I. Guerilla und „Guerillerismus"
Das Wort „Guerilla" — wörtlich übersetzt „Kleinkrieg" — kann sowohl einen Partisanentrupp als auch eine bestimmte Form des bewaffneten Kampfes bezeichnen. Der von mir geprägte Begriff „Guerillerismus" bezeichnet hingegen eine bestimmte politisch-militärische Konzeption, die den Partisanenkampf als entscheidende Methode der antiimperialistischen und antioligarchischen, im Prinzip „sozialistischen" Revolution ansieht und die aus den Erfahrungen der kubanischen Revolution er-wuchs. „Guerillas" hat es in Lateinamerika seit jeher gegeben, der „Guerillerismus" ist hingegen eine neuartige Auffassung, die die Partisanenkämpfe der letzten Jahre entscheidend bestimmte.
Einem beträchtlichen Teil der Weltöffentlichkeit erscheinen die Guerillakämpfe als das hervorstechende Charakteristikum der jüngsten Geschichte des iberoamerikanischen Kontinents. Diese Ansicht entspringt einer Über-schätzung der tatsächlichen Kämpfe und ihrer Bedeutung. Die wirklichen Vorgänge sind unzureichend bekannt, zum Teil durch Propaganda und Mythologisierung entstellt. In dieser Abhandlung versuche ich, dem Leser ein wahrheitsgetreues Bild der wichtigsten Guerilla-Erfahrungen der jüngsten Geschichte Lateinamerikas zu vermitteln
Der Begriff „Guerilla" ist vieldeutig, ob er sich nun auf eine Gruppe von Menschen oder auf eine Kampfform bezieht. Ein Partisanentrupp kann auf dem flachen Lande wirken, aber auch in Städten: In Venezuela fiel z. B.den in „Taktischen Kampfeinheiten" zusammengefaßten städtischen Guerilleros eine besonders große Bedeutung zu. Die ländliche Guerilla kann als wandernde, mobile Gruppe bewaffneter Männer auftreten. Jedoch werden mit diesem Ausdruck gelegentlich auch „Mili-zen" oder „Selbstschutzformationen" bezeichnet, die sich etwa aus der Bauernschaft selbst bilden, die an „ihrem" Boden haften. Unter dem Angriff überlegener militärischer Kräfte — etwa der regulären Armee — können sich solche „Selbstschutzformationen" aber auch in mobile Partisanen verwandeln.
Partisanengruppen können aus den verschiedensten Gründen entstehen und brauchen nicht für weitergehende politische Ziele einzutreten — selbst dann nicht, wenn sie sich politische Namen geben. Während der langen und wirren Periode jenes Bauern-und Bürgerkrieges, der in Kolumbien „violencia" genannt wird — einer Periode, die schon in den dreißi-ger Jahren begann, aber ihren Kulminationspunkt 1948— 1957 erreichte und die fast 200 000 Menschenopfer kostete —, kämpften auf dem Lande „liberale" gegen „konservative" Partisanen. Doch hatten diese Bezeichnungen nur geringe programmatische Bedeutung.
Man sollte auch zwischen Partisenenkampf und Partisanenkrieg unterscheiden Ein Partisanenkampf kann isoliert, ohne politische Ziele in einer bestimmten Gegend ausbrechen. Ein Partisanenkrieg hingegen ist wie jeder Krieg eine „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" — wie immer diese Politik auch ausgerichtet sein mag.
Der „Guerillerismus" stellt den Partisanenkrieg in den Mittelpunkt. Die zuerst geschaffenen Guerilla-Gruppen, auch focos („Herde") genannt, werden als Keime einer revolutionären Volksarmee aufgefaßt, die die Macht erobern soll. Unter diesem Gesichtspunkt müssen auch die Erfahrungen des letzten Jahrzehnts betrachtet werden; wobei zu vermerken ist, daß durchaus nicht alle bewaffneten Kämpfe dieser Periode dem Modell des Guerillerismus entsprechen.
II. Der „Guerillerismus"
a) Seine Grundthesen Der Guerillerismus, d. h. die strategisch-taktische Konzpetion des Castrismus, muß als Anwendung des „Marxismus-Leninismus" auf die lateinamerikanische Gegenwart aufgefaßt werden (wenigstens ist er dies seinem Anspruch nach). Seinen klarsten Ausdruck hat er in der 1967 veröffentlichten Schrift von Regis Debray „Revolution in der Revolution?" gefunden, jedoch werden seine Ansätze bereits in Guevaras 1959 geschriebenem Buch über den Guerilla-Krieg deutlich. Es erscheint angebracht, zunächst die Grundthesen dieser Auffassung herauszustellen und sie dann mit den Auffassungen des „orthodoxen" Kommunismus zu vergleichen.
1. Im Zentrum der gegenwärtigen Epoche steht die Revolution in der Dritten Welt. Die lateinamerikanische Revolution bildet einen Teil von ihr. Sie ist unvermeidlich, steht auf der Tagesordnung der Epoche und kann nur mit gewaltsamen Mitteln verwirklicht werden.
2. Es ist nicht immer notwendig, darauf zu warten, bis alle Bedingungen für die Revolution ausgereift sind: der „aufständische Herd" (d. h. die Partisanengruppe) kann sie hervorbringen. 3. Im unterentwickelten Amerika muß das Land (im Gegensatz zur Stadt) zum entscheidenden Schauplatz des revolutionären Kampfes werden.
4. Der Partisanentrupp bildet die militärisch-politische Vorhut der Revolution, den Keim des revolutionären Heeres und auch der revolutionären Partei. Er ist nicht durch theoretisches Wissen oder langjährige Erfahrung, sondern durch den Kampf selbst legitimiert.
Aus diesen vier Thesen ergibt sich eine „Revolutionierung" der hergebrachten „marxistisch-leninistischen" Strategie la). Um das zu verdeutlichen, sollen diese Auffassungen zunächst denen des „orthodoxen" Kommunismus (Moskauer, chinesischer und auch trotzkistischer Prägung) gegenübergestellt und dann näher interpretiert werden. b) Guerillerismus und „orthodoxer"
Kommunismus These 1: In bezug auf die Bewertung der Dritten Welt ist der Maoismus mit dem Guerillerismus weitgehend einer Meinung, wohingegen der auf Moskau ausgerichtete Kommunismus diese Auffassung ablehnt. Daß die Revolution in Lateinamerika notwendig, d. h., daß der „Fortschritt" nicht durch irgendwelche Reformen der bestehenden Ordnung erreicht werden kann, gehört zu den Grundkonzepten aller, die sich zum Marxismus-Leninismus bekennen. Keine Einmütigkeit besteht aber darüber, ob die Revolution in Lateinamerika unmittelbar auf der Tagesordnung steht, welchen Charakter sie haben muß und welche Kampf-methoden angewandt werden müssen.
Die auf Moskau ausgerichteten Kommunisten bestreiten, daß die Situation in den meisten Ländern des Kontinents bereits „revolutionär"
sei, betonen, daß — zumindest in einigen dieser Länder — der „friedliche Weg" zum Ziele führen kann, fassen die kommende Revolution nicht als sozialistische, sondern als „demokratisch-nationalistisch-antiimperialistisch-antifeudale" Revolution auf und heben die entscheidende Bedeutung des städtischen (und ländlichen) Massenkampfes um Tages-förderungen hervor.
Die „Maoisten" — in Lateinamerika eine kleine Minderheit — betonen die Notwendigkeit revolutionärer Gewalt, aber auch die vorrangige Bedeutung der Massenkämpfe.
Die Trotzkisten setzen sich ebenfalls für den gewaltsamen Weg ein, warnen aber auch vor „putschistischen Auffassungen" und betrachten die kommende Revolution als „sozialistisch". (über diesen Charakter besteht in den Reihen der Castristen keine Klarheit. Sie tendieren dazu, die Revolution als demokratisch-antiimperialistisch zu betrachten, die dann sozialistischen Charakter annehmen wird, aber auch dazu, solche Debatten als scholastische Haarspaltereien abzutun.) These 2: Die drei „orthodox-leninistischen" Richtungen lehnen die These vom Guerilla-Herd und seiner Initiativfunktion ab. Der bewaffnete Kampf kann nur als Massenkampf siegen. Er bildet nicht den Ausgangspunkt, sondern die Kulmination des revolutionären Prozesses. Der Beginn eines revolutionären Kampfes setzt das Vorhandensein einer objektiv-revolutionären Situation voraus, die nicht künstlich durch das Auftreten kleiner Minderheiten geschaffen werden kann.
These 3: Die Maoisten teilen die castristische Auffassung, derzufolge die Revolution „von den Dörfern in die Stadt" vordringen soll, ohne aber die Auffassung des Guerillerismus über die Art des Kampfes auf dem Land zu teilen. Für die Pro-Moskau-Kommunisten befindet sich hingegen der entscheidende Schauplatz der revolutionären Kämpfe in den Städten (und in den außerhalb der Städte befindlichen proletarischen Zentren, z. B. in Bergwerksgebieten), weil das Proletariat die einzig authentisch revolutionäre Klasse ist, die andere soziale Schichten — die Bauernschaft, das Kleinbürgertum und die „nationale Bourgeoisie" — als Bundesgenossen gewinnen muß.
These 4: In bezug auf das Problem der Vorhut besteht ein grundlegender Unterschied zwischen dem Guerillerismus und allen anderen marxistisch-leninistischen Richtungen. Nicht der Partisanentrupp (der sich übrigens notwendigerweise um einen „Führer" schart), sondern nur die demokratisch-zentralistisch aufgebaute, theoretisch geschulte, erfahrene proletarische Partei kann die Rolle der Avantgarde spielen. Ihr müssen auch alle eventuell existierenden Kampfverbände untergeordnet sein. c) Interpretation des Guerillerismus Die ursprüngliche „Partisanen" -Gruppe — Keimzelle der revolutionären Partei und eines Volksheeres, das nach langjährigem Kampf die Macht ergreift — ist eine kämpfende Elite, die die Rolle der „Berufsrevolutionäre" Lenins spielen soll. Lenin hatte, wie bekannt, bereits 1902 geschrieben, die Arbeiterschaft könne von sich aus (spontan) nur ein reformistisches Bewußtsein hervorbringen. Das revolutionäre Bewußtsein müsse von außen her, von einer Vorhut, deren Kern Berufsrevolutionäre bildeten, in sie hineingetragen werden. Die revolutionäre Partei wurde also nicht als Teil und Instrument der sozialen Klasse aufgefaßt, in deren Namen sie auftrat: Sie hatte nicht die unmittelbaren Interessen dieser Klasse, nicht ihre Wünsche und Strebungen auszudrücken, sondern der Klasse ihre wahren historischen Interessen bewußt zu machen. Modern ausgedrückt: Die revolutionäre Elite sollte die Arbeiterklasse „manipulieren", ihre auf Reformen gerichteten Bestrebungen in revolutionärem Sinn „umfunktionieren".
Diese Rolle fällt nun der Partisanen-Elite zu. Nicht umsonst ist Debrays Schrift eine einzige Anklage gegen alle Verfechter der „Spontaneität". Es ist keinesfalls die Aufgabe der Partisanen, den unmittelbaren Interessen der ländlichen Bevölkerung zu dienen. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, dieser Bevölkerung ihr Elend bewußt zu machen und sie zu revolutionieren.
Das Land wird aus vier verschiedenen Gründen als „wichtigster Kriegsschauplatz" angesehen. Der erste ist „geopolitisch“: die Macht des Gegners ist in den Städten konzentriert, während das Land — oft dünn bevölkert, meist mit den städtischen Zentren nur schwach verbunden — von der jeweiligen Regierung nur unzureichend beherrscht wird, so daß sich allein auf dem Lande Partisanengruppen unbemerkt formen und herausbilden können. Geographisch gesehen bieten Berge und dichte Wälder den Guerillas einen wertvollen Schutz. Vom soziologischen Standpunkt aus erscheint das Land als besonders günstiger Kampfschauplatz, weil die ländliche Bevölkerung den zahlenmäßig größten, am meisten verelendeten und potentiell revolutionärsten Bevölkerungsteil ausmacht. Zu diesen drei Gründen gesellt sich ein pädagogischer: Nur unter den harten Lebensbedingungen, weitab von allem „städtischen Komfort", kann auch der Erziehungsprozeß vollzogen werden, der aus den Partisanen wirkliche Revolutionäre macht. Mit großer Klarheit wird dies von Debray formuliert: „Jeder Mensch, auch ein Genosse, der sein Leben in der Stadt verbringt, ist, ohne es zu wissen, ein Bourgeois im Vergleich zum Partisanen. . .. Die Berge proletarisieren Bourgeois und Bauern, während die Stadt sogar das Proletariat verbürgerlichen kann."
Es sei ausdrücklich vermerkt, daß hier der Guerillerismus als „Idealtyp" herausgearbeitet wurde, dem die Guerilla-Wirklichkeit nur sehr unvollkommen entspricht. Es sei auch vermerkt, daß Castro selbst dieses Modell durchaus nicht als für alle Länder Iberoamerikas gültig hingestellt hat. Er hat gelegentlich, wenn auch nur nebenbei, die Möglichkeit zugegeben, daß die Revolution sich in einigen Ländern auch gewaltlos vollziehen könne, obzwar dies sehr unwahrscheinlich sei. Auch könne man nicht in allen Ländern Partisanen-gruppen aufstellen, da in manchen die geographischen Bedingungen fehlten. Immerhin wurde das, was wir hier mit dem Begriff „Guerillerismus" bezeichnen, zum Leitbild der Partisanen des siebten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts, die so oder anders vom „kubanischen Modell" inspiriert waren. *
III. Die Wurzeln des Guerillerismus und das kubanische Modell
Als Castro Ende 1956 auf Kuba landete, war er sehr weit davon entfernt, „Marxist-Leninist" oder „Guerillerist“ zu sein. Er kämpfte unter dem Banner der Wiederherstellung der repräsentativen Demokratie und glaubte durchaus nicht daran, mit einer kleinen Schar von Partisanen Batista stürzen zu können. Er war auch nicht auf einen langen Guerilla-Kampf vorbereitet, sondern rechnete vielmehr damit, daß seine Landung mit aufständischen Aktionen in den Städten zusammenfallen bzw. solche Aktionen von Massencharakter hervorrufen würde. Noch bis zum April 1958 stand die Durchführung eines erfolgreichen Generalstreiks im Mittelpunkt seiner Strategie. Dieser mißlang kläglich, und die „Massen" blieben auch weiterhin im wesentlichen inaktiv und spielten eher die Rolle eines beifallspendenden Chors als die einer aufständischen Macht. Erst als sich in der Armee Zersetzungserscheinungen bemerkbar machten, ohne in größeren Kriegshandlungen geschlagen zu werden, konnte die kleine Schar von Guerilleros den Sieg davontragen. Nun erst wurden die ersten Grundsteine des „Guerillerismus" gelegt — als theoretische Intepretation einer bereits zu Anfang „mythologisierten" Erfahrung. Wie schnell der entstellende Mythologisierungsprozeß einsetzte, zeigt sich bereits in Guevaras erster Schrift über den „Guerilla-Krieg“, die 1959 geschrieben wurde. Der erste „grundlegende Beitrag“, den die kubanische Revolution zur „Mechanik der revolutionären Bewegungen in Amerika" geliefert hätte, wird wie folgt formuliert: „Die Volkskräfte (fuerzas populäres) können einen Krieg gegen das Heer gewinnen."
