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Gandhi als Phänomen der indischen Politik | APuZ 24/1969 | bpb.de

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APuZ 24/1969 Gandhi als Phänomen der indischen Politik Gandhis Theorie der gewaltfreien Aktion

Gandhi als Phänomen der indischen Politik

Dietmar Rothermund

I. Die indische Politik vor dem Aufstieg Gandhis

Theodor Ebert: Gandhis Theorie der gewaltfreien Aktion

Der Indische Nationalkongreß, der später unter Gandhis Führung zu einer mächtigen Organisation werden sollte, war in seiner Anfangszeit nur eine jährliche Versammlung westlich gebildeter indischer Honoratioren, die sich damit begnügten, wohlformulierte Resolutionen zu verabschieden. Es ging diesen Vertretern der Bildungsschicht zunächst nur um Verfassungsreformen im Rahmen des britisch-indischen Reiches. Aber es meldeten sich auch schon Stimmen, die kompromißlos ein Ende der Fremdherrschaft forderten und zur Rückbesinnung auf die indische Kultur aufriefen. Gandhis Zeitgenossen Aurobindo und Vivekananda, die in weit jüngeren Jahren politische Bedeutung errangen als er, verbanden die Forderung nach politischer Freiheit mit der Botschaft der religiösen Erneuerung und fanden eine Gefolgschaft unter den zornigen jungen Männern der Bildungsschicht, denen die Kolonialherren den Aufstieg verwehrten. Diese junge Generation hielt die alte Garde des 1885 gegründeten Nationalkongresses für allzu zahm und hatte kein Verständnis für die zähen Bemühungen um einen langsamen Fortschritt im engen Rahmen der britisch-indischen Verfassungsstruktur. Die Bindung an diese Verfassungsstruktur schien die Fessel der Fremdherrschaft eher zu stärken als zu sprengen, und nur der unbedingte Wille zur Freiheit konnte zum Ziel führen. Mit dem Willen allein aber war es nicht getan, es mußte ein Aktionsprogramm gefunden werden. Da es den jungen Revolutionären an einer Verbindung zu den indischen Massen fehlte, glitten sie schließlich in den Terrorismus ab. 1907 spaltete sich der Nationalkongreß in einen gemäßigten und einen extremistischen Flügel. Die Gemäßigten behielten die Kongreßorganisation in den Händen, die Extremisten begaben sich in die politische Wüste, aus der nur wenige von ihnen später den Weg zurück fanden.

Gandhis Manifest „Hind Swaraj“

Gandhi beobachtete diese Entwicklung aus dem fernen Südafrika und nahm in seinem politischen Manifest „Hind Swaraj", das er 1909 veröffentlichte, zu den Fragen, die Indien damals bewegten, Stellung. Er zählte sich weder zu den Gemäßigten noch zu den Extremisten, sondern wollte beiden zugleich dienen. Mit den Gemäßigten teilte er die Ansicht, daß die politische Entwicklung Indiens Schritt für Schritt erfolgen müsse und daß es falsch sei, das bereits Erworbene zu verwerfen, die Extremisten aber übertraf er noch in seiner scharfen Kritik an der kulturellen Überfremdung Indiens und an allen Erscheinungen der west-liehen Zivilisation. Genau wie die Extremisten betonte er, daß die Fremdherrschaft nur durch die Kollaboration der Inder fortbestehe, aber er empfahl nicht eine terroristische Sprengung dieser Kollaboration, sondern eine sich bis zur Verweigerung der einfachsten Dienstleistungen erstreckende Nichtzusammenarbeit jedes einzelnen Inders mit den Kolonialherren. Seine an Sektiererei grenzende Zivilisationskritik, mit der er auch Eisenbahnen und moderne Medizin ablehnte, seine der Form nach mäßige, aber in ihrem Inhalt sehr radikale Botschaft und die Tatsache, daß er in Südafrika dem politischen Leben Indiens fernstand, erschwerten es seinen Zeitgenossen, ihn in das Spektrum der indischen Politik einzuordnen, und er blieb lange Zeit nur eine geachtete Rand-figur. Seine Verdienste wurden betont, wenn man Resolutionen über die Inder in Südafrika faßte, im übrigen aber mißtraute ihm die gemäßigte Führungsgruppe des Nationalkongresses und hielt ihn für einen verkappten Extremisten. Allein mit dem jüngsten der gemäßigten Kongreßführer, Gopal Krishna Gokhale, der selbst nur sechs Jahre älter war als Gandhi, verband ihn ein echtes Vertrauensverhältnis. Doch Gokhale starb 1915, als Gandhi aus Südafrika zurückkehrte, und konnte ihn nicht mehr in das politische Leben Indiens einführen. So war Gandhi gezwungen, ohne einen Mentor die politische Bühne zu betreten, auf der er sich in den kommenden Jahren durch aufsehenerregende Leistungen am Rande des politischen Prozesses bemerkbar machte.

