Der Revolutionär neuen Typs
Die Geschichte der Rezeption von Gandhis politischen Theorien ist eine Geschichte von Mißverständnissen. Der Rädelsführer gewaltfreier Aufstände und der Vorkämpfer eines „gewaltfreien Sozialismus"
Gandhis politische Theorie ist in erster Linie eine Methodenlehre der Konfliktaustragung. Er wies immer wieder auf den Zusammenhang zwischen der revolutionären Methode und dem mehr oder weniger demokratischen Ergebnis hin: „Ich habe Carlyles , Geschichte der Französischen Revolution'gelesen, während ich im Gefängnis war und Pandit Jawaharlal (Nehru — Th. E.
Gandhi, der Kritiker gewaltsamer Revolutionäre, hatte mit diesen die Zielsetzung, die sie so oft verfehlten, gemein; er nannte sie „Sarvodaya". Die Übersetzung dieses Begriffes mit „Wohlfahrt für alle" paßt etwas zu gut in den Rahmen westlicher Konsumentenideologien. Gemeint ist mit „Sarvodaya" die Aufhebung der Herrschaft des Menschen über den Menschen in einer gewaltfreien Demokratie, die nicht länger dem Trend zur Profitmaximierung und Machtkonzentration folgt, sondern in der allseitigen Entwicklung des Individuums ihr Grundgesetz sieht und die den Dienstleistungen den Vorrang vor dem Konsum gibt
Der „praktische Idealist" Gandhi hatte mit den idealistischen gewaltsamen Revolutionären aber nicht nur die Zielsetzung gemein. Seine Methode des gewaltfreien Aufstandes hatte dieKritik sozialfriedlicher Verschleierungsideologien und die Analyse von Herrschaftssystemen zur Voraussetzung. Nachdem er während des Zweiten Weltkrieges „Das Kapital" von Marx und auch Schriften von Engels, Lenin und Stalin gelesen hatte
Um in dieser Lage seine Utopie des „Sarvodaya" zu realisieren, hat er allen gewaltsamen revolutionären Traditionen und allen Sanktionsdrohungen der Herrschenden zum Trotz seine Strategie der gewaltfreien Aktion entwickelt, die mit Hilfe von Protestdemonstrationen, von Nicht-Zusammenarbeit, zivilem Ungehorsam und zivilen Usurpationen an die Stelle der ultima ratio regis, der Macht der Herrschenden und Herrsüchtigen, eine von unten kommende Macht, die gewaltfreie ultima ratio populi, gesetzt. In der organisatorischen und geistigen Entwicklung dieses gewaltfreien Volksaufstandes, im „Dienst an Gott durch den Dienst an den stummen, manipulierten Millionen (dumb millions)"
Um es zu verstehen, müßte man sich darauf einlassen, Gandhis Praxis im Detail und von Tag zu Tag zu verfolgen, da man ihn sonst leicht vorschnell und eklektizistisch im Rahmen der eigenen, alteingefahrenen Denk-und Handlungsgewohnheiten interpretiert. Ein Essay über Gandhis politische Theorie der gewaltfreien Aktion kann darum nur ein Anreiz zum Studium, allenfalls eine Orientierungshilfe sein, auf keinen Fall aber ein Ersatz für das Monate, Jahre oder ein Leben lang währende Verfolgen und kritische Fortführen seiner „Experimente mit der Wahrheit"
Ein solches intensives Studium von Gandhis Werk ist sehr selten unter Staatsmännern und Revolutionären. Zwei der Ausnahmen sind Kwame Nkrumah und Martin Luther King. Der ghanesische Politiker, der sich nur eklektizistisch seiner Kampftechniken bedient hatte und sich nach ersten politischen Erfolgen von Gandhis Lehren weit entfernte, schreibt in seiner Autobiographie: „Zunächst konnte ich mir keineswegs vorstellen, wie Gandhis Philosophie des gewaltlosen Widerstandes irgendeine Aussicht auf Erfolg haben sollte. Sie schien mir ein äußerst schwaches Mittel, dem jede Hoffnun auf Erfolg abzusprechen war. Die Lösung (Hervorhebung — K. N.) sah, lag in der bewaffneten Erhebung. Aber wie ist es möglich, so fragte ich mich damals, eine Revolution durchzuführen ohne Waffen und ohne Munition? Nachdem ich Gandhis Taktik monatelang studiert und ihre Erfolge genau beobachtet hatte (Hervorhebung — Th. E.), kam ich doch zu der Einsicht, sie wäre möglicherweise eine Lösung des Kolonialproblems, sofern eine starke politische Organisation sie stützte und trug."
Der amerikanische Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King hat im Unterschied zu Nkrumah nie aufgehört, Gandhis Lehren zu untersuchen und weiterzuentwickeln. In seinem autobiographischen Bericht über den Bus-Boykott von Montgomery schreibt er, daß er als Student im Anschluß an einen Vortrag über Gandhi ein halbes Dutzend Bücher über Gandhis Leben und Werk gekauft habe
Mittel und Ziele
Die Basis von Gandhis politischer Theorie ist: Unrecht, wo immer man es vorfinde, anzugreifen. Dabei sei Gewaltanwendung besser als Feigheit. „Ich glaube, daß ich da, wo nur die Wahl bliebe zwischen Feigheit und Gewalt, zur Gewalt raten würde . . . Dagegen glaube ich, daß die gewaltfreie Aktion der Gewalt unendlich überlegen ist."
