Mit den folgenden beiden Beiträgen, die die Bedingungen der Mitwirkung der außer-parlamentarischen Opposition an der politischen Willensbildung über die Parteien zu klären versuchen, setzen wir die kontroverse Diskussion aktueller innen-und verfassungspolitischer Probleme fort. Ermuntert durch kritische Zuschriften, die auf vergleichbare Beiträge eingingen und von uns veröffentlicht wurden, wiederholt die Redaktion, daß sie wiederum gern bereit ist, das Gespräch fortzuführen und Kritik und Ergänzung zu Wort kommen zu lassen.
Bis in die Mitte der sechziger Jahre war nicht nur die politische Entwicklung der Bundesrepublik kontinuierlich und geradlinig verlaufen, auch das politische Verhalten der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung schien so stabil zu sein, daß man mit einer weiteren kontinuierlichen und geradlinigen politischen Entwicklung rechnen konnte.
Erst die unerwartete Protestbewegung der jungen Generation macht es unumgänglich, daß wir uns ernsthaft mit der Frage beschäftigen: „Wohin treibt die Bundesrepublik?" Denn bei den Anhängern und Sympathisierenden der verschiedenen Formen der Protest-und Oppositionsbewegung in der APO handelt es sich nicht nur um eine kleine, radikale Minderheit, sondern um den aktivsten und wichtigsten Teil der jungen Generation, dessen politisches Verhalten die zukünftige Entwicklung der Bundesrepublik entscheidend mitbestimmen wird. Das zukünftige politische Verhalten dieser revoltierenden Generation ist aber ein unbestimmter, unsicherer Faktor, so daß die Zukunft der Bundesrepublik nicht mehr — wie es bis in die Mitte der sechziger Jahre noch möglich schien — als kontinuierliche und folgerichtige Entwicklung konstanter und bekannter Faktoren vorauszusehen ist. Da das zukünftige politische Denken und Verhalten der jungen Generation noch offen ist für unterschiedliche Möglichkeiten, ist auch die zukünftige Entwicklung der Bundesrepublik für unterschiedliche Möglichkeiten offen.
Obwohl die Motive und Intentionen der rebellierenden jungen Generation ohne Zweifel demokratisch und humanistisch sind, ist keineswegs schon entschieden, ob die praktischen Ergebnisse dieser Protestbewegung dem Fortschritt der Demokratie und dem Aufbau einer humanen Gesellschaft dienen oder aber die Bundesrepublik in eine innenpolitische Krise stürzen werden, in der auch das erreichte Maß an Demokratie noch abgebaut werden wird. Wer diese unterschiedlichen Möglichkeiten sieht, steht vor der Aufgabe zu überlegen, was wir tun können, damit das politische Engagement der jungen Generation die progressiv-demokratischen Tendenzen in der Bundesrepublik stärken kann.
Ob es gelingen wird, das politische Potential der jungen Generation für die progressiv-demokratischen und gegen die autoritären Tendenzen zu nutzen, hängt weitgehend davon ab, wie sich das Verhältnis zwischen der parlamentarisch-repräsentativen Parteiendemokratie und der APO entwickeln wird. Während die absolute Feindschaft zwischen diesen beiden politischen Faktoren eine Gefahr für die Demokratie darstellt, wäre eine fruchtbare Auseinandersetzung zwischen beiden Faktoren für eine progressiv-demokratische Entwicklung vorteilhaft.