Es entsteht der Eindruck, als habe eine Volksarmee einen militärischen Sieg davongetragen. In Wirklichkeit aber betrug die Gesamt-stärke der Partisanen Castros ein halbes Jahr vor seinem Sieg nur etwa 300 und wuchs auf etwa 800 zwei Wochen vor der Flucht Batistas. Es gab keinen eigentlichen militärischen Sieg, sondern einen durch Kampfunwillen bedingten Zusammenbruch des 30 000 Mann zählenden Heeres des Diktators, von dem ein Teil sich kampflos ergab. Die Zahl der in militärischen Aktionen Gefallenen war sehr gering, und einen wirklichen „Bürgerkrieg" hatte es nicht gegeben.
Es ist das Schicksal aller Revolutionen, mythologisch entstellt und erst auf Grund sol= eher Entstellungen zu „Modellen" zu werden. Die russische Revolution wurde so als proletarische Revolution präsentiert, die unter der Leitung einer monolithischen Partei zu einem Sowjetstaat geführt hätte. In Wirklichkeit bedurfte es nicht unbeträchtlicher semantischer Deutungskünste, um den proletarischen Charakter der Novemberrevolution herauszustellen. Nicht besser stand es um die Behauptung des „monolithisch-disziplinierten" Wesens der bolschewistischen Partei, die in Wirklichkeit von Fraktions-und Meinungskämpfen erschüttert war. Was schließlich die Sowjets betraf, die aus der russischen Wirklichkeit bereits 1905 entstanden waren und die in Lenins Schrift „Staat und Revolution" theoretisch verklärt wurden, so waren ihre Tage bald gezählt.
Der kubanischen Revolution erging es ähnlich, obgleich selbst Guevara in einem im April 1961 in der Zeitschrift „Verde Olivo“ erschienenen Artikel auf einige ihrer Besonderheiten hingewiesen hatte. Doch die wurden schnell vergessen: 1960 proklamierte Castro, daß die Anden zur Sierra Maestra Lateinamerikas würden. Damit wurde der Modell-Charakter der kubanischen Revolution herausgestellt
Doch diese Revolution war einmalig und konnte nicht zum Modell erhoben werden. Erstens wir Fidel Castro bereits seit Anfang der fünfziger Jahre ein in weiten Kreisen bekannter und populärer Politiker gewesen. Zweitens wurde die aus einem Staatsstreich hervor-wachsende Diktatur Batistas von Jahr zu Jahr unpopulärer, wobei sie besonders in den bürgerlichen Mittelschichten auf Gegnerschaft stieß. Drittens konnte Castro gerade darum zum Volkshelden — ohne Unterschied der sozialen Klassen — werden, weil er als Demokrat und nicht als Sozialist oder gar Kommunist auftrat. Während gerade die „Unterschichten" noch am meisten mit Batista sympathisierten — der selbst aus der Unterschicht stammte und auf den viele der sozialen Reformen Kubas zurückgehen —, wandte sich die Mittel-und Oberschicht gegen den Diktator. Auch die Nordamerikaner begegneten der kubanischen Revolution mit zunehmend positiver 13 Einstellung: Im März 1958 verhängten die USA sogar ein Waffenembargo über Kuba. Das kubanische Heer war, wie bereits vermerkt, kampfunwillig, und die Sierra Maestra war als Kampfgebiet sehr geeignet.
Eine ähnliche Konstellation gab es in keinem anderen Land Iberoamerikas. Als die Revolution sich aber rapide zu radikalisieren begann, um schließlich schon Ende 1960 einen „sozialistischen" Charakter anzunehmen, wurde das kubanische Modell vollends unanwendbar. Sowohl die lateinamerikanischen Ober-und Mittelschichten, die Militärs und auch die Nordamerikaner hatten aus der kubanischen Erfahrung die notwendigen Lehren gezogen.
Die Idealisierung der kubanischen Revolution und die Schaffung eines „kubanischen Modells" bildeten aber nur die ersten Bausteine des „Guerillerismus", der erst im weiteren Verlauf der sechziger Jahre endgültige Gestalt annahm. Er erwuchs nicht zuletzt aus einer vierfachen Enttäuschung: über die sozialen Schichten, die sich hätten revolutionär verhalten sollen, es aber fast nirgends taten; über andere Kampfiormen (Militärputsche, städtischer Terror, ländliche Kämpfe von „Selbstschutzorganisationen" oder „Bauernsyndikaten“ etc.), die sich nirgends bewährt hatten; über die Sowjetunion, die nicht daran interessiert schien, die Revolution in Lateinamerika vorwärtszutreiben; schließlich über die kommunistischenParteien (mit denen Castro sich noch Ende 1964 zu vertragen versucht hatte), die in keinem Land des Subkontinents Erfolge verbuchen konnten und aus kubanischer Sicht gesehen nicht als revolutionäre Organisationen erschienen.
IV. Die Erfahrungen des bewaffneten Kampfes
a) Vorbemerkung Es wäre, wie wir bereits andeuteten, falsch, anzunehmen, daß sich die bewaffneten Kämpfe in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern den Regeln und Prinzipien des „Guerillerismus" gemäß vollzogen hätten. Viele, nicht unwichtige Erfahrungen wurden mit bewaffneten Auseinandersetzungen gemacht, deren Konzeptionen denen des Guerillerismus geradezu widersprachen. Aber auch von kubanischer Seite wurden Anstrengungen unternommen, Guerillas in anderen Ländern auf die Beine zu stellen, lange bevor der „Guerillerismus" ausgearbeitet war.
In einem Brief, den ehemalige Teilnehmer der Guerilla-Aktion, die sich 1963/64 in der argentinischen Provinz Salta abspielte, am 8. Juli 1968 aus dem Gefängnis an Ricardo Rojo, den Verfasser einer Guevara-Biographie, richteten, heißt es:
„Der Guerilla-Krieg in Argentinien erwuchs aus einer globalen Strategie der lateinamerikanischen Revolution. Diese Strategie wurde vor langer Zeit von kubanischen Revolutionären erarbeitet. 1960 hatte Che bereits begonnen, in diesem Sinn zu handeln."
Manche der „unabhängigen Republiken" waren auch seit langem bewirtschaftete Gebiete, die aber meist weitab von den Verkehrswegen lagen. Fast überall waren die wehrfähigen Männer militärisch organisiert, wenn auch schlecht bewaffnet. Fast alle waren „Kommunisten" — einige ihrer Führer gehörten auch dem Zentralkomitee der KP Kolumbiens an (oder wurden in die Leitung kooptiert). Zu diesen gehörte der militärische Führer von Marquetalia, Pedro Antonio Martin, der sich auch Manuel Marulanda Velez nannte und der im Volksmund als Tiro Fijo (Fester Schuß) bekannt war.
Im Jahre 1963 begann die Regierung des Präsidenten Valencia, einen offensiven Kampf gegen diese „unabhängigen Republiken" vorzubereiten, die dann 1964 nacheinander angegriffen und „liquidiert" wurden. Aus den Selbstschutzformationen entstanden so mobile Partisaneneinheiten, die sich 1965 zu einem „Südlichen Block" der Partisanen verbanden. 1966 entstand auf der „zweiten Konferenz dieses Blocks" eine Organisation, die sich „Bewaffnete Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens" (FARC) nannte, die von Marulanda geführt wurde. Die von den Partisanen beschlossenen Resolutionen klingen wesentlich revolutionärer als die offiziellen Erklärungen der Kommunistischen Partei. Diese konzentrierte sich auf die Entfaltung einer städtischen Massen-bewegung, beteiligte sich aktiv an der Schaffung einer Gewerkschaftsorganisation und an Koalitionen mit anderen „linken" Parteien und Gruppen. Dem Partisanenkampf wies sie auch in den Jahren 1964— 1966 eine zweitrangige Rolle zu. Bereits 1964 aber hatten die Partisanen von Marquetalia ein Dokument verfaßt, in dem es u. a. hieß:
„Wir sind der Kern einer revolutionären Bewegung, die auf 1948 zurückgeht. ... Im Verlaufe von 15 Jahren hat man vier Kriege gegen uns entfesselt. ... Wir sind Revolutionäre, die für eine Änderung des Regimes kämpfen. Bisher waren wir den für unser Volk am wenigstens schmerzhaften Weg des friedlichen Kampfes im Rahmen der kolumbianischen Verfassung gegangen. Dieser Weg ist uns nun gewaltsam versperrt worden. Da wir Revolutionäre sind, ... bleibt uns kein anderer Weg als der des bewaffneten Kampfes um die Macht. Seit heute, dem 20. Juli 1964, sind wir eine Guerilla-Bewegung."
Auf der bereits erwähnten „Zweiten Konferenz des Südlichen Blocks" wurde Anfang 1966 eine Proklamation beschlossen, deren Kern-sätze lauten: „Wir haben die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens konstituiert und damit eine neue Etappe des vereinten Kampfes aller Revolutionäre unseres Landes begonnen. Mit allen Arbeitern, Bauern und Intellektuellen, mit unserem ganzen Volk, wollen wir einen Volksaufstand entfachen, der die Eroberung der Macht durch das Volk zum Ziel hat."
Die Kommunistische Partei erklärte sich zwar mit den Partisanen solidarisch, verhielt sich jedoch weit vorsichtiger und weit weniger kampfentschlossen — nicht zuletzt aus einem opportunistischen Realismus heraus, der möglicherweise der wirklichen Sachlage besser entsprach. Einer ihrer Wortführer schrieb: „Der Partisanenkrieg in Kolumbien ist jetzt noch nicht die Hauptform des politischen Kampfes. Die Partisanenbewegung wächst und entwickelt sich allmählich nur in einigen Gebieten des Landes. ... Auf dem größeren Teil des kolumbianischen Territoriums wird der Massenkampf in Formen geführt, die man als friedlich bezeichnen kann. ... In den Städten steckt die Arbeit zur Organisierung des Selbstschutzes des Volkes immer noch in den Anfängen."
Später tat die Kommunistische Partei alles, um den Partisanenkampf „herunterzuspielen" und eine Verbindung zwischen den FARC und anderen Guerilla-Organisationen zu verhindern.
Wie groß die Zahl der in den FARC zusammengefaßten Kämpfer 1964— 1966 war, läßt sich nicht ermitteln. Möglicherweise waren es zwei-bis dreitausend. 1967 begannen sie an Zahl und Bedeutung abzunehmen. Heute hört man von der FARC nichts mehr. Ihr Niedergang war nicht zuletzt auf die vom 1966 gewählten Präsidenten Lleras inaugurierte Reformpolitik, zum Teil auch auf die Maßnahmen des Heeres zurückzuführen, die sich durchaus nicht auf Repression beschränkten, sondern auch die Hebung des Lebensstandards in den besetzten ländlichen Gebieten zum Ziel hatten. Der „militärisch-zivilen Aktion" — es wurden Wege, Schulen, Häuser, Hospitäler angelegt etc. — gelang es anscheinend, eine gewisse Befriedung zu erreichen.
In den Jahren ab 1960 entstanden — unabhängig von den offiziellen Kommunisten und im Gegensatz zu deren Politik — mehrere revolutionäre, meist aus Intellektuellen bestehende Gruppen, die den Guerillakrieg castristischen Typs propagierten. Die erste dieser Organisationen nannte sich „Bewegung der Arbeiter, Studenten und Bauern" (MOEC). Sie nahm Kontakt zu Kuba auf, führte einige terroristische Aktionen durch und begann, Partisanen-gruppen aufzustellen, die jedoch alle schnell vernichtet wurden. Ihr Führer, Antonio Larrota, wurde von der Polizei getötet. Die MOEC war bereits Mitte 1961 außer Aktion gesetzt.
Etwas später als die MOEC wurde von Gloria Gaitan — der Tochter des 1948 ermordeten liberalen Volksführers — eine „Einheitsfront der Revolutionären Aktion" (FUAR) ins Leben gerufen, der es jedoch nicht gelang, Bedeutung zu erlangen. Ferner ist noch die auf eine Region des Landes beschränkte Gruppe von Dr. Tulio Bayer zu erwähnen, die „Bewegung von Vichada". Ihre Versuche, einen Partisanenkrieg zu entfalten, scheiterten bereits in den Anfängen.
Die wichtigste Organisation „castristischen" Typs bildete sich im Verlaufe des Jahres 1964 und trat zum erstenmal im Januar 1965 auf den Plan. Es war die von Fabio Vazquez Castano geführte „Befreiungsarmee des Volkes" (ELN). Sie wirkte in der Provinz Santander, die für eine Guerilla-Tätigkeit beträchtliehe Vorteile aufwies. Die Bevölkerung war homogen (es gab keine der spanischen Sprache unkundigen Indianer); die Provinz hatte besonders stark unter der „violencia" gelitten und zählte viele Einwohner, die als „marginal" angesehen werden mußten, da sie in die Wirtschaft des Landes nicht verwurzelt waren — darunter viele Bauern, die keine Rechtstitel für das Land, das sie bebauten, besaßen; die Provinz grenzte an Venezuela und hatte auch zwei wichtige Städte, in denen die Partisanen Anhänger gewinnen und ein Versorgungsnetz organisieren konnten: die Hauptstadt Bucaramanga mit einer Universität von revolutionär gesinnten Studenten, und Barrancabermeja, Zentrum der Erdölindustrie mit der kommunistisch beherrschten Gewerkschaft der Petroleumarbeiter. Diese wurde von dem Anwalt Diego Montana Cuellar beeinflußt, der bald große Sympathien für den Castrismus zeigte und deswegen 1967 aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde. Santander war bergig und zum Teil von dichten Wäldern bedeckt. Gerade in den Waldgebieten lebten sehr arme Bauern, unter denen die Partisanen bald genug Freunde gewannen, da sie nicht nur als Revolutionäre, sondern zugleich als „Entwicklungshelfer" auftraten, die Bauern unterrichteten, ihnen Ratschläge für die Bebauung des Bodens erteilten, sie mit medizinischer Hilfe versahen etc.