Die Wirkung des Ersten Weltkrieges Die Jahre des Ersten Weltkrieges bedeuteten einen einschneidenden Wandel des indischen politischen Lebens. Großbritannien brauchte indisches Geld und indische Soldaten, und die indischen Nationalisten erwarteten eine Anerkennung dieser Leistungen. Zugleich wandten sich die indischen Mohammedaner, die bisher zumeist abseits gestanden hatten, dem Nationalismus zu, da die Briten Kriegsgegner des türkischen Kalifen geworden waren und sich damit bei den Mohammedanern verhaßt machten. Der Nationalkongreß und die Moslem-Liga schlossen 1916 einen Pakt, der die Stellung der Mohammedaner im Rahmen der zu erwartenden Verfassungsreformen sicherte. Eine Erklärung des britischen Kriegskabinetts vom August 1917 versprach den Indern verantwortliche Regierungsbeteiligung nach Kriegsende. Die Weichen für die künftige politische Entwicklung waren gestellt, zugleich zeichneten sich aber schon neue Spannungen und Konflikte ab. Der Pakt zwischen Kongreß und Liga betraf die Verteilung von Sitzen in den gesetzgebenden Gremien, eine verantwortliche Regierungsbeteiligung mußte aber ganz andere Probleme mit sich bringen, vor allem, wenn die separaten Wählerschaften für Mohammedaner beibehalten wurden, die mit einer parlamentarischen Regierungsverantwortung nach englischem Muster unvereinbar waren. Da diese Fragen während des Krieges noch nicht diskutiert zu werden brauchten, war die Enttäuschung später um so größer. Enttäuscht waren nach Kriegsende auch die indischen Wirtschaftskreise, die während des Krieges selbst im beschränkten Rahmen des kolonialen Regimes als Kriegsgewinnler gute Geschäfte gemacht hatten und durch die Nachkriegsflaute und britische Währungsmanipulationen hart getroffen wurden. Die demobilisierten indischen Soldaten, die vom Fronteinsatz zurückkamen und sich wieder in den indischen Alitag einfügen mußten, bildeten ein weiteres Element potentieller Unruhe. Die britisch-indische Regierung war sich dieser Probleme durchaus bewußt und ersetzte nach Kriegsende die Ausnahmegesetze, die es erlaubten, im Kriege mit Aufrührern kurzen Prozeß zu machen, durch ähnlich drakonische Gesetze für die Friedenszeit. Das wurde von den indischen Nationalisten als Mißtrauensvotum und krasser Undank empfunden. Die Entrüstung über diese Gesetze verband sich mit der Enttäuschung über die angekündigten Verfassungsreformen, und es kam zu Unruhen und Demonstrationen. In Amritsar im Pandschab verloren die Kolonialherren die Nerven, und ein britischer General ließ auf eine unbewaffnete Menge das Feuer eröffnen. Mehrere hundert Menschen kamen um. Die Nachricht von dem Massaker löste in ganz Indien Empörung aus. In dieser kritischen Situation trat Gandhi in den Vordergrund. Er war es, der im Auftrag des Nationalkongresses den Bericht über die Vorfälle im Pandschab verfaßte und der zugleich den Demonstrationen eine neue Form gab. Hatte er noch auf dem Kongreß von 1919 eine mäßigende Rolle gespielt, so wurde er nun binnen Jahresfrist zum radikalsten Gegner der britischen Kolonialherren. Seine große Stunde kam, als der Nationalkongreß sein Programm der Nichtzusammenarbeit annahm. Von diesem Zeitpunkt an prägte er den Nationalkongreß und verwandelte ihn in ein Instrument der nationalen Agitation.