Diejenigen Repräsentanten der etablierten Parteien, die in der Revolte der jungen Generation nur eine antiparlamentarische und antidemokratische Bewegung einer kleinen Minderheit sehen, die es mit allen Mitteln der „streitbaren Demokratie" zu bekämpfen gilt, verzichten auf eine politische Auseinandersetzung mit der Mehrheit der politisch interessierten Jugend, drängen sie dadurch erst in eine antiparlamentarische Position und schaden auf diese Weise der Demokratie, die zu verteidigen sie vorgeben. Der Demokratie wirklich nützen können nur jene, die diesen engstirnigen und ängstlichen Standpunkt überwinden und eine selbstbewußtere und liberalere Haltung einnehmen, wie sie z. B. 1968 der jetzige Bundesjustizminister Prof. Ehmke formulierte: „So kräftezehrend die Auseinandersetzung mit den Studenten ist, verlieren dürfen wir diese junge Generation schon einfach darum nicht, weil sie die Generation ist, auf die wir für die Bewährungsprobe unserer Demokratie gewartet haben." Eine der Stärkung und dem Fortschritt der Demokratie dienende dialogische Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der parlamentarisch-repräsentativen Parteiendemokratie und der APO setzt voraus, daß es auf beiden Seiten genügend undogmatische, geistig aufgeschlossene Menschen gibt, die auch die Motive und Intentionen der anderen Seite kennen und verstehen, die bereit und fähig sind, auf die Argumente des Gegners zu hören, auch die eigenen Positionen kritisch zu überprüfen, neue Möglichkeiten zu erkennen, neue Ideen zu entwickeln und neue Wege zu gehen. Die folgenden Ausführungen, die sich an beide Seiten wenden, haben das Ziel, auf die Entwicklungsgeschichte der Protestbewegung hinzuweisen, die Möglichkeit und die Notwendigkeit eines Dialoges und einer daraus folgenden konvergierenden Entwicklung zwischen parlamentarisch-repräsentativer Parteiendemokratie und radikaldemokratischer APO zu zeigen und auf die Gefahren aufmerksam zu machen, die eine divergierende Entwicklung und antagonistische Polarisierung beider Seiten für die Demokratie enthält.
Die LIPO als Vorläufer der APO
Die Politisierung der jungen Generation ist eine Antwort auf die Entpolitisierung, die sich seit den fünfziger Jahren in den Institutionen und in den Methoden der parlamentarisch-repräsentativen Parteiendemokratie vollzogen hat. Da die Parteien — besonders im Zuge der Annäherung der SPD an die CDU — immer mehr darauf verzichteten, sachliche politische Gegensätze und Alternativen öffentlich zu diskutieren, konnte die Bevölkerung kaum noch an einem demokratischen Meinungs-und Willensbildungsprozeß teilnehmen. Der Inhalt der von den konkurrierenden Parteien im Wahlkampf vorgeschlagenen politischen Programme trat immer mehr zurück hinter dem Bemühen jeder Partei, das irrationale Bewußtsein der Wähler so anzusprechen, daß es zugunsten der eigenen Partei positiv reagierte. Bis zur Bildung der Großen Koalition konnten die Wähler zwar noch entscheiden, welche Partei in der Bundesrepublik die Politik machen durfte; aber bei den politisch Interessierten und Informierten entstand der Eindruck, daß sich die Auseinandersetzungen über den Inhalt der Politik in wichtigen Fragen immer mehr unter Ausschluß der Öffentlichkeit allein in den Führungsgremien der Parteien vollzogen.
Es war zunächst eine liberale intellektuell-publizistische Opposition (LIPO), die sich gegen diese Entpolitisierung wandte, die Konzeptionslosigkeit und die Illusionen der so-genannten Wiedervereinigungspolitik entlarvte und in kritischen Analysen der innenpolitischen Verhältnisse aufzeigte, wie die Wirklichkeit unserer Demokratie immer mehr hinter ihrem ideellen Anspruch zurückblieb. Vor allem diese liberale publizistische Opposition — zunächst nicht Marx, Mao und Marcuse — hat dazu beigetragen, daß an den Universi-täten eine kritische Studentengeneration die konformistische und angepaßte Studentenschaft ablöste. Die ersten kritischen Studenten-generationen fühlten sich mit der liberalen publizistischen Opposition verbunden, weil sie politische Alternativen und Ideen diskutierte, die die Parteien aus Rücksicht auf empfindsame Wähler nicht auszusprechen wagten.
Angesichts der sich heute oft antiliberal gebärdenden Protestbewegung der APO erinnert sich kaum noch jemand an ihre liberalen Wurzeln. Die Kinder der liberalen Opposition haben ihre Väter vergessen, aber auch die liberalen Väter verdrängen meist aus ihrem Bewußtsein die Tatsache, daß die Väter der radikaldemokratischen APO ihre Kinder sind.