Mitte 1964 hatte Fabio Vazquez eine erste Gruppe von 18 Guerilleros um sich gesammelt, die geschult und für den Partisanenkampf ausgebildet wurden. Im Januar 1965 führte die ELN ihre erste militärische Aktion durch. Die kleine Stadt Simacota wurde überfallen, der Militärposten überwältigt, wobei einige Soldaten den Tod fanden. Munition, Versorgungsmittel und auch Geld, das aus einer lokalen Bank entwendet wurde, fielen in die Hände der Aufständischen. Nun war die Existenz der neuen Bewegung den Behörden bekanntgeworden, obgleich noch keine energische Verfolgung der Partisanen begann, deren militärische Aktivität sich in einem sehr engen Rahmen hielt. Es fanden nur sehr wenige, militärisch unbedeutende Aktionen statt, deren Ziel es vor allem war, die Moral der Aufständischen zu erhalten und neue Mitkämpfer zu gewinnen. Beide Ziele wurden erreicht. Die Gruppe wuchs sehr schnell. Ende 1965 trat sogar der Priester Camilo Torres in die ELN ein. Er fiel bereits im Februar 1966, in dem ersten Kampf, an dem er sich beteiligte. Nach seinem Tod wurde die ELN in zwei „Fronten" geteilt: die „Camilo-Torres-Front" unter Ricardo Lara und die „Jose-Galan-Front" unter Fabio Vazquez. Im März/April 1967 stattete der mexikanische Journalist Mario Menendez Rodriguez der ELN einen mehrwöchigen Besuch ab, über den er in einer Artikelreihe berichtete, die im Juni/Juli 1967 in der Zeitschrift „Sucesos para todos" erschien. Es handelte sich dabei nicht um den Bericht eines „objektiven Beobachters", sondern eher eines castristischen Propagandisten. Seine Informationen müssen mit großen Vorbehalten gelesen werden — aber es sind fast die einzigen, über die wir verfügen.
Menendez Rodriguez behauptete, die ELN sei die beste Guerillaorganisation Lateinamerikas. Sie bestünde hauptsächlich aus Bauern und Landarbeitern und wachse von Woche zu Woche. Er beschrieb die Tätigkeit der Partisanen: ihre Arbeit bei den Bauern und ihren „normalen" streng geregelten Tagesablauf (Gymnastik, militärisches Training, politisch-kulturelle Kurse, Patrouillengänge etc.). Er nahm als Beobachter an einer militärischen Aktion, dem Überfall auf einen Eisenbahnzug, teil, die möglicherweise wegen seiner Anwesenheit und aus propagandistischen Gründen organisiert wurde.
Die ELN betrachtete sich selbst als eine militärisch-politische Vorhut der „demokratischen, antioligarchischen und antiimperialistischen" Revolution, die in Kolumbien auf der Tagesordnung stände, deren Verwirklichung aber lange Zeit in Anspruch nehmen würde. Sie erkannte nur Castro als oberste Autorität an, verurteilte die offizielle Kommunistische Partei, der sie u. a. vorwarf, eine Zusammenarbeit der ELN mit der FARC hintertrieben zu haben, und zeigte keine Sympathien für die 1965 entstandene pro-chinesische kommunistische Partei Kolumbiens. Sie war auf einen jahrelangen Krieg eingestellt, in dessen Verlauf sich eine revolutionäre Volksarmee bilden würde. Nach der Machteroberung müsse die revolutionäre Regierung ein radikales Reformprogramm verwirklichen, das jedoch keinen sozialistischen Charakter haben würde. Als tragende Kraft der Revolution wurden die Bauern und Landarbeiter angesehen, über das städtische Proletariat sagte einer der leitenden Partisanen wörtlich: „Der Sektor Arbeiterschaft verfügt über keine ausreichende Reife, um die Zügel des revolutionären Kampfes ergreifen zu können. Es ist aber seine Pflicht, sich, von Grund auf, auf den Kampf vorzubereiten — nicht für den Kampf um wirtschaftliche Forderungen, sondern um die nationale Befreiung."
Die Partisanen, so wurde erklärt, müßten ständig militärische Aktionen durchführen, weil sie sonst demoralisiert würden und weil sie durch solche Taten Ansehen bei der Landbevölkerung gewinnen und ihre Reihen stärken könnten. Diese These wird aber allein schon durch eine aufmerksame Lektüre der langen Artikelserie des Autors widerlegt. Der einzige Partisanenführer, der einigermaßen ausführlich über die militärische Betätigung der ELN sprach, vermochte nicht mehr als insgesamt fünf militärische Aktionen aufzuzählen, die vom Januar 1965 bis zum März 1967 durchgeführt worden waren: Überfälle kleiner Militärposten oder die zeitweise „Eroberung" unbedeutender Ortschaften, in denen die Partisanen Versammlungen abhielten, um sich dann schnell wieder zurückzuziehen. Mit einem gewissen Stolz erwähnte der 28jährige Anwalt Manuel Vazquez, ein Bruder von Fabio Vazquez, mit Bezug auf eine solche „Eroberung", die ELN sei imstande gewesen, die kleine Ortschaft „mehr als eine Stunde lang" besetzt zu halten
Die Gesamtzahl der Partisanen wird in diesen Artikeln nicht genannt. Groß kann sie nicht gewesen sein: Menendez Rodriguez berichtet, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt im März 1967 eine der beiden Fronten — die Jose-Galan-Front — 80 bis 100 Kämpfer zählte
Bald nach dem Besuch des Mexikaners scheint der Niedergang der ELN eingesetzt zu haben. Ihr städtisches Verbindungsnetz wurde zerstört. Sie selbst wurde steigendem militärischen Druck ausgesetzt. Bis in das Jahr 1967 hinein war, so weit sich feststellen läßt, nur eine einzige Armee-Brigade, die nicht über Flugzeuge oder Hubschrauber verfügte, mit der Aufspürung und Verfolgung der ELN betraut. Erst später wurden besser ausgerüstete und für den Partisanenkampf ausgebildete Einheiten eingesetzt und die bereits erwähnten Methoden der „militärisch-zivilen Aktion" auch in der Region von Santander angewandt.
Am 18. Juni 1968 berichtete die kolumbianische Tageszeitung „El Tiempo", die ELN habe sich gespalten, nachdem es in ihren Reihen zu scharfen Auseinandersetzungen gekommen sei. Ende Februar 1969 behauptete ein Deserteur der ELN, die von Fabio Vazquez geführte Truppe bestehe nur noch aus 52 Mann. Er gab außerdem an, Zeuge der Hinrichtung von drei Partisanen gewesen zu sein, von denen einer — Victor Medina — der Zusammenarbeit mit der CIA beschuldigt wurde
Im Laufe des Jahres 1968 tauchte eine neue Partisanengruppe in der nordwestlichen Provinz Cordoba — in den Regionen „Hoher Sinu" und „San Jorge" —auf. Sie war offenbar von pro-chinesischen Kommunisten geschaffen worden (die pro-chinesische Partei hatte sich inzwischen auch gespalten) und trug den Namen „Armee der Volksbefreiung" (ELP). über ihre Tätigkeit liegen keine zuverlässigen Angaben vor; sie dürfte sich aber in bescheidenem Rahmen gehalten haben.
Seit Ende 1967 machte sich in Kreisen kolumbianischer Revolutionäre ein wachsender Pessimismus bemerkbar, der aus Äußerungen hervorgeht, die einige von ihnen in Gesprächen mit dem französischen Journalisten Georges Dupoy machten. Sie wurden im Pariser „Le Figaro" vom 5. Januar und 1. Februar 1968 veröffentlicht.
Einer der Gesprächspartner meinte, die Partisanen hätten umsonst gekämpft. Die kolumbianische Regierung säße nun fester im Sattel als je zuvor und sei zum erstenmal imstande, sich mit demokratischen Methoden an der Macht zu halten. Ein anderer brachte seine Bewunderung für die ELN zum Ausdruck, vermerkte aber auch, es sei dieser Organisation nie gelungen, nur eine einzige größere Ortschaft zu erobern. Der ehemalige Führer der „Bewegung von Vichada", Tulio Bayer, hoffte auf eine ferne Zukunft. Gegenwärtig schien ihm der Partisanenkampf sinnlos zu sein. Die Guerilla hätte nirgends im Volk Wurzeln geschlagen. Die kolumbianische Armee hätte sich als sehr ernst zu nehmenden Gegner erwiesen und der im Amt befindliche Präsident erfreue sich eines wachsenden Ansehens: „Wir müßten einen Diktator haben und eine Unterdrückung erleben, die von allen als unerträglich empfunden würde. Wir brauchten einen Batista — aber wir haben einen Lleras, der jetzt größere Popularität genießt als zur Zeit seines Regierungsantritts."
Das alles soll natürlich nicht so interpretiert werden, als sei ein „demokratischer" Fortschritt Kolumbiens garantiert. Davon kann keine Rede sein. Alle grundlegenden Schwierigkeiten bestehen weiter. Während der ersten Hälfte dieses Jahres kam es zu zahlreichen Protestbewegungen in den Städten — und zum Anwachsen revolutionärer Tendenzen in den Reihen des Klerus. Die „Partisanen" — die FARC, die ELN, die ELP — spielen dabei jedoch keine Rolle. c) Peru Peru ist nicht das erste Land, in dem Partisanenkämpfe ausbrachen, aber sicher das erste, in dem eine von Castristen durchgeführte und vorbereitete, am kubanischen Modell orientierte Guerillabewegung im Verlauf weniger Monate zusammenbrach. Das geschah im Jahre 1965.
Der erste Versuch, einen Guerilla-Kampf in Peru zu entfalten, war bereits Anfang 1963 gescheitert. Er war, soweit bekannt, unter der Führung Hector Bejars von Bolivien aus unternommen worden. Das Abenteuer endete bereits dicht an der bolivianischen Grenze, bei Puerto Maldonado. Ein junger Dichter, Javier Heraud, bezahlte es mit seinem Leben. Warum dieser Versuch so schnell scheiterte, ist nicht genau bekannt. Möglicherweise waren die peruanischen Behörden von vornherein über ihn informiert. Die Behauptung von Oscar Zamora, der 1967 an der Spitze der pro-chinesischen Kommunistischen Partei Boliviens stand, daß es sich hier um den Verrat des Führers der pro-Moskauer bolivianischen Kommunisten, Mario Monje, handelte, kann ich nicht auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen
Diesem ersten Versuch, einen Partisanenkrieg in Peru zu entfesseln, war eine bemerkenswerte Bewegung voraufgegangen, die sich ab 1961 im Convencionstal (Provinz La Convenciön — Departement Cuzco) entfaltet hatte. Ihre führende Gestalt war ein trotzkistischer Student, Hugo Blanco. Unter seiner Leitung wurden große Bauernorganisationen, soge-nannte Syndikate, geschaffen, die mit Erfolg um die Verbesserung der Lebensbedingungen, um Zuteilung von Land und die Abschaffung des Pachtzinses kämpften. Durch ihr offenives Auftreten unterschieden sich diese „Syndikate" — die schnell zu Massenorganisationen wurden — von den „Selbstschutz" -Formationen Kolumbiens, mit denen sie aber auch mancherlei verband, da es sich in beiden Fällen um Organe handelte, die aus der Bauernschaft selbst hervorgingen, um deren Interessen zu verfechten. Beide widersprachen den Grundauffassungen des „Guerillerismus" und wurden von Debray scharf kritisiert, der Hugo Blanco „Anbetung der Spontaneität" vorwarf. Der Vorwurf scheint jedoch unberechtigt zu sein, da Blanco — wie wir noch sehen werden — mit der Schaffung der „Syndikate" weit über lokale Belange hinausgehende revolutionär-offensive Ziele verfolgte.
Die starke Überbevölkerung des Convencionstals führte vor allem zu immer schärfer werdenden Konflikten zwischen den indianischen Bauern auf der einen und den — in ihrer Mehrheit verhältnismäßig armen, da unproduktiv arbeitenden — Großgrundbesitzern auf der anderen Seite. Die Bauern, die nicht genug eigenes Land hatten, arbeiteten meistens auch als Pächter oder Halbpächter auf den haciendas.Die unter Mitwirkung (bzw. unter der Leitung) von Hugo Blanco geschaffenen „Syndikate" veränderten das Dasein der Bauern in doppelter Hinsicht: Durch kollektive Arbeit wurde der Bodenanbau verbessert, wurden Schulen und Wege angelegt, wobei sich die Bauern in selbstbewußte, an der Gestaltung ihres Daseins aktiv beteiligte Menschen verwandelten
Erfolg. Ein Teil der hacendados verzichtete auf Land, ein anderer auf Pachtzinsen, während einige von ihnen in die Städte abwanderten. Die Behörden, vor allem die Regierung in Lima, blieb im ganzen inaktiv. Es wurden weder beträchtliche Polizeikräfte noch gar Truppen eingesetzt. Das erklärte sich wohl einerseits aus der politischen Krise, die das Land durchlebte, andererseits aus dem geringen Interesse der in Lima herrschenden Kreise für die Grundbesitzer dieses Andengebiets, die über keine mächtige „Lobby" in der Hauptstadt verfügten.
Die Lage änderte sich Ende 1962. Eine Militärjunta war an die Macht gekommen, die die Bewegung der Bauernsyndikate mit großem Mißtrauen betrachtete und als kommunistisch inspiriert ansah. Als Blanco mit einigen Freunden im Dezember dieses Jahres einen Polizei-posten überfiel, wobei ein Beamter getötet wurde, als kurz darauf in einer Stadt des Convencionstals eine Massendemonstration stattfand, in deren Verlauf die Bauern den lokalen Behörden allen Gehorsam aufsagten und sie bedrohten, als ein paar Tage darauf zwei Polizisten bei dem Versuch, Blanco zu verhaften, ihr Leben ließen, entschloß sich die Militärjunta einzugreifen. Starke militärische Einheiten besetzten das Convencionstal nach heftigen Kämpfen mit den rebellierenden Bauern. Nach dem Sieg der Regierung wurde aber auch ein Dekret erlassen, das die wichtigsten, mit extralegalen Methoden erreichten Errungenschaften legalisierte
Um ihre Macht zu stärken und sich gegen die Konterrevolution wehren zu können, sollten die Syndikate bewaffnete Organisationen hervorbringen, Milizen, die sich grundlegend von „Guerillas" unterschieden. „Ein großer Teil der Bauern ist bereit, zu sterben, aber nicht bereit, ihren Boden und ihr Heim zu verlassen. Der Guerillero geht aus seinem Haus fort und kehrt erst zurück, nachdem der Kampf beendet ist. Der miliciano hingegen wohnt zu Hause, fährt mit seiner Arbeit fort und kämpft, wenn es notwendig wird."
