deutschlands und Europas stets darauf bedacht, die Autoren Indo-Amerikas als Beweis für ihre These vom „sozialistischen Realismus" zu mißbrauchen, so galt die Strebsamkeit vornehmlich der Verleger in der Bundesrepublik in den meisten Fällen dem Versuch, die lateinamerikanischen Schriftsteller als Vollstrecker europäischer literarischer Regeln zu präsentieren. Große Schuld an diesem Durcheinander falscher Meinungen trägt die im Hinblick auf diese Literatur unzureichend vorgebildete literarische Kritik, die den Büchern iberoamerikanischer Autoren völlig ratlos gegenübersteht und, um diese Unwissenheit zu vertuschen,, in häufig überheblichem Ton Fehlurteile verbreitet; wie anders könnte man sich erklären, daß ein offenbar des Spanischen nicht mächtiger sogenannter deutscher „Literaturpapst" die Vergabe des Nobelpreises an Asturias als glatte „Fehlentscheidung" Stockholms bezeichnet? Es gibt nur eine Erklärung dafür: Dieser Mann versteht nichts von dem, worüber er schreibt, und ist außerdem auf die im Falle Asturias besonders schlechten Übersetzungen angewiesen. Auf diese Weise entstehen in der Öffentlichkeit völlig verzerrte, der Realität und den realen Werten nie gerecht werdende Vorstellungen.
Erschwerend kommt hinzu, daß der deutsche Leser ohnedies verwirrt der Literatur aus La-teinamerika begegnen muß, denn lange Jahre hindurch hat man ihm den Argentinier Jorge Luis Borges, einen großen Schriftsteller und bis heute der bekannteste Autor aus Lateinamerika, als den Prototyp der „lateinamerikanischen Literatur" vorgestellt, ohne dabei zu bedenken oder zu wissen, daß dieser Versuch nicht zum Erfolg führen kann, weil seine Voraussetzung ungenau, wenn nicht gar falsch ist. Denn die lateinamerikanische Literatur gibt es ebensowenig wie die europäische Literatur, in der etwa Haldor Laxness als Repräsentant für Alain Robbe Grillet, Jewgenij Jewtuschenko, Max Frisch oder Dämaso Alonso gelten könnte. Kaum geringer sind nämlich die Unterschiede, die Borges von Pablo Neruda, Nicoläs Guillen, Jorge Amado oder Miguel Angel Asturias trennen.
Topographie einer Wirklichkeit Wenn hier auf engem Raum die neue Literatur in Lateinamerika, die der Zeitgenossen, abgehandelt werden soll, muß man sich über diese Streubreite der möglichen Stile, Tendenzen und Abhängigkeiten von Anfang an im klaren sein, und man muß auch berücksichtigen, daß bestenfalls einige Aspekte angedeutet, nicht aber gründlich analysiert werden können, daß es nicht um eine Gesamtdarstellung gehen kann, sondern nur um den Versuch, ein paar Orientierungspunkte zu markieren. Zwei An-lässe, ein erfreulicher und ein weniger erfreulicher, lassen diesen Versuch immerhin als geraten erscheinen. Erfreulich ist: Man hat auch in Deutschland, einige hartnäckige Besserwis31 ser ausgenommen, inzwischen erkannt, daß zwischen Rio Grande del Norte und Patagonien Literaturen bestehen und entstehen, die den Vergleich mit der übrigen Weltliteratur nicht zu scheuen haben. Weniger erfreulich ist, daß die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis sich bisher nur in ziel-und planlosen Veröffentlichungen sehr gut und auch sehr schlecht übersetzter Autoren geäußert haben. Von einem durchdachten Editionsprinzip kann einstweilen, trotz zwölfjähriger Ansätze, keine Rede sein, vor allem wohl deshalb nicht, weil es an Maßstäben fehlt und oft sogar an der einfachsten Voraussetzung — am Einblick in die literaturgeschichtlichen Zusammenhänge. Noch immer hält man hierzulande, geschult ausschließlich an der Außenseiterfigur des Argentiniers Jorge Luis Borges, die Literatur in Lateinamerika für einen Ableger europäischer Literatur. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Und deshalb ist es wohl notwendig, zunächst einmal (auch das, wohlgemerkt, nur versuchsweise) die in den Ländern Iberoamerikas geschriebene Literatur zu definieren, was bislang noch kaum geschehen ist.
Als Europäer, das heißt Spanier und Portugiesen, sich im 16. Jahrhundert Mittel-und Südamerika unterwarfen, fanden und zerstörten sie hochstehende Kulturen, die fast immer auch Literaturen einschlossen. Sie selbst — genauer: die wenigen geistig Ambitionierten unter den Eroberern der ersten Stunde — waren zunächst bemüht, in den Kolonien eine Literatur zu pflegen, die der ihrer Heimatländer entsprach. Von beiden Gruppen, der „eingeborenen" wie der „eingewanderten" Literatur, gibt es einige bemerkenswerte Beispiele, aber beide entsprechen nicht dem heutigen Begriff der lateinamerikanischen Literatur, deren Entstehungsgeschichte zwar auch bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts zurückreicht, die aber erst aus der Synthese der beiden Gruppen entstand, der Verschmelzung europäischer Elemente mit amerikanischen zu einer euro-amerikanischen, einer „mestizischen" Literatur, die dann „literatura criolla" genannt wurde, und deren Entwicklung parallel zur Entwicklung der euro-amerikanischen Beziehungen auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet verlief. Dieser kurze Überblick läßt bereits erkennen, daß (auf einige interessante Nebenentwicklungen kann hier nicht eingegangen werden) die lateinamerikanische Literatur seit ihren Anfängen deutlich feststellbare, nur aus der Sozialgeschichte zu erschließende Züge trägt, die aus einem der frühesten Werke, der um 1570 geschriebenen „Araucana" des Ercilla, ebenso deutlich abzulesen sind wie aus den Texten der Romantik, die dann speziell indoamerikanische Elemente ausformte. Heute begegnet man diesen Kennzeichen vor allem in Texten der sozialkritischen und der „indigenistischen", das heißt hier indiophilen Richtung. Versuchen wir, was nur unter Schwierigkeiten und mit Einschränkungen möglich ist, die heute zwischen Mexiko und Feuerland geschriebenen Literaturen auf mögliche Gemeinsamkeiten zu untersuchen, so zeigt sich sehr bald, daß nicht einmal die Sprache überall gleichen Gebrauchswert besitzt, daß die, wie der junge Peruaner Vargas Llosa formulierte, „Sprachwirklichkeit" von Land zu Land sehr verschieden ist.
Das philologische Phänomen Das portugiesischsprachige Brasilien präsentiert sich noch als einigermaßen geschlossener literarischer Block. In den anderen, den spanischsprachigen Ländern unterscheiden sich Formen und Gehalte, Strukturen und Motive ebenso voneinander wie die wirtschaftlichen, politischen, sozialen und anthropologischen Besonderheiten dieser Länder. In diesem Zusammenhang lohnt es auch, sich darüber klar zu werden, daß der in Deutschland nur langsam aus der Mode kommende Formulierungsunfug wie „Übersetzung aus dem Spanischen" oder „aus dem Portugiesischen" für Philologen, gelinde gesagt, ungenau ist, wenn damit Autoren aus Lateinamerika gemeint sind; es gibt bestenfalls ein mexikanisches, ein peruanisches, argentinisches oder chilenisches, aber kein „lateinamerikanisches" Spanisch. Und es gibt auch nur ein brasilianisches Portugiesisch, das obendrein, je nach Region und Herkunft von Einwanderern, sehr differenziert ist. Es mag in den Ländern Hispanoamerikas durchaus ein nahezu gemeinsames „Amtsspanisch" geben; auf die Literatur wirkt es sich nicht aus, denn die Literatur bezieht ihre Anregungen aus der Volks-und Umgangssprache, nicht aus der Bürosprache. Im Bewußtsein dieser philologischen Nuancen kann man dann vielleicht als allen gemeinsamen, wenn auch nicht überall im gleichen Begriffssinn zu gebrauchenden Nenner die in Lateinamerika übübliche, doch keineswegs exakte und nur als analytischer Notbehelf vertretbare Gliederung der modernen Literatur des Halbkontinents in drei Motivgruppen zitieren:
Regel und Ausnahme Die, wie bei Jorge Luis Borges, dem „Mysterium der Kunst" verbundene, engagementfreie oder gar engagementfeindliche, meist nach Europa und Nordamerika hin orientierte Literatur, die fast nur in dem „lateinamerikaniB sehen Ausnahmefall" Argentinien und auch dort nur in den Werken ganz weniger Schriftsteller existiert und zu ihren Ahnherren und Wegbereitern weit eher Kafka, Proust, Poe und Joyce als die'Klassiker Lateinamerikas rechnet.
Die zweite, viel größere Gruppe kennzeichnet der gemeinsame sozialkritische Ansatz; sie auf Autoren könnte Grund der einzelnen -schicksale als -auch „Literatur im Exil" bezeich net werden. Hier findet man die bedeutendsten Namen.
Die dritte Gruppe schließlich wird vom indigenistischen Motiv bestimmt, wobei der Ausdruck „Indigenismo" im allgemeinen als Element indianischer Tradition zu verstehen ist (während jedoch einzelne Autoren, wie Jorge Amado in Brasilien und Adalberto Ortiz in Ecuador, ihn durchaus auch auf die eigenständig erhaltenen negroiden Traditionen anwenden). Auch diese dritte Gruppe kann mit großen Namen aufwarten. Den beiden „engagierten" Richtungen, die fast immer einander — den politisch-sozialen Verhältnissen entsprechend — überschneiden, zu einem „Engagement des Herzens" werden, wie es der Brasilianer Joäo Guimaraes Rosa nannte, eignet zudem eine aus religiösen und kultischen Überlieferungen erwachsende Weitsicht, in der — ähnlich wie in der spanischen Literatur, anders aber als im deutschen „Blut-und Bodenkult" unrühmlichen Angedenkens — die Natur zur mütterlichen Kraft, zum Mythos des überlebens, zur Metapher für Untergang und Auferstehung wird. Daran hat sich in vier Jahrhunderten nicht mehr geändert als die sprachliche Form, in der diese Weitsicht Ausdruck gewinnt.
Die Geburt einer Literatur Es gibt namhafte Kenner, die behaupten, lateinamerikanische Literatur existiere überhaupt erst seit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Diese These von der Geburt einer kontinentalen Literatur mag ebenso faszinierend sein wie Oswald Spenglers Auffassung vom „Tod" der indianischen Kultur, der — nach Spengler — die Eroberer den Kopf abgeschlagen hätten wie ein Kind der Sonnen-blume. Beide Thesen sind falsch. Was wir heute als spezifisch lateinamerikanisch bezeichnen, ist bereits seit dem 16. Jahrhundert vorhanden. Zeitweise nur wurde es überdeckt von modischen „europäischen" Strömungen. Die Verfechter der These von der Geburt einer Literatur im zwanzigsten Jahrhundert verwechseln offenbar Literatur mit Roman; in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts hat der lateinamerikanische Roman seine endgültige Form angenommen; geboren wurde auch er nicht erst damals, denn ein Mann, der es wissen muß, Miguel Angel Asturias, nennt die frühen Chroniken von der Eroberung die ersten lateinamerikanischen Romane. Allerdings vollzogen sich in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts so umwälzende Änderungen, daß man in gewisser Weise von der Geburt des „modernen" Romans sprechen kann. Wer aber behauptet, es habe vor dem zwanzigsten Jahrhundert keine „lateinamerikanische" Literatur gegeben, der unterschlägt schlechterdings dreihundert Jahre Literaturgeschichte und Hunderte bedeutender Autoren.