Wenn sich die kritische junge Generation bald gegen ihre liberalen Väter wandte, so geschah das keineswegs aus einer prinzipiell antiliberalen Haltung, sondern aus einer politischen Enttäuschung. Enttäuschend und frustrierend für die durch die LIPO zu einer kritischen Haltung angeregte Jugend wurde es, daß diese Kritik die Politik nicht zu ändern und die kritisierten Zustände nicht zu beseitigen vermochte, daß also Theorie und Praxis getrennt blieben. Die LIPO hatte einen entscheidenden Aspekt des politischen Engagements, nämlich eine als richtig erkannte politische Konzeption in die politische Praxis umzusetzen, fast völlig übersehen oder gar nicht erst als ihre eigene Aufgabe anerkannt. Während man schon oft vor den „Schwierigkeiten, die Wahrheit zu schreiben", resignierte, entzog man sich vollends den noch größeren Schwierigkeiten, die Wahrheit politisch wirksam werden zu lassen. Aber gerade darauf kam es an. Denn die Situation in der Bundesrepublik wurde ja nicht deshalb als besorgniserregend angesehen, weil eine offensichtlich sinnlose Politik nicht mehr kritisiert wurde, sondern weil die Kritik die Politik nicht zu beeinflussen vermochte, weil sich die politischen Kritiker zu wenig für das politische Handeln, die politisch Handelnden dagegen zu wenig für die politische Kritik verantwortlich fühlten. Das kritische politische Denken erfüllt ja nur dann seine demokratische Funktion, wenn es nicht nur frühere politische Entscheidungen kritisiert, sondern auch zukünftige Entscheidungen beeinflußt. Diesen praktischen Aspekt hatte die LIPO vernachlässigt. Sie hatte es nicht gewagt, den notwendigen Sprung aus der Sphäre der individuellen moralischen Revolte und der geistreichen, aber folgenlosen Kritik und Reflexion zum zielbewußten, gemeinsamen politischen Wollen und Handeln zu vollziehen, und sie konnte daher nicht die Kluft überbrücken, die in der Bundesrepublik den Bereich des politischen Handelns und der politischen Macht vom Bereich des kritischen politischen Denkens isoliert.
Die LIPO beschränkte sich auf die reine Kritik, weil sie erwartete oder hoffte, daß diese Kritik die Politiker veranlassen könnte, die Politik zu ändern. Die politischen Aktionen der APO — meist an amerikanischen Vorbildern orientiert — entwickelten sich dagegen aus der Einsicht, daß die Politiker gar nicht daran denken, die kritischen Gedanken der LIPO in politische Praxis umzusetzen, daß sie sich bei ihren politischen Entscheidungen von allen möglichen Gesichtspunkten leiten lassen, nur nicht von den rationalen Argumenten der politischen Kritik. Wer angesichts dieser Tatsache die Kritik politisch wirksam werden lassen will, wer die Trennung von Theorie und Praxis überwinden will, muß selbst politisch handeln, muß durch politische Aktionen die Arbeitsteilung aufheben, die zwischen politisch Denkenden und politisch Handelnden besteht. Dieser Gedanke ist durchaus ein wertvoller Beitrag für eine progressive Demokratietheorie. Ein Teil der APO versucht aber, diesen progressiven Gedanken im Rahmen eines theoretischen und praktischen Konzeptes zu verwirklichen, das den vollständigen Bruch mit den bestehenden Institutionen zur Folge hat. Ausgehend von der Überzeugung, daß gerade die Spielregeln und Institutionen unseres politischen Systems nur die institutionelle Erscheinungsform der Trennung von Theorie und Praxis sind, die jede politische Kritik praktisch unwirksam macht, glauben sie die Trennung nur überwinden zu können, indem sie diese Institutionen und Spielregeln bekämpfen. Die Trennung von Theorie und Praxis wollen sie also nicht innerhalb und mit Hilfe der Institutionen überwinden, sondern im Kampf gegen sie.
APO und Revolution
Jene Teile der APO, die sowohl die Mitarbeit in den bestehenden Parteien als auch die Gründung einer neuen Partei ablehnen, sehen nicht nur im Rahmen der Parteien, sondern — was weit schwerwiegender ist — überhaupt im Rahmen unseres Systems keine Möglichkeit, den abgelehnten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Status quo evolutionär zu überwinden. Da sie keine Ansätze für einen evolutionären, systemimmanenten Wandel sehen, halten sie eine Revolution für notwendig, um den Status quo zu verändern. Den Beweis dafür, daß die Revolution nicht nur eine Notwendigkeit, sondern auch eine reale Möglichkeit ist, gewinnen sie allerdings nicht aus einer Analyse unserer Gesellschaft. Denn nicht das Proletariat der Industriegesellschaft, sondern die Völker der Dritten Welt bilden das historische Subjekt, das die als notwendig erachtete Revolution zu einer realen Möglichkeit macht, die es im revolutionären Kampf zu verwirklichen gilt.