Blanco spricht sich nicht im Prinzip gegen die Bildung von Partisanengruppen, wohl aber gegen die Konzeption des „Guerillerismus" aus. „Man kann Partisanengruppen bilden, um den Milizen zu helfen. Aber das grundlegende Organ des bewaffneten Kampfes in Peru — das ist die Miliz des von der Partei gelenkten Syndikats."
Und:
„Unsere Kritik an den Putschisten bestand gerade darin, daß sie den bewaffneten Kampf unabhängig von den Massen vorbereiten und durchführen wollten. ... Putschismus: das ist der von der Massenbewegung unabhängige Kampf."
Ein solcher von den Massen isolierter Kampf kleiner bewaffneter Minderheiten sei dem Untergang geweiht, meinte Blanco. Wie recht er hatte, sollte sich im Laufe des Jahres 1965 zeigen. * 1966 gab das peruanische Kriegsministerium ein Blaubuch unter dem Titel „Die Guerillas in Peru und ihre Vernichtung" heraus
Solchen ad majorem gloriam exercitus aufgestellten Behauptungen sollte man freilich mit um so größerer Skepsis entgegentreten, als in dem Blaubuch von einer gemeinsamen Verschwörung Castros mit Chruschtschow und Mao Tse-tung gesprochen wird und die Publikation auch andere Behauptungen enthält, die eher einer blühenden Phantasie als einer ernsten Analyse der Wirklichkeit entsprungen zu sein scheinen. Viele Anzeichen — darunter das Geschehen selbst — deuten vielmehr darauf hin, daß der 1965 gemachte Versuch, den Guerilla-Krieg zu entfesseln, von vornherein einem Abenteuer glich. Aus der Übertragung des kubanischen Modells auf Peru entstand eine Fata Morgana, die die ungeduldigen Revolutionäre in den Abgrund lockte.
Die peruanischen Anden glichen in nichts der Sierra Maestra der kubanischen Ostprovinz und stellten sich als recht ungeeignetes Terrain für den Partisanenkampf heraus. Die gut ausgebildete und disziplinierte Armee des Landes hatte wenig mit dem demoralisierten kubanischen Heer der Batista-Periode gemein. An der Spitze der Regierung stand kein allgemein unbeliebter Diktator, sondern ein mit Hilfe der äußersten Linken gewählter Reformer, der großes Ansehen unter den Bauern genoß. Die peruanische Ober-und Mittel-schicht war, durch die kubanische Erfahrung belehrt, gegen alle revolutionären Anfälle gefeit. Die extreme Linke war zersplittert und schwach: weder die pro-sowjetische noch die 1964 entstandene pro-chinesische kommunistische Partei waren gewillt, castristische Gruppen zu unterstützen. Die peruanische Gewerkschaftsbewegung war von der entschieden antikommunistischen APRA von Haya de la Torre beeinflußt.
Es waren zunächst zwei voneinander unabhängige Gruppen, die zu den Trägern des Partisanenkampfes wurden. Erstens die 1960 von der APRA abgespaltene radikale Minderheit unter der Führung des — um 1921 geborenen — Anwalts Luis de la Puente Uceda. Sie hatte sich zunächst den Namen „APRA rebelde" zugelegt, und sich dann, dem Beispiel der venezolanischen Pro-Gastristen folgend, in „Bewegung der Revolutionären Linken" (MIR) umbenannt. Zu ihren Führern gehörte auch der damals 38 Jahre alte Journalist und Schriftsteller Guillermo Lobatön, der eine Zeitlang an der Pariser Sorbonne studiert hatte und erst Anfang 1965 in sein Heimatland zurückgekehrt war, sowie ein Universitätsprofessor namens Fernandez Gasco. Die MIR scheint den Guerilla-Kampf bereits seit 1962 vorbereitet zu haben. De la Puente war damals mit Hugo Blanco zusammengetroffen, der übrigens auch von einem Kubaner besucht worden war, der 1967 an der bolivianischen Guerilla Guevaras teilnehmen sollte.
Zur MIR gesellte sich die „Befreiungsarmee des Volkes" (ELN), die von dem 1924 geborenen Journalisten und Rundfunksprecher Hector Bejar geschaffen worden war und, wie bereits erwähnt, auch für den gescheiterten Versuch von Puerto Maldonado die Verantwortung getragen hatte. Es scheint, als ob MIR und ELN ihre Aktion erst im Laufe des Jahres 1964 oder gar zu Anfang 1965 zu koordinieren begannen. Dem „Blaubuch" zufolge fand die letzte Generalabsprache vor Aufnahme des Kampfes im Mai 1965 statt.
Seit dem Juni 1965 traten vier Gruppen von Partisanen nacheinander und in vielen voneinander getrennten Regionen in Aktion: Im äußersten Norden Perus, nahe der ekuadorianischen Grenze, die Guerilla Manco Apac unter der Führung von Fernandez Gasco; die Gruppe Tupac Amaru unter Lobatön etwa im geographischen Zentrum des Landes; die Pachacutec, die von de la Puente geleitet wurde, in der Provinz Convenciön, und schließlich in einer Region, die sich etwa in gleicher Entfernung von den Städten Cuzco und Ica befindet, die ELN Hector Bejars, die sich als Kampfgruppe den Namen des 1963 gefallenen Javier Heraud zugelegt hatte.
Als erste scheint Tupac Amaru auf den Plan getreten zu sein. Am 9. Juni drangen die Partisanen in ein kleines Bergwerk ein, verteilten Propagandaschriften unter den Bergleuten und zogen sich nach Erbeutung von Dynamit wieder zurück. Kurz darauf überfielen sie eine Hacienda, verbreiteten ein Manifest unter den des Lesens und Schreibens vermutlich unkundigen indianischen Landarbeitern, um dann wieder in die Berge zu verschwinden.
Die Regierung in Lima erfuhr erst Ende Juni, daß sich in einer abgelegenen Gegend irgendwelche, in ihrem Wesen nicht klar erkennbare, aber durch Gewaltanwendung gekennzeichnete Ereignisse abgespielt hatten. Der Innenminister erklärte auf eine Anfrage zunächst, es handele sich möglicherweise um Viehdiebe. Die parlamentarische Opposition — vor allem die Deputierten der APRA — behauptete dagegen, Partisanen seien am Werke, und klagte die Regierenden wegen ihrer Unschlüssigkeit an, die sich wiederum aus den geheimen Sympathien einiger Minister für den Kommunismus erkläre. Nachdem Polizeieinheiten, die in das Unruhegebiet entsandt worden waren, nichts gegen den Widerstand der Guerillas auszurichten vermochten, wurde das Heer im Juli mit der Vernichtung der Partisanen betraut. Der „Antiguerilla" -Kampf begann.
Die Guerilla Tupac Amaru überlebte am längsten: nicht etwa, weil sie sich besonders heftig gewehrt hätte, sondern weil es ihr immer wieder gelang, zu entweichen. Fünf Monate lang wurde sie durch die Anden gejagt, wobei sie dauernd Kämpfer verlor. Einige fielen, andere desertierten. Am 7. Januar 1966 fiel Guillermo Lobatön. Insgesamt hatte diese Gruppe nach offiziellen Angaben etwa 25— 30 Todesopfer zu beklagen.
Die Offensive gegen die Pachacutec wurde am 29. August 1965 eröffnet und am 23. Oktober mit dem Tod von Luis de la Puente und der völlige Aufreibung der Partisanen beendet.
Die Javier Heraud begann ihre militärische Tätigkeit erst Ende September und stieß Mitte Dezember mit Heereseinheiten zusammen. Wenige Wochen später war sie vernichtet. Bejar konnte zunächst entkommen, wurde aber später verhaftet und in ein Gefängnis eingeliefert. Die Guerilla Manco Apac wurde schnell liquidiert, ohne daß es zu ernsthaftem Kampf gekommen wäre. Die Reste dieser Gruppe flohen nach Ekuador.
Die Gesamtzahl der Toten auf Seiten der Streitkräfte wird im Blaubuch mit 32 angegeben, die namentlich aufgeführt werden. Dazu kamen noch 6 Zivilisten. Wie viele Partisanen fielen, vermochte ich nicht zu ermitteln: zwischen 100 und 150 mögen umgekommen sein.
Nur sehr wenige Bauern oder auch indianische Urwaldbewohner halfen den Aufständischen. Von denen, die ihnen gegenüber anfangs eine gewisse Sympathie bekundeten und sich bereit fanden, als Führer zu dienen, Lebensmittel zu beschaffen oder gar in den Reihen der Partisanen mitzukämpfen, wurden manche zu Deserteuren, die der Armee wertvolle Dienste leisteten. Die Arbeiter in den Städten rührten sich nicht, der Intellektuellen ebensowenig. Die Parteien der extremen Linken standen abseits.
Am 19. Dezember 1965 veröffentlichte die uruguayische Wochenzeitung „Marcha“ einen ihr aus Peru zugesandten Artikel von Hugo Neira, in dem es hieß: „Die MIR hat kein oder fast kein Echo in den städtischen Sektoren gehabt. ... Es gab keine Streiks, keinerlei Kämpfe und auch keine Deserteure im Heer ..."
Nichts habe sich auch in den großen Elendsvierteln, den „barriadas" gerührt, auf die manche Revolutionäre große Hoffnungen gesetzt hatten. Am schlimmsten aber war die Apathie der Bauern.
Am 8. Januar 1966 veröffentlichte die Zeitung „Marcha" einen weiteren Beitrag zum peruanischen Guerilla-Krieg. Er stammte aus der Feder von Jaime Ortiz und las sich wie ein Nekrolog. Das tragische Schicksal der Partisanen habe so gut wie keine Sympathien in der peruanischen Öffentlichkeit erweckt, und die ganze Angelegenheit sei bereits so gut wie vergessen. „Jene, die in den Bergen fielen, ließen ihre Knochen in irgendwelchen Schluchten. Sie waren in den Kampf gezogen, um einen Bauern-krieg zu entfesseln — und die Bauern versagten ihnen die Gefolgschaft. Für die Bauern ist der Guerillero ein Fremder ..." d) Guatemala Die „bewaffneten Kämpfe" in diesem mittelamerikanischen Land begannen — ohne jeden Zusammenhang mit Kuba und den Kubanern — mit einem mißglückten Militärputsch im November 1960, auf den weitere Kämpfe bald folgen sollten.
Mit Recht bemerkte eine nordamerikanische Autorengruppe, die dem Senat Bericht erstattete, es sei falsch, die revolutionären Ereignisse in Guatemala auf kubanische Einflüsse zurückzuführen. Sie ergäben sich eher aus der frustrierten Revolution, die 1944 begonnen hatte und die 1954 mit dem Sturz der Regierung Arbenz beendet wurde
Die Regierung Arbenz war gewiß von „Kommunisten" unterwandert — schon darum, weil die kommunistische „Partei der Arbeit" die bestorganisierte politische Kraft des Landes war und vermittels der von ihr geleiteten Gewerkschaften sowohl die städtischen als auch die ländlichen Arbeiter und einen Teil der Bauern beeinflußte. Damals wurde auch eine Agrarreform begonnen. Als Arbenz mit nordamerikanischer Hilfe 1954 gestürzt wurde, wurden auch die meisten Reformen rückgängig gemacht. Eine allgemeine Enttäuschung breitete sich — nicht zuletzt in den Reihen des Kleinbürgertums und der Studenten — aus und machte sich auch in den Kreisen der jüngeren Offiziere bemerkbar. Es kam zu militärischen Aufstandsversuchen. Aus deren Scheitern und dem Mißlingen einer vor allem von Studenten getragenen städtischen Protestbewegung (Frühjahr 1962) entstanden die ersten Partisanengruppen. Als im Jahre 1963 Oberst Peralta den zwar unbeliebten, aber doch auf ein Minimum von Demokratie bedachten Präsidenten Ydigoras Fuentes absetzte und eine Militärdiktatur errichtete, nahmen die oppositionellen Stimmungen zu. Während in den Bergen Guerillas aktiv wurden, verwandelte sich die Hauptstadt in den Schauplatz terroristischer Aktionen — Attentate, Morde, Banküberfälle, Schießereien und Entführungen wurden zu täglichen Ereignissen. Ab 1966/67 begannen auch die „rechten" Gruppierungen eigene Terror-gruppen zu bilden, die als „geheime" Organisationen Anhänger der extremen Linken, aber auch solche Personen, die als „links" galten, „liquidierten".
Man konnte annehmen, daß die sozialen, politischen und geographischen Bedingungen Guatemalas einen erfolgreichen bewaffneten, revolutionären Kampf möglich machen würden, wenn auch die Nordamerikaner vermutlich einen Sieg dieser Bewegung schließlich verhindern würden. Ein großer Teil der Bevölkerung stand dem Diktaturregime von Peralta feindlich gegenüber. Die jungen Intellektuellen waren rebellisch, die Bauern und Landarbeiter verelendet, die Armee war schwach und infolge unzureichender Kommunikations-und Verkehrsverbindungen außerstande, das Territorium des Landes, besonders die ausgedehnten bergigen und bewaldeten Gebiete, vollkommen zu kontrollieren.