II. Die Persönlichkeitsstruktur des Führers einer Minderheit

Wer ist dieser Gandhi und was will er eigentlich? — das mochten sich manche indische Nationalisten zu dieser Zeit fragen. Viele von ihnen waren durchaus nicht von Gandhis Programm überzeugt und nahmen es nur widerwillig an, weil sie keine besseren Vorschläge machen konnten. Sie wurden überwältigt von der Unbedingtheit und Sicherheit, mit der Gandhi seine Forderungen vortrug. Zuerst stand er mit seinen Ansichten allein, dann gewann er den ganzen Nationalkongreß für sein Programm. Wie konnte er es fertig bringen, gegen den Strom zu schwimmen und schließlich den ganzen Strom in seine Richtung zu lenken? Das Geheimnis seines Erfolges lag in der Autonomie seines Gewissens. Er ließ sich nicht von den Vorurteilen, Befürchtungen und Illusionen anderer beeinflussen, sondern rang mit sich selbst, und wenn er sich entschlossen hatte, war er bereit, die Konsequenzen des Entschlusses unbeirrt zu verfolgen. Diese Autonomie des Gewissens war ihm nicht zugefallen, sondern er hatte sie sich erkämpft. Seine Autobiographie, der er bezeichnenderweise den Untertitel „Meine Experimente mit der Wahrheit" gab, ist ein Bericht von diesen Kämpfen. Es wird daher dort den intimsten und persönlichsten Erlebnissen das gleiche Gewicht beigemessen wie den wichtigsten politischen Entscheidungen, weil sie in gleicher Weise die Entwicklung des Gewissens als Instrument betreffen. Die „Experimente mit der Wahrheit" sind nicht als unverbindliches Spiel zu verstehen, sondern als Wagnis.

Herausforderung und Widerstand in Südafrika Von entscheidender Bedeutung für Gandhis Gewissensbildung war die Tatsache, daß er vom 23. bis zum 46. Jahr seines Lebens auf sich selbst gestellt in Südafrika arbeitete und dort gegen seinen eigenen Willen zum Führer der indischen Minderheit wurde. Er war als eigenwilliges und schüchternes Kind eines Ministers an einem kleinen Fürstenhof in Gujarat ausgewachsen. Seine Familie gehörte der Händlerkaste an. Seine Mutter war sehr fromm, und von ihr übernahm er jene Mischung von volkstümlichem Vishnuismus und Jainismus seiner Heimat, die ihn in seinem ganzen Leben prägte und ihm einen unmittelbaren Zugang zur religiösen Grundstimmung weiter Kreise des indischen Volkes gab. Seine Ausbildung als Rechtsanwalt in London führte nicht zur oberflächlichen Verwestlichung, sondern stärkte in ihm die Neigung zur Rechtlichkeit, Pünktlichkeit und. Sorgfalt, die sein Arbeitsethos auch dann noch bestimmte, als er später als Agitator gegen die britische Fremdherrschaft auftrat und sich die Härte seines Angriffs eher in der Präzision seines Vorgehens als im Überschwang nationalistischen Eifers erwies. Im übrigen stärkten die Londoner Jahre jedoch seinen Hang zum Außenseitertum. Die Kulturkritik der Zivilisationsmüden und die Gesinnungsgemeinschaft der überzeugten Vegetarier zogen ihn an. Als Fremdling, dem das „Establishment“ ohnehin verschlossen blieb, fand er bei den Dissidenten offene Türen und Kameradschaft. Nach Hause zurückgekehrt, fand er sich wiederum am Rande der Ereignisse. Seine Schüchternheit stand dem beruflichen Erfolg als Rechtsanwalt im Wege, und er nahm daher dankbar das Angebot eines mohammedanischen Geschäftsmannes an, ihn als Anwalt seiner Firma nach Südafrika zu entsenden.