Da diese Revolutionstheorie auf die Dritte Welt fixiert ist und die Möglichkeiten für konkretes Handeln in unserer Gesellschaft kaum analysiert werden, läßt sich auch die politische Praxis, die ja auf jeden Fall nur in unserer Gesellschaft stattfinden kann, nicht schlüssig aus der Theorie ableiten, während andererseits die Ergebnisse dieser Praxis auch nicht ausreichend theoretisch reflektiert werden, um die Theorie weiterzuentwickeln oder zu modifizieren. Da die Aktionen eines Teiles der APO nicht schlüssig aus der Theorie abzuleiten sind, stellen sie nicht die Einheit von Theorie und Praxis her, sondern sind nur Ersatz für eine Praxis, die dialektisch mit einer Theorie verbunden ist. Denn Einheit von Theorie und Praxis bedeutet ja nicht nur, daß dieselben Menschen, die theoretisch reflektieren und Kritik üben, gleichzeitig politisch handeln, sondern heißt vielmehr, daß eine ständige dialektische Wechselwirkung zwischen Theorie und Praxis besteht, daß die Theorie die Quali-B tät der Praxis ständig verbessert und daß diese Praxis auch ständig die Qualität der Theorie erhöht. Bei den aktivistischen Gruppen der APO zeigt sich aber deutlich, daß Theorie und Praxis unverbunden nebeneinander stehen, was sich für beide Bereiche nachteilig auswirkt; der unvermittelt neben der Theorie stehende Aktionismus hat auch einen Niedergang der Theorie zur Folge. Statt wechselseitiger Qualitätssteigerung vollzieht sich eine wechselseitige Qualitätsminderung.
Die APO, die sich aus Enttäuschung über die fehlende Einheit von Theorie und Praxis in der liberalen publizistischen Opposition entwickelt hatte, vermag also selbst diese Einheit ebenfalls nicht herzustellen. Diese fehlende Einheit von Theorie und Praxis in der APO bedeutet aber politisch, daß sie nicht über die Ergebnisse der liberalen publizistischen Opposition hinausgekommen ist: So wenig wie die Kritik der LIPO die kritisierten Zustände zu beseitigen vermochte, so wenig waren die Aktionen der sich radikaldemokratisch und sozialistisch verstehenden APO dazu in der Lage. Das kann zur Folge haben, daß sich ein Teil der kritisch engagierten jungen Generation von der APO genauso enttäuscht abwenden wird wie einst von der LIPO, daß Resignation und Passivität an die Stelle kritischen Engagements treten. Diese Resignation eines Teiles der kritischen jungen Generation könnte die Aktivität derjenigen, die die Protestbewegung trotz ihrer Erfolglosigkeit fortzusetzen entschlossen sind, noch mehr in eine Richtung drängen, in der sie der Demokratie eher schadet. Das bedeutet nicht, daß diese Aktionen selbst die Demokratie gefährden könnten. Das heißt vielmehr, daß sich das aktive politische Engagement der kritischen jungen Generation in Formen manifestiert, die nicht geeignet sind, die wirklichen Gefahren für die Demokratie, die von rechts kommen, erfolgreich abwehren zu helfen. Um diese Gefahren abzuwehren und die Demokratie progressiv weiterzuentwickeln, brauchen wir aber die aktive Mitarbeit der jungen Generation, die das stärkste demokratische Potential in unserer Gesellschaft darstellt.
Ansätze für revolutionäre Veränderungen auf evolutionärem Wege (Aufhebung des Gegensatzes von Revolution und Evolution)
Wer verhindern möchte, daß sich das kritische Engagement der jungen Generation in eine aktivistische Sackgasse und in passive Resignation verliert, muß auf das Verlangen dieser Generation nach einer Theorie eingehen, die eine qualitative Veränderung der bestehenden Verhältnisse intendiert, nämlich Abbau von Herrschaftsstrukturen in allen Bereichen der Gesellschaft und Emanzipation aller Menschen. Indem eine solche Theorie eine qualitative Veränderung der Gesellschaft anstrebt, ist sie in bezug auf das Ziel revolutionär. Damit sie auch anleiten kann zum praktischen politischen Handeln, muß sie aber auf unsere Gesellschaft, d. h. auf die Industriegesellschaft bezogen sein, in der Veränderungen nur auf evolutionärem Wege möglich sind. Da die Zielsetzung dieser Theorie revolutionär ist, ihre praktische Methode aber evolutionär, hat sie den Gegensatz zwischen Revolution und Evolution dialektisch aufgehoben. Eine solche Theorie steht durchaus im Einklang mit unserer Demokratie, die nach ihrem eigenen Anspruch ja keineswegs die Funktion hat, den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Status quo vor Veränderungen zu schützen, sondern vielmehr den institutionellen Ansatz bieten soll, diesen Status quo progressiv zu verändern.