Dazu kam, daß die schlecht und recht funktionierende illegale „Partei der Arbeit" — schon weil es keine demokratischen Kampfmöglichkeiten gab — auf eine bewaffnete Auseinandersetzung eingestellt war (oder es zu sein behauptete) und den Guerillas half. Trotz all dieser günstigen Voraussetzungen endeten auch die guatemaltekischen Guerilla-Aktionen mit einem Mißerfolg, ohne daß die Nordamerikaner gezwungen worden wären einzugreifen. Die Kampfbewegung, die sich im Verlauf der sechziger Jahre in Guatemala abspielte, widersprach allerdings von vornherein dem „guerilleristischen" Modell, das erst verhältnismäßig spät und nur von einer Minderheit akzeptiert wurde. Sie zeichnete sich in ihrem historischen Ablauf durch mißglückte Putsche, fehlende ideologische Klarheit, mangelnde Einheit, unzureichende technische Vorbereitung und permanente Streitigkeiten zwischen einzelnen Personen und revolutionären Gruppierungen aus. Im ganzen war und blieb der städtische Terrorismus wichtiger als der ländliche Partisanenkampf. Zumindest vermochten die Attentate in der Hauptstadt eine weit größere „Publizität" zu erlangen als irgendwelche Vorgänge in weit abgelegenen Berggebieten, was nicht wenige junge Rebellen dazu veranlaßte, eben dieser Publizität „eine revolutionäre Rolle" zuzuschreiben 25a). Den terroristischen Aktionen in den Städten fielen jedenfalls mehr Menschen zum Opfer als den bewaffneten Kämpfen der Partisanen. Wie geringfügig diese waren, geht aus Angaben hervor, die einer der wichtigsten Guerilla-Führer, Yon Sosa, machte. Er erklärte, die von ihm begründete und geführte „Bewegung des 13. November" (wir werden sie mit ihren spanischen Initialen „M 13 N" bezeichnen) habe im Verlauf ihrer siebenjährigen Existenz insgesamt 87 Kampfaktionen durchgeführt, in denen 181 Gegner (Soldaten und Polizisten) getötet und 305 verwundet wurden, während die Partisanen in der gleichen Zeit 49 Gefallene und 12 Verwundete zu beklagen gehabt hätten
Alles begann mit einer Militärverschwörung, an deren Spitze jüngere Offiziere standen, die von Nordamerikanern im Anti-Guerilla-Kampf geschult worden waren: Marco Antonio Yon Sosa, Alejandro de Leon, Luis Turcios Lima u. a. Sie beabsichtigten, den Präsidenten Yidigoras zu stürzen, scheinen aber über kein klares Programm verfügt zu haben. Der Aufstandsversuch vom 13. November 1960 miß-glückte, weil ein Teil der Mitverschworenen sich nicht an ihm beteiligte. Den oben erwähnten Offizieren und einigen ihrer engeren Freunde gelang es zu fliehen. Im Verlaufe des Jahres 1961 waren sie damit beschäftigt, einen neuen Aufstand zu planen und praktisch vorzubereiten; sie nahmen auch Kontakte mit politischen Gruppen — darunter der kommunistischen „Partei der Arbeit" — auf. Am 6. Februar 1962 scheiterte der zweite Versuch nach kurzem Kampf. Auch nach diesem zweiten Mißerfolg scheinen die überlebenden nicht an die Entfesselung eines Partisanenkampfes gedacht zu haben.
Im März 1962 brachen schwere Unruhen in der Hauptstadt aus, die weite Kreise erfaßten und bis in den April hinein andauerten. Aus dieser potentiell revolutionären, gleichfalls niedergeschlagenen „Bewegung" entstanden zwei kleine Rebellengruppen, die mit Yon Sosa's „M 13 N", der „Partei der Arbeit" und anderen oppositionellen Kräften zusammenarbeiteten. Zum ersten Male wurde ernsthaft an die Aufstellung von Partisaneneinheiten gedacht, nachdem die M 13 N eine Delegation nach Kuba entsandt hatte, die im Dezember 1962 nach Guatemala zurückkehrte. Es wurden Stützpunkte in bergigen Gebieten geschaffen, Partisanen ausgebildet und Bauern rekrutiert. Als sich die Bewegung noch im sozusagen embryonalen Zustand befand, wurde ihr Ausbildungslager jedoch von der Armee entdeckt, wobei es zu einem ersten kleinen Kampf kam: „So geschah es, daß der Guerilla-Krieg in unserem Land im Januar 1963 verfrüht ausbrach."
Es folgte eine Serie von Mißerfolgen. Zwei „Partisanenfronten", die Yon Sosa gegründet hatte, wurden vernichtet, die eine im Juni, die andere im Juli 1963. Ein weiterer, unabhängig von Yon Sosa gemachter Versuch, eine Partisanengruppe zusammenzustellen, scheiterte an Streitigkeiten unter den Beteiligten. Erst im Oktober 1963 gelang es Turcios Lima, eine Guerilla im Berggebiet der Sierra de las Minas zu etablieren, die den Namen eines der getöteten Revolutionäre trug: „Guerilla-Front Edgar Ibarra". Sie machte sich später von Yon Sosa unabhängig, da sie der Partei der Arbeit nahe stand, während die M 13 N unter den Einfluß einer nach Guatemala gekommenen Gruppe mexikanischer Trotzkisten geriet. Trucios Lima scheint eine Zeitlang der Leitung der Partei der Arbeit angehört zu hahaben, obgleich es von Anfang an einige Differenzen zwischen den Partisanen seiner Front und den offiziellen Parteifunktionären gab, die sich zwar zum bewaffneten Kampf bekannten, den Guerillas aber doch mit einer gewissen Skepsis gegenüberstanden. Cesar Montes, der nach dem Tode von Turcios Lima (der 1966 Opfer eines Verkehrsunfalls wurde) die Leitung der „Bewaffneten Revolutionären Kräfte" (FAR) übernahm, berichtete später über die Lage im Frühjahr 1965 und die damals erfolgte Gründung der FAR: „Im März 1965 berief Luis Turcios Lima im Namen seiner Front eine Konferenz ein, an der Delegierte der Partei der Arbeit, des kommunistischen Jugendverbands und verschiedener kleiner Widerstandsorganisationen teilnahmen. Aus der Zusammenarbeit dieser Gruppen ging die militärische Dachorganisation hervor, die sich den Namen . Bewaffnete Revolutionäre Kräfte'gab, offenbar aber nie gut funktionierte — schon weil zwischen Turcios Lima und seinen Freunden auf der einen, der Partei der Arbeit auf der anderen Seite keine Übereinstimmung erzielt werden konnte."
Anfang 1965 stattete der trotzkistische Journalist Adolfo Gilly der „Bewegung des 13. November" einen Besuch ab und berichtete über die Tätigkeit und die Auffassungen dieser Partisanenorganisation in zwei Artikeln, die in der nordamerikanischen „Monthly Review" veröffentlicht wurden. Aus den Ausführungen Yon Sosas gegenüber Gilly ging der Gegensatz zwischen den Auffassungen seiner Bewegung und den Prinzipien des Guerillerismus klar hervor: „Es ist nicht unsere Absicht, die Regierung mit militärischen Mitteln zu stürzen. Wir wollen sie durch soziale Aktion auflösen. Das bedeutet, daß wir ... die Grundlagen einer Regierung der Arbeiter und Bauern legen müssen, die an die Stelle der alten Regierung treten wird. ... Wir kämpfen mit der Waffe in der Hand, aber organisieren zugleich die Bauern-massen und die städtischen Arbeiter. ... Die Hauptaufgabe der guatemaltekischen Partisanen besteht darin, die Bauern zu organisieren. Alle militärischen Aktionen sind diesem Ziel untergeordnet. ... Die wichtigste Waffe ist das Wort."
Die M 13 N wollte also die Selbsttätigkeit der Landbewohner organisieren, ihr einen revolutionären Sinn geben, sie in die Bahn der sozialistischen Revolution lenken. Die Partisanen zogen deshalb durch die Dörfer und Siedlungen, machten Propaganda unter den Bewohnern und versuchten sie — ähnlich wie Hugo Blanco — zu organisieren. Sie betätigten sich ebenfalls zugleich als „Entwicklungshelfer", führten aber auch kleinere militärische Aktionen gegen die Armee durch. Den grundlegenden Unterschied zwischen der Konzeption, die Yon Sosa (und Hugo Blanco) beflügelte, und dem „Guerillerismus", der freilich damals seine endgültige Gestalt noch nicht bekommen hatte, formulierten die Herausgeber der Monthly Review mit folgenden Worten: „Es genügt Che Guevaras Der Guerrillakrieg" und Gillys Bericht einander gegenüberzustellen, um zu begreifen, daß die ganze Konzeption des Partisanenkrieges ... eine entscheidende Wandlung durchgemacht hat. Guevara meinte, die Funktion der Bauern bestehe darin, die Partisanen zu unterstützen ..., die nach und nach genug Kräfte sammeln würden, um die reguläre Armee zu besiegen. ... Das ist eine ihrem Wesen nach paternalistische Konzeption, die die Initiative, den revolutionären Impuls und ... die Verantwortung der Partisanen-Elite zuschreibt ... (In Guatemala aber) besteht die Funktion der Guerilla darin, die Bauern zu organisieren und zum Werkzeug der Bauern zu werden. ... Der revolutionäre Kampf erscheint nicht als eine Serie von Scharmützeln, sondern als bewaffnete Erhebung, bei der die Aktion der ländlichen Partisanen aufs engste mit jener der Arbeiter und Studenten in den Städten koordiniert ist. Aus ihr würde ... ein Arbeiter-und Bauernstaat hervorgehen, der sich direkt auf Arbeiter-und Bauernkomitees stützt, die während der vorangegangenen Periode organisiert wurden. Das ist eine zutiefst revolutionäre und demokratische Konzeption."
Es waren nicht zuletzt solche Auffassungen, die Debray dazu veranlaßten, den Herausgebern der nordamerikanischen Zeitschrift unerträgliche „Naivität" und einen Hang zu falscher Information vorzuwerfenS
Am 10. Januar 1968 kam es zum offenen Bruch der FAR mit der „Partei der Arbeit". Die Führung der Partisanen griff in einer Erklärung die offizielle kommunistische Partei an, die sie als „linken Flügel der bürgerlich-demokratischen Bewegung" charakterisierte und des Verrats am Guerilla-Kampf beschuldigte
„Mit großer Klarheit erkennen wir die Grundzüge der Strategie, die in unserem Land, in unserem Kontinent angewandt werden muß. Sollten wir nicht siegen, dann werden wir keine Entschuldigungen suchen, sondern im Kampf fallen, in der Gewißheit, daß wir jenen, die nach uns kommen, den Weg geebnet haben ... Wir sind Gefolgsleute des Che Guevara und werden dessen Beispiel, dessen Losungen und dessen Andenken treu bleiben. ... Laßt uns siegen oder sterben für Guatemala und den Sozialismus!"
Was Montes unter der „klar erkannten" Strategie verstand, blieb unklar, und über die tatsächliche Lage an den Partisanenfronten wurde nichts gesagt.
Im März 1968 versammelte sich die Leitung der Partei der Arbeit, analysierte die politische Lage und kam ebenfalls zu recht pessimistischen Ergebnissen: „Der revolutionäre Prozeß durchläuft in Guatemala eine der kritischsten Phasen seiner Entwicklung. . . . Die revolutionären Kräfte befinden sich in einer Periode der Stagnation. Nach mehr als 4 Jahren bewaffneten Kampfes ist es uns weder gelungen, eine aktive Beteiligung noch auch eine bedeutsame Unterstützung der Massen zu erreichen"
Trotz einer gewissen Wiederbelebung des Guerillakampfes, über die die Presseorgane beiläufig berichteten, erwies sich weder die Partei der Arbeit noch die — nunmehr unter der Leitung Yon Sosas und Cesar Montes’ wirkende — FAR imstande, die Regierung ernsthaft zu gefährden. Der städtische Terror hielt im Jahre 1968 an, doch scheinen mehr „Revolutionäre" als „Konterrevolutionäre" ihm zum Opfer gefallen zu sein. Die Stärke der Partisanen — die man nie hatte genau schätzen können, weil die Fluktuation in ihren Reihen und auch die Zahl der „Wochenend-GuerilIeros" beträchtlich war — scheint abgenommen zu haben. Ende November 1968 wurde von einer neuen Krise in der Leitung der FAR berichtet. Yon Sosa und Cesar Montes seien beide abgesetzt worden. Merkwürdigerweise wurde gerade Yon Sosa vorgeworfen, er habe eigenmächtig Beziehungen zur Partei der Arbeit ausgenommen
Wann die ersten Guerillas entstanden, läßt sich nicht genau angeben. Soweit bekannt, tauchten solche Gruppen in den Berggebieten bereits Ende 1960 auf. Sie gewannen jedoch erst 1962 an Bedeutung, nachdem — im Mai und im Juni dieses Jahres — zwei isolierte Aufstände der Garnisonen von Carpano und Puerto Cabello gescheitert waren und eine Anzahl der an ihnen beteiligten Offiziere sich den Partisanen anschloß. Unter aktiver Beteiligung der MIR und der KPV, die beide bald verboten wurden, entstand eine militärische Gesamtorganistation der Rebellen, die „Bewaffneten Kräfte der Nationalen Befreiung" (FALN), und eine politische Leitung der Aufständischen, die „Front der Nationalen Befreiung" (FLN). Beide Organisationen scheinen aber nie die Gesamtheit der Partisanen wirklichgeführt zu haben, da sehr schnell Gegensätze — vor allem zwischen der KPV und der MIR — zutage traten. Die Gesamtzahl der Partisanen wurde Anfang 1963 auf zwei bis drei Tausend geschätzt, zu denen sich „städtische Terroristengruppen''gesellten. Eine klare Trennung zwischen ländlichen und städtischen „Guerillas" gab es jedoch nicht, da viele Einzelkämpfer von der Stadt in die Berge und von dort wieder in die Stadt hinüberwechselten. Die Nationale Universität, die autonom war und daher den Rebellen eine gewisse Sicherheit verschaffte (die Polizei durfte in sie nicht eindringen), Bastion der verwandelte sich eine Revolution. Hier gab es Waffenlager, hier fanden Versammlungen und konspirative Beratungen statt, hier wurden Flugblätter gedruckt etc.
Obwohl die Gesamtzahl der in taktischen Kampfeinheiten (UTC) organisierten Terroristen der Hauptstadt kaum mehr als 500 betrug
Die Problematik des städtischen Terrorismus begann sich jedoch schon im Laufe des Jahres 1963 zu zeigen. Die in den Elendsvierteln hausende „marginale" Bevölkerung erwies sich durchaus nicht als die beste Reservearmee der Revolution. In die taktischen Kampfeinheiten schlichen sich zahlreiche kriminelle Ele-mente ein. Die von diesen Einheiten errungenen Erfolge erwiesen sich meist als Eintagsbzw. „Einnachts" -Fliegen, da ihre Aktionen meist nachts stattfanden, die von ihnen beherrschten Sektoren aber am Tage darauf von der Polizei besetzt wurden, die die Bevölkerung unter Druck setzen konnte. Diese polizeilichen Repressivmaßnahmen, die unvermeidlicherweise auch Unbeteiligte trafen, trugen zum Absinken der Popularität der UTC bei.
Debray berichtet in seinem im Januar 1965 publizierten Artikel, daß zahlreiche „städtische Partisanen" 1963 an Kriegsneurosen litten, die sich entweder in psychischen Depressionen oder in tollkühnen, unbesonnenen, individuellen Aktionen äußerten. Der junge französische Philosoph zog den Schluß, daß das Hauptgewicht des Kampfes in die Berge verlegt werden müsse, wozu sich die venezolanischen Revolutionäre ab 1964 auch entschlossen.