Wenn wir jedoch die Entwicklung der modernen Literatur in Lateinamerika betrachten, so stellen wir fest, daß sie aus einem Akt der Auflehnung und der Selbstbesinnung geboren wurde. Nach 1850 stand die Literatur der lateinamerikanischen Länder im Zeichen der Spanier Campoamor und Gustavo Adolfo Becquer, des Nordamerikaners Longfellow und nicht zuletzt des Franzosen Victor Hugo. Ihr Einfluß wirkte vor allem über die Werke jener politischen Emigranten, die vor den Caudillos und Diktatoren ihrer Heimat in Europa und den USA Zuflucht gesucht hatten. Gleichzeitig aber setzte eine Gegenbewegung ein, als Reaktion auf die zunehmende „Überfremdung" der eigenen Literatur, in deren Verlauf die aus Europa importierten Vorstellungen und Stile vollkommen umgeformt und wenig später, in ihrer amerikanischen Variation, zu einem Höhepunkt der Weltliteratur wurden. Die „art pour l’art" vor allem hispanoamerikanischer Prägung, verkörpert durch Autoren wie Ruben Dario, Julio Herrera y Reissig, Armando Nervo und Jose Silva — ein paar Jahrzehnte später war es der „Surrealismus" von Cesar Vallejo, des jungen Neruda und von Vicente Huidobro —, genannt „Modernismo", beeinflußte erst nachhaltig Spanien, dann Frankreich.
Unterschiedlich dazu verlief die Entwicklung in Brasilien, wo Joaquim Maria Machado de Assis zum „Erfinder" des psychologischen Romans, und wo wesentlich später als in Hispanoamerika ebenfalls ein „Modernismo" geschaffen wurde, der sich aber als Ausdruck der „nationalen Selbsterkenntnis" verstand.
Der hispanoamerikanische Modernismo — der Begriff stammt, wie auch der des nachfolgenden Ultraismo, aus Spanien — verlor bald an Anziehungskraft. Er wurde im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert immer häufiger — nicht zuletzt bedingt durch den sozialen Status seiner Repräsentanten — als reaktionär und unsozial denunziert. Immerhin aber gab und gibt er bis in die Gegenwart den Anstoß zur Bildung der verschiedensten „anti-" oder „neomodernistischen" Gruppen, die beachtliche Leistungen hervorgebracht haben. Einige Einflüsse dieses Modernismo blieben auch, wenngleich abgeschwächt, im Werk von Jorge Luis Borges erhalten, der seine Sturm-und Drang-jahre in Europa verbracht hatte und dort zum wilden „Ultraisten" geworden war. Zwischen den beiden Weltkriegen aber distanzierte man sich von Europa. Die Enttäuschungen waren zu groß. Die absterbende alte Welt konnte — so hieß es immer wieder in Manifesten und Zeitschriftenprogrammen — nicht länger Vorbild einer voranstrebenden Dichtergeneration sein.
II. Argentinien, Modell eines Ausnahmefalls
Jorge Luis Borges, gewandelt und eher konservativ geworden, gilt heute als einer der größten Stil-und Formkünstler der Weltliteratur. Der zum Direktor der argentinischen Nationalbibliothek avancierte, inzwischen fast erblindete polyglotte Autor bemühte sich, sein Werk der europäischen Tradition offenzuhalten, ein kulturphilosophisches Literatursystem zu schaffen, das es möglich macht, die universellen Züge klassischer Literatur auf Lateinamerika zu übertragen, genauer: auf Argentinien. Bezeichnend dafür ist die an Goethe, Eliot und Pound orientierte Poetik des Germanisten und Anglisten Borges, der das „Mysterium der Kunst" vom Engagement ebenso freihalten möchte wie von — so wörtlich — „amerikanischen Bezogenheiten". Diese Einstellung — Borges nannte sie einmal „Verpflichtung gegenüber dem abendländischen Erbe" — machte den Dichter und Essayisten zu einer einsamen, von allen als großer Sprachkünstler geachteten, aber von wenigen nur als Vorbild betrachteten Gestalt der modernen Literatur in Lateinamerika. Die wenigen Autoren, die man aus diesem Kreise kennt, unterscheiden sich sehr stark von Borges: der Novellist, und Essayist, Lyriker und Erzähler Hector A. Murena, der Lyriker Alberto Girri, der Romancier Bioy Casares; selbst Julio Cortäzar, dessen Ruhm inzwischen den von Borges überstrahlt, der „fantastische Erzähler", distanzierte sich ostentativ von seinem einstigen Vorbild Borges, als er sich deutlich zur kubanischen Revolution des Fidel Castro bekannte und durch sein Bekenntnis zur politisch-sozial-engagierten Literatur dem „Mysterium der Kunst" eine Absage erteilte. Alle diese Autoren unterscheiden sich von Borges vor allem dadurch, daß sie sich — häufig an Sartre geschult — zum „menschlichen Engagement" bekennen und den französischen Existentialismus in ihr Werk aufnahmen, das somit nicht mehr seine Schöpfer den „Dichtern im Elfenbeinturm" zuordnet. Zwar ist ihr Bestreben unübersehbar, es ihrem frühen Vorbild und Meister Borges gleichzutun, eine poesia docta zu schaffen, selbst poeta doctus zu sein, klassische Bildung zu beweisen und diesen Beweis in einer Form anzutreten, die frei ist von, wie Borges es nannte, „vulgären Bindungen". Da sie alle aber gleichzeitig mit politischen und sozialen, philosophischen und historischen Motiven experimentieren, entsteht eine seltsam unrealistische, eben „fantastische" Literatur, die unter den Händen weniger genialer Imitatoren sehr rasch zu manierierten Schablonen gerinnt.
Ausnahmen von der Ausnahme Viel faszinierender, viel souveräner und zugleich viel „wissenschaftlicher" ist dagegen die Literatur von Eduardo Mallea und Ernesto Sabato, die sich in ihren Romanen und Essays den Borges und Cortäzar als Stilisten zwar als durchaus ebenbürtig erweisen, die aber, und das ist der große und ausschlaggebende Unterschied, ihr „argentinisches Engagement" (Sabato) in einer Art und Weise realisieren, daß sie dadurch einerseits zu den Wegbereitern eines neuen historischen Bewußtseins in ihrem Lande geworden, andererseits die „Verbindungsleute" zwischen der argentinischen und der großen, außerhalb Argentiniens geschriebenen engagierten Literatur sind. Immerhin gilt Sabatos Roman „über Helden und Gräber" — und nicht das Werk von Borges oder Cortäzar — heute als „der" argentinische Roman des Jahrhunderts.
Argentinische Intimitäten In seinem Essay „Argentinische Intimitäten" sagt der spanische Philosoph und Soziologe Jose Ortega y Gasset über den argentinischen Schriftsteller: „Er ist in ganz großem Maße Narziß. Er ist Narziß und zugleich Ursprung des Narzißmus. Er schließt alles in sich ein: Realität, Vorstellung und Reflexion." Dieses Urteil trifft, vor allem dann, wenn man es auf die Werke von Borges und Cotäzar anwendet; aber auch bei Mallea und Säbato ist der darin enthaltene Prozeß permanenter Selbstbespiegelung und Selbstinterpretation nicht zu leugnen. Nun muß natürlich hinzugefügt werden, daß der von Ortega y Gasset entdeckte „Narzißmus" keineswegs ein Egoismus ist; er muß vielmehr als eine Verlagerung des Ichs in die reflektierte Imagination verstanden werden. Dann stoßen wir auf die Wurzeln jener besonderen argentinischen Literatur, die sich in Form und Gehalt von jeder anderen des Subkontinents absondert, mit ihr eigentlich nur noch den geographischen Ort des Entstehens gemeinsam hat; aber auch das neue argentinische Bewußtsein, das Mallea und Sabato erzeugt haben und dem sie in ihren Werken grandiosen sprachlichen Ausdruck verliehen, läßt sich bis zum gleichen Ausgangspunkt zurückverfolgen. Die „glaciale" Variante, wie man in Lateinamerika sagt, die „eiskalte" Version des argentinischen Narzißmus aber, die vornehmlich von Borges auf diesen Grundlagen geschaffene Literatur, die Lyrik, Erzählung, Essay, Kriminalgeschichte und Fabel umfaßt — literarische Gattungen übrigens, die auf alle anderen Argentinier die gleiche Anziehungskraft ausüben —, ist faszinierend. Clarte und intellektuell-kühle Distanz bestimmen den Stil. Gelehrsamkeit und die Freude an souveräner, zuweilen sarkastischer Manipulation der Sprache prägen oft genug die Motivwahl.
So ist es, angesichts dieses „argentinischen Universums", nicht erstaunlich, daß Ernesto Sabato, Eduardo Mallea und der große Lyriker Ricardo E. Molinari zwar das Handwerks-zeug aller argentinischen Autoren perfekt beherrschen und den gleichen Charakteristika, Narzißmus und Reflexion, unterliegen, durch die Einführung des — übrigens in der argentinischen Tradition verwurzelten — „historischen Humanismus", der auch schon so berühmte Werke wie „Don Segundo Sombra" und „El gaucho Martin Fierro" auszeichnet, aber gewissermaßen zu Außenseitern der modernen argentinischen Literatur werden, während sie gleichzeitig auch Außenseiter unter den anderen Lateinamerikanern sind: Alle drei bekennen sich wohl zum „menschlichen Engagement", nicht aber, zumindest nicht deutlich, zu einer sozialkritischen oder indigenistischen Tendenz. Die bedeutenden Werke dieser drei großen Autoren sind bestimmt von ironischer Doppeldeutigkeit bei Mallea, von wissenschaftlich-distanzierter Poesie bei dem ehemaligen Atomphysiker und Curie-Schüler Sabato und von einem metaphysischen Heimweh bei Molinari, dem einstigen Freund des Andalusiers Garcia Lorca. Das unterscheidet sie zwar von dem Kreis um Borges, ordnet sie aber noch lange nicht den Vertretern der übrigen Literaturen Lateinamerikas zu; es macht aber deutlich, welchen Weg diese Literaturen einmal gehen können und — wie Vargas Llosa und Garcia Märquez beweisen — auch gehen werden, wenn die anderen, für ihre Verfechter viel aktuelleren sozialen und indigenistischen Probleme gelöst sein werden. Da es aber bis dorthin noch sehr lange währen wird, ändert auch die Existenz von Sabato, Mallea und Molinari nichts daran, daß die wahre Stimme Lateinamerikas noch immer und heute, im Zeichen der großen Wandlung und in Anbetracht der Zustände, erst recht aus den Werken der gezielt engagierten Dichter und Romanciers, Essayisten und Erzähler spricht. In Argentinien entsteht gegenwärtig ohne Zweifel große Literatur. Aber man sollte diese Literatur — ausgenommen vielleicht wieder Sabato, Mallea und Molinari — nicht unbedacht als Ausdruck und Gestaltungsstreben Lateinamerikas sehen.