Doch wenn diese Theorie auch mit dem ideellen Selbstverständnis unserer Demokratie übereinstimmt, hat sie dann schon eine Chance in der Wirklichkeit dieser Demokratie? Wie ist die Behauptung zu begründen, daß diese Demokratie den institutionellen Ansatz zur Veränderung des Status quo bietet, wenn es keine starke Oppositionspartei mehr gibt, die ein Konzept für diese Veränderung anbieten und durchsetzen kann?
Der institutionelle Hebel für einen konsequenten politischen Kurswechsel ist in einem Phänomen zu sehen, das bisher zu wenig bekannt ist und in der Demokratietheorie kaum reflektiert wurde: Entgegen den offenkundigen äußeren Eindrücken wird auch im Rahmen der bestehenden Institutionen der parlamentarisch-repräsentativen Parteiendemokratie noch um politische Alternativen, um Konzeptionen für die konsequente Veränderung des Status quo gerungen, allerdings nicht zwischen den verschiedenen Parteien, wie es nach dem Selbstverständnis dieser Demokratie sein müßte, sondern zwischen den verschiedenen Flügeln innerhalb der einzelnen Parteien, zwischen Mehrheitsflügeln und den innerparteilichen Oppositionen (IPO), die es in jeder Partei gibt. Für zukünftige politische Veränderungen ist es daher ziemlich unwichtig, welche Partei bei den kommenden Wahlen die Mehrheit gewinnen wird, entscheidend ist vielmehr, welche Flügel innerhalb der drei für die Regierungsbildung relevanten Parteien die Mehrheit gewinnen werden. Eine wirklich neue Politik ist also nicht von neuen Mehrheitsverhältnissen zugunsten der einen oder der anderen Partei zu erwarten, sondern allein von neuen Mehrheitsverhältnissen innerhalb der Parteien.
Die These, daß der Ansatz für einen konsequenten politischen Kurswechsel in den innerparteilichen Oppositionen zu sehen ist, bedeutet keineswegs, daß sich die liberale publizistisch-intellektuelle Opposition und die radikaldemokratische außerparlamentarische Opposition als überflüssig erwiesen haben. Im Gegenteil, wenn ein konsequenter Kurswechsel mit Hilfe der innerparteilichen Oppositionen zu einer realen Möglichkeit wird, so ist das weitgehend der LIPO und der APO zu verdanken, die außerhalb der entpolitisierten Institutionen der parlamentarisch-repräsentativen Parteiendemokratie politische Alternativen diskutierten und konzipierten und auf diese Weise indirekt die innerparteilichen Auseinandersetzungen anregten.
Aktionseinheit von LIPO, APO und IPO
Um die Möglichkeit eines Kurswechsels mit Hilfe der IPO politisch zu verwirklichen, ist es notwendig, diese drei, bisher weitgehend isoliert nebeneinander bestehenden oppositionellen Gruppierungen auf dem Wege des Dialoges und der Konvergenz zu einer einheitlichen politischen Kraft zusammenzufassen. Sowohl der LIPO als auch der IPO würde dabei die besondere Aufgabe zufallen, eine Mittler-rolle zwischen der radikaldemokratischen APO und der parlamentarisch-repräsentativen Parteiendemokratie zu spielen und eine die politische Auseinandersetzung lähmende Polarisierung zu verhindern. Denn während die emotionale Polarisierung zwischen Anhängern der Parteiendemokratie und der APO das antidemokratische Freund-Feind-Denken fördert, das eine rationale Diskussion sowie Meinungs-und Willensbildung verhindert, begünstigt der Dialog zwischen verschiedenen politischen Gruppierungen kritisch-rationales und differenzierendes Denken. Während das Freund-Feind-Denken das geistige Niveau der an einer sterilen Polemik Beteiligten senkt, fordert der Dialog von allen Teilnehmern, ihre eigene Position kritisch weiterzuentwickeln und auf eine höhere intellektuelle Ebene zu heben. In dem Maße aber, in dem die DialogPartner ihre unterschiedlichen Positionen auf eine höhere Ebene heben, nähern sich diese unterschiedlichen Positionen einander im Sinne Teilhard de Chardins an; denn „alles, was steigt, konvergiert".