Dort aber nahm sein Schicksal eine überraschende Wendung. Der Außenseiter wurde durch die Gunst der Umstände in den Mittelpunkt der Ereignisse gerückt. Als in London ausgebildeter Rechtsanwalt war Gandhi unter der indischen Minderheit Südafrikas, die aus Kaufleuten und Plantagenarbeitern bestand, ob er es wollte oder nicht, der einzige Führer. Er hatte bald eine sehr gute Praxis, und da sein Gewissen ihn dazu zwang, Stellung zu nehmen, wenn seinen Landsleuten Unrecht widerfuhr, mußte er seine Schüchternheit besiegen und sich zu ihrem Sprecher machen. Ein anderer wäre hier vielleicht gescheitert, aber gerade der Außenseiter Gandhi hatte die innere Kraft, die durch die außerordentlichen Umstände freigesetzt wurde und die es ihm ermöglichte, in einem politischen Vakuum die Ansätze zu einer politischen Willensbildung zu schaffen. In dieser Situation blieb es weitgehend seiner eigenen Gestaltungskraft überlassen, dem politischen Leben der indischen Minderheit Form und Inhalt zu geben. Persönliche Erlebnisse rassischer Erniedrigung stählten seinen Willen zum zähen Widerstand. Es gelang ihm, diesen Willen zum Widerstand auf weite Kreise der indischen Minderheit zu übertragen und eine Methode zu finden, mit der sich diesem Willen Ausdruck geben ließ. Diese Methode wurde zunächst als „passiver Widerstand" bezeichnet; Gandhi prägte aber bald den positiven Ausdruck „Satyagraha" (Festhalten an der Wahrheit). Der von ihm organisierte Widerstand war nämlich alles andere als passiv, denn er bestand aus der wohlorganisierten Übertretung rassisch diskriminierender Gesetze. Das „Festhalten an der Wahrheit“ bestand darin, das ungerechte Gesetz nach vorheriger Ankündigung demonstrativ zu übertreten und dann, ohne sich zu verteidigen, die dafür angesetzte Strafe auf sich zu nehmen. Es gelang Gandhi, Tausende seiner Landsleute in Südafrika in dieser Methode zu schulen und zur Mitarbeit zu veranlassen.

Der Rückzug aus der bürgerlichen Gesellschaft Der politische Kampf um die Rechte der indischen Minderheit führte Gandhi auch zu einem Wandel seines Lebensstils. Er zog sich aus dem bürgerlichen Leben des erfolgreichen Rechtsanwalts zurück und errichtete mit seiner Fa-5 milie und einigen seiner Anhänger die Phoenix-Siedlung und die Tolstoi-Farm. Dort sollte jeder mit seiner eigenen Hände Arbeit sein Brot verdienen. Für Gandhi wurde diese Lebensgemeinschaft zum Mikrokosmos der Gesellschaft und ethischen Laboratorium, in dem er seine Ordnungsvorstellungen zu verwirklichen suchte. Auch legte er ein Gelübde der Keuschheit ab, um alle seine Kräfte auf seine politische Aufgabe konzentrieren zu können. Er folgte damit der alten indischen Vorstellung, daß die Keuschheit dem, der sie wahrt, geradezu magische Kräfte verleiht und ihn zu höchsten Leistungen befähigt. Die asketische Abwendung vom bürgerlichen Leben gab ihm eine große Freiheit von den Bindungen dieses Lebens. Er war nicht mehr auf die

Gunst seiner Umgebung angewiesen, sondern gestaltete diese Umgebung selbst.

Gandhis Rolle als Führer einer Minderheit und sein Rückzug aus dem bürgerlichen Leben waren eng verbunden, denn miteinander die Umgebung, von der er sich befreite, war durch die herrschende Rasse geprägt. Die Selbständigkeit, die er sich erkämpfte, gab ihm zugleich die Kraft, der Minderheit Mut einzuflößen, sich dem Druck der herrschenden Rasse zu widersetzen. Dieser Druck wiederum gab Gandhis Entscheidungen und den Aktionen der Minderheit erst ihren eigentlichen Sinn und Zusammenhang. Als Gandhi nach Indien zurückkehrte, lag es nahe, daß er die in vielen Jahren erprobten Formen des politischen Kampfes übertragen wollte.