Wenn man Menschen, die sich ungerecht behandelt fühlen, und deren Gedanken sich auf einen gewaltsamen Aufstand zu fixieren beginnen, aus diesem Gewaltdenken lösen will, gibt es grundsätzlich zwei Arten der Argumentation, mit der man sich nicht von vornherein desolidarisiert, wie etwa durch die Androhung von Sanktionen oder die Verschleierung der Unrechtsituation. Die erste, vor Gandhi so ausdauernd wie vergeblich gepflegte Art war die religiös-moralische Argumentation. Martin Luthers „Ermahnung zum Frieden" vor dem Bauernkrieg von 1525 dürfte wohl das bedeutendste Beispiel dafür sein, wie durch strenge Interpretation einer theologischen Schrift versucht wurde, potentielle Aufständische von Gewalttaten abzuhalten
Diese Methode des Appells an das Gewissen war Gandhi zwar auch vertraut, durch seinen nahen Umgang mit den jungen indischen Revolutionären hatte er jedoch erfahren, wie wenig Eindruck sie bei den Menschen machte, die zu allem bereit waren, wenn dadurch das revolutionäre Ziel erreicht zu werden versprach. Sie schienen von Leo Trotzkis Grundsatz auszugehen: „Wer ein Ziel anstrebt, darf die Mittel nicht verwerfen."
Gandhi stellte darum bei seiner Argumentation das allen gewaltsamen Aufständen gemeinsame Erfolgsstreben in Rechnung und setzte mit seiner Kritik nicht am sittlichen Wert der Gewalttat, sondern an deren schließlichem Erfolg an. Er hielt den gewaltsamen Revolutionären vor, es gebe ein die Geschichte bestimmendes Gesetz vom Zusammenhang zwischen Mitteln und Zielen: „Die Mittel kann man mit dem Samen vergleichen, das Ziel mit dem Baum, und der Zusammenhang zwischen Mittel und Ziel ist genau so notwendig wie der zwischen Samen und Baum."
Das politische Ziel mußte nach Gandhis Auffassung immer schon in den Mitteln sichtbar werden; ein Ding könne schließlich nur durch dieselben Mittel erhalten werden, mit denen es erlangt wurde. „Ein Ding, das mit Gewalt erlangt wurde, kann nur mit Gewalt erhalten werden."
Nicht nur in der Kontinuität einmal begonnener militärischer Auseinandersetzungen und ihren eskalierenden Opfern sah Gandhi einen Grund für die Befürwortung gewaltfreier Kampfmethoden, er meinte auch, einen Zusammenhang zwischen dem Charakter eines Regierungssystems und den Methoden, die zu seiner Errichtung führten, herstellen zu können: „Ich halte fest an der Ansicht, daß die Demokratie nicht mit Zwangsmethoden entwickelt werden kann. Der Geist der Demokratie kann nicht von außen aufgepfropft werden, er muß von innen herauskommen."
Hier ist Gandhi in seinem Denken konkreter als manche Vertreter der weltweiten studentischen Rebellion. Seiner Auffassung nach ist die Unterscheidung von „unterdrückender (repressiver) und befreiender (emanzipierender) Gewalt"
Kritik der revolutionären Gewalt
Gewaltanwendung, von welcher Gruppe sie auch erfolgt, bedeutet für diese Gruppe immer, daß sie ihren eigenen Standpunkt als richtig verabsolutiert und in ihr die Willensbildungsprozesse hierarchischer Strukturen folgen. Diese Behauptung widerspricht dem Selbstverständnis gewaltsamer Revolutionäre, aber nicht dem empirischen Befund. Eine spontane oder geplante Gewaltanwendung hat als psychologische Voraussetzung die feste Überzeugung oder doch das starke Gefühl, vollständig im Recht zu sein und einem Gegner gegenüberzustehen, der genauso vollständig im Unrecht und darüber hinaus nahezu unbelehrbar ist. Dies entspricht selten oder nie den tatsächlichen Verhältnissen, und die auf ihr „Bewußtsein" pochenden Revolutionäre müßten sich eigentlich eingestehen, daß man selbst bei sorgfältigstem Bemühen um eine Analyse der Lage im Endergebnis nur über ein partielles Wissen verfügen und damit unvermeidlich auch zu Fehlurteilen kommen kann. Wird erst einmal Gewalt angewandt, wird für deren Träger die Versuchung fast unüberwindlich, auch die sympathisierenden Kritiker dieser Aktio-nen mit eigenen Machtmitteln zum Schweigen zu bringen, was zu pathologischen Lernprozessen in der gewaltausübenden Gruppe führt, weil wichtige Informationen nicht länger ausgenommen werden.
Es sprechen aber nicht nur psychologische Gründe gegen die Hoffnung auf eine befreiende Wirkung der Gewalt. Die Vorbereitung revolutionärer gewaltsamer Aktionen muß auch in formaldemokratisch verfaßten Staaten zum Eingreifen der Behörden oder zur gewaltsamen „Selbstschutzmaßnahmen" konservativer Kreise führen. Diese Reaktion zwingt die Protagonisten gewaltsamer Aktionen zur geheimen Vorbereitung ihrer Unternehmungen und zu Schutzvorkehrungen gegen Spitzel und in der Konsequenz bald zu einer Untergrundorganisation. Alle Erfahrungsberichte aus solchen Organisationen zeigen aber, daß sie ohne eine streng hierarchische Gliederung, ohne strikte Ausrichtung am Befehls-Gehorsams-Verhältnis und ohne ein hohes Maß von Mißtrauen jedes gegen jeden nicht beste-hen und handeln können
Von den Befürwortern gewaltsamer Revolutionen, also in erster Linie von den Anhängern Mao Tse-tungs und Che Guevaras wird allerdings das genaue Gegenteil behauptet: „Eine Partisanengruppe kommt ohne Hierarchie aus; nicht militärische Ränge, sondern Vertrauen und gegenseitige Hilfsbereitschaft bestimmen das Verhältnis ihrer Mitglieder untereinander. Ihre Disziplin entspringt nicht einer vorgegebenen Autorität; Autorität ergibt sich jeweils aus der Situation und der Entscheidung, wie sie zu bewältigen sei. Eine solche Regelung der menschlichen Beziehungen nimmt bereits das Ziel der Revolution vorweg — eine auf die Maximen der Vernunft gegründete, egalitäre Gesellschaftsordnung. Die führend am Partisanenkampf Beteiligten erfahren dabei eine Einübung in Demokratie, die die Revolution nach dem militärischen Sieg vor einer Entfremdung zwischen Staatsmacht und Volk bewahrt."