Nur auf dem Wege einer progressiven Konvergenz, die liberale, radikaldemokratische und parlamentarisch-repräsentative Elemente zu einer neuen, höheren politischen Qualität verbindet, kann jene einheitliche politische Kraft entstehen, die die politische Stagnation zu überwinden vermag und mit einem politischen Kurswechsel die evolutionäre Veränderung der Gesellschaft in Richtung auf das revolutionäre Ziel der Emanzipation aller Menschen einleitet. Die dialektische Einheit dieser drei Elemente ist notwendig für die Verteidigung und für den Fortschritt unserer Demokratie. Bleiben diese drei Faktoren der Demokratie isoliert, dann bleiben sie praktisch wirkungslos, konvergieren sie aber, dann bleiben die antidemokratischen Tendenzen erfolglos. Gegenwärtig haben die politischen Kräfte, die in den entscheidenden Institutionen der Parteiendemokratie über die Mehrheit verfügen, weitgehend den Gedanken aufgegeben, die Gesellschaft bewußt im Interesse fortschreitender Emanzipation aller Menschen zu verändern. Diejenigen dagegen, die sich noch oder wieder zur emanzipatorischen Intention der Demokratie bekennen, verzichten resigniert, auf die Institutionen Einfluß zu nehmen, die politische Ideen in politische Praxis umzusetzen vermögen.
Wenn der politisch richtige Wunsch der APO, eine unabhängige politische Kraft darzustellen und sich qualitativ von den Institutionen und Verfahrensweisen der Parteiendemokratie zu unterscheiden, zur sektiererischen Isolierung führt, wenn die APO die Institutionen der bestehenden Demokratie grundsätzlich ablehnt und darauf verzichtet, auf sie Einfluß zu nehB men, dürfte sich ihre geschichtliche Leistung darin erschöpfen, die Gesellschaft nur in Gedanken zu verändern. Die Aktionseinheit zwischen den drei entscheidenden Oppositionsfaktoren (LIPO, APO, IPO) könnte dagegen mit Hilfe dieser Gedanken die Gesellschaft wirklich verändern. Wenn sich die APO nicht grundsätzlich gegen die Institutionen der parlamentarisch-repräsentativen Parteiendemokratie richtet, sondern vor allem gegen die falschen politischen Entscheidungen, die in ihnen gefällt werden, wenn sie diese Institutionen nicht pauschal beseitigen will, sondern durch Unterstützung der innerparteilichen Oppositionen dazu beizutragen versucht, daß in ihnen bessere Entscheidungen gefällt werden, dürfte in der Geschichte der Bundesrepublik erstmals eine reale Chance entstehen, eine grundsätzliche Neuorientierung vorzunehmen und auch die notwendigen institutioneilen Reformen einzuleiten.
Doch auf welche Weise ist diese Konvergenz-Konzeption zu verwirklichen? Einerseits ist die Mitarbeit der rebellierenden jungen Generation eine Voraussetzung für diese Konvergenz, andererseits aber sind überzeugende Fortschritte auf diesem Wege notwendig, um überhaupt breitere Kreise der jungen Generation für diese Mitarbeit zu gewinnen.