III. Möglichkeiten und Grenzen der Kommunikation
Im Anschluß an sein bedeutsames Buch „Ariel", in dem das ästhetische Programm des Amerikanismus niedergelegt ist, veröffentlichte Jose Enrique Rodö aus Uruguay, Hispanoamerikas wichtigster Soziologe, 1903 einen Essay über „die Realität des Geistes", in dem er sich mit Themen und Thesen der iberoamerikanischen Literatur befaßte. Dort heißt es: „Die Literatur dieser unserer Welt ist kämpferisch. Will sie der Wirklichkeit verbunden bleiben, muß der Kampf ihre Aufgabe sein, da denn unsere Wirklichkeit so ist, daß sie stets nur Kampf herausfordert. Wir aber, die wir uns Amerikaner nennen, Bürger von Ländern, die sich ihre Freiheit schon einmal kämpfend geschaffen haben, wir haben das Recht, mit Stolz auf die Männer der Feder zu blicken, die in unserer Umgebung und in unserem Namen und für uns für alle jene Rechte streiten, die man wohl leicht als die gottgewollten Rechte der Menschheit anführen kann."
Europäische Leser mag dieses Zitat überraschen, manche werden es vielleicht ein wenig pathetisch finden. Aber Rodö schrieb für seine Landsleute, und die haben zum rhetorischen Pathos ein anderes Verhältnis. Auch weiß man in Lateinamerika, daß in den vier Jahrhunderten, seit von einer lateinamerikanischen Literatur gesprochen werden kann, der Schriftsteller immer zugleich Kämpfer war, nicht allein mit seinem Wort, oft genug auch in der Tat. Lange bevor Jean-Paul Sartre den Begriff der engagierten Literatur prägte und definierte, war die Literatur in Lateinamerika in seinem Sinne engagiert, freilich immer unter der Voraussetzung, daß, wie es Miguel Angel Asturias nannte, das Engagement eine „Verpflichtung" sein müsse, nicht nur dem Menschen, auch der Sprache gegenüber. Das heißt letztlich nichts anderes, als daß der engagierte lateinamerikanische Autor von Anfang an seiner Forderung nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit die Forderung der literarischen Form voraussetzte, daß nicht das Pamphlet, nicht das bloße, unliterarische Manifest genügte. In Aussage und Ausdruck mußte der lateinamerikanische Engagierte klassischen Forderungen genügen, unter anderen der Forderung nach Überein-stimmung von Sinn und Form. So kam es, daß die Höhepunkte dieser Literatur immer auf dem Gebiet des Romans und des Essays zu finden waren, dann in der Lyrik, selten nur im Drama.
Drama mit und ohne Publikum Daß die dramatische Dichtung in Lateinamerika — verglichen mit Europa — eigentlich nie eine rechte Heimat gefunden hat, ist auf den ersten Blick ein überraschendes Phänomen, hat sich doch zum Beispiel in Spanien gezeigt, daß die Bühne in Ländern mit hoher Analphabetenquote eine gewichtige Rolle spielen kann, daß das von Garcia Lorca postulierte „Theater der sozialen Aktion", das gesprochene Wort aus leicht einsehbaren Gründen vor dem geschriebenen Wort rangieren muß. Zudem ergibt sich aus der Begeisterung, die Lateinamerikas breite Massen dem Volkssänger, Geschichtenerzähler und Vorleser entgegenbringen — und die berühmte Autoren wie Ciro Alegria in Peru, Pablo Neruda in Chile oder Jorge Amado in Brasilien in ihr Konzept literarischer Tätigkeit fest eingeplant haben —, daß der Boden für das Theater günstig wäre. Diese Tatsache findet ihre Bestätigung auch darin, daß überall dort, wo ein Theater existiert, dieses noch heute kultureller Mittelpunkt einer Stadt zu sein vermag. Recht augenfällig ist, daß das meist niedere Niveau der aufgeführten (importierten) Stücke in erster Linie dem Schuldkonto der Manager, nicht dem des Publikums anzulasten ist, das sein Interesse bei vielen Gelegenheiten beweist.
Wenn die lateinamerikanische Literatur bis heute kaum ein eigenständiges Theater hervorgebracht hat, das den Leistungen auf anderem Gebiet ebenbürtig wäre, dann hat das nicht seine Ursache etwa in mangelnder Befähigung oder im Fehlen von dramatischen Talenten, sondern fast ausschließlich sozial-ökonomische, aber auch kulturpolitische und geographische Gründe: Welcher Autor schreibt schon gerne für ein Medium, von dem er weiß, daß es allenfalls zehn Prozent der Bevölkerung ansprechen kann. Und wer andererseits kann und will in einem Kontinent der maßlosen Entfernungen außerhalb der wirklichen Siedlungszentren Theater bauen, wo es kaum Straßen, Eisenbahnen, Schulen und Krankenhäuser gibt. Das Theater ist in Lateinamerika noch immer Privileg der großen Städte und erreicht in Buenos Aires oder Mexiko — sonst kaum — weltstädtisches Format. Erstaunlicherweise verfügt in Brasilien nicht das soge-nannte „kulturelle Doppelherz" des Landes, Rio de Janeiro und Salvador da Bahia, sondern die Wirtschaftsmetropole Säo Paulo über ein mutiges und ambitioniertes Theaterleben, dem es denn auch prompt nicht an Pressionen und politischen Skandalen gebricht. Unter diesen Voraussetzungen haben erst Rundfunk, Fernsehen, Film und die Möglichkeit, übersetzt in Europa und Nordamerika aufgeführt zu werden, bewirkt, daß bei den Autoren allmählich eine vielversprechende Wandlung eintritt.
Experiment und Phantomime Immer häufiger versuchen sie sich, freilich mit sehr unterschiedlichem Erfolg, als Dramatiker, über welche Kräfte aber Lateinamerika auf diesem Gebiet verfügt, läßt sich nur schwer abschätzen. Noch immer ist das dramatische Schaffen zu sehr Nebenproduktion, als daß es schon Maßstäbe und Regeln geben könnte. Fest steht jedoch, daß die dramatischen Leistungen eines Miguel Angel Asturias — mit oder ohne Nobelpreis —, eines Sebastian Salazar Bondy, eines Jorge Diaz oder Agustin Cuzzani dem Vergleich mit dem europäischen Theaterschaffen standhalten und trotz starker Einflüsse aus Spanien und Frankreich — was besonders für die beiden letztgenannten „Avantgardisten" und „Experimentalisten" zutrifft — durchaus eigene Wege gehen kann. Das ist auch nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, daß Asturias dramaturgische Elemente auch in seine Romane und sogar in seine Lyrik übernimmt, wo er sie in deutlicher Anspielung „Fantomima" nennt. Nicht vergessen darf dabei auch werden, daß die lateinamerikanische Volkskunst, vom Lied über die bildende Volkskunst bis zum Tanz, seit jeher starke dramatische, eindeutig dramaturgischen Regeln folgende Züge aufweist. Trotzdem dürfte es aber noch zu früh sein, eine verbindliche Aussage über die dramatische Literatur Lateinamerikas zu wagen.
Film — Bruder der Literatur?
Möglicherweise wird man dort dem soziologisch bedingten — zum Beispiel im Verkehrs-wesen nachweisbaren — Phänomen begegnen, daß bedeutende Autoren das Theater ebenso „überspringen", wie die meisten ihrer Landsleute das Zeitalter von Eisenbahn und Automobil „überspringen" und, wie man sagt, direkt vom Sattel in das Düsenflugzeug übersteigen; es könnte sein, daß sie den Film als besseres Mittel zur Darstellung ihrer Ideen wählen. In weit stärkerem Maße als für das Theater haben sich gerade wichtige Autoren, wie Jorge Diaz, für das Hörspiel oder für den Film engagiert. Von dem großen paraguayischen Erzähler und Romancier Augusto Roa Bastos — dessen Texte auch längst verfilmt sind — weiß man, daß er seit Jahren hohes Ansehen als Autor von Drehbüchern genießt, die nach „klassischen" Stoffen der lateinamerikanischen Literatur entstehen; gegenwärtig schreibt er, eigener Bekundung zufolge, das Drehbuch zu dem Film „Don Segundo Sombra". Diese Drehbücher nach Romanen und Erzählungen von Asturias, Roa Bastos, Fuentes, Vargas Llosa, Sabato, Gallegos, Amado, Guimaraes Rosa und vielen anderen beweisen, daß in Lateinamerika das Filmdrehbuch in Kürze der Literatur zugerechnet werden muß. Die deutlichsten Beispiele dafür sind die mexikanische Schule um Luis Bunuel und seine Nachfolger, die argentinische Schule um Leopoldo Torre Nilsson und seine — ihm die Drehbücher schreibende — Frau, die angesehene Roman-autorin Beatriz Guido, und vor allem das brasilianische „Cinema Novo", das schlechterdings als „Kino der Autoren" bezeichnet werden darf. Letztlich kommt diese Entwicklung nicht allein der Verbreitung der Literatur zugute, sondern auch dem Film: die drei — unter vielen anderen — genannten Gruppen haben heute bereits Weltgeltung erlangt. Sie erfüllen mit ihren Bemühungen eine Voraussetzung zu dem, was Jorge Amado einmal — als er sich selbst als Dramatiker versuchte — den Trend aller modernen Kunst zur Universal-kunst nannte. Und ohne Zweifel geben Rundfunk, Fernsehen und Film der Literatur vor allem in Lateinamerika ganz neue Möglichkeiten, sich zu engagieren, in die Breite zu wirken, ein, wie es Carlos Fuentes und Mario Vargas Llosa übereinstimmend nennen, „verspätetes neues Zeitalter der Aufklärung" herbeizuführen.
IV. Der Autor als Zeuge seiner Welt
Diese Formulierung von zwei der bedeutendsten unter den jungen Autoren ist im Grunde nichts anderes als eine neue Variante für jene alte, seit Jahrhunderten bestehende Devise der Schriftsteller in Lateinamerika: „Das Wort als Waffe." Dieses Schlagwort, das in Lateinamerika trotzdem viel mehr als nur ein Schlagwort ist, galt bereits, als die Schriftsteller und Dichter sich vor zweihundert Jahren zu Sprechern amerikanischer Rechte gegen die Kolonialmächte machten und der „amerikanischen Aufklärung" (German Arciniegas) jenes besondere revolutionäre Gepräge gaben, von dem Alexander von Humboldt anläßlich seiner Südamerika-Reise überrascht und fasziniert war, das die weltlichen und kirchlichen Vertreter der Alten Welt, die in offizieller Mission nach Amerika kamen, jedoch empörte. Bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts begann es an verschiedenen geistigen Brennpunkten im Gebälk des überlieferten zu knistern; berühmt wurde dann — um 1775 — die revolutionäre „Escola de Minas" in Brasilien. Das Wort blieb auch Waffe, als Amerika den Amerikanern erkämpft wurde, als die Befreier Simon Bolivar im Norden und San Martin im Süden Schwert und Feder führten, wie sie es in Frankreich gelernt hatten, und dabei von großen Dichtern wie Fernandez de Lizardis und Jose de Olmedo unterstützt wurden. Die Waffe des Wortes aber wurde auch nach der Erringung der Unabhängigkeit gebraucht, als der Kampf den vielen kleinen „Caudillos" galt, die immer wieder Tyrannei und Chaos schufen; hier nun nahm die Literatur erstmals Züge an, die in unserem Wortsinn politisch zu nennen sind, so etwa im Werk des Argentiniers Jose Marmol, des großen Gegners von Diktator Rosas.