Ende 1963 geriet die revolutionäre Bewegung in eine schwere Krise, von der sie sich nie ganz erholen sollte. Im September dieses Jahres überfielen Partisanen einen Eisenbahnzug mit Ausflüglern. Einige Reisende und auch mehrere den Zug begleitende Militärpersonen wurden getötet bzw. verwundet. Die Empörung über diesen Überfall wurde von der Regierung geschickt ausgenutzt. Die Parlaments-abgeordneten der MIR und der KPV, die bis dahin trotz des Verbotes ihrer Parteien ihrer Tätigkeit hatten weiter nachgehen können, wurden verhaftet, die städtischen „Apparate" beider Organisationen weitgehend vernichtet, so daß die ländlichen Partisanen ihren Kontakt zur Hauptstadt verloren. Nun gaben diese die Parole des aktiven Boykotts der für Dezember 1963 angesetzten allgemeinen Wahlen aus und versuchten sie gewaltsam zu verhindern. Dies mißlang. Die Wahlen verliefen fast überall ungestört. Die Wahlbeteiligung war ungemein groß. Die Acciön Democrätica, die inzwischen eine weitere Spaltung durchgemacht hatte, verlor zwar viele Stimmen, blieb aber stärkste Partei und stellte auch den neuen Präsidenten, Raul Leoni.
In den Reihen der Revolutionäre setzte nun eine Diskussion ein, die sich zersetzend auswirkte. Den meisten der „historischen" Kommunistenführer — vor allen denen, die im Gefängnis saßen — wurde bereits damals klar, daß die Erfolgschancen des bewaffneten Kampfes sich entscheidend verringert hatten. Sie wagten es jedoch nicht, solche Ansichten offen auszusprechen, um die Einheit der Partei nicht zu gefährden. Die MIR aber spaltete sich in einen „weichen" und einen „harten" Flügel. Domingo Alberto Rangel verfaßte im Gefängnis ein Dokument, das im Jahre 1964 veröf20 fentlicht wurde. Der bewaffnete Kampf hätte im Volk keine ausreichende Unterstützung gefunden, ohne die er zum Scheitern verurteilt sei. Der städtische Terror habe nur Opfer gekostet, aber auch der ländliche Partisanenkampf sei sinnlos, denn die internationale Erfahrung habe gezeigt, „daß ein langer GuerillaKrieg nur in solchen Ländern stattfinden kann, in denen ein sehr ernstes Agrarproblem vorhanden ist und die ... Unterdrückung die Landbevölkerung selbst zum unmittelbaren Träger ihrer Befreiung macht."
Das treffe auf Venezuela nicht zu. Der politische Massenkampf sei hier aussichtsreicher als der militärische. Es sei absurd, alles dem bewaffneten Kampf unterzuordnen, insbesondere, da die objektiven Bedingungen es nicht gestatteten, dieser Kampfform den Vorrang zu geben. Das Plenum der KPV, das im April 1964 zusammentrat, erkannte zwar an, die revolutionäre Bewegung habe eine Niederlage erlebt, betonte aber zugleich, es gäbe keine Alternative zum bewaffneten Kampf, obwohl dieser nur dann erfolgreich sein könne, wenn er die Massen mobilisiere.
Im Laufe des Jahres 1964 reduzierten sich die Kampfhandlungen auf ein Minimum. Mit der Begründung, man müsse der neuen Regierung erst einmal die Möglichkeit geben, ihr wahres Gesicht zu zeigen, wurden „demokratische Forderungen" erhoben (darunter die einer allgemeinen Amnestie). Die FLN verkündete deshalb einen Waffenstillstand, dessen Notwendigkeit sich jedoch in Wahrheit aus der trostlosen Lage der Partisanen ergab. Am 5. August 1964 erließ der militärische Führer der FALN, Korvettenkapitän Pedro Medina Silva, einen „letzten Appell" an die Regierung: Falls die Forderungen der „Demokraten" nicht erfüllt würden, müsse der Kampf wieder ausgenommen werden. Tatsächlich wurden die Partisanen, vor allem in den Bergen, wieder aktiv, während der städtische Terrorismus an Bedeutung abnahm. Regis Debray feierte in einem in einer kubanischen Zeitschrift im Sommer 1965 publizierten Artikel „Lateinamerika: einige Probleme der revolutionären Strategie" die nunmehr von den Venezolanern vollzogene Wendung vom städtischen zum — auf lange Sicht geführten — ländlichen Partisanenkampf. Er schrieb: „Die venezolanische Revolution hat nach Aufgabe der ihrer Natur nicht gemäßen Form der insurrektioneilen Aktion in den Städten ihr eigenes Wesen gefunden. ... Sie wird aus einem Partisanenheer eine im inneren aes Landes wirkende reguläre Volksarmee schaffen. Indem sie der Stadt all ihre politische Bedeutung läßt . .., wird im Landesinnern ... die Massenarbeit direkt mit dem bewaffneten Kampf artikuliert. Eine Entwicklung, die Ähnlichkeiten mit der chinesischen aufweist. Auch dort glaubten manche, die Mißerfolge von Kanton und Schanghai hätten 1927 die Revolution an den Rand des Todes gebracht."
Diese Prognose sollte sich jedoch als falsch erweisen. Die Bauern blieben auch weiterhin im ganzen passiv und spielten in Venezuela überhaupt nicht die Rolle, die der chinesischen Landbevölkerung zugekommen war. Bereits 1965/66 wiesen einige Gruppen der MIR darauf hin, daß die Landbevölkerung permanent zurückginge, weniger als ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmache und ihr schon darum nicht die Bedeutung zukäme, die manche Revolutionäre ihr zuschrieben. Tatsächlich sollten selbst „castristische“ Führer — wie wir noch weiter unten erwähnen — schließlich zur Überzeugung zurückkehren, daß der städtische Kampf wichtiger sei als der Partisanenkampf auf dem Lande.
Seit der „siebten" Plenartagung des ZK der KPV, die im April 1965 zustande kam, begann eine Abwendung vom bewaffneten Kampf, die allerdings unter zweideutigen Formulierungen versteckt war und damit die Einheit der Partei auch weiterhin garantierte. Die Parole der Erringung einer „Regierung des demokratischen Friedens" wurde ausgegeben. Um diese zu erreichen, sollten legale und illegale, friedliche und nicht-friedliche Methoden kombiniert werden. Der bewaffnete Kampf sei wichtig und müsse in verbesserter Form weitergeführt werden, aber er stände zur Zeit nicht im Mittelpunkt der politischen Tätigkeit: „Die große Mehrheit der Bevölkerung ist nicht in den Krieg einbezogen, heißt es in einer der Resolutionen des ZK. Vor uns eröffnet sich ein ungeheuer breites Aktionsfeld, um andere Formen des Kampfes zu entfalten. Daher gewinnen die Aufgaben des nichtbewaffneten Kampfes heute eine vorrangige Bedeudung."
Ende 1965 unternahm die „gemäßigte" Gruppe der Parteiführung einen Vorstoß und forderte, einen „taktischen Rückzug" der Guerilla anzuordnen. Sie wies auf die günstige politische Lage hin. Die Einstellung des aussichtslosen Partisanenkampfes sei auch erfor42) derlich, um schwankende „progressive" Elemente der Bevölkerung, die gegen die Gewalt seien, zu gewinnen. Doch sollte sich diese Linie erst während des Jahres 1966 durchsetzen.
Eine Gruppe von „castristisch" eingestellten, mit Havanna verbundenen Revolutionären und Partisanenkämpfern begann sich von der KP-Linie unabhängig zu machen. Am 10. Dezember 1965 wurde die Bildung einer neuen, de facto autonomen politisch-militärischen Organisation der „FLN/FALN" beschlossen, die tatsächlich aber erst am 22. April 1966 konstituiert wurde. Zum Präsidenten der neuen „castristischen" Organisation — neben der eine kommunistisch-beherrschte FLN und eine FALN unter der Leitung von Medina Silva weiter bestanden — wurde Fabricios Ojeda, zum Oberbefehlshaber Douglas Bravo bestimmt. In dem Gründungsdokument („Acta Nro 1") wurde die Unabhängigkeit der FLN/FALN von allen städtischen Zentren, insbesondere der Führung der KPV, betont. Am 18. Mai 1966 teilte die KPV-Führung in einem „Internen Bulletin" den Ausschluß von Douglas Bravo aus dem Zentralkomitee (nicht aus der Partei!) mit — eine Entscheidung, die mit der Disziplinlosigkeit des Partisanenführers begründet wurde. Zu einer Vereinheitlichung der Guerilla kam es jedoch nicht. Auch 1967 bestanden noch mindestens drei Partisanenorganisationen nebeneinander: die FLN/FALN der Castristen, deren führende Gestalten Bravo, Luben Petkoff und Francisco Prada waren; die kommunistisch beeinflußte FALN und schließlich die Kampfverbände der MIR, die weder mit der ersten noch mit der zweiten dieser Organisationen zusammengehen wollten.
Das im April 1967 tagende „achte" Plenum des ZK der KPV bestätigte die Linie des „demokratischen Friedens", nahm Kurs auf Beteiligung an den für Dezember 1968 angesetzten Wahlen und schloß Bravo und seine engeren Freunde aus der Partei aus. Es scheint der KPV-Führung gelungen zu sein, ihre Kader intakt zu erhalten. Nur eine kleine Zahl soll sich Bravo angeschlossen zu haben
Fidel Castro, der enge Verbindung mit der Bravo-Gruppe unterhielt, sie mit Waffen und anscheinend auch mit finanziellen Mitteln und durch Entsendung von militärisch ausgebildeten Kubanern unterstützte, war seit langem über die politische Entwicklung Venezuelas und seiner Kommunisten informiert. Bereits am 26. Juli 1966 hatte er — ohne Namen zu nennen — von „Pseudorevolutionären" gesprochen, die in manchen Ländern Lateinamerikas zur Hauptstütze der Oligarchien und des Imperialismus geworden seien. Erst im März 1967 griff er offen die Führung der KPV an und zieh sie des Verrats.
Die FLN/FALN gab sich Ende 1966 recht optimistisch. Dem sie besuchenden mexikanischen Journalisten Mendez Rodriguez gegenüber erklärte Bravo, die Partisanen hätten nun ihre Fronten konsolidiert. Neue Kämpfer seien in ihre Reihen getreten. Die Guerillas setzten sich nun in großer Mehrheit aus Bauern zusammen. Einen anderen Weg als den der gewaltsamen Revolution könne es nicht geben; die ländlichen Partisanen würden die zentrale Rolle spielen, auch wenn der Kampf noch viele Jahre dauern würde.
Von politisch-ideologischem Interesse war seine Ablehnung der trotzkistischen Auffassungen. Es handele sich in Venezuela nicht um eine sozialistische, sondern um eine antiimperialistische, antioligarchische Revolution, die auch bürgerliche Schichten erfassen würde
Uber den Partisanenkampf von 1967 bis zur Gegenwart ist wenig bekannt. Es gibt keine zuverlässigen Daten, die es gestatten, seine Bedeutung einzuschätzen. Vieles spricht dafür, daß er an Kraft verloren hat. Von einer revolutionären „Bauernarmee" gab es keine Spur. Wie stark die FLN/FALN Bravos war, blieb unbekannt. Die MIR spaltete sich in mehrere Fraktionen, aber auch unter den Castristen scheint es zu beträchtlichen Meinungsverschiedenheiten gekommen zu sein. Die allgemeinen Wahlen vom Dezember 1968 fanden ohne Störungen statt. Gegen Ende des Jahres berichtete die französische Nachrichtenagentur AFP von der Entstehung einer vom ehemaligen führenden FALN-Partisanen Lunar Marquez geführten neuen Guerilla, die sich „Bewegung der Nationalen Rettung (Movimiento de Salvacion Nacional) nannte und ihre Unabhängigkeit gegenüber Moskau, Peking und Havanna proklamierte. Wie stark diese Gruppe war, weiß man nicht; daß sie existierte, wurde durch ein Interview von Francisco Prada bestätigt, das er am 13. Dezember 1968 in Caracas einem Sonderberichterstatter der chilenischen Zeitschrift „Punto Final" gab und das dann in der venezolanischen Tageszeitung „La Republica" nachgedruckt wurde. Aus diesem Interview ging eine interessante Wandlung in der strategisch-taktischen Konzeption der FLN/FALN hervor, zu deren Führung Prada gehörte. Er erwähnte ideologische Kämpfe, die sich in ihren Reihen abgespielt hatten und die zur Abspaltung „rechter" und „linker" Elemente geführt hätten. Als „Linke" bezeichnete er hier jene, die Debrays Guerillerismus auf Venezuela hatten anwenden wollen. Wörtlich erklärte er: „Das Schema des langwährenden Krieges paßt nicht auf unsere Wirklichkeit, ebensowenig wie das des . reinen Guerilla-Herdes'.. ., wie es von Che Guevara formuliert wurde. Wir glauben, daß wir im ganzen Land kämpfen müssen, besonders in den strategisch entscheidenden Regionen, in denen die militärische, wirtschaftliche und politische Macht des Gegners konzentriert ist. Wir müssen auf dem Land, in der Stadt und in den Vorstädten (zonas suburbanas) kämpfen und müssen auch ideologische, politische und logistische (sic) Arbeit in den Reihen des offiziellen Heeres leisten. Den Kampf nur in ländlichen Regionen führen, bedeutet die Wichtigkeit der Stadt zu unterschätzen."
So waren venezolanische Revolutionäre wieder zu ihren anfänglichen Auffassungen zurückgekehrt, deren Falschheit sich bereits erwiesen hatte. Der Optimismus, den Prada zur Schau stellte, wirkte etwas unecht. Er wies auf den nunmehr vollendeten ideologischen Klärungsprozeß und die allgemeine Stärkung der FLN/FALN sowie auf zahlreiche Aktionen hin, die durchgeführt worden wären und bewiesen hätten, daß die FLN/FALN bereits große Schritte auf dem Weg zur Schaffung einer breiten „patriotisch-antifaschisten Befreiungsfront" machte.
Es braucht kaum darauf hingewiesen zu werden, daß die KPV eine ganz andere — und vermutlich realistischere — Auffassung von der Gesamtlage hatte. Bereits im Januar 1968 hatte einer ihrer Führer, Guillermo Garcia Ponce, darauf hingewiesen, daß das Jahr 1967 mit einem der „Konterrevolution" günstigen Saldo abgeschlossen hätte. Die wirtschaftliche Lage des Landes hätte sich merklich verbessert, während die revolutionäre Bewegung sich zersetzte. Der bewaffnete Kampf hätte zum Mißerfolg geführt, und die KP hätte den Fehler begangen, den notwendig gewordenen Rückzug zu spät proklamiert zu haben. Wörtlich sagt er:
„Wie bekannt, hat die Tatsache, daß der von der KPV gemeinsam mit einer zahlenmäßig bedeutenden Gruppepatriotischer Zivilisten und Militärs seit sechs Jahren geführte bewaffnete Kampf nicht zum Siege führte, Skepsis und Konfusion in Teilen des Volkes hervorgerufen. Es ist angebracht, daran zu erinnern, daß diese negativen Auswirkungen vom Betancourtismus um so besser genutzt werden konnten, als die Partei es nicht verstanden hatte, den Rückzug rechtzeitig anzutreten, als es noch möglich war, das Gros der Kräfte intakt zu retten."