Nur empirische Untersuchungen, die vom Studienobjekt her sehr schwierig sind, könnten zu einer Klärung und evtl, zu einer Umfunktionierung dieser angeblichen Maoisten führen, gegen deren Erwartungen von der erzieherischen Funktion einer Partisanenbewegung prinzipiell nichts einzuwenden ist. Gandhi würde diesen Anhängern von Mao und Che nur erwidern, daß ihre Erwartungen allenfalls in einem gewaltfreien Aufstand, nicht aber in einem Guerillakampf realisiert werden könnten. In der algerischen Befreiungsarmee hat es eine klare militärische Hierarchie 'gegeben, in der nationalen Befreiungsfront in Süd-Vietnam gibt es sie heute zweifellos, und selbst in der überschaubaren Kampfgruppe Che Guevaras in Bolivien gab es keine demokratischen Willensbildungs-und Abstimmungsprozesse, sondem Che hatte den eindeutigen Oberbefehl
Auch in gewaltfreien Kampagnen gibt es führende Persönlichkeiten oder Führungsgruppen, aber im Unterschied zu den Autoritäten in Guerilla-Armeen oder Untergrund-Organisationen sind sie durch Beratungen, Abstimmungen und Wahlen einer regelmäßigen Kontrolle von unten unterworfen, und außerdem verfügen sie über keinerlei Sanktionen, um den Austritt Kampfunwilliger aus der Aufstandsbewegung zu unterbinden. Ihre Aktionen sind insofern ein „Plebiscite de tous les jours", was man von Guerillakämpfen auf Grund der gewaltsamen Sanktionen der Guerillas
Als Kenneth Kaunda, der spätere Ministerpräsident von Sambia, im März 1963 gefragt wurde, warum er sich den algerischen Befreiungskrieg nicht zum Vorbild nehme, erklärte er: „Wenn wir gewaltsam kämpfen würden und in ein oder zwei Jahren das durchsetzten, was wir wünschten, so hätten wir den Samen des Zweifels in unser Land gesät. Diejenigen, welche nicht mit uns übereinstimmten, hätten ein Vorbild politischen Verhaltens. Sie würden versuchen, einen Umsturz zu organisieren . . . Die Geschichte zeigt zu mehreren Malen, daß die Methode, die einer anwendet, um ein Ziel zu erreichen, oft genau die Methode ist, mit der andere Leute versuchen, ihm die Macht zu entreißen."
Gewaltanwendung und Geheimhaltung führen unweigerlich zu Mißtrauen, Korruption und Brutalität in einer Kampforganisation. Ein wichtiges Zeugnis für solche Prozesse sind die Memoiren von Vera Eigner, einem Mitglied der russischen Terroristenorganisation „Narodnaja Volja", die zwar auf die Solidarität und heroische Opferbereitschaft in kleinen revolutionären Kampfgruppen hinweist, dann aber doch nicht verschweigt: „Gewalt als Mittel des politischen Kampfes ruft Verrohung hervor, weckt Raubtierinstinkte, veranlaßt zu schnödestem Vertrauensbruch."
Diese Verlängerung des Blicks in die Zukunft, der Hinweis auf die Neben-und Fernwirkungen gewaltfreier und gewaltsamer Maßnahmen war Gandhis wichtigste pädagogisch-revolutionäre Aufgabe. Sein erzieherisches Ziel war es, möglichst viele Menschen zu gewinnen, sich zunächst versuchsweise auf ein Experiment der gewaltfreien Aktion einzulassen und schließlich einen Bund von Menschen zu bilden, die nicht nur in offensichtlich erfolgversprechenden, sondern selbst in unübersichtlichen, ja verzweifelten Situationen mit gewaltfreien Methoden um eine gerechte Lösung des Konfliktes kämpfen würden; er nannte diesen harten Kern seiner Befreiungsbewegung „Satyagrahis", zu deutsch gewaltfreie Berufsrevolutionäre. Gandhi versprach sich von diesem unbedingten Entschluß, keinem Andersdenkenden gewaltsam zu begegnen, eine die Phantasie befreiende Wirkung. „Ohne ein festes Zutrauen zur gewaltfreien Aktion wird er (der Aufständische — Th. E.) im kritischen Moment nicht fähig sein, einen gewaltfreien Ausweg zu entdecken."
Die psychologische Grundsituation eines Satyagrahi läßt sich wohl am besten placieren zwischen dem Jesus-Wort „In der Welt habt Ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden"
Kampfkraft der gewaltfreien Aktion
Wer wie Nkrumah in der gewaltfreien Aktion zunächst nur ein „äußerst schwaches Mittel" sieht, der muß überrascht sein von Gandhis These, daß diese Aktionsform nicht etwa nur eine Vorstufe der gewaltsamen Revolution sei, die häufig schon zum Erfolg führe, sondern „ein vollwertiger Ersatz für den bewaffneten Aufstand" selbst
In gewaltfreien Aufständen, die Ersatz und nicht Vorspiel revolutionärer Befreiungskriege sein wollen, kommen zu den Protestdemonstrationen auch Zwangsmittel wie die organisierte Zusammenarbeit, die von der Niederlegung von Ehrenämtern bis zum Generalstreik oder zum umfassenden Boykott ausgewählter Waren oder bestimmter Geschäfte führen kann. Das stärkste Kampfmittel der gewaltfreien Aktion ist dann der zivile Ungehorsam oder die zivile Usurpation, bei der bestimmte Gesetze einer Regierung oder der Regierungsanspruch überhaupt demonstrativ mißachtet werden. Gandhi nannte hier als „eine der schnellsten Methoden, eine Regierung zu stürzen", die Steuerverweigerung
Um diesen Nachteil auszugleichen, wurden auch schon von Gandhi in indischen Agrarkampagnen, in noch stärkerem Maße aber von Danilo Dolci in Sizilien, in der italienischen und französischen Arbeiterbewegung und zur Zeit in einigen Studentenkampagnen Methoden des „aktiven" oder „umgekehrten" Streiks entwickelt
Gandhi ist vor radikalen Maßnahmen nicht zurückgeschreckt, hat jedoch seinen Landsleuten eingeschärft, daß nur wirklich „ziviles" Verhalten Überzeugungskraft besitze und den konstruktiven Anpassungsdruck ausübe. Nach der Ermordung mehrerer Polizisten durch aufgebrachte Inder im Februar des Jahres 1922 sah er sich gezwungen, dieses „zivile" Verhalten als „höflich, wahrheitsliebend, bescheiden, klug, hartnäckig, doch wohlwollend, nie verbrecherisch und haßerfüllt" zu präzisieren
Eine zivile Usurpation soll nicht nur das bisherige ungerechte System hindern, weiter zu funktionieren, sondern auch schon sichtbar machen: die gewaltfreien Aufständischen wollen kein Chaos, sie haben vielmehr präzise Vorstellungen einer funktionierenden Alternative. Gandhi hat nachdrücklich vor bloß paralysierenden Kampfmaßnahmen gewarnt: „Der zivile Ungehorsam ist ein Stimulans für die Kämpfer und eine Herausforderung für die Gegner ... Ohne die Mitarbeit von Millionen bei konstruktiven Bemühungen bleibt er jedoch im bloßen Abenteuertum (mere bravado) stecken und ist schlimmer als nutzlos."