III. Politische Strategie und Lebensform

Gandhi galt vielen seiner Landsleute als heiliger Mann, andere achteten ihn nur als politischen Führer. Für Gandhi selbst waren persönliches Heilsstreben und politischer Auftrag untrennbar verbunden, und er hatte in seinen südafrikanischen Jahren eine Form des politischen Handelns gefunden, die für ihn zugleich zur Lebensform wurde. Individuelle Selbstbeherrschung und politische Freiheit standen für ihn im engsten Zusammenhang. Nur durch die Selbstbeherrschung der einzelnen Menschen konnte die Freiheit aller gewonnen und erhalten werden. In diesem Sinne legte Gandhi auch das indische Wort für Unabhängigkeit, „Swaraj" (wörtlich: Selbstherrschaft), aus und erklärte, daß nur die Herrschaft über das Selbst zur Selbstherrschaft führen könne. In dem ethischen Kosmos, den er sich vorstellte, bedeutete die Tat jedes einzelnen entweder einen Fortschritt oder einen Rückschritt für die Menschheit insgesamt. Soziallehren, die auf die Notwendigkeit des staatlichen Zwanges im Kampf aller gegen alle hinwiesen, waren für Gandhi unwahr, und westliche Beobachter haben ihn daher gern einen philosophischen Anarchisten genannt. Er war aber von der Einheit allen Lebens überzeugt und glaubte daher an einen tieferen Zusammenhang allen individuellen Strebens. Die soziale Ordnung war deshalb für ihn im rechten Selbstverständnis jedes einzelnen Menschen gegeben. Es ging ihm darum, dieses Selbstverständnis zu läutern und zu klären, statt das Individuum durch äußeren Zwang in die Schranken zu weisen. Seine Bemühungen um die Disziplin in den Ashrams, den Stätten gemeinsamen Lebens, die er sich auch in Indien mit seinen Gefolgsleuten errichtete, und seine Korrespondenz mit unzähligen Freunden und Gegnern zeugten immer wieder von seinem Streben, jeden einzelnen für sich zu gewinnen, indem er die individuellen Sorgen und Nöte ernst nahm. In seinen politischen Kampagnen zielte er daher immer auf einen Gesinnungswechsel von Freund und Feind ab. Dazu gehörte es, daß er seine Ziele vorher klar verkündete. Der politische Einsatz seiner Gefolgschaft vollzog sich immer im Sinne einer öffentlichen Verpflichtung und nie auf dem Wege geheimer Umtriebe. Im Gegensatz zu den Terroristen, die im individuellen, aber geheimen Einsatz arbeiteten, regte er Massen-bewegungen an, bei denen es auf den Mut des einzelnen zum Bekenntnis ankam. Dieses Bekenntnis wurde noch durch den Wandel der Lebensform unterstrichen. Gandhis Anhänger legten die westliche Kleidung ab und kleideten sich in rauhes, indisches handgewebtes Tuch. Sie schlossen sich auch Gandhis Forderung an, daß jeder sich am Handspinnen beteiligen solle.

Das Handspinnen und die agitatorische Disziplin Das Handspinnen war eine ideale Methode der Verbindung von Strategie und Lebensform. Es entsprach Gandhis Vorstellung — die er schon in Südafrika zu verwirklichen suchte —, daß jeder sich mit seiner eigenen Hände Arbeit sein Brot'verdienen sollte. Es gab außerdem Gandhis Bemühen um die Überwindung der Arbeitslosigkeit im indischen Dorf einen konkreten Ausdruck und dem Boykott britischer Textilien einen positiven Inhalt. Später ist es oft von Gandhis Anhängern zum Fetisch gemacht worden, ohne daß diese beachteten, in welcher Situation Gandhi die Losung vom Handspinnen ausgab. Jede andere Tätigkeit, die sowohl konkreten als auch symbolischen Wert hatte, wäre ihm ebenso lieb gewesen, nur verband das Handspinnen zu dieser Zeit diese Tätigkeitsmerkmale am besten. Unter Gandhis Führung spannen alle Mitglieder des Nationalkongresses, und es wurde sogar festgelegt, daß der Mitgliedsbeitrag in Form einer bestimmten Länge selbstgesponnenen Garns zu entrichten war. Gandhi war aber nicht nur an dem Demonstrationseffekt des Handspinnens interessiert, sondern glaubte auch an die heilsame Wirkung dieser Arbeit auf die Disziplin und Selbstbeherrschung der Kongreßmitglieder. Seine Forderung, daß nur bewährte Handspinner sich an bestimmten politischen Aktionen beteiligen dürften, wurde von vielen seiner Kollegen als lächerlich empfunden. Er wollte damit aber durchaus nicht das Handspinnen mystifizieren, sondern die Disziplin und Selbstbeherrschung betonen, die sich bei einem Kongreßmitglied am besten an seiner Leistung beim Handspinnen ablesen ließ. Auf diese Weise verbanden sich Lebensform und politische Einsatzbereitschaft immer wieder in Gandhis Denken.