Wie groß die Zahl der Opfer des venezolanischen Terrors und Partisanenkrieges bis Ende 1968 war, läßt sich nicht ermitteln. Man sollte sich aber vor aus Revolutionsromantik geborenen Übertreibungen hüten. Bei einer Debatte, die Anfang April 1969 im venezolanischen Parlament stattfand, erklärte ein Abgeordneter, der auf die baldige Befriedung des Landes drängte, während der letzten zehn Jahre hätten die von der extremen Rechten und der extremen Linken geführten Aktionen insgesamt 541 Menschenleben gekostet. Dazu kämen noch 1124 Verletzte
Es war in erster Linie dies, was das bolivianische Abenteuer von vornherein sehr fraglich erscheinen ließ und dessen katastrophalen Ausgang vorherbestimmte.
Der Kern der Guerilleros bestand aus Ausländern — vor allem militärisch ausgebildeten und politisch zuverlässigen Kubanern —, die weder die Gegend noch das Land noch die Wünsche und Reaktionsweisen der lokalen Bevölkerung kannten und ihr daher schon als lästige „ausländische" Eindringlinge erschienen. Mit Recht weist der anonyme sowjetrussische Verfasser einer Einleitung zur russischen Ausgabe des Tagebuchs von Guevara auf die Bedeutung des Nationalismus der verschiedenen Völker Lateinamerikas hin:
„Trotz der geistigen Einheit der Völker Lateinamerikas sind die nationalen Unterschiede zwischen ihnen sehr bedeutsam, und ein realistisch denkender Mensch muß sie in Rechnung stellen. ... Die falsche Einschätzung der lokalen Bedingungen, der Stimmung der Bevölkerung, der nationalen Gefühle — die in Bolivien noch stärker sind als in anderen Ländern Lateinamerikas — verurteilte die Partisanen-gruppe zum Mißerfolg. Sie hoffte, wenigstens mit der Zeit die Unterstützung der Masse der Bevölkerung zu bekommen. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt."
Die Anwendung des „guerilleristischen" Modells auf Bolivien war um so merkwürdiger, als Regis Debray in seinem Artikel in „Les Temps Modernes" geschrieben hatte, Bolivien sei das einzige Land des Subkontinents, in dem die Revolution die „klassische" bolschewistische Form würde annehmen können. Er hatte hinzugefügt: „Die Theorie des Guerilla-Herds ist also für Bolivien aus wirklich einmaligen Gründen in der historischen Entwicklung Amerikas, wenn nicht unangemessen, so doch zweitrangig geworden."
Die „bolschewistische" Perspektive der bolivianischen Revolution entsprang der Einschätzung der Bergarbeiter dieses Landes, die in der Tat bei der Revolution von 1952 eine entscheidende Rolle gespielt hatten, die weiterhin revolutionär waren und zur 1964 durch Staatsstreich an die Macht gelangte Regierung Barrientos in scharfer Opposition standen. Doch stellten diese Arbeiter nur eine geringe Minderheit der Gesamtbevölkerung dar. Zudem waren sie bereits durch die Offensiven, die die Regierung 1965 gegen sie geführt hatte, stark geschwächt und bis zu einem gewissen Grade aktionsunfähig geworden. Als es im Juni 1967 zu erneuten Unruhen in den Bergwerken kam, vermochte die Armee recht bald und ohne allzu entschiedene Gegenwehr von seifen der Bergleute die „Ordnung" wiederherzustellen, die Bergwerksgegend abzuriegeln und übrigens auch die Rundfunksender der Bergleute, die damals gerade ihre Sympathien für die Guerilleros verkündeten, zum Schweigen zu bringen.
Partisanen castristischen Typs sind auf die Unterstützung der Bauern angewiesen. Doch waren die Bauern Boliviens durchaus nicht revolutionär gesinnt und standen im großen und ganzen zu Präsident Barrientos. Klaus Esser schreibt dazu:
„In Bolivien, wo drei Viertel der Bevölkerung auf dem Lande leben, fand nach 1952 eine Agrarreform statt. ... Der bolivianische Indianer ist heute selbstbewußter als der ekuadorianische oder der peruanische. Er kann wählen und hat das Gefühl, Barrientos miternannt zu haben. Er besitzt Land, manchmal ein Kofferradio, ein Fahrrad, Trinkwasserbrunnen und Strom. Die Regierung baute einige Straßen. Der im letzten Jahrzehnt erzielte Fortschritt, der dem Ausländer gering erscheint, ist für den Indianer groß. Seine gegenwärtigen Erwartungen richten sich auf die vielen kleinen Verbesserungen in dem Kreise, den er zu überschauen vermag, nicht auf die Beseitigung der Regierung oder gar der Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung. Er sieht vielmehr in der Person des Präsidenten den sichersten Garanten seiner Parzelle gegen die Rückkehr der alten Oligarchie."
Vom Standpunkt des revolutionären „Potentials" war die von den Partisanen erwählte Kampfregion besonders ungeeignet, denn die Gegend um Camiri erlebte einen wirtschaftli-chen Aufschwung, so daß als dessen Folge soziale Spannungen fehlten. Der Bau einer für die Bewohner wichtigen Straße durch die Armee, der infolge der Partisanenkämpfe eingestellt werden mußte, kostete die Guerilleros wiederum viele Sympathien.
Barrientos war kein Batista und die Armee — schwach und unzureichend ausgebildet — war durchaus nicht unbeliebt, schon deshalb nicht, weil sie sich aus Bauern rekrutierte und diesen Aufstiegschancen eröffnete. Außerdem wurde die Armee für wichtige und nutzbringende Arbeiten eingesetzt.
Die „politische" Lage war vom Standpunkt der Partisanen gesehen eher ungünstig. Zwar gab es immer wieder „Krisen" und Änderungen in der Zusammensetzung der Regierung, doch war die „extreme Linke" schwach und in zahlreiche Gruppen und Parteien gespalten, von denen keine dem „Guerillerismus" sonderlich hold war. Sowohl die von dem ehemaligen Vize-Präsidenten Juan Lechin geschaffene PRIN, die illegal war, aber immer noch Einfluß auf die Bergarbeiter hatte, wie auch die pro-sowjetische und die 1965 gegründete pro-chinesische Kommunistische Partei und endlich die zwei einander bekämpfenden trotzkistischen Parteien standen der guevaristisch-debrayistischen Konzeption ablehnend gegenüber. * In seiner Tagebuchnotiz vom 27. März schrieb Guevara: „Alles scheint darauf hinzuweisen, daß die Identität von Tania festgestellt ist, wodurch zwei Jahre guter und geduldiger Arbeit verloren gehen."
Tania war die Ostdeutsche Tamara Bunke, die seit 1964 an der Vorbereitung der Partisanen-bewegung arbeitete und vor allem das städtische Verbindungsnetz aufbauen sollte. Aus dieser Eintragung könnte man entnehmen, daß tatsächlich eine ernsthaite Vorarbeit geleistet worden war. Doch ist dieser Eindruck falsch. Selten ist eine Aktion mit solchem Dilettantismus angebahnt worden — ein Dilettantismus, der übrigens mit Intrigen und Schwankungen verbunden war. Von einer wirklich ernsthaften Vorbereitung konnte weder in politischem noch in militärischem Sinn die Rede sein.
Wir haben bereits auf die falsche Analyse (oder das Fehlen einer ernsten Analyse) der politisch-sozialen Wirklichkeit hingewiesen.
Aber es stand auch ment viel oesser um uie Schaffung der für ein solches Unternehmen notwendigen Kontakte und die Ausarbeitung der Pläne.
Die ersten Besprechungen mit Bolivianern fanden anläßlich der Trikontinentalen Konferenz vom Januar 1966 in Havanna statt. Castro scheint sie persönlich geführt zu haben. Guevara war nicht anwesend und kehrte wohl auch erst im März des Jahres aus Afrika zurück
Während nun die in Bolivien bereits anwesenden Kubaner alles daran setzten, Monje und dessen Partei für ihre Pläne zu gewinnen, knüpfte Che Guevara aus der Ferne durch uliteresvnenunumntercemKuckender offiziellen Kommunisten Kontakte zum ehemaligen Bergarbeiterführer Moises Guevara, der der pro-chinesischen Gruppe angehörte, sich aber dann von dieser wieder trennte. Das verwirrte einige der in Bolivien angekommenen Kubaner und rief, als diese Tatsache bekannt wurde, bei Mario Monje eine begreifliche Empörung hervor, da er sich betrogen und hintergangen fühlte
Aber auch nicht-bolivianische Revolutionäre, an deren aktiven Mitwirkung man interessiert war, wurden über die Pläne nicht informiert. Das galt insbesondere von einer Gruppe peruanischer Partisanen, die glaubte, der Kampf würde in ihrem Lande beginnen. Sie zeigten sich äußerst enttäuscht über die Auswahl Boliviens
Als „Pombo" nach Bolivien gelangte, stellte er nach einer Unterredung mit dem bereits vorher dort eingetroffenen Kubaner „Mbili" (Ricardo) fest, daß von einer ernsthaften Vorbereitung nicht die Rede sein könne und „nichts getan worden war"
Im Laufe der Monate November und Dezember, während das „Lager" zu einem Hauptquartier ausgebaut wurde, trafen nach und nach die Mitglieder der Expedition ein. Deren Gesamtzahl sollte sich schließlich auf 51 belaufen: 18 Kubaner, 29 Bolivianer, 3 Peruaner und die Ostdeutsche Tamara Bunke, die jedoch keine militärische Ausbildung hatte. Die Kubaner stellten die Elite dar, die die Bolivianer ausbilden und führen sollte. Es waren durchweg für den Partisanenkrieg vorbereitete Leute, von denen die meisten schon in der Sierra Maestra gekämpft und einige mit Guevara auch in Afrika gewesen waren. Fünf von ihnen (einschließlich Che Guevara) hatten den Rang eines Majors. Sechs oder sieben waren Hauptleute, der Rest im Leutnantsrang. Drei Kubaner waren Mitglieder des ZK der Kommunistischen Partei Kubas. Einige Bolivianer kamen aus den Reihen der (pro-sowjetischen) kommunistischen Partei, die Mehrheit aber waren Gefolgsleute von Moises Guevara, die sich zum großen Teil als unzuverlässig und für den Partisanenkampf ungeeignet erwiesen. Zwei desertierten bereits Anfang März, bevor es noch zu irgendwelchen Zusammenstößen mit der Armee gekommen war, und ein anderer ließ sich gefangennehmen. Von diesen drei erhielten die bolivianischen Behörden sehr wichtige Informationen. Zwei weitere Partisanen desertierten im Verlauf der folgenden Monate. Einige hatten ein solch niedriges Niveau, daß Che Guevara sie als „resacas“ (Abschaum) bezeichnete. Mit anderen Worten: es hatte keine ernsthafte Auswahl der Kämpfer stattgefunden — ein weiterer Fehler, der die Partisanen teuer zu stehen kam. Auch die Kubaner stellten sich sehr bald nicht als jene Elitekämpfer heraus, die sie hätten sein sollen. Viele von ihnen waren durch das jahrelange bequeme Leben auf Kuba, durch ihre Gewöhnung an Chauffeure und Sekretäre verwöhnt, verweichlicht und bis zu einem gewissen Grade demoralisiert worden, wie Guevara und andere es feststellten
Das eigentliche Partisanenleben begann am 1. Februar mit einem „Trainings" -Marsch, der ursprünglich 25 Tage in Anspruch nehmen sollte, aber auf Grund der Unkenntnis des Terrains und unvorhergesehener Vorkommnisse 48 Tage dauerte. Es konnten weder neue Rekruten aus der Mitte der Bauern gewonnen, noch eine „moralische Stählung" der Partisanen erreicht werden. Zwei Partisanen waren ertrunken, alle anderen kehrten entweder krank oder erschöpft und stark demoralisiert zurück und stellten fest, daß ihr Hauptquartier inzwischen entdeckt worden war.
Die Armee hatte aufgrund der Angaben der Deserteure das Hauptquartier entdeckt, mußte aber beim ersten Zusammenstoß mit den Partisanen — am 29. März — beträchtliche Opfer bringen. In den Hinterhalt gelockt, verloren sie sieben Tote, sechs Verwundete und elf Gefangene. Auch Waffen wurden von dem Guerillatrupp erbeutet. Das sollte der erste, aber auch der größte Sieg sein, den Guevara erringen konnte. Ihm folgte ein weiterer am 10. April. Inzwischen aber war das „Hauptquartier" von der Armee ausgeräumt worden. Wertvolle Bestände — vor allem auch an Medezin —, Dokumente, Tagebücher und Photographien waren konfisziert worden, mit deren Hilfe auch die Identifizierung Guevaras gelang. Am 17. April beauftragte Guevara „Joaquin" (Major Vitalio Acuna Nunez), mit einer Gruppe eine kurze Expedition zu unternehmen. So wurde die Guerilla in zwei Gruppen geteilt, die nie mehr zueinander fanden, obgleich sie einander wochenlang suchten. Ende Mai war Guevaras Trupp auf ganze 25 Kämpfer zusammengeschmolzen, die von Krankheit, Hunger und Durst gequält wurden. Auch Guevara, der seit jeher an Asthma gelitten hatte, wurde zu einem menschlichen Wrack. Verzweifelt vermerkt er in den monatlichen „Resumes" die wachsende Isolierung der Partisanen — auch die Verbindung zu Havanna riß ab —, ihre sinkende Kampfmoral, ihren besorgniserregenden Ernährungs-und Gesundheitszustand sowie das völlige Fehlen der bäuerlichen Sympathien und neuer Rekruten. Am 7. Juli überfiel Guevaras Trupp die kleine Stadt Samaipata, die an einer wichtigen Straße unweit einer Erdölleitung lag. Diese Leitung wurde jedoch nicht gesprengt, die Straße nicht blockiert, die vorübergehende Einnahme des Ortes nicht einmal propagandistiscn genutzt. Elner aer Haupt-zwecke der ganzen Aktion, die Beschaffung von Lebensrnitteln und Medizin, wurde auch nicht erreicht. Ein Nebeneffekt der Einnahme der Ortschaft war die Aufmerksamkeit, die nun die Partisanenaktivität erweckte. Die Regierung entschloß sich dazu, ihre militärische Kampagne zu verstärken.