Der politisch-sozialkritische Ansatz, der nur in vereinzelten Fällen sozialistische oder kommunistische Vorzeichen trägt — nicht einmal in der kubanischen Gegenwartsliteratur sind solche Vorzeichen häufig —, entwächst heute nicht mehr, wie im romantischen Zeitalter, dem gefühlsmäßigen Protest. Er kommt aus dem Bestreben, die sozialen, sehr häufig rassisch bedingten Probleme ohne Beschönigung beim Namen zu nennen, aufzuzeigen und zu analysieren — Probleme, die aus dem verspäteten Zusammenprall Lateinamerikas mit einer wirtschaftlich und technisch hochorganisierten Zivilisation resultieren.
Von der Realität der Windmühlen Zuweilen mag der Kampf mit dem Wort quijoteske Züge annehmen. Wie aber, wenn sich die Windmühlen aus der Nähe tatsächlich als unnachgiebige Gegner entpuppen? Asturias, einst — und jetzt wieder — Botschafter seines Landes, mußte vor dessen zwölf Jahre lang herrschendem faschistoiden Regime nach Italien fliehen; der Chilene Pablo Neruda sollte ermordet werden und wurde jahrelang durch ganz Lateinamerika gehetzt; der Peruaner Cesar Vallejo starb 1938 in Paris an Hunger; sein kürzlich verstorbener Landsmann Ciro Alegria, Wortführer für die Gleichberechtigung der Indios, saß lange im Gefängnis und lebte dann noch länger im nordamerikanischen Exil; ein dritter Peruaner, der junge Mario Vargas Llosa, wählte ebenfalls den Weg ins französische, jetzt und nordamerikanische Asyl, nachdem sein Roman „Die Stadt und die Hunde" in Lima öffentlich verbrannt worden war; Paraguays literarische Elite lebt seit Jahren außerhalb ihres Landes, ihr Hauptvertreter Augusto Roa Bastos entging 1947 einem „amtlichen" Mordversuch durch die Flucht nach Argentinien. Diese jederzeit ergänzbare Aufstellung illustriert die Umstände, unter denen und deretwegen heute in Lateinamerika engagierte Literatur geschrieben wird. Die Liste der Autoren, die sich zu ihrem Engagement bekannt haben, ist fast identisch mit der Liste jener, die heute als Vertreter Lateinamerikas zur Weltliteratur gehören.
An ihrer Spitze steht der wortgewaltige Lyriker Pablo Neruda aus Chile, in dessen Werk das soziale Motiv eine gewichtige Rolle spielt. Aber niemand kann sagen, daß der überzeugte Kommunist — und frühe Antistalinist — sein Werk jemals den Leitsätzen des sogenannten „sozialistischen Realismus" angepaßt hätte, einem nach Miguel Angel Asturias'Urteil „impotenten Geschreibsel", das den Wert jeder Literatur tötet. Nerudas mythologisch verschlüsselte Anklagen, kaum übersetzbar, atmen höchste poetische Intensität. „Schreiben auf die unendlichen Wände der Nacht" nannte Pablo Neruda einmal in einem seiner Gedichte dieses Bemühen um Gerechtigkeit, um das innere Bild Lateinamerikas, dieses, wie er sagte, „Kontinents vor Morgengrauen". Bei solcher Auffassung kann natürlich kein Geist politischer Pamphlete Eingang in die Dichtung finden; nur Klage, Trauer und Empörung, die sich hinter der Melancholie verbirgt. Die für europäische Begriffe erstaunliche Popularität, die Nerudas anspruchsvolle Lyrik in seiner Heimat auch unter Analphabeten genießt, läßt sich nur so erklären, daß ihre Rhythmik, ihre durch und durch musikalisch gedachte, an altindianischen Kulten geschulte Struktur geheimnisvolle Zonen in den Seelen der Indios anspricht — Zonen, in denen nicht unbedingt der Sinn jedes einzelnen Wortes, jedes Verses bewußt, wohl aber der Sinn eines Gedichtes erahnt wird.
Das Credo des Amerikanismus Das gleiche gilt für große Teile des Prosawerks und für das gesamte lyrische Werk des Maya-nachkommen Miguel Angel Asturias; daß der deutsche Leser, vor allem aber die meisten deutschen Kritiker es nicht erfaßt haben, spricht nicht gegen Asturias, sondern gegen die Europäer, die längst den Zugang zu den „geheimnisvollen Räumen der Seele" verloren haben. Die unglaubliche Wirkung des Werkes von Asturias ist wohl nur daraus zu erklären, daß den Indios in besonderem Maße, aber auch allen anderen Lateinamerikanern die Fähigkeit erhalten geblieben ist, hinter dem gelesenen oder vor allem gesprochenen Wort das Ungesagte und Unsagbare zu erahnen. Aus den Gedichten von Asturias spricht der geschichtsbewußte „Hymnische Amerikanismus", wie Rodö hat, besonders deut ihn definiert -lich. Eines der Gedichte von Asturias vor allem, das berühmte „Credo" aus dem Zyklus „Bolivar", hat in Lateinamerika Geschichte gemacht; heute ist es gewissermaßen der Katechismus für alle Lateinamerikaner — auf Hunderten von Denkmälern reproduziert —, Ausdruck dessen, was Neruda einmal „die kommende Religion Amerikas" genannt hat. Dieses Gedicht soll — in der Übersetzung von Wolfgang Promies — hier wiedergegeben werden, weil es eine Schlüsselaussage über das gegenwärtige lateinamerikanische Denken enthält:
Ich glaube an die Freiheit, Mutter Amerikas, Schöpferin der linden Meere auf Erden, und an Bolivar, ihren Sohn, unseren Herrn, der, geboren in Venezuela, geschlagen wurde, litt unterm spanischen Joch.
Er ging zu sterben auf den Chimborasso, fuhr nieder mit dem Regenbogen zur Hölle, auferstand bei der Stimme Columbiens, faßte die Ewigkeit mit seinen Händen und sitzet zur Rechten Gottes.
Richte uns nicht Bolivar, ehe der Jüngste Tag kommt, denn wir glauben an die Gemeinschaft der Menschen, die mit dem Volke Teilen Wein und Brot — allein das Volk macht frei den Menschen —, schwören gnadenlos Krieg auf Leben und Tod den Tyrannen, glauben an die Auferstehung der Helden und an das ewige Leben derer, die, gleich Dir, Befreier, nicht sterben, wach sind mit geschlossenen Augen.
Die Gegenwärtigkeit des Mythos Man sollte sich hüten, in diesem Gedicht Blasphemie, Mißbrauch des christlichen Glaubens-bekenntnisses zu sehen. Diese für Europäer vielleicht zu pathetischen Verse wurden von einem überzeugten Katholiken geschrieben. Aber der ist auch Indio. Und er schreibt für Indios, die in Bildern denken — in Bildern, in denen Verschiedenartiges miteinander in Beziehung treten kann, ähnlich wie in den religiösen Vorstellungen der missionierten Indianer Lateinamerikas christliche Heilige und indianische Gottheiten schon früh eine seltsame Doppelexistenz führten. Das „Credo" von Asturias knüpft an diese Tradition an; gleichzeitig liefert es ein überzeugendes Beispiel für die Problematik der Übersetzung solcher Texte, denn der Übersetzer ist nur dann dem Thema inhaltlich gewachsen, wenn er sich in der Mythologie der Mayas auskennt. Die letzte Zeile des Gedichts bezieht sich auf eine dieser Mythen, die Asturias auch in seinem Roman „Die Augen der Begrabenen" aufgriff; Die Maya-Mythologie lehrte — nachzulesen in dem von Asturias ins Spanische übertragenen „Popol Vuh", das, lange vor Columbus, in Quiche geschrieben worden war —, daß die toten Helden und die Heiligen eines Volkes solange nicht wirklich sterben können, „wach sind, mit geschlossenen Augen", so lange ihrem Volk Unrecht geschieht. Allein durch die Einbeziehung dieses mythologischen, den Indios, aber nicht den Weißen verständlichen Elements, wurde das „Credo" — während der Diktatur der United Fruit Company und Jorge Ubicos geschrieben — zu purer „Revolutionsliteratur", zu Dynamit, das sich gegen die Unterdrücker gebrauchen ließ; und trotzdem enthält es keine Zeile, die als Pamphlet charakterisiert werden könnte, oder auch nur als politisches Manifest, denn alle in ihm genannten Forderungen, sagt Asturias dazu, sind von allgemein menschlicher Gültigkeit und außerdem Bestandteil der Charta der Menschenrechte, wie die Vereinten Nationen sie proklamiert haben. Das also ist „engagierte" — oder, wie Asturias sagt: „verpflichtete" — Literatur in Lateinamerika.
Tabu und Menschenrecht Zwei andere bedeutende Vertreter der sozialkritisch engagierten Literatur, deren Kenntnis das Bild rundet, haben auf den ersten Blick nur wenig mit Asturias gemein: der kubanische Lyriker Nicoläs Guillen und sein Landsmann Alejo Carpentier. Guillen ist Kommunist wie Neruda, Carpentier gilt als sozialistischer Liberaler. Wir werden diesen vier Autoren noch einmal begegnen, wenn wir uns der indigenistischen Literatur zuwenden. Im Zusammenhang mit dem sozialkritischen Engagement gilt es übrigens festzuhalten, daß die Forderungen, die sie stellen und für die sie verfolgt werden, nach unseren Begriffen fast harmlos zu nennen sind und wirklich, wie Asturias sagte, ausnahmslos auch in der Charta der Menschenrechte nachgelesen werden können. Ihr Ziel ist die Beseitigung sozialer, politischer und rassischer Ungerechtigkeiten und die Sicherung ausreichender Bildungsmöglichkeiten für alle. Aber gerade mit diesen selbstverständlich scheinenden Forderungen verstoßen sie gegen die Tabus lateinamerikanischer Gesellschaftsnormen, die den Herrschaftsanspruch einer kleinen, sich rassisch überlegen dünkenden Schicht der Besitzenden über die gewaltige Masse analphabetischer Halbsklaven sichern sollen. Als der staatliche Rundfunk sich weigerte, den Peruaner Ciro Alegria aus seinen Indio-Romanen lesen zu lassen, als Druck und Verbreitung dieser Bücher verboten waren, ging der Autor auf die Dörfer und las den Analphabeten auf Marktplätzen vor — „eingedenk der Tatsache", sagte Alegria, „daß die Marktplätze bei uns mit Vorliebe , Plaza de Armas'heißen, , Platz der Waffen'." Alegria wurde zuerst mit Zuchthaus bestraft und dann aus seinem eigenen Lande durch Gerichtsbeschluß ausgebürgert. Daß unter solchen Umständen die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen in Bereitschaft zur Auflehnung einmündet, ist kein Wunder. In den Versen und Romanen der Jüngeren ist diese Bereitschaft nicht zu überhören; die ältere Generation ist skeptischer.