Die Resonanz der symbolischen Handlung Seine politische Strategie bestand im wesentlichen darin, allgemeine Konflikte in einem konkreten Punkt zu erfassen und dann ein Aktionsprogramm zu finden, das sowohl den konkreten Punkt traf, als auch die allgemeine Konfliktsituation deutlich machte. Dabei war er zumeist auf symbolische Handlungen angewiesen, die sich dann am besten kontrollieren ließen, wenn er sie allein vollbrachte. In diesem Alleingang verschmolzen Lebensform und Strategie am vollkommensten. Aber um einen solchen Alleingang überhaupt sinnvoll zu machen, mußte er in einem größeren Zusammenhang stehen. Die Resonanz der symbolischen Handlung im Volk ergab sich nur, wenn der richtige Ton getroffen wurde. Der politischen Phantasie Gandhis gelang es immer wieder, sich richtig einzustimmen. Er war daher für den indischen Nationalkongreß geradezu unentbehrlich, da kein anderer Führer dieser Bewegung das Maß an politischer Gestaltungskraft besaß, durch das sich Gandhi auszeichnete. Die Einstimmung auf das indische Volk vollzog sich bei Gandhi nach und nach und war durchaus nicht sorgfältig erdacht und geplant. Dem religiösen Gedankengut breiter Schichten des indischen Volkes stand er als frommer Vaishnava seit seiner Kindheit nahe, und volkstümliche Gleichnisse aus dieser Vorstellungswelt kamen ihm daher ganz natürlich auf die Lippen, wenn er seine politischen Anschauungen erklären wollte. Die Angleichung seines äußeren Erscheinungsbildes an die Gestalten der wandernden Büßer und religiösen Lehrer, die in Indien von Dorf zu Dorf ziehen, half ihm ebenfalls bei der Verkündung seiner Lehren. Doch hatte er diese Angleichung nicht bewußt betrieben, sondern sie war aus einem Entschluß hervorgegangen, der in einem ganz anderen Zusammenhang stand. Als nämlich deutlich wurde, daß das handgesponnene und handgewebte Tuch, das die Kongreßmitglieder herstellten, nicht dazu ausreichen würde, um alle, die sich darin kleiden wollten, zu versorgen, beschloß Gandhi, seinen eigenen Bedarf so weit wie möglich zu reduzieren. Mit dem nur bis zum Knie reichenden Lendentuch, das ihm nun verblieb, sah er aus wie die Ärmsten der Armen, mit denen er sich auf diese Weise identifizierte.

Die Bedeutung des Fastens Die asketische Entsagung wird in ganz Indien als ein Wert verstanden, obwohl oder gerade weil nur wenige sie wirklich vollziehen können. Der Anblick der Entsagenden rührt alle die, die in ihrer eigenen Lebensform das Gegenteil verkörpern. So wird die Entsagung als beispielhaft, wenn auch zumeist als unnachahmlich empfunden. In diesem Sinne bewunderten Gandhis Anhänger seine Lebensform, selbst wenn kaum einer es ihm gleichtat. Die härteste Form der Entsagung war das lange Fasten, dem Gandhi sich immer wieder unterzog, wenn es ihm darum ging, moralischen Druck auf Freund oder Feind auszuüben. Das Fasten ist im religiösen Leben Indiens von großer Bedeutung, da es zur Einkehr und zur Reinigung führt. Selbst im täglichen Leben der indischen Familie werden oft zu bestimmten Zeiten oder aufgrund besonderer Gelübde Fastentage eingelegt. Wie jede Enthaltsamkeit, so soll auch das Fasten geistige Energien freisetzen. Gandhi fastete oft lediglich zu diesem Zweck der Läuterung, doch konnte er zugleich fastend sein Leben aufs Spiel setzen und damit mit der einzigen Art des Selbstmordes drohen, die in Indien nicht als solcher betrachtet und daher akzeptiert wird, während Selbstmord sonst nur zu einer noch schlechteren Wiedergeburt führt und daher nicht nur sündhaft, sondern auch töricht ist. Die Drohung mit der Auslöschung seines Lebens wurde damit zum Brennpunkt von Gandhis Lebensform und Strategie. Indem er die politische Strategie so anlegte, daß letzlich alles auf ihn ankam, und dann seine Gegner herausforderte, ihm das Leben zu retten oder seinen Tod zu verantworten, machte er sich zum Herrn der Lage.