Diese Konzeption bietet auch der LIPO einen Ansatz, ihren verlorenen Einfluß auf die junge Generation zurückzugewinnen — vorausgesetzt, daß sich ihre Vertreter selbst stärker von den Gedanken dieser Generation beeinflussen lassen und die Gründe erkennen, aus denen sie sich enttäuscht von der liberalen Opposition abgewendet hat. Die LIPO hatte einst Einfluß auf die junge Generation, weil sie politische Ideen und Alternativen diskutierte, die die Parteien'nicht auszusprechen wagten. Sie verlor diesen Einfluß, weil diese Ideen und Alternativen politisch nicht durchgesetzt wurden. Sie könnte den verlorenen Einfluß zurückgewinnen, wenn es ihr gelänge, überzeugend nachzuweisen, daß die junge Generation selbst durch kritische Mitarbeit in den Parteien dazu beitragen könnte, eine neue, progressive Politik durchzusetzen. Wer aber die ablehnende Haltung der jungen Generation gegenüber den Parteien ändern will, muß zunächst die Parteien ändern. Wollen die Anhänger der liberalen publizistischen Opposition helfen, die Parteien zu ändern, müssen sie zunächst ihr eigenes Verhältnis zu den Parteien ändern und bereit sein, sich selbst organisatorisch in den Parteien zu engagieren, um ihre Kritik und ihre Ideen im Bereich der politischen Entscheidungen wirksam werden zu lassen. Es genügt nicht, wenn Günter Grass als parteiloser Intellektueller beharrlich für eine Partei wirbt und hinzufügt, er sei aber ein kritischer Wähler dieser Partei. Nicht Kritik an den Parteien, sondern Kritik in den Parteien, nicht „kritische Wähler", nur kritische Mitglieder können die Parteien so verändern, daß sie für die kritische Jugend attraktiv werden. Nicht neue Wählerschichten gilt es für die Parteien zu gewinnen, sondern neue Mitgliederschichten. Denn selbst wenn sich in den Parteien nichts ändert, werden sie weiterhin die nächsten Wahlen „gewinnen", aber sie werden die nächste Generation verlieren.
Gegenwärtig sind die Parteien nicht zuletzt deshalb intellektuell so wenig attraktiv und geistig so steril, weil gerade jene Kräfte, die ihnen eine größere geistige Anziehungskraft und Beweglichkeit verleihen könnten, sich aus einem gewissen geistigen Hochmut für zu gut dünken, um in den Parteien mitarbeiten zu können. Sie fühlen sich dann gerade von jenen Erscheinungen in den Parteien abgestoßen, die sie selbst mitverschuldet haben, weil sie das anstrengende organisatorische Engagement scheuen und daher in den Parteien den Einfluß jener Kräfte stärken, die das anstrengende geistige Engagement scheuen und für nutzlosen, ja sogar schädlichen Ballast halten. Sie glauben, ihr kritisches Denken und ihre geistige Unabhängigkeit am besten vor dem lähmenden Druck mächtiger Organisationen und Apparate zu schützen, wenn sie ihre organisatorische Unabhängigkeit bewahren. Sie übersehen dabei aber, daß in einer hochorganisierten Gesellschaft kritisches Denken und geistige Unabhängigkeit nicht nur ohnmächtig und ohne Wirkung bleiben, sondern auch ernsthaft bedroht werden, wenn sich in diesen Organisationen nicht kritisch denkende und geistig unabhängige Persönlichkeiten engagieren. Um kritische Menschen für die Parteien zu gewinnen, darf man nicht nachzuweisen versuien, daß die Parteien ihre berechtigten Interessen so gut vertreten, daß sie sich getrost anderen Dingen als der Politik widmen können. Es ist vielmehr glaubhaft zu machen, daß Parteien Institutionen unserer Demokratie sind, die allen kritischen und politisch interessierten Staatsbürgern die Möglichkeit bieten, an einem politischen Meinungs-und Willensbildungsprozeß teilzunehmen, politischen Einfluß auszuüben, die gewählten Repräsen31 tanten zur Rechenschaftslegung zu verpflichten und zu zwingen, ihr politisches Verhalten rational zu begründen und in Frage stellen zu lassen. Das heißt, es ist zu zeigen, daß die Parteien im Rahmen einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie Elemente radikaler, direkter Demokratie sind, daß also aktive und kritische Mitarbeit in den Parteien geeignet ist, den Gegensatz zwischen parlamentarisch-repräsentativer Parteiendemokratie und radikaler Demokratie dialektisch aufzuheben und auf diese Weise Demokratie optimal zu verwirklichen und permanent zu erweitern.