Tradition und Form Nie aber verliert dieses gesellschaftliche Motiv seine Bindung an die Form, seine Wirkung aus der Form. Häufig benutzen die Autoren Strukturelemente der Volksdichtung und des Volks-lieds, um die Wirkung ihrer eigenen Arbeiten zu intensivieren. Der Einfluß der Maya-Traditionen auf Asturias ist bekannt. Bei Roa Bastos verschmelzen — wie etwa in seinem berühmten Roman „Menschensohn" — Einflüsse des Guaram'-Denkens mit denen, die er von seinen portugiesischen Vorfahren ererbt hat. Nerudas harte ideologische Grundsubstanz gerät durch die Wirkung inkaischer Überlieferungen zu großer Poesie. Nicoläs Guillen ist eine Ausnahme; er ist Kubaner und Mulatte und gilt neben Adalberto Ortiz als wichtigster Vertreter der hispanoamerikanischen Negritud, der negroiden Lyrik. Auch sein Werk lebt aus dem Geiste der Musik; es mag kein Zufall sein, daß sehr viele der zeitgenössischen lateinamerikanischen Autoren, befragt, was sie sein wollten, wenn sie nicht Schriftsteller wären, mit dem Wunsche antworten, Musiker, Komponisten zu sein. Selbst ein so rationalistischer Romancier wie der Argentinier Ernesto Sabato, dessen Werk deutlich den Stempel „wissenschaftlicher Ausbildung“ (als Naturwissenschaftler) beweist, hat eine seiner großartigsten Leistungen in Zusammenarbeit mit dem berühmten Volksmusiker Eduardo Falü geschaffen, die an das Credo von Asturias erinnernde „Romance de la muerte de Juan Lavalle", ein Oratorium der Freiheit. Das musikalische Element bei Asturias wird von der Zierlichkeit der Maya-Marimba bestimmt, das im Werk von Neruda von der düsteren Schwermut, die auch die Poesien und Kompositionen des — zeitgenössischen — Inka-Nachkommen Atahualpa Yupanqui ausformt. Aus den Gedichten Nicoläs Guillens aber spricht die rhythmische, harte, brutale Kraft der „schwarzen" Antillenmusik, in der immer die Bereitschaft zum Aufstand anklingt, aber auch ein wenig Beschwörung, Zauber und Dunkelheit, die dem Voodoo-Kult seine Form geben. Guillen nennt diese Klänge „die treibenden Mächte in meiner Lyrik", und wohl deshalb eignet dieser Lyrik das vorandrängende, „stampfende" Tanzelement:
Zweige vom selben Baum des Elends: Zwei Kinder kauern im Torweg unter der heißen Nacht...
Auf der Suche nach dem Gesamtkunstwerk Fast alle lateinamerikanischen Lyriker berufen sich, wie Guillen, auf den engen Konnex ihrer Dichtung mit der Musik; ausgenommen von dieser Regel sind nur die argentinischen „Avantgardisten", denen solche Bindungen zu „unintellektuell" sind. Auch Ricardo E. Molinari will seine Verse als „Lied des Gaucho, als Lied der Pampa, als Lied Argentiniens" interpretiert wissen, er und fast alle anderen Großen berufen sich stets auf die folkloristische und die traditionelle Musik ihrer Länder und Sprachbereiche. Das geht häufig so weit, daß man in der Öffentlichkeit einem Dichter ganz ausschließlich einen Komponisten „zuordnet" — wie Sabato den Sänger Falü, wie Jorge Amado den Guitarristen Caymmi. Der Tango, „Nationaltanz" der Portneos, der Leute von Buenos Aires, der ja etwas ganz anderes ist als der „Tango", den man in Europa kennt, hat eine ganz besondere Folge solcher Zweisamkeit gezeitigt: Es gibt neuerdings eine Langspielplatte in Argentinien, auf der Tangos ausgezeichnet sind, die von den vierzehn bedeutendsten Komponisten aus Buenos Aires nach Texten der vierzehn bedeutendsten Autoren aus Buenos Aires — von Sabato bis Borges, von Marechal bis Ccaro — komponiert worden sind; um das „Gesamtkunstwerk" vollständig zu machen, haben die vierzehn bedeutendsten Maler aus Buenos Aires zu je einem Tango eine grafische Illustration beigesteuert. Aus solchen, bei uns vollkommen unvorstellbaren Vorgängen wird erkennbar, daß die Autoren in Lateinamerika sich in ganz großem Maße — und nicht ohne Stolz — einer Über-lieferung bewußt sind, in der Dichtung, Musik und Religion enger zusammengehörten, eines der Ausdruck des anderen war. Deshalb ist es nahezu unmöglich, eine Strukturanalyse lateinamerikanischer Dichtung mit den bei uns üblichen Terminologien zu geben. Auf jeden Fall läuft man dabei Gefahr, nur einen Teilaspekt zu erfassen — und gerade die eigentlich typischen Elemente nicht. Beschäftigung mit lateinamerikanischer Literatur bedeutet — und daran scheitern die meisten europäischen, vor allem deutschen Interpreten und Kritiker — die Notwendigkeit, sich von überkommenen Denkschemata und Kriterien des Urteils zu lösen. Diese Literatur ist „anders"; sie bedarf auch „anderer" Terminologie und Interpretation. So sicher das eine unumgängliche, wenn auch unbequeme und des philologischen und anthropologischen Fundaments bedürfende Notwendigkeit ist, so sicher ist, daß der Geist mancher Bücher von drüben unbequem, provozierend und unverständlich wirken kann auf eine allzu häufig in starren Denk-und Interpretationsformen befangene Leser-und Kritikerschaft. Es ist der Geist eines noch werdenden Kontinents mit seinen Widersprüchlichkeiten und ungesicherten Wahrheiten, Geist eines „Kontinents vor Morgengrauen" und „geschrieben auf die unendlichen Wände der Nacht". Lateinamerikas Literatur ist zugleich eine Literatur der Anfechtung und der Parteinahme. Für viele, für die meisten Autoren, gleichgültig welcher Generation sie angehören, welches „Bekenntnis" sie ablegen, gilt noch heute die Parole von Sarmiento, einem humanistischen Politiker und großen Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts, die er damals an seine Kollegen gerichtet hat: „Schreibt mit Liebe, schreibt mit dem Blut Eurer Herzen!"
V. Das indigene Element als Formkraft
In Europa war im 18. Jahrhundert unter dem Einfluß einer unreifen, recht unklaren Natur-schwärmerei ein Begriff aufgekommen, den wir heute als literarisches Schlagwort bezeichnen würden: der Begriff vom „guten Wilden". Seumes Gedicht vom „Kanadier, der Europas übertünchte Höflichkeit nicht kannte", trug zur Verbreitung dieses Begriffs in Deutschland ebensoviel bei wie die durchwegs falsch verstandenen und falsch interpretierten Schriften des Alexander von Humboldt über Lateinamerika. Verschiedenes kam zusammen, auch Freitag, der Gefährte Robinsons, ging zum Beispiel mit in die Vorstellung vom reinen, unverdorbenen Naturkind ein. Der gute Wilde wurde zur Schlüsselfigur ganzer Philosophien, er schien sich mit dem Rousseauschen Klischee des von der Zivilisation unverdorbenen Lebens zu decken. Im Grunde war das alles nichts anderes als das selbstkritisch gemeinte Gegen-bild einer Gesellschaft, die ihre eigenen Mängel entdeckt hatte. In den „guten Wilden" Amerikas projizierten — und dafür ließen sich sehr viele Beispiele anführen — die Dichter und Philosophen der Alten Welt ihre geheimen Sehnsüchte. Zu einem guten Teil dürfte die Entstehung dieses Begriffs auf die europäischen Sympathien für die amerikanischen Unabhängigkeitskriege zurückzuführen sein, in denen man wohl — die amerikanische Realität wurde eben auch damals schon in Europa verkannt — den Freiheitskrieg der Indios gegen die Kolonialherren sah, in denen sich auch jene revolutionären Hoffnungen zu verwirklichen schienen, die in Europa mehr oder weniger kläglich gescheitert waren.
Korrektur einer Vorstellung So romantisch und im Grunde naiv der Begriff des „guten Wilden" in Europa auch gebraucht worden war, so viel unausgesprochene oder ausgesprochene Sympathien, wenn auch als Folge der Ignoranz, darin verborgen waren, die Reaktion in Amerika war negativ. Noch heute setzen sich die Autoren Lateinamerikas, denen der Begriff beim Studium der europäischen Literaturgeschichte wieder begegnete, nachträglich dagegen zur Wehr, weil sie noch immer einen Unterton der Herablassung daraus zu hören vermeinen. Ihre Argumente sind in den meisten Fällen historisch begründet, zielen aber auf eine psychologische und kulturgeschichtliche Revision. Das läßt sich auch aus der heftigen Reaktion des Indianer-Nachkommen Miguel Angel Asturias ablesen, mit der er beim deutsch-lateinamerikanischen Schriftstellertreffen 1964 in Berlin die Debatte über dieses Thema beendete. Asturias sagte: „Unsere Vorfahren waren keine Wilden, denn sie hatten eine der höchsten Kulturstufen der Menschheit erklommen; sie waren auch weder speziell gut noch böse, denn sie waren Menschen, und das schließt immer und überall beide Möglichkeiten ein. In Europa konnte das Bild vom . guten Wilden'entstehen, weil man keine Ahnung von der Wirklichkeit hatte."
Die Heftigkeit dieser und anderer Reaktionen beweist, daß die Interpretation der lateinamerikanischen Realität hier auf ein Nervenzentrum des „Amerikanismus" trifft. Denn nicht nur in Europa hatte man keine Ahnung von den wirklichen Voraussetzungen; auch die Angehörigen der weißen und der mestizischen Oberschichten Amerikas waren seit jeher nicht besser informiert, vor allem wollten sie nicht mehr Ahnung von der Wirklichkeit haben. Aus Protest gegen diese Ignoranz und gegen die daraus resultierende Unterdrückung großer Teile der lateinamerikanischen Bevölkerung, nämlich der „Indigenas", der indianischen Bevölkerung, nahmen zahlreiche Schriftsteller sich dieser anonymen Opfer europäischer oder kreolischer Überheblichkeit an, zumal Schriftsteller, die — wie etwa Asturias — selbst Nachkommen von Indios sind. So entstand, was in lateinamerikanischen Literatur-und Kulturgeschichten „Indianismus" oder „Indigenismus" genannt wird: eine Bewegung, die — sowohl gegen den „Europäismus" wie auch gegen den „Criollismus" gerichtet — die Traditionen der Indigenas, der Urbewohner des Kontinents, erneuern und gegen Kolonialismus und Imperialismus verteidigen wollte.