Gandhis unvergleichliche Wirkung läßt sich aber durch diesen Einklang von Strategie und Lebensform nur zum Teil erklären. Diese Wirkung konnte erst auf dem Hintergrund eines großen Organisationstalents entstehen, mit dem Gandhi sich die Instrumente schuf, die seinen Einsatz unterstützten.

IV. Der große Organisator

Im Unterschied zu den früheren indischen Nationalisten, die eine Honoratiorenpolitik im kleinen Kreise betrieben oder als Terroristen zur Waffe griffen, war Gandhi ein agitatorisches Finanzgenie und ein Parteiführer ersten Ranges, der den Nationalkongreß völlig umformte. Selbst bis aufs äußerste bedürfnislos, war er hart und unerbittlich, wenn es darum ging, Geld für den Freiheitskampf zu sammeln. Es fehlte ihm nie an reichen Freunden, die Schecks in jeder Höhe ausschrieben, aber er scheute sich auch nicht, persönlich die kleinsten Spenden einzutreiben. Er machte keinen Hehl daraus, daß er ein Bania, ein Mann der Händlerkaste war, der den Wert des Geldes wohl zu schätzen wußte. Seine Kastengenossen in ganz Indien vertrauten ihm und waren gern bereit, seine politischen Kampagnen großzügig zu finanzieren. Die Erfahrung der Nachkriegszeit hatte sie gelehrt, daß eine Investition in den Nationalismus notwendig war. Gandhi zeigte ihnen den Weg.

Seine Fähigkeit, eine gezielte politische Aktion zu organisieren, machte sich in Indien bereits im Jahre 1917 bemerkbar, als er, kaum aus Südafrika zurückgekehrt, die Verteidigung der Pächter des Bezirkes Champaran in Bihar gegen die britischen Indigopflanzer übernahm. Mit großem persönlichen Mut widersetzte er sich den Drohungen der Obrigkeit und der Pflanzer und sammelte in unermüdlichem Einsatz Tausende von Zeugenaussagen, die ein klares Bild von der Ausbeutung der Pächter durch die Pflanzer gaben. Er faßte diese Aussagen zu einem Bericht zusammen, der die Regierung dazu zwang, die Mißstände zu beseitigen. So konnte er seinen ersten politischen Erfolg in Indien verzeichnen. Nach dem bereits erwähnten Blutbad in Amritsar im Jahre 1919 und dem dann von der Regierung in der Provinz Pandschab errichteten Terrorregime war es wieder Gandhi, der im Auftrag des Nationalkongresses aufgrund von Zeugenaussagen einen sorgfältig abgewogenen Bericht verfaßte, der gerade durch seinen sachlichen Ton wirkte und von dem bald darauf erscheinenden Regierungsbericht abstach, in dem der Versuch gemacht wurde, die Ereignisse im Pandschab zu bagatellisieren.