Es ist die Aufgabe derjenigen, die die Parteiendemokratie gegen die radikale Kritik verteidigen, anhand der politischen Praxis der Parteien nachzuweisen, daß Parteien nicht nur „Herrschaftsinstrumente oligarchischer Macht-eliten" sind, sondern daß die kritische Mitarbeit der politisch interessierten Mitglieder die Oligarchisierungstendenzen der bürokratischen Apparate zu überwinden vermag. Wollen die Anhänger der L 1PO die junge Generation für die Mitarbeit in den Parteien gewinnen, dann müssen sie sich selbst den Beschwernissen einer solchen Mitarbeit aussetzen und nachweisen, daß Liberale nicht nur als einflußlose Aushängeschilder in den Parteien geduldet werden, sondern daß sie in der Lage sind, das geistige Klima und die innere Struktur in den Parteien zu ändern.
Darüber hinaus ist die innerparteiliche Demokratie, die erst durch die kritische Mitarbeit der Mitglieder zu verwirklichen ist, durch ein neues Parteiengesetz rechtlich zu sichern. Ein solches Parteiengesetz müßte vor allem den Minderheiten Rechtsschutz gegen administrative Maßnahmen der Vorstände gewähren und klarstellen, daß Parteien Institutionen des öffentlichen Rechts sind und nicht Privateigentum der jeweiligen Vorstände, die das Haus-recht besitzen und nach Belieben jeden aus der Partei hinauswerfen können, der ihnen mißfällt oder ihre Machtposition in Frage stellen könnte.
Die Demokratisierung der inneren Strukturen der Parteien steht in engem Zusammenhang mit dem notwendigen politischen Kurswechsel, da ja die gegenwärtigen Mehrheitsflügel gerade mit Hilfe hierarchischer Strukturen diesen Kurswechsel zu verhindern versuchen. Ausgangspunkt für diesen Kurswechsel ist die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der DDR. Gelingt es den innerparteilichen Oppositionen, diese Einsicht in den Parteien durchzusetzen und damit die Grundlage für eine zielstrebige progressive Politik zu schaffen, hat sich nachträglich die publizistische Arbeit der LIPO als sinnvoll und erfolgreich erwiesen, obwohl sie jahrelang offensichtlich ohne politische Konsequenzen geblieben war. Die Kritik an der sogenannten Wiedervereinigungspolitik vermochte zwar nicht das Verhalten der Regierungen zu ändern; aber es ist ihr gelungen, die Meinung breiter Kreise der Bevölkerung zu ändern, so daß schon über 50 °/o der Bevölkerung die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der DDR nicht mehr grundsätzlich ablehnen. Daher hat die LIPO eine unentbehrliche Voraussetzung für einen konsequenten politischen Kurswechsel geschaffen, nämlich das Verständns der Bevölkerung für eine neue Politik. In dem Maße, in dem es der LIPO gelingt, durch systematische Diskussionen die politische Sinnlosigkeit und Schädlichkeit der Nichtanerkennungspolitik noch überzeugender nachzuweisen, vergrößert sie auch innerhalb der Parteien den Einfluß jener Politiker, die ebenfalls nach neuen Wegen suchen, und hilft damit den innerparteilichen Oppositionen, schneller die Mehrheit zu gewinnen.
Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und der DDR ist auch der Ansatzpunkt für progressive innenpolitische Veränderungen sowohl in der Bundesrepublik und in Westeuropa als auch in der DDR und in Osteuropa, und zwar für Veränderungen, die eine friedliche Über-windung des Ost-West-Konfliktes durch Konvergenz der beiden Systeme ermöglichen. Bisher hat dagegen gerade die Nichtanerkennungspolitik der Bundesrepublik den progressiven Tendenzen in Osteuropa geschadet, weil sie ja die Möglichkeit der Konvergenz absolut negiert und daher den Dogmatikern im Osten wichtige Argumente gegen die Anhänger der Liberalisierung liefert. Langfristig haben in Osteuropa die Kräfte, die sich für eine Synthese von Sozialismus und Freiheit einsetzen, nur dann eine Chance, wenn ihnen eine entsprechende konvergierende Entwicklung aus Westeuropa entgegenkommt.
Gerade die junge Generation wäre für eine politische Konzeption zu gewinnen, die sich die friedliche Überwindung des Ost-West-Gegensatzes durch progressive innenpolitische Veränderungen in Ost und West zum Ziel setzt; denn das moralische Engagement für die hungernden Völker der Dritten Welt ist nur materiell zu realisieren, wenn wir zunächst den Ost-West-Konflikt abbauen, der die Mittel verschlingt, die wir für eine wirksame Hilfe an die Dritte Welt brauchen.