In seinen Anfängen erwies der „Indigenismus" sich in seiner Naivität, seinem Fehlen rationaler Grundlagen der europäischen Auslegung durchaus ebenbürtig; dann allerdings wurde er zum Interessengebiet engagierter Wissenschaftler und erhielt ein festes Fundament. Die Literatur, die auf dieser Basis dann entstand und bis heute entsteht, von der sozialkritischen auf Anhieb zu unterscheiden, ist nicht leicht; die Grenzen sind fließend, Themen und Motive überschneiden sich fast immer, und bis auf ganz wenige Ausnahmen folgt die sprachliche Form gleichen Gesetzen, wobei sich schwer sagen läßt, ob die stärkeren strukturellen Impulse von der sozialkritischen oder der indigenistischen Literatur ausgehen. Keineswegs leichter wurde die Identifizierung der Motive dieser Literatur dadurch, daß in Brasilien schon im neunzehnten, in Hispanoamerika in unserem Jahrhundert auch die Vertreter der „Negritud“ damit begannen, sich den „Indigenisten" zuzurechnen, wobei sie das nicht ganz von der Hand zu weisende Argument gebrauchten, daß die Situation der schwarzen Bevölkerungsteile in historischer, sozialer und kulturgeschichtlicher Hinsicht identisch mit der Situation der „gelben" Bevölkerung sei (wobei anzumerken ist, daß die Indios sich selbst als „gelbe Rasse" bezeichnen; rot wurden sie, auf Grund ihrer Kultfarben, erst von den Europäern genannt).
Die kosmische Rasse Um die indigenistische Literatur von der politisch-sozialen Literatur zu unterscheiden, gibt es dennoch ein untrügliches Kennzeichen: Die Literatur der Indigenisten betont den ethisch-ethnologischen Aspekt und bekennt sich stolz zur „indianischen" Vergangenheit des Kontinents. Bezeichnend dafür ist, daß einer der Wegbereiter des Indigenismus, der Mexikaner Jose Vasconcelos, in seiner bis heute unübertroffenen „Indologia" für die Nachfahren der einstigen indianischen Großreiche in sehr deutlicher Distanzierung von Europa den Begriff der „kosmischen Rasse“ prägte, und daß der Bolivianer Alcides Arguedas in seinem Buch „Raza de bronce" die Marschrichtung des Indigenismus festlegte. Seinen Aufschwung nahm dieser Indigenismus in Mexiko und Zentralamerika, den alten Gebieten der Azteken und Mayas. Daß das südamerikanische Andengebiet später erfaßt wurde, Tat erst viel mag auf die -sache zurückzuführen sein, daß die hochkultivierten Inkas erstaunlicherweise keine Schrift kannten und daß ihre Nachfahren deshalb kaum über literarischen Traditionen jene verfügten, denen man in den „klassischen" Zeugnissen der Azteken und Mayas, aber auch in ihren volkstümlichen Dichtungen und Liedern begegnet.
Auf dem Boden eben solcher religiös-mythologischer Traditionen aber begann der Indigenismus zu wachsen, ursprünglich durchaus in schwärmerischen Formen, später mehr und mehr „verwissenschaftlicht", heute als bereits klassischer Wissenschaftszweig nicht mehr nur Lateinamerikas betrieben. Mit der zunehmenden Versachlichung der emotionalen Voraussetzungen kam es auch bald zu einer Differenzierung der Bemühungen. Gegenwärtig lassen sich zwei Hauptrichtungen der indigenistischen Literatur konstatieren, die beide jeweils eine durchgefeilte Fachliteratur und die literarisch verwerteten Ergebnisse der Forschung aufweisen. Die Werke der „sozialen Indigenisten" — gelegentlich, vor allem in Zentralamerika, auch die Repräsentanten der „sozial-magischen Literatur" genannt — stellen die Welt der Indios dar mit dem unmittelbaren Ziel, diese Welt zu ändern, zu verbessern, den Indio aus fast fünfhundertjähriger Unterdrückung zu befreien. Das indigenistische Motiv vereint sich mit dem sozialkritischen und wird — wie zum Beispiel in den Romanen des Peruaners Ciro Alegria — dadurch vielfach auch dem Europäer verständlich, weil es noch Strukturen zeigt und Ausdrucksformen zeitigt, die mit herkömmlichen Denkschemata übereinstimmen.
Die amerikanische Synthese Die Werke der zweiten Gruppe dagegen, der „ethnologischen Indigenisten" — die, einem Terminus von Asturias folgend, häufig auch die „magischen Realisten" genannt werden —, sind für den Europäer viel schwerer zugänglich, da diese Werke die Welt der Indios nicht nach außen hin darstellen, nicht als „äußerliches Problem" erfassen, wie es Asturias einmal genannt hat, sondern „nach innen spiegeln". Man könnte, um es einigermaßen zu verdeutlichen, auch sagen: Die erste Richtung begreift den Indigenismus mehr als soziales Problem, die zweite, literaturgeschichtlich weitaus bedeutendere Richtung konfrontiert die indianisch-mystische Welt mit einer christlich-materialistischen Welt. Die — nach Asturias — „amerikanische Synthese" bietet sich an, wo durch verstehende Übereinkunft zwischen beiden Kulturkreisen Harmonie erreicht werden kann. Politisch-soziale und künstlerisch-ethnologische Ideen verschmelzen hier zu einem Denken, das um den Konflikt des Indios mit der „europäischen" Umwelt, ihren staatlichen, wirtschaftlichen und technischen Organisationsformen kreist. Die Literatur des Indigenismo ist aber beileibe nicht gleichzusetzen mit dem Heimatroman europäischen Zu-schnitts, den es auch in Lateinamerika gibt. Meist unterscheidet sie sich von dieser schlichtsinnigen Gattung allein schon durch den magisch-evokativen Klang ihrer Sprache. Die indianische Schwermut, das, was man die „delicadeza“ der Urbewohner nennt, ist das bestimmende Element nicht nur für die indianische Musik, sondern auch für den sprachlichen Duktus der indigenistischen Literatur. Ein „Denken in Bildern" gibt dieser Literatur ihr Profil, vor allem aber das poetische Fluidum, das auch die Romane, die Erzählungen und oft sogar den Essay bestimmt. „Prosa poesfa" nennt man diese Ausdrucksform in Amerika, und es kann keinen Zweifel darüber geben, daß diese speziell lateinamerikanische Form der Literatur ein eindeutig indianisches Erbe und damit — wie die meisten europäischen Kritiker immer wieder beweisen — dem Europäer weithin verschlossen ist. Ein Traum von Gerechtigkeit Das indianische Erbe, einst durch seine Verschmelzung mit der europäischen Kultur einer der beiden „großen Flüsse" gewesen, aus denen die lateinamerikanische Literatur zusammenfloß, ist bis auf den heutigen Tag das bestimmendste Element dieser Literatur geblieben. Die bedeutendsten Autoren des Kontinents bekennen sich zum Indigenismus, wenn sie nicht sogar selbst indianischer Herkunft sind wie Asturias, Octavio Paz, Jose Maria Arguedas, Sebastian Salazar-Bondy. Der große peruanische Lyriker Cesar Vallejo (gestorben 1938) sprach einmal davon, daß gerade die feste rassische Bindung, die er als „das geistige Heimweh der Indios" bezeichnete, Lateinamerikas Autoren stark mache für ihr Werk, und er fuhr fort: „In der Literatur haben wir alle unsere neue Heimat gefunden, denn in ihr können wir unseren Träumen von Gerechtigkeit und Menschlichkeit leben, diesen mächtigen Hinterlassenschaften unserer hingemordeten Väter. Aber hüten wir uns davor, nur zu träumen. Mit jeder Zeile, die wir schreiben, müssen wir unserem Ziel ein Stück näherkommen. Dieses Ziel aber heißt, aus dem Traum wieder die alte Wirklichkeit werden zu lassen."
So ist es denn auch charakteristisch für die indigenistische Literatur, daß die Resignation, die Schwermut überall dort fest verwurzelt sind, wo die Autoren einem indianischen Volk entstammen, das sich nie eine eigene Hochkultur, nie ein eigenes Reich wie Azteken, Mayas und Inkas hatte schaffen können. Der Mestize Augusto Roa Bastos, dessen Vorfahren Portugiesen und Guaranis waren, nennt das „die Trauer darüber, in der Vergangenheit versäumt zu haben, was die Gegenwart nicht mehr zuläßt".
Bei den anderen aber, den Nachkommen der Inkas, Mayas und Azteken, weicht die Resignation, wenn die Erinnerung an die Vergangenheit wach wird. Das trifft zum Beispiel auf den Chilenen Pablo Neruda und den Peruaner Cesar Vallejo zu, Landsleute also im Sinne der von ihnen beschworenen Inka-Tradition. Beide — besonders deutlich aber Pablo Neruda in seinem „Großen Gesang" — preisen den kämpferischen Geist jener indianischen Vorfahren, die einst das erste „sozialistische" Großreich der Geschichte begründet, zur Größe geführt und dann an die Spanier verloren haben. Aus der Konfrontation dieser einstigen „Welt der Gerechtigkeit“ mit der jetzigen Welt der Unordnung und der Ungerechtigkeit erwächst einerseits die Erkenntnis von der Unsinnigkeit des Begriffs der „weißen Überlegenheit", andererseits aber, und das ist von größter Wichtigkeit, ein neues Selbstbewußtsein, das sich in Mexiko, wo man heute bereits von einer „Republik indianischer Nationalität" spricht, mit unverhohlenem Stolz äußert.
Sprache, Wirklichkeit und Sprachwirklichkeit Diese Merkmale, die erkennbar machen, warum es am Beginn dieses Aufsatzes hieß, lateinamerikanische Literatur sei nur soziologisch zu erschlüsseln, finden ihren Ausdruck auch und vor allem in der Sprache, die den gleichen Gesetzmäßigkeiten gehorcht. In der indigenistischen Literatur wird die — wie Vargas Llosa sagte — „Sprachwirklichkeit" Amerikas weithin nicht von europäischen Voraussetzungen bestimmt, sondern von den indianischen Traditionen. Und diese Traditionen bleiben dem Europäer verschlossen, weil sie mit europäischen Traditionen überhaupt nichts gemein haben — eine Festeilung, die sich abermals, vor allem in Deutschland, in neun von zehn Kritiken beweisen läßt, die aber wiederum beweisen, daß der Europäer noch immer nicht gelernt hat, sich fremden Kulturkreisen auch nur verständnisvoll zu nähern. Deutlich ablesbar wird das in deutschen Urteilen über Asturias, deren Verbreiter ohne langes Nachdenken über ihre eigene begrenzte Verständnisfähigkeit die Verleihung des Nobelpreises als glatte „Fehlentscheidung" bezeichnen oder im Werk des großen Guatemalteken nicht mehr sehen als einen „unvergorenen Cocktail von sprachlichen Experimenten, surrealistischen Bildern und politischen Wahnbildern".