Kalkuliertes Leiden
Der Hinweis auf die Kampfkraft gewaltfreier Aktionen wäre realitätsfremd, wenn er nicht durch Überlegungen über die Sanktionen der Gegner und den Möglichkeiten, diesen zu begegnen, ergänzt würde. Der Rechtsanwalt Gandhi hat Mitkämpfern zu Beginn von seinen gewaltfreien Kampagnen immer möglichst präzise „Kostenvoranschläge''zu machen versucht, wobei er grundsätzlich eher dazu neigte, die erforderliche Opferbereitschaft zu hoch als zu niedrig zu veranschlagen. Diese verantwortliche Kalkulation der Risiken vermißt man heute bei den studentischen Aktionen nicht nur in der Bundesrepublik, sondern — mit Ausnahme der Protestaktionen in den Ostblockstaaten — in der ganzen Welt. Zu vielen der Aktionen der außerparlamentarischen Opposition — insbesondere den sich hart am Rande der Gewalt bewegenden — wäre es nie gekommen, wenn die Sanktionen des „Establishments" richtig einkalkuliert worden wären.
Die Justizapparate, mit denen Gandhi sich in Südafrika und Indien konfrontiert sah, waren noch um einige Grade sanktionsfreudiger und vorbeugegläubiger als die entsprechenden Institutionen in den westlichen Demokratien. Wenn er darum trotz nüchternen Kalküls des Risikos zu illegalen Protestmärschen, zur Steuerverweigerung, zu Streik und zum revolutionären zivilen Ungehorsam aufrief und immer darauf bestand, daß man den Sanktionen sich nicht gewaltsam widersetzen dürfe, hatte das Gründe. In den letzten Jahren wurden diese Gründe nur in der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King
Gandhi wie auch Martin Luther King sahen der Konfrontation mit den Sanktionen der Herrschenden in dem entgegen, Bewußtsein daß freiwillige, ohne Haß getragene Opfer der Aufständischen für alle von dem Konflikt Betroffenen eine emanzipatorische Wirkung haben würden. Gandhi hatte die Erfahrung gemacht, daß man als Politiker nicht nur den Verstand, sondern auch das Gefühl ansprechen müsse. So wurde er von den englischen Kolonialherren zwar in vielfacher Hinsicht diffamiert, aber nie kam einer der englischen Vizekönige auf die Idee, ihn als „kaltschnäuzigen Revolutionär“ zu bezeichnen
Demonstranten, die bei gewaltsamen Übergriffen der Polizei oder rechts-extremer Gruppen der Bevölkerung nicht von ihrem (oft juristisch schwer nachweisbaren) Notwehrrecht Gebrauch machen, versuchen durch ihre Selbstdisziplin und ihre Opferbereitschaft, einer vielfach manipulierten Bevölkerung zu signalisieren, daß sie keine verantwortungslosen Chaotiker
Diese Bereitschaft zum freiwilligen Leiden, so kalkuliert sie auch sein mag, hat letztlich doch die Überzeugung zur Voraussetzung, daß es besser ist, selbst zu leiden, als andere leiden zu lassen, selbst zu sterben, als andere zu töten. Rational läßt sich eine solche Haltung wahrscheinlich nicht einsichtig machen. Es ist eine existentielle Grundentscheidung, die nur im Wagnis des Glaubens an die erlösende Kraft des Leidens, an die Theologie des Kreuzes erfolgen kann. Häufig halten sich die Sanktionen in Grenzen, so daß diese Entscheidung nicht allen in aller Deutlichkeit abverlangt wird. Gandhi meinte jedoch in späteren Jahren — nach manchen Enttäuschungen —, zwischen der „Gewaltlosigkeit der Schwachen" und der „Gewaltlosigkeit der Starken" unterscheiden zu müssen
Gandhis Modifizierung des Klassenkampfes
Gandhi hat das Element des Opfers in seinen Kampagnen mehr betont als den Druck, den die gewaltfreien Aktionen der Satyagrahis ausübten. Er wußte, daß seine Gegner durch freiwilliges Leiden allein nicht zu überzeugen waren; durch Nichtzusammenarbeit und zivile Usurpationen mußten erst neue Machtverhältnisse geschaffen werden. Das freiwillige Leiden hatte dann eine doppelte Funktion: Einerseits sollte es beim Gegner emotionale Barrieren gegen eine Veränderung der sozialen Strukturen durchbrechen, und andererseits sollte es emotionale Hemmungen gegen eine volle Anwendung aller Sanktionsmittel aufbauen. Überzeugung (conversion) und Zwang (coercion) sind also beides unverzichtbare Bestandteile einer gewaltfreien Kampagne. Verläßt sich eine Kampagne allein auf das Moment der Über-zeugung, läuft sie Gefahr, das Beharrungsinteresse der Herrschenden zu unterschätzen und in naiven Appellen zu versanden; baut eine Kampagne allein auf die Zwangsmittel der gewaltfreien Aktion, läuft sie umgekehrt Gefahr, unversehens zum Freund-Feind-Denken überzugehen, das die Politik als ein Null-Summen-Spiel begreift. Man nimmt dann an,daß der eigene Vorteil immer einem gleich großen Nachteil des Gegenspielers entsprechen müsse, „überzeugen" heißt aber, ihm klarmachen, daß die konstruktiven Alternativen der Aufständischen auch in seinem Interesse als eines die Emanzipation suchenden Wesens sind.