Die Verfassung des Nationalkongresses Mit eben diesem Blick für das Wesentliche und mit derselben Sorgfalt nahm Gandhi sich der Kongreßverfassung an, als er die Aufgabe hatte, den Nationalkongreß für die agitatorischen Aufgaben umzuformen, die dieser Institution unter seiner Führerschaft er-wuchsen. Bisher hatte der Nationalkongreß außer seiner jährlichen Vollversammlung nur noch einen inneren Kreis der Delegiertenkonferenz des All-India Congress Committee, dazu den Präsidenten des Jahres und die Sekretäre. Diese Verfassung war auf die Honoratioren-politik abgestellt, die der Kongreß bisher betrieben hatte. In der neuen Verfassung, die Gandhi 1920 für den Kongreß entwarf, wurde zusätzlich ein ständiger Arbeitsausschuß geschaffen, gewissermaßen das Kabinett des Kongreßpräsidenten. Dieser Ausschuß bestand nur aus wenigen Mitgliedern und wurde der Form nach vom Kongreßpräsidenten ernannt. In der Tat wurde dieser Ausschuß bald zu einem Politbüro und zu einem Agitationskommando, das — ständig von Gandhi beraten — alle wichtigen Entschlüsse traf und letztlich auch darüber entschied, wer jeweils Kongreßpräsident wurde, so daß die Ernennung des Ausschusses praktisch zur Selbstbestätigung der Führungsgruppe wurde. Zugleich legte Gandhi fest, daß eine große Mehrheit der Kon-B greßdelegierten aus ländlichen Bezirken kommen mußte. Damit brach er das Monopol der städtischen Delegierten, die bisher im Kongreß den Ton angegeben hatten. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, betonte er auch die Wichtigkeit der regionalen indischen Sprachen, die im Kongreß berücksichtigt werden müßten, wenn er sich nicht auf den Kreis der westlich gebildeten Inder beschränken wollte. Er gliederte in diesem Sinne die Provinzialkomitees des Nationalkongresses neu auf, indem er sie in Sprachprovinzen unterteilte und von der bisherigen Einteilung nach britischen Verwaltungseinheiten abging. Ferner sorgte er dafür, daß eine Aufschlüsselung der Delegierten nach dem Bevölkerungsanteil der verschiedenen Provinzen erfolgte. Auf diese Weise wurden die volkreichen Provinzen, die erst durch Gandhi dem politischen Leben zugeführt worden waren, stärker in den Vordergrund gerückt, während die wenigen Provinzen, die bisher die indische Politik beherrscht hatten, in den Hintergrund traten. Für den Jahreskongreß wurde vorgesehen, daß eine kleinere Konferenz von höchstens 350 Delegierten, ebenfalls nach Bevölkerungsanteil aufgeschlüsselt, vor dem Kongreß als Tagesordnungsausschuß zusammentrat. In diesem Gremium wurden bereits alle wesentlichen Fragen entschieden, und der eigentliche Kongreß konnte dann als demonstrative Massen-veranstaltung die gehen. Gandhi über Bühne hatte nicht nur die Absicht, auf diese Weise Kongreß neuen den den agitatorischen Aufgaben anzupassen, sondern er hoffte auch, ihn auf diese Weise zu einem echten Konkurrenten der im Rahmen der britisch-indischen Verfassungsreform erweiterten parlamentarischen Institutionen werden zu lassen, die die Nationalisten zunächst boykottierten. Er sah in der Kongreßverfassung nicht nur ein Parteistatut, sondern ein Modell für die künftige Verfassung des indischen Staates. In diesem Sinne behauptete er sogar, daß ein gutes Funktionieren der Kongreßverfassung schon die Erreichung der Unabhängigkeit garantiere. Als Gandhi im Jahre 1934 nochmals eine neue Kongreßverfassung entwarf, straffte er die Organisation noch mehr. Die mehrmals jährlich tagende Delegiertenkonferenz, das All-India Congress Committee, wurde auf 166 Mitglieder reduziert. Der Anteil ländlicher Abgeordneter an der Gesamtzahl der Delegierten wurde auf 75 0/0 festgelegt, so daß die städtischen Politiker noch weit mehr als bisher in den Hintergrund gedrängt wurden. Der Arbeitsausschuß wurde ausdrücklich dazu ermächtigt, Provinzialkomitees aufzulösen und neue zu bilden, wo dies nötig wurde. Dieser durchgreifende Zentralismus war einerseits gegen oppositionelle Strömungen im Kongreß selbst gerichtet und diente andererseits dazu, die zentrale Stellung der Kongreßführung zu sichern, die sich einer britisch-indischen Verfassungsreform gegenüber sah, die sich auf die provinzielle Autonomie beschränkte und die Führung der Zentralregierung fest in britischen Händen ließ