Der magische Realismus Der Indianer unterscheidet in seiner Sprache kaum zwischen Realität und Traum. Sein Denken in Bildern schuf einst eine Religion, in der Gott unter Hunderten verschiedener Namen und Metaphern auftritt; und es ließ in der neueren Literatur Lateinamerikas den „magischen Realismus" entstehen, der viel von dem alten, bedeutungsschweren Bilderreichtum in sich ausgenommen hat. Miguel Angel Asturias ist ein hochintellektueller Interpret dessen, was er „kulturrealistische Integrität und Kontinuität des Indianischen" nennt, dessen Erschließung er bereits mit seiner juristischen Dissertation (!) über „El Problema social del Indio" im Jahre 1923 eingeleitet hat, was wiederum beweist, daß Autoren wie er den Begriff „Literatur" in einem sehr umfassenden, sehr universellen Sinn verstehen. Instinktiver vielleicht, weniger intellektuell, sich selbst jedoch nicht stärker damit identifizierend, behandelt Augusto Roa Bastos das Problem; in Paraguay hatte er von Kindheit an der mythenrei43 chen Welt der Guaranies seine Anregungen abgewonnen, denen eine sehr starke, poetisch begründete Religiosität eignet, der wiederum die Bücher Roas ihre zugleich bezaubernde und erschreckende Atmosphäre verdanken. Die dynamische Dramatik, die der indigenistischen Literatur innewohnt, entdeckt man auch in den schlichten Liedtexten des Volkssängers Atahualpa Yupanqui. Diese innere Spannung bestimmt die Romane Ciro Alegrias, der den namenlosen Indio zum Stellvertreter für das Schicksal seines Volkes macht. Ein anderer Peruaner, der mehr „dichterische" Jose Maria Arguedas, hat das indianische Problem von ganz anderer Seite her betrachtet: Sein Roman „Los rios profundos" dürfte der erste indianische Entwicklungsroman sein; bezeichnend für Arguedas ist die Tatsache, daß er viele seiner Erzählungen ursprünglich in der Inkasprache Quechua geschrieben hat, weil, wie er meint, das Spanische nicht ausreicht, um die seelische Welt der Indios Wort werden zu Selbst lassen.
in den Werken des von Arguedas entdeckten jungen und stilistisch experimentierfreudigen Mario Vargas Llosa, die ganz bestimmt keine indigenistische Literatur sein sollen, sind die starken Bindungen, auch in der Sprache, an das Indigene unübersehbar, und es ist gar nicht so absonderlich, wenn man darauf hinweist, daß die stilistischen Experimente zum Beispiel in „La casa verde" nichts anderes als ein nach-vollzogenes metaphorisches Denken der Indios sind.
Die Einmaligkeit des Mestizismus Das Schicksal der Indios (das dem ihrer Denkweise als integraler Bestandteil zugeordnet ist)
wurde zur Hauptforderung an die Sozialreformer und — Beweis für die Notwendigkeit der Reform — zum kontinentalen Thema Lateinamerikas, freilich nicht von Politikern dazu erhoben, sondern von den Schriftstellern und Dichtern. Es findet seine wesensverwandte Ergänzung in den Forderungen der Vertreter der Negritud, deren stärkste Stimmen Nicoläs Guillen aus Kuba und Adalberto Ortiz aus Ecuador sind. Das indigenistische Denken, von den Autoren Hispanoamerikas zu einer Grundsatz-forderung erhoben, hat die lateinamerikanische Literatur seit nunmehr rund hundert Jahren ganz entscheidend beeinflußt. Es hat dieser Literatur ihren markantesten Ausdruck, ihr schärfstes Profil gegeben, es hat diese Literatur einer Entwicklung aufgeschlossen, die ihr ein einmaliges, nicht wiederholbares und nur in Lateinamerika mögliches Gepräge verleiht. Ohne die Konsequenzen des indigenistischen Denkens wäre diese Literatur nicht mehr vorstellbar, aber es muß auch festgehalten werden, daß gerade der Indigenismus der lateinamerikanischen Literatur all jene Züge mitgab, die sie so schwierig für das Verständnis machen, die sie so großen Verkennungen aussetzen, weil die Voraussetzungen eben noch lange nicht allgemein bekannt und das Beurteilungsschema noch auf lange Sicht Eigentum Lateinamerikas sein werden.
VI. Brasilien oder die Ermöglichung des Unmöglichen
Bisher war nahezu ausschließlich von den Literaturen Hispanoamerikas die Rede, in der Hauptsache von jener Richtung, die sich aus der Synthese europäischer und indianischer Elemente ergab. Wie fruchtbar eine solche Synthese unter günstigen Umständen werden kann, das erkennt man an der brasilianischen Literatur, die wir nicht nur aus philologischen Gründen an den Schluß dieser Untersuchung stellen. Brasiliens Sprache ist ein vielfach gewandeltes und umgeformtes Portugiesisch. Und wie sich das Land sprachlich von den übrigen Ländern Lateinamerikas abhebt, unterscheidet es sich auch geistig von seinen Nachbarn. Innerhalb dieser gewaltigen, in sich geschlossenen Welt hat sich ein besonderes Denken entwickelt, die Brasilidade, entstanden aus dem Zusammenspiel europäischer, vor allem portugiesischer, sowie indianischer und negroider Kulturkräfte. Anders nämlich als in allen anderen Ländern Lateinamerikas, gab es in Brasilien dank der Mentalität der portugiesischen Herren und ihrer politischen Klugheit von Anfang an keine rassischen oder religiösen Schranken. So kam es schon früh zu einer Rassenmischung, aus der ein Menschenschlag ganz eigener Art hervorging: A raa brasileira, die brasilianische Rasse, und diese raa brasileira schuf eine tolerante, ungemein experimentierfreudige Kultur, deren Wurzeln zurückreichen bis in die Kolonialzeit.
Im Zeichen der „Brasilidade" gelang es, die Unabhängigkeit ebenso friedlich durchzusetzen wie die Aufhebung der Sklaverei; sowohl unter der brasilianischen Monarchie als auch in der Republik waren und sind alle Rassen gleichberechtigt. Diese von dem Schriftsteller und Soziologen Gilberto Freyre als „indianisch-portugiesisch-negroid" apostrophierte Entwicklung — man beachte die Reihenfolge! — verhalf der Literatur des Landes zu un-gestörtem Wachstum. Von Anfang an standen dabei soziale Erwägungen Pate, wie auch der brasilianische Modernismo in erster Linie eine soziale Bewegung war, die dann der gesamten modernen Literatur des Landes ihre Richtung und ihre Motive gab. Joäo Guimaraes Rosa, der 1967 gestorbene größte Romancier seines Landes in diesem Jahrhundert, spricht vom „Engagement des Herzens". Sein Hauptthema, wie das aller anderen Autoren des riesigen Landes, die ist „Interpretation Brasiliens", das zum Spiegelbild einer guten, erstrebenswerten Welt wird, weil es die Welt des „tropischen Denkens", die Welt der inneren Freiheit ist. Trotzdem gibt es natürlich Unterschiede: Während Guimaraes Rosa die Region von Minas Gerais mit ihrer europäisch-indianischen Einfärbung, ihrer „Delicadeza", repräsentieren soll, kann der nach ihm berühmteste Romancier, der Bahianer Jorge Amado, als Sprecher des „schwarzen Brasilien" gelten, jener Region, in der das negroide und mulattische Element zu voller Entfaltung gelangte, vor allem unter dem Einfluß der Yorubas, jenes schwarzen Volkes, das vor seiner Versklavung durch die Weißen die höchste Kulturstufe in Afrika erreicht hatte. Daneben existieren die modernistischen und neo-modernistischen Strömungen, die verbindend wirken zwischen dem revolutionären Geist von Minas Gerais und dem konservativ-poetischen Geist von Bahia.
Das Engagement des Herzens „Diese kulturellen Bewegungen", hat Gilberto Freyre einmal geschrieben, „werden wahrscheinlich zu den wichtigsten zu zählen sein, die Literatur und Leben in Brasilien entsche.dend verwandelt haben. Das gilt nicht nur im Hinblick auf Authentizität und Unmittelbarkeit des geistigen und kulturellen Schaffens, sondern auch für das Selbstvertrauen, das die Brasilianer durch sie gewonnen haben, und für die geistige und künstlerische Befreiung des Landes von allzu großer kolonialer Abhängigkeit von Europa und den Vereinigten Staaten."
Dieses Zitat von Freyre macht deutlich, daß literarische Probleme in Brasilien immer eine politische und gesellschaftliche Bedeutung haben. Ebenso, wie die moderne Literatur dieses Landes ohne den Einfluß Freyres nur schwer vorstellbar wäre, ist sie es auch ohne diesen politisch-soziologischen Dauerbezug, der sich allerdings — im Gegensatz zu Hispanoamerika — kaum an der Oberfläche bemerkbar macht, sondern unterschwellig, eben als „Engagement des Herzens". Der brasilianische Autor fühlt sich dem Menschen, nie einer Doktrin, einer Ideologie oder einer Partei verbunden. Ein Beispiel für dieses „Engagement des Herzens“ sei aus dem von Curt Meyer-Clason übersetzten Roman „Grande Serto“ des Joäo Guimaraes Rosa angeführt, der, wie oben erwähnt, diese Engagements-Definition getroffen hat: „Denken Sie vorwärts. Kaufen oder verkaufen — das kommt manchmal fast aufs gleiche heraus. Hier schließe ich. Ich habe mein Leben nicht erzählt, um mich wichtig zu machen. Ich habe berichtet, was ich war und gesehen habe, als der Tag aufging. Bei Morgenrot. Ich bin am Ende, wie Sie sehen. Ich habe alles erzählt. Nun sitze ich hier, bin fast ein Flußbewohner geworden. Ich treibe dem Alter entgegen, geordneten Sinns und arbeitsam. Der Rio Säo Francisco, er ist so groß, daß er aussieht wie ein riesiger, ragender Stamm. Sie haben mir so freundlich zugehört, Sie haben mich in meiner Überzeugung bestätigt: der Teufel existiert nicht. Ist's nicht so? Sie sind ein überlegener, umsichtiger Mann. Nun sind wir Freunde. Es hat nichts auf sich. Es gibt den Teufel nicht. Das würde ich sagen, wenn das Gespräch darauf käme. Es gibt den Menschen. Die Überfahrt."
Das Geheimnis der Brasilidade Hier, in diesem Schlußabsatz des „Grande Sertäo" findet man eigentlich alles, was man vergebens sucht, wenn man die „Brasilidade" definieren möchte und nicht definieren kann, weil sie ein undurchschaubares, nicht zu ergründendes, nur zu erahnendes Phänomen dieses Landes ist: Engagement des Herzens.
Es gibt in Brasilien heute, nach Motiven geordnet, drei große literarische Gruppen. Innerhalb dieser drei Gruppen gibt es sieben Namen, die sieben Programme umreißen; man könnte ebensogut sagen, sie stünden stellvertretend für sieben Literaturen. Diese sieben Namen erleichtern uns die Übersicht, denn längst schon ist es nicht mehr ganz einfach, sich unter den Hunderten von Schriftstellern Brasiliens zurechtzufinden. Die sieben Repräsentanten dieser Literatur sind: Joäo Guimaraes Rosa (gestorben 1967), Jorge Amado, Adonias Filho, Carlos Drummond de Andrade, Gilberto Freyre, Manuel Bandeira (gestorben 1968) und Gerardo Mello Mouräo. Als Außenseiterin der Literatur, aber als beispielhaftem documentum brasilianum müssen wir noch Carolina Maria de Jesus unsere Aufmerksamkeit zuwenden.