Mit der Entdeckung des freiwilligen Leidens als Faktor der revolutionären Veränderung hat Gandhi die marxistische Klassenkampftheorie in schöpferischer Weise fortgeführt und überwunden. Er sah die Rollenzwänge, denen die Herrschenden in einer kapitalistischen Gesellschaft ausgesetzt sind; er fixierte sie jedoch nicht auf eine bestimmte historische Charakter-maske. Er haßte seine Gegner nicht, weil er zwischen dem bekämpften politischen System und der geschätzten Person des Gegners zu unterscheiden gelernt hatte. In einem offenen Brief schrieb er im Juli 1921 an die Engländer in Indien: „Ich habe gefunden, daß der Mensch mehr wert ist als das System, das er entwirft. Und so weiß ich denn auch, daß ihr als einzelne genommen unendlich besser seid als das System, das Ihr als Gesamtheit entwickelt ... Hier in Indien gehört jeder einem System an, dessen Niederträchtigkeit gar nicht zu beschreiben ist. Es ist mir deshalb möglich, das System in den schärfsten Ausdrücken zu verurteilen, ohne Euch deshalb für schlecht zu halten und ohne jedem Engländer schlechte Absichten zu unterschieben. Ihr seid ebensosehr Sklaven des Systems wie wir."
Die Strategie Gandhis zielte darauf ab, mit gewaltfreien Kampfmaßnahmen das unrechte System funktionsunfähig zu machen und gleichzeitig eine konstruktive Alternative anzubieten. Die Veränderung der Umwelt durch Nicht-zusammenarbeit und zivile Usurpationen sollte für die angeblichen Charaktermasken neue Rollen schaffen, die sie unter Druck und Appell ergreifen konnten. Daß sich eine solche Umfunktionierung sozialer Institutionen nicht schlagartig, sondern zögernd und in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen mit unterschiedlicher Intensität vollzieht, versteht sich von selbst. Diese neue Form des gewaltfreien Klassenkampfes beziehungsweise die Überwindung der Klassengesellschaft ist nicht als ein revolutionärer Coup, sondern als „langer Marsch durch die Institutionen" (Rudi Dutschke) zu begreifen
Gandhi und die außerparlamentarische Opposition
Die Rebellion der Studenten, Schüler und jungen Arbeiter, die nach dem 2. Juni 1967 so vehement in der Bundesrepublik einsetzte, schwankt in ihren Methoden zwischen Martin Luther King und Che Guevara. Einerseits orientiert sie sich in ihren Kampftechniken an der amerikanischen Bürgerrechts-und Studenten-bewegung
Einzelne Studentengruppen, vor allem aus den evangelischen und katholischen Studentengemeinden, dem Liberalen Studentenbund und dem Sozialdemokratischen Hochschulbund, ha-jen seit dem 2. Juni immer wieder versucht ind versuchen es noch, mit einer bewußt gewaltfreien Strategie soziale Wandlungen hereizuführen. In der Vergangenheit haben sie ich mit ihren Argumenten auch zumindest so veit durchsetzen können, daß die „emanzipaorische Gewaltanwendung" Ausnahmeirscheinung blieb. Dies galt bis zum Attentat luf Rudi Dutschke am Gründonnerstag 1968. lei den dann folgenden Demonstrationen rannten in einigen, keineswegs aber in allen Jtädten der Bundesrepublik die argumentatiren Sicherungen gegen die Gewalt erstmals lurch.
Die Aktionen gegen die Notstandsgesetze waen dann wieder weit disziplinierter als die sterdemonstrationen. Die Enttäuschung über len unzulänglichen Erfolg der Demonstratioen gegen die Notstandsgesetze war groß. Sie nußte es sein, weil die Notstandsgesetze mit Agitprop-Methoden dem Ermächtigungsgesetz [leichgesetzt wurden und weil die Situation ach der Verabschiedung der Notstandsgesetze ron den Chief Whips der Protestierenden nicht jffentlich erörtert worden war
Das Versäumnis der auch vom damaligen Jutizminister Heinemann befürworteten Amnetie, die Erbitterung über die im Herbst 1968 rerstärkt einsetzenden Gerichtsverfahren und ie fehlende Reformbereitschaft an den Univeritäten führten schließlich dazu, daß die gevalttätig-militanten Gruppen auf die Mehreitsverhältnisse in der außerparlamentarichen Opposition und die Unterstützung der liberalen keine Rücksicht mehr nahmen, sonlern isoliert agierten. Das Durchschnittsalter hrer Anhänger lag dann im Winter 1968/69 im etwa drei bis fünf Jahre niedriger als das Alter der Demonstranten beim Trauerzug für Jenno Ohnesorg. iese Entwicklung läßt sich zumindest in Berlin ind wahrscheinlich auch in Frankfurt und einien weiteren Universitätsstädten nicht mehr ückgängig machen. Es dürfte in diesen Städen für Befürworter von Gandhis Strategie der ozialen Veränderung heute, im Frühjahr 1969, iemlich aussichtslos sein, in studentischen Versammlungen oder auf irgendwelchen Kordinierungssitzungen von Organisationen der ußerparlamentarischen Opposition sich für ine Strategie der gewaltfreien, direkten Akion einzusetzen. Auch wenn sie Gehör finden sollten, wird dies doch kaum verhindern, daß bei der nächsten Konfrontation mit der Polizei oder im Anschluß an eine gewaltlose Demonstration die militant-gewalttätigen Gruppen wieder auf eigene Faust handeln und der Presse die Schlagzeilen liefern werden.