Bereits im März waren 20 nordamerikanische Spezialisten nach Bolivien gekommen, um Bolivianer in den Künsten des Anti-Guerilla-Kampfs auszubilden. Im August wurden zum erstenmal ca. 350 dieser bolivianischen „Rangers" eingesetzt. Damit begann sich die militärische Lage der Partisanen sehr schnell zu verschlechtern. Es waren diese Einheiten, die am 31. August die Gruppe von Joaquin liquidierten, um sich dann der Truppe Guevaras zu widmen, deren Stärke bereits im Juli nur noch 22 Mann betrug. In seiner Übersicht des Monats August stellte Guevara fest, die Lage sei noch nie so schlecht gewesen. „Wir befinden uns an einem Tiefpunkt unserer Moral und unserer revolutionären Legende." Als er diese Zeilen schrieb, wußte er noch nicht, daß Joaquins Trupp aufgerieben worden war. In dem Resume vom Ende September hieß es: „Die allgemeine Lage ist ebenso wie vorigen Monat, nur, daß die Kampfkraft der Armee gewachsen ist und die Masse der Bauern uns in keiner Weise hilft und sich in Denunzianten verwandelt." Die Armee hatte inzwischen Guevara eingekreist und ihm alle Fluchtwege versperrt. Am 8. Oktober kam das Ende. Che wurde verwundet und gefangengenommen — am Tage darauf erschossen. 35 Guerilleros zahlten mit ihrem Leben, fünf konnten sich retten, die anderen waren desertiert oder in Gefangenschaft geraten. Es war eine fast einzigartige Katastrophe, mit der ein Abenteuer endete, in dessen Verlauf zwar über 40 bolivianische Soldaten fielen, die Regierung Barrientos aber nie auch nur entfernt gefährdet war.
Drei Kubanern gelang es, sich nach Chile durchzuschlagen und von dort nach Kuba zurückzukehren. Ihre Ausführungen vor der Presse in Santiago sind es wert, kommentarlos wiedergegeben zu werden. Danach befragt, warum die Bauern den Partisanen nicht halfen, sagte „Pombo": „Gegenüber den Guerillas nimmt der Landbewohner verschiedene Haltungen ein. Zunächst muß berücksichtigt werden, daß wir Nomaden-Partisanen waren und nicht mit der Unterstützung der Landbevölkerung rechneten. In dieser Phase ist der Landbewohner eher ein Feind der Guerilleros und ein Freund der Streitkräfte, da er noch unschlüssig ist. In der zweiten Phase des Guerillakampfes ergibt sich eine Art Gleichgewicht der Kräfte, und dann ist der Bauer neutral. Wenn das Heer stärker ist, steht er auf dessen Seite, wenn die Guerilla stärker ist, unterstützt er diese. Die dritte Phase beginnt, wenn die Guerilla in einer bestimmten Zone zur herrschenden Macht wird. Dann verwandeln sich die Bauern in Revolutionäre und werden zur Antriebs-kraftder Partisanen. Dann sorgen sie für Proviant, dienen als Führer etc. Uns gelang es nicht, diese Phase zu erreichen."
Inwiefern Leute, die als Lebensmittelversorger und Führer dienen, als „Antriebskraft" der Guerilla angesehen werden können, erklärte Pombo ebenso wenig wie die Art und Weise, wie eine Guerilla aus der ersten in die weiteren Phasen gelangen kann ...
Nachwort: Erfahrungen und Probleme
1961 wurde die „Allianz für den Fortschritt" ins Leben gerufen, sozusagen als Gegengift gegen Castrismus und Revolution. Heute kann kein Zweifel daran bestehen, daß das Programm dieser Allianz gescheitert ist. Es wäre zwar übertrieben, von einer totalen Stagnation Lateinamerikas zu sprechen — es gibt überhaupt allzuviele Verschiedenheiten zwischen den Ländern dieses Kontinents, als daß viele sinnvolle Generalisierungen möglich wären —, aber der wirtschaftliche Fortschritt vollzieht sich ungemein langsam, der Abstand (der „gap") zwischen Lateinamerika und der „industriellen Welt" wächst. Die Kombination einer einzigartigen demographischen Explosion mit dem durch moderne Kommunikationsmittel verbreiteten „Demonstrationseffekt" und der sich daraus ergebenden Revolution der wachsenden Erwartungen bestimmt das Schicksal der meisten Länder südlich des Rio Grande. Es bleibt ein „vulkanischer Kontinent", der mit der Revolution schwanger geht oder zumindest schwanger zu gehen scheint. Der Schein kann trügen.
Ob in Lateinamerika bzw. in einigen wichtigen Ländern Lateinamerikas eine „soziale Revolution" Voraussetzung des gesellschaftlichen Fortschritts ist, das ist eine theoretische Frage, die erst genauer formuliert werden müßte, um beantwortet werden zu können. Auch wenn man zu einer solchen Schlußfolgerung gelangen sollte, hieße dies nicht, daß solche Revolutionen auch tatsächlich stattfinden bzw. siegen würden. Ob sie stattfinden, inwieweit sie gewaltsam sein werden und welche Rolle bei solchen gewaltsamen Auseinandersetzungen Partisanenkämpfe spielen werden, läßt sich nicht genau voraussehen und gewiß nicht auf einigen Seiten beantworten. Daß die Guerilla-Kämpfe des letzten Jahrzehnts mit Mißerfolgen endeten, beweist noch nicht, daß künftigen Auseinandersetzungen dieser Art in diesem oder jenen Land der Erfolg versagt werden wird.
Aber das Kernstück der „Guerillerismus" — die Auffassung vom „Partisanenherd" — scheint doch durch diese Erfahrungen widerlegt zu sein. Das wird auch in „marxistischen" bzw. „revolutionären" Kreisen erkannt: Die Kommunisten sowjetischer und chinesischer Observanz haben diese Konzeption von jeher als „Abenteurertum" gebrandmarkt. Die Trotz-kisten haben sich von ihr distanziert. In einer Sondernummer der Monthly Review vom Juli/August 1968 haben mehrere „pro-castristische" Autoren die Thesen Debrays einer scharfen Kritik unterzogen. Schließlich hat sich auch ein so prominenter venezolanischer Partisanenführer wie Prada von der in „Revolution in der Revolution" formulierten Auffassung abgekehrt.
Andererseits bleiben Debrays Kritiken an anderen Formen des bewaffneten Kampfes berechtigt. Militärputsche junger, mehr oder weniger zu revolutionären Konzepten neigender Offiziere sind überall gescheitert. Der städtische Terrorismus hat nirgends zur Machtübernahme, fast überall aber zur Demoralisierung der Terroristen und zu scharfen Repressionsmaßnahmen der jeweiligen Regierungen geführt, die von der Masse der Bevölkerung eher begrüßt als abgelehnt wurden.
Bäuerliche „Selbstschutzformationen" haben es nirgends vermocht, gegen sie gerichtete Offensiven abzuwehren. Auf Selbsttätigkeit der Landbewohner gegründete, potentiell revolutionäre Verbände — wie die Bauernsyndikate Perus — sind liquidiert worden.
Das wirft die Frage auf, welche Quellen die angeblich unvermeidliche Revolution speisen sollen, aus welchen Ursachen sie hervorgehen und auf welche sozialen Schichten sie sich stützen wird.
Daß Revolutionen aus dem „Elend" der Massen hervorwachsen, ist ein Glaubenssatz, ge-gen den die ganze Weltgeschichte Zeugnis ablegt, der aber als Glaubenssatz unwiderlegbar bleibt. Auch das Intellektuelle (und junge Priester) beflügelnde Sehnen nach sozialer Gerechtigkeit kann nicht als reale Triebkraft revolutionärer Umgestaltungen angesehen werden. Das Problem besteht vielmehr darin, die sozialen Klassen oder Schichten festzustellen, die auf Revolution drängen. Vier solcher „Schichten" (oder „Klassen") sind bisher als potentiell revolutionär angesehen worden: a) das Proletariat, b) die „nationale Bourgeoisie", c) die Bauernschaft, d) die „marginale" Bevölkerung der Elendsviertel.
Jedoch: Die (städtische) Arbeiterschaft, vor allem insoweit sie in Großbetrieben beschäftigt ist, stellt eine relativ privilegierte Schicht, eine „Arbeiteraristokratie" dar. Ihr Verhalten sieht oft revolutionär aus, ohne es zu sein. Sie demonstriert, streikt, kämpft um Reformen, die oft genug auch errungen werden und gelegentlich von sinkender Produktivität und Inflation begleitet sind.
Der Begriff der „nationalen Bourgeoisie" ist vieldeutig. Er ist von den Kommunisten geprägt worden. In Abwandlung eines berühmten Wortes von Hermann Göring bestimmt die jeweilige Kommunistische Parteiführung je nach Lage der Dinge, wer zu dieser bemerkenswerten Schicht gehört. Es ist jedoch ungemein zweifelhaft, ob es sie überhaupt gibt und — falls es sie geben sollte — ob sie in irgendeinem Sinn „revolutionär", ja auch nur „antiimperialistisch" eingestellt ist. Gewiß sind beträchtliche Teile dieser problematischen „Schicht" gegen jede Revolution eingestellt, die sie selbst vernichten würde; meist sind sie an einer Zusammenarbeit mit dem ausländischen Kapital interessiert; ebenso sicher ist, daß sie vielerorts eng mit der — angeblich „feudalen" — Oberschicht liiert sind.
Es ist also kein Zufall, daß „Extremisten" castristischen Typs die beiden bisher erwähnten sozialen Schichten „abgeschrieben" haben, jedenfalls keine unmittelbaren Hoffnungen auf sie setzen. Aber mit den „Bauern" und den Bewohnern der Elendsviertel ist es nicht viel besser bestellt.
Zunächst: Der Anteil der landwirtschaftlich Tätigen an der Gesamtbevölkerung Lateinamerikas geht rapid zurück, wodurch allein schon deren strategisches Gewicht sinkt. Zum zweiten sind die „Bauern" (wir setzen das Wort in Anführungsstriche, weil es sich hier um ein Konglomerat verschiedener Schichten handelt: Eigentümer, Pächter und Halbpächter; Klein-und Mittelbauern; Landarbeiter und Arbeitslose) nur selten zu kollektiver, noch seltener zu einer überregionalen Aktion fähig. Eine „regionale" Erhebung würde, selbst wenn sie in einem isolierten Bezirk siegen sollte, für die Regierung in der Stadt und die maßgebenden städtischen Schichten (die durchaus nicht oder nicht im wesentlichen von einer „Ausbeutung“ dieser Bauern leben) erträglich sein. Ein solcher Sieg könnte sich auch in „Reformen" ausdrücken — Landverteilung etc. —, die die Bauern beruhigen und sie zu entschiedenen Gegnern des „Sozialismus" machen würden. Im allgemeinen verfallen die „Bauern" der Apathie oder wandern in die Städte ab, eben in jene Elendsviertel, die wie Pilze die lateinamerikanischen Großstädte umwuchern und auf deren Bewohner die „Revolutionäre" solche Hoffnungen zu setzen pflegen.
Auch diese Hoffnungen werden meist enttäuscht. Das ist nicht zu verwundern. Ein peruanischer Autor schreibt über die Bewohner der Elendsviertel Limas, der „bqrriadas": „Wenn die Bauern wie Schafe zusammengepfercht auf Lastwagen in die Hauptstadt gelangen, werden sie verwirrt. Vor ihnen liegt eine magische Welt. Die Schreie der ambulanten Händler, der Lärm, der aus Tausenden kleinen Läden und Hütten dringt, in denen Grammophonplatten abgespielt werden. ... Die Tage vergehen und die Neuankömmlinge, die keine Arbeit finden, verwandeln sich ihrerseits in Kleinhändler, Trödler . .. Verkäufer von Lotterielosen, auch in Angestellte von Restaurants oder Dienstboten in vornehmen Häusern. Von da an werden sie zu unbewußten Verteidigern des bestehenden Systems — auch wenn sie weiter in den miserablen Behausungen leben, die immer noch besser sind als die Hütten, an die sie gewohnt waren. Sie leben im Elend und ihre Lage hat sich dennoch gebessert."
Was sich in diesen „Elendsvierteln" vereinigt, ist zum großen Teil ein menschlicher Flugsand von „marginalen", entwurzelten Existenzen, das dem „Lumpenproletariat" mehr als dem Proletariat gleicht. Die Mehrheit dieser Menschen ist nicht revolutionär, weil die Abwanderung in die Stadt für sie einen sozialen Aufstieg bedeutet, und ist zu revolutionärem Handeln auch nicht fähig, weil sie kollektiv kaum organisierbar ist. Ihr Heil erwartet sie, sei es vom individuellen „Sich-Durchwursteln", sei es von „paternalistischen" Politikern und Diktatoren. Es ist kein Zufall, daß in Limas „barriadas" besonders viele Stimmen für den Ex-Diktator General Odria, in den „ranchitos" von Caracas bei den Wahlen vom Dezember 1968 für den Ex-Diktator Perez-Jimenez abgeben wurden.
Sozial „entwurzelte" Existenzen, zu denen auch chronisch Arbeitslose, vielleicht auch die meisten Studenten zu zählen wären, stellen keine ausreichende Basis für eine soziale Revolution dar, bilden aber die Reservearmee, aus der sich Partisanen rekrutieren, die immer wieder auftauchen und aktiv werden können, ohne die Macht zu erobern.
Revolutionen lassen sich nicht exakt voraussehen. Ob sie ausbrechen und gelingen, das hängt bekanntlich einerseits vom Vorhandensein einer objektiven, akut revolutionären Situation, andererseits von der Existenz eines „subjektiven Faktors" in Gestalt einer revolutionären „Avantgarde" ab — um es in „marxistisch-leninistischer" Phraseologie auszudrükken. Lenin definierte die revolutionäre Situation als eine Lage, in der die Massen nicht mehr so leben wollten und die herrschenden Klassen nicht mehr so leben könnten wie bis dahin. Das ist eine allzu abstrakte Behauptung, als daß man ihren Wahrheitsinhalt ermitteln könnte. Auch wenn man die Variablen dieser algebraischen Formel („Massen", „leben wollen", „herrschende Klassen", „leben können") durch Konstanten ersetzt und zum Schluß gelangt, daß im Land X zum Zeitpunkt Y eine solche Situation tatsächlich feststellbar ist, so kann die Revolution doch nicht stattfinden oder auch scheitern, weil der „subjektive Faktor" fehlte oder versagte. Ob es aber eine „wirklich" revolutionäre Partei gibt, stellt sich erst post festum heraus. Das hängt von nicht voraussehbaren historischen Zufällen, u. a. von der Persönlichkeit des Parteiführers ab. Ohne einen Lenin hätte vermutlich die russische Novemberrevolution nicht gesiegt.