Der Sertäo und ein Zipfel der Ewigkeit Zunächst also die drei Motivgruppen der brasilianischen Literatur: an der Spitze, was den Erfolg wie die Bedeutung betrifft, die Litertur des Sertäo. Ihr folgt die Bahia-und Carioca(Rio de Janeiro-) Literatur. Beide sind regiona45 listische Literaturen. Die dritte, die modernistische Gruppe mit allen ihren Varianten, setzt sich überwiegend aus Lyrikern zusammen. Die Literatur des Serto, vertreten durch Joäo Guimaraes Rosa, Adonias Filho und viele andere, ist eine sehr bewegte Handlungsliteratur, deren bevorzugte Protagonisten Räuber und Viehtreiber des Buschlands sind. Aber das ist nur ein äußerliches Merkmal. Während die Epigonen von Guimaraes Rosa und Adonias Filho freilich nie über diese Äußerlichkeiten hinwegkommen, wird der Sertäo in den Werken seiner beiden bedeutendsten Interpreten zum Schauplatz und Symbol innermenschlicher Vorgänge. Rosa spricht von der „Metaphysik des Sertäo", aber auch davon, daß der Bewohner dieser Landschaft „einen Zipfel der Ewigkeit greifen" wolle. Durst und Hitze, Verlorenheit in der grenzenlosen Weite der wüstenartigen Steppe, Einsamkeit, Gewalttätigkeit und eine seltsame, naive Zärtlichkeit-—das sind die Kennzeichen dieser „religiösen Literatur", die Menschen wie vor dem Südenfall zeigt, unfähig zu unterscheiden zwischen Gut und Böse: der Mensch, der mit der Hoffnung lebt, den die Hoffnung am Leben erhält, der Mensch, der biblische Einsamkeit erduldet, seine Einsamkeit mit Stolz trägt. Ist er nicht Symbol Brasiliens? Schockierend wie der äußere Terror, der in diesen Romanen regiert, ist der innere, der metaphysische Schrecken, der den Menschen von der Geburt bis zum Tode begleitet, ihn zum ewig Gehetzten macht, zu einem, der immer die Wahrheit sucht und dann, wenn er sie findet, nur feststellen kann: Es gibt keinen Teufel, aber auch Gott ist sehr fern. Das Leben gehört dem Menschen allein. Er allein muß damit fertig werden.
Die brasilianische Literatur ist Bekenntnisliteratur, der Schriftsteller trägt das stolze Bewußtsein in sich, Hüter der menschlichen Verantwortung zu sein. Engagement des Herzens: auf diese Formel läßt sich auch das Werk Jorge Amados reduzieren, den man „Gewissen und Seele Bahias" nennt. Man hat diesem Jorge Amado alle möglichen Ehrennamen gegeben, wie nur südländische Phantasie sie erfinden konnte. „Amado, den Geliebten, nennt man ihn", schreibt die Negerin Carolina Maria de Jesus, „dabei müßte er Amando, der Liebende heißen." Die Unterschiede zwischen Amado und Guimaraes Rosa sind Unterschiede ihrer Psyche: Der Bahianer Amado lebt aus und mit dem Gefühl, der Mineiro Guimaraes Rosa ist bestrebt um eine Verbindung von Herz und Verstand. Der Unterschied der Charaktere bestimmt den Unterschied der Werke; es ist zugleich jener Unterschied, der die beiden Pole Brasiliens aufzeigt.
Bahia und die Philosophie des Humors Der streitbare Politiker, der engagierte Essayist Jorge Amado wandelt sich nur stilistisch, wenn er einen seiner Romane schreibt.
Auch als Erzähler bleibt er der kampfbereite Humanist. Doch an der Stelle, wo bei Guimaraes Rosa die Metaphysik steht, steht bei ihm die Philosophie des Humors. Jorge Amados Romane sind heiter, Brüder orientalischer Märchen, voll von versteckter Bosheit und fabulierender Freude. Doch diese Heiterkeit ist enthüllend. Sie ist eine fürchterliche Waffe im Kampf gegen jene, die sich an den Idealen des Menschen und vor allem des Brasilianers Amado vergreifen. Aus Heiterkeit wird scheinbar harmloser, in Wirklichkeit mörderischer Spott. Amado bringt das in seinem großen Roman um den „Kapitän Vasco Moscoso" selbst auf eine Formel: „Wichtig ist der Versuch — selbst des Unmöglichen." Was Amado hier, scheinbar ganz nebenbei, beim Namen nennt, mutet an wie die oft praktizierte Maxime der brasilianischen Literatur. Das Unmögliche versuchen, eines Tages wird es trotz seiner Unmöglichkeit gelingen. Das läßt sich in den Werken von Guimaraes Rosa und von Amado Seite für Seite nachlesen. Während der eine auszog, eine neue Sprache zu erfinden, weil die alte ihm nicht mehr ausreichte, betreibt der andere Sozialkritik, ohne auch nur einmal ein böses Wort fallenzulassen. Versucht das Unmögliche! Man könnte sagen, ganz Brasilien — nicht nur seine Literatur — steht unter dieser Devise. Nur so ist zu verstehen, daß intellektuelle Autoren wie Guimaraes Rosa, populäre wie Jorge Amado, aber auch die avantgardistischen „Konkretisten" von So Paulo und Rio de Janeiro im Grunde eine einzige Idee zu verwirklichen suchen, nur jeder mit anderen und fast immer unmöglich scheinenden Mitteln. Jean-Paul Sartre war, als er das an Ort und Stelle feststellen konnte, so überrascht davon, daß er es als ein „Phänomen von ganz eminenter Erstaunlichkeit" bezeichnete. Bedenkt man aber den gemeinsamen Ausgangspunkt all dieser auf den ersten Blick so unterschiedlichen Autoren, ist die Erstaunlichkeit gar nicht mehr so eminent. Dann fügen sich auch scheinbar hermetische Gedichte wie die des Carlos Drummond de Andrade nahtlos in den zauberhaften Kreis der Brasilidade ein: „Dichtung ist nicht mitteilbar ...
Alles ist möglich, nur ich bin nicht möglich ... Angenommen, ein Engel aus Feuer Fegte über das Antlitz der Erde, Und die geopferten Menschen Bäten um Verzeihung.
Bitte nicht." Carlos Drummond de Andrade, seit dem Tode Manuel Bandeiras der bedeutendste unter den Lyrikern Brasiliens, bezeichnete sich selbst als Neo-Modernisten, setzte aber hinzu, seine Dichtung entstehe „aus der intensiven Beschäftigung mit dem Volksgedicht". Das — aber nicht nur das — mag eine Erklärung für die bei uns schon lange nicht mehr vorstellbare Popularität von Lyrikern zulassen, eine Popularität, die vor allem dem Werk Manuel Bandeiras, des Vaters des lyrischen Modernismo, zukam, dessen Tod in Brasilien Anlaß für drei Tage nationaler Trauer war. Auch Bandeiras Lyrik entstammt dem folkloristischen Urgrund Brasiliens, jenem geheimnisvollen Wurzelwerk, in dem die Toten ihr eigenes Leben weiterleben: „Heute hör ih nicht mehr die Stimmen aus jener Zeit Meine Großmutter Mein Großvater Totonio Rodrigues Tomäsia Rosa Wo sind sie alle geblieben? Alle schlafen Alle ruhen Und schlafen Tief."
Der Mensch — Maß aller Dinge Aus diesen Gedichten spricht der gleiche Geist, der das Leben des Menschen als höchstes Gut anerkennt und z. B. jenes berühmte Indianer-gesetz hervorbrachte, das selbst für den Umgang mit kannibalischen Kopfjägern vorschreibt: „Sterben, wenn nötig. Töten — nie!" Die Brasilidade hat viele Gesichter und viele Namen. Sie ist grausam wie die Geschichte der Eroberung Brasiliens und zärtlich wie ein Gedicht. Sie gab auch den Versepen des Gerardo Mello Mouräo ihren Charakter, die ebenfalls aus dem Volkslied entstehen und eine große Tradition Brasiliens fortsetzen: „Es ertrinken nicht im Wasser die Stichlinge die Sippe der Mouröes ertrinkt nicht im Blut Nahrung der Liebe und der Tapferkeit von diesem Wein ernährt sich das Herz der Reinen von diesem Wein komme ich her und sehe das Leben..."
Engagement des Herzens! Es drückt sich in vielen Formen aus, wird geleitet von der Vorstellung, der „Dichter sei berufen, die Welt zu verbessern". Diese Worte stammen von Carolina Maria de Jesus, einer Negerin aus Säo Paulo, die kaum schreiben kann und doch ein erschütterndes Buch schrieb, das „Tagebuch der Armut". Dieser autobiografische Bericht schildert das Leben in den Elendsvierteln der reichsten Stadt Brasiliens. Für viele Europäer ist das ein rassisch-folkloristischer, ein pittoresker Stoff, in Wirklichkeit aber, so Jorge Amado, eine „Frage des Proletariats". Geschlossen stellten sich Brasiliens Autoren hinter die literarische Außenseiterin, als sie wegen ihrer Kritik an den sozialen Verhältnissen offiziell getadelt wurde. Und abermals zeigte sich der Geist der Brasilidade: Obwohl das „Tagebuch der Armut" die seit langem heftigsten Angriffe gegen die Regierung enthielt, ehrte man die Autorin schließlich, statt sie zu verfolgen.
Das Bekenntnis des Jorge Amado Auch hier unterscheidet sich Brasilien sehr deutlich von den spanischsprachigen Nachbarn, die unbequeme Autoren fast immer als „kommunistische Aufrührer" diffamieren, als ob mit der Unterdrückung des Kritikers die Ursache der Kritik behoben wäre. Diese Großzügigkeit ist einer der eindrucksvollsten Erbteile Brasiliens und hat Tradition. Undenkbar wäre in Paraguay oder Peru, in Nicaragua oder Bolivien, daß ein Schriftsteller in einer öffentlichen Akademie-Rede seine literarische Herkunft so schildert wie Jorge Amado in Brasilien. Amado hat in dieser Rede Erfahrungen ausgesprochen, die auch andere anderswo in Lateinamerika machten, die anderswo genauso frei auszusprechen ihnen jedoch verwehrt ist. Es ist, das sei nochmals betont, der Geist der Brasilidade, der das möglich macht, der Geist eines Landes, das wie alle anderen von Kämpfen durchtobt ist, das aber den Vorzug hat, daß die Demokratie, die Freiheit in seinem Herzen lebt, in seinen Menschen. Deshalb kann das Zitat aus Jorge Amados Rede vor der Brasilianischen Akademie hier als Stimme Brasiliens stehen, aber auch als Stimme der Hoffnung, an der alle anderen Autoren Lateinamerikas Anteil haben; denn was Amado sagte, gilt nicht nur für Brasilien: „Ich bin ausgewachsen im wilden Land des Kakaos, ich habe das Drama der Urwalderoberung miterlebt, habe die Stimmen der Rechtsanwälte gehört, welche die unverschämten Übergriffe der Großgrundbesitzer verteidigten, habe als Kind gesehen, wie mein Vater, hinterrücks überfallen, blutüberströmt zusammenbrach. Ich trug in mir das Echo der großen Epopöe, aber auch die herzzerreißende Klage der Arbeiter, die wie Lasttiere unter dem Joch auf den Feldern schufteten. Meine Jugendjahre in der Freiheit der Straßen von Säo Salvador da Bahia, als ich mich unter das Volk der Hafenkais, der Stadt-und Jahrmärkte, unter die Capoeira-Leute und die Volksfeste mischte, als ich die Geheimnisse der Candombles und der jahrhundertealten Kirchen erfuhr, waren meine beste Hochschule. Sie schenkten mir das Brot der Poesie, das uns die Kenntnis der Schmerzen und Freuden unserer Landsleute gewährt... Ich habe die Freude, mein Herz jung bewahrt zu haben, weil ich nie die Einheit zwischen meinem Leben und meinem Werk gesprengt habe und weil ich sicher bin, daß ich sie nie sprengen werde."