Unter diesen Bedingungen ist es für die Befürworter von Gandhis Konzeption der direkten Aktion eine Verschwendung der beschränkten Energien, wenn sie weiter versuchen, auf Demonstrationen und Kampagnen, die gerade auch die militant-gewaltsamen Gruppen anziehen, Einfluß zu gewinnen, um einen gewissen Erfolg zu sichern und „das Schlimmste zu verhüten". In einigen Städten der Bundesrepublik ist es für die gewaltfreien Aktiven notwendig, ihre Eigenständigkeit unter Beweis zu stellen und dabei den Avantgarde-Mythos des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes auf seinen realen historischen Gehalt hin zu konkretisieren und zu relativieren. Die gewaltfreien Aktiven werden in nächster Zeit gemäß eigenen Analysen und nach eigenen Plänen handeln müssen. Sie werden ferner zu Aktionsformen greifen müssen, die sich von ungebetenen militant-gewaltsamen Hilfsgruppen nicht „umfunktionieren" lassen.
Dieses neue Vorgehen verlangt, daß die gewaltfreien Aktiven vorläufig möglichst wenig auf die Straße gehen, und wo dies unvermeidlich ist, allenfalls ausgesuchte, im gewaltfreien Widerstand trainierte Leute es auf eine Konfrontation mit der Polizei ankommen lassen. Größere Umzüge und Massensitzproteste entfallen vorläufig als Kampfmittel. Bevorzugt können angewendet werden: das direkte Gespräch und die Mahnwache, das politische Happening und auch der Hungerstreik, der in der Bundesrepublik verschiedentlich kurzfristig versucht, aber noch keinem echten Test auf seine Wirksamkeit unterzogen wurde. Auch der zivile Ungehorsam und die zivile Usurpation durch ausgewählte Freiwillige sind möglich. Auf jeden Fall sollten spektakuläre direkte Aktionen durch konstruktive Vorschläge ergänzt werden, also durch Dokumentationen, Gutachten und Pläne funktionierender Alternativen.
Es wird sich beim Aufbau einer Bewegung für eine gewaltfreie, soziale Demokratie des „Sarvodaya" zunächst nur um Kaderaktionen handeln können, die eine hohe Opferbereitschaft vom einzelnen fordern. Auf diese Weise wird langsam eine profilierte gewaltfreie Alternative zu den militant-gewaltsamen Gruppierungen aufgebaut werden müssen. Solange die gewaltfreie Aktion nur theoretisch eine Alter-5 native zu den gegenwärtigen Formen des außerparlamentarischen Protestes ist, bleibt sie praktisch bedeutungslos und ist kaum mehr als ein Alibi für Liberale, die es nicht wagen, sich mit den Herrschenden auf einen Konflikt einzulassen.
Nur wenn die gewaltfreie Alternative sich in Gruppen darstellt, die „militant-gewaltfrei" handeln,
Direkte Aktion in der Konsumgesellschaft
Die Orientierung westdeutscher Jugendlicher an dem „halbnackten Fakir" Gandhi, von dem Winston Churchill 1931 verächtlich gesprochen hatte
Läßt sich sein Modell des genossenschaftlichen Ashrams sinngemäß auf die moderne Industriegesellschaft übertragen?
Eines ist zunächst zweifelsfrei: Gandhi würde noch viel schärfer als Vance Packard
Gandhi würde aber sicher noch einen Schritt weitergehen: Er würde für Investitionen auf dem Sektor der Sozialleistungen eintreten, die den Bedürfnissen der Menschen entsprechen und die nicht schon wieder eine „Vergeudung" in sich darstellen. Danilo Dolci hat in West-Sizilien im Sinne Gandhis solche staatlichen Fehlplanungen und Versäumnisse aufzudecken gewußt
Vorstufe von „Sarvodaya" würde bedeuten: Förderung von Erziehung und Unterricht, Ausbau der Straßen und Verkehrsmittel, Beseitigung der „Unwirtlichkeit unserer Städte"
In der parlamentarischen Demokratie kann der Bürger eine Verschiebung des Schwergewichts der Investitionen vom Konsum-auf den Sozialleistungssektor auf einem direkten und auf einem indirekten Weg vornehmen. Er kann indirekt etwas zu ändern suchen, indem er auf gut Glück eine von mehreren Parteien wählt, oder er kann direkt von seinem (Aus-) Wahlrecht als Konsument Gebrauch machen. Es mag zwar „geheime Verführer" geben
Weigert der Bürger sich als Christ, vor Weihnachten oder Ostern für die Hälfte oder ein Viertel seines Monatsgehaltes Geschenke zu kaufen, und investiert er diese Gelder über „Adveniat" oder „Brot für die Welt“ in die Entwicklungshilfe, so trifft er damit ein Wirtschaftssystem, das die private Profitmaximierung als Grundgesetz hat, empfindlich. Der stockende Absatz zwingt die Regierung, die eine Arbeitslosigkeit vermeiden muß, zu planenden Eingriffen in die „freie Marktwirtschaft" und fast unvermeidlich auch zu Investitionen auf dem Dienstleistungssektor. Sie kann die Wirtschaft wieder beleben, indem sie Schulen und Forschungsinstitute baut, die erforderliche Anzahl von Lehrern und Universitätsdozenten und so viel Polizeibeamte einstellt, die für einen echten Dienst am Bürger erforder-lieh sind. Es gibt auf dem Dienstleistungssektor — selbst ohne die unumgängliche Entwicklungshilfe — ungeheuerliche Aufgaben: moderne, für die Resozialisierung geeignete Gefängnisse, einen umfassenden Gesundheitsdienst durch moderne Krankenhäuser, Kindergärten und Altenheime.
Die Erkenntnis, daß man die Regierung, wenn nicht an der Urne, so doch an der Kasse treffen könne, haben sich nicht nur die Inder um Gandhi mit dem Boykott englischer Baumwolltuche, sondern in jüngster Zeit auch die Neger in den USA und Südafrika zunutze gemacht. In den Südstaaten und in den Gettos des Nordens boykottierten die Neger bestimmte Firmen, um sie zu einer Aufhebung der Rassenschranken bei der Bedienung oder zur Einstellung einer angemessenen Anzahl von Farbigen zu zwingen. In Birmingham war im Jahre 1963 der Boykott der Geschäfte in der Innenstadt für die Kampfkraft der Neger vielleicht sogar noch wichtiger als die spektakulären Proteste in den Straßen. Als Martin Luther King 1965 in Chicago mit Massenmärschen keinen sozialen Wandel erzielen konnte, gelang es ihm und den Pfarrern von Chicago schließlich doch noch durch die „Aktion Brotkorb", eine selektive Boykottbewegung, mehrere weiße Firmen zu veranlassen, Farbige einzustellen
In den westeuropäischen Konsumgesellschaften hätte ein Boykott mit der Umfunktionierung vom profitablen Konsum in notwendige Sozialleistungen ein viel weitreichenderes Ziel als bei den Indern oder den Negern, und er wäre auch entsprechend schwerer zu organisieren. Einen sehr günstigen Ansatzpunkt würde aber wahrscheinlich eine langfristig vorbereitete Kampagne „Christliche Weihnacht" bieten, deren Konsumverzicht unmittelbar der Entwicklungshilfe zugute käme. Je sorgfältiger und umfassender die Kampagne vorbereitet wäre, desto überflüssiger wären spektakuläre Aktionen in den Straßen kurz vor Weihnachten. In Schweden wurde 1968 eine solche Kampagne improvisiert; die dortigen Störungen in Kaufhäusern waren Mätzchen, welche die Käufer gegen die Demonstranten in Harnisch brachten; und per Saldo haben sie nicht zu Buche geschlagen
Gewaltfreier Widerstand als Alternative zur militärischen Verteidigung
Die Unsicherheit der europäischen Pazifisten vor dem Problem, wie sie Gandhis Kampftechniken für ihre Ziele einsetzen könnten, erklärt sich nicht zuletzt auch daraus, daß sich Gandhi darüber lange selbst nicht im klaren war. Bis in die Mitte der dreißiger Jahre gab die Weltlage Gandhi noch keinen direkten Anlaß, über die Verwendbarkeit seiner Kampftechniken gegen eine auswärtige Aggressionsmacht oder einen innerstaatlichen Putschversuch nachzudenken (den Kapp-Putsch und den Ruhrkampf hat Gandhi nie kommentiert).
Die innerstaatliche Unterdrückung und die Expansionsbestrebungen des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus zwangen ihn jedoch, seine zunächst traditionell-pazifistische Friedenskonzeption durch eine neuartige Konzeption der Kriegführung zu ergänzen. Im Oktober 1935 näherte sich Gandhi anläßlich der italienischen Invasion in Äthiopien zum ersten Mal einer gewaltfreien Verteidigungspolitik, als er den Äthiopiern empfahl, nicht den Völkerbund um eine bewaffnete Intervention zu bitten, sondern den Invasoren die Zusammenarbeit zu verweigern
Im Mai 1938 hat Gandhi dann seine damals sich erst entwickelnden Vorstellungen näher ausgeführt, als er gefragt wurde, ob er den pazifistischen Standpunkt teile, daß „die Italiener sich geschämt und ihre Pläne aufgegeben hätten, wenn Abessinien einfach auf jeglichen Widerstand verzichtet und Italien zu allen Schandtaten freie Hand gegeben hätte"
In den Jahren 1938 bis 1940 wiederholte Gandhi seine Aufforderung, einer nun von Hitler-Deutschland her drohenden Invasion nicht mit Waffen, sondern ausschließlich mit gewaltfreien Widerstandsmethoden zu begegnen, noch mehrfach. Nach dem Münchner Abkommen (30. September 1938) und noch vor der vollständigen Besetzung der Tschechoslowakei durch Deutschland empfahl Gandhi, sich gewaltfreier Widerstandstechniken zu bedienen. Im Unterschied zu den englischen und französischen Pazifisten glaubte er nicht an den Erfolg der Appeasement-Politik. „Die Tschechoslowakei hat mir und uns in Indien eine Lehre zu erteilen. Die Tschechen haben nichts anderes tun können, nachdem sie sich von ihren beiden mächtigen Verbündeten verlassen sahen. Und doch wage ich die Behauptung, wenn die Tschechen den gewaltfreien Widerstand als Waffe zur Verteidigung ihrer nationalen Ehre anzuwenden gewußt hätten, wäre es ihnen möglich gewesen, der geballten Kraft Deutschlands und Italiens zu begegnen. Sie hätten es England und Frankreich erspart, demütig um einen Frieden nachzusuchen, der gar kein Friede ist."
Den gleichen Vorschlag einer gewaltfreien Verteidigungspolitik machte Gandhi den Engländern sogar noch im Juli 1940: „Ich fordere Euch auf, den Nazismus ohne Waffen zu bekämpfen, oder, wenn ich die militärische Terminologie beibehalten soll, mit gewaltfreien Waffen."
Diese Aufrufe blieben wirkungslos. Es gibt dafür mehrere Gründe, die erkannt werden mußten, bevor eine wirklichkeitsnahe Konzeption der gewaltfreien Verteidigung entwickelt werden konnte.
Die Aufrufe kamen nicht von Seiten der Regierung oder eines großen Verbandes, sondern von einem landfremden Außenseiter. Sie kamen auch so spät, daß zur Vorbereitung des Widerstands keine Zeit blieb. Gandhi, dem das Verständnis für die Unterschiede zwischen dem englischen Kolonialregime und totalitären Herrschaftsformen abging, versäumte es ferner, seiner allgemeinen Aufforderung zur gewaltfreien Verteidigung auch die konkreten, detaillierten Widerstandsvorschläge beizugeben, mit denen er in Südafrika und Indien auch diejenigen überzeugt hatte, die seiner politischen Doktrin skeptisch gegenüberstanden. Aus einigen skizzenhaften strategischen Andeutungen läßt sich sogar schließen, daß Gandhi gedanklich noch nicht scharf genug die gewaltfreie soziale von der territorialen Verteidigung unterschied, und nicht soziale Institutionen, sondern die territorialen Grenzen mit Hilfe des lebenden Walles einer „Friedensarmee" verteidigen wollte. Schließlich hat sich Gandhi mit seinen allgemeinen Ratschlägen zu wenig um die sozialen Strukturen gekümmert, welche die Basis der „sozialen Verteidigung" zu bilden haben. Er gab agrarischen Entwicklungsländern und Industriegesellschaften, sozialen Demokratien und autoritären Regimen untereinander austauschbare Verteidigungsrat-schläge. Durch seine allgemeinen Aufforderungen zur sozialen Verteidigung und durch den Anschauungsunterricht seiner Kampagnen gab Gandhi jedoch die weiterführenden Denkanstöße, welche von dem praktisch viel aufschlußreicheren Widerstand gegen den Kapp-Putsch und Ruhrkampf nicht ausgegangen waren.
Es ist nicht möglich, die vielfältigen Versuche von Pazifisten
King-Hall hatte mit seinem Buch die Forschung nur anregen wollen. Sein Vorschlag, eine Royal Commission zur Erarbeitung eines Gutachtens einzusetzen, wurde von der Regierung jedoch nicht aufgegriffen. King-Hall war es gelungen, die Konzeption der sozialen Verteidigung unter Sozialwissenschaftlern „hoffähig" zu machen, aber die Erarbeitung einer weniger flott skizzierten, dafür aber soziologisch, politologisch, volkswirtschaftlich und psychologisch besser begründeten Konzeption wurde von diesen Wissenschaftlern doch sogleich auch als so vielseitige und langwierige Aufgabe erkannt, daß es jahrelang niemand unternahm, sie ernsthaft aufzugreifen.
In den Jahren 1958 bis 1963 wurden zwar von norwegischen
Capt. B. H. Liddell Hart, Lehrmeister der „indirekten Strategie"
Die Forschungen der Oxforder Konferenz
Die verstärkte Beachtung von Gandhis Verteidigungskonzeption und das Anwachsen der Zahl der Kriegsdienstverweigerer sollte nicht als zufällige und vorübergehende Modeerscheinung abgetan werden. Es sind einige materielle und geistige Entwicklungstendenzen festzustellen, welche der tschechoslowakischen Form der gewaltlosen Verteidigung gegen einen Aggressor Modellcharakter geben.
Die Entwicklung der Technik hat für die Entwicklung der militärischen Verteidigungskonzeptionen eine Reihe von gravierenden Nachteilen gebracht:
a) Die Maximierung der Zerstörungskraft moderner Waffensysteme führt in nuklearen und konventionellen Kriegen zu Kosten, die sie absolut irrational machen.
b) Die Verteidigungsmaßnahmen sind im Kriegsfall unfähig, die Zivilbevölkerung vor den Kriegsauswirkungen zu schützen; es ist sogar anzunehmen, daß die Verluste unter der Zivilbevölkerung größer sein werden als unter den Soldaten.
c) Es gibt praktisch keine Verteidigung von Grenzen mehr; die modernen Trägerwaffen und motorisierten Verbände haben nach Ansicht von John Herz den Territorialstaaten ihre harte Schale genommen
Angesichts dieser Entwicklung gewinnt Gandhis konkrete Utopie der gewaltlosen Verteidigung den Charakter des historisch Notwendigen. Es drängt sich die Frage auf, ob die potentiellen Kriegsopfer nicht drastisch zu reduzieren wären durch eine Umstellung auf den zivilen Widerstand, ob man die geschichtlich überholte Trennung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten nicht bewußt aufgeben sollte, ob man statt Territorien nicht von vornherein nur soziale Strukturen verteidigen und nach einer Verteidigungskonzeption suchen sollte, welche souveränes Handeln auch kleineren Staaten wieder ermöglichen würde.
Für diese neue Form der zivilen, gewaltfreien und sozialen Verteidigung sprechen auch eine Reihe weiterer Entwicklungen in der industriellen Produktion im 20. Jahrhundert: a) Die industrielle Spezialisierung und der Ausbau der Bürokratie haben dazu geführt, daß die Inhaber bestimmter Positionen nicht einfach liquidiert und ersetzt werden können. Unter diesen Voraussetzungen wird die Nicht-zusammenarbeit beziehungsweise die „dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration"
Auf dem Felde des menschlichen Bewußtseins hat sich die Vorstellung der Gleichheit aller Menschen, die Idee der Volkssouveränität und der „einen Welt" so weit durchgesetzt, daß keine Regierung mehr hemmungslos diskriminieren, auf eine plebiszitäre Legitimation und die Rücksichtsnahme auf internationale Institutionen völlig verzichten kann. Schließlich bildet sich bei der Jugend ein antiautoritäres Bewußtsein heraus, das einen hierarchisch strukturierten Militärapparat und eine ihn ergänzende Notstandsgesetzgebung als Fremdkörper in einer demokratischen Gesellschaft empfindet. Mit dem Entstehen dieser neuen materiellen Bedingungen und Bewußtseinsinhalte ging schließlich — mit der üblichen Verzögerung — auch die Entwicklung der angemessenen gewaltfreien Kampftechniken und ihrer Strategie einher, die erst die maximale Nutzung der neuen sozialen Möglichkeiten angesichts der Kräfte der Beharrung ermöglicht. Gandhi gebührt das Verdienst, der wichtigste Pionier des „Kriegs ohne Gewalt" gewesen zu sein
Alles zusammengenommen scheint mir die Analyse der Entwicklungstrends der Produktivkräfte und der humanen Erwartungen den Schluß nahezulegen, daß Gandhis Konzeption einer zivilen, gewaltfreien und sozialen Verteidigung und deren keineswegs zufällige, spontane Realisierung in der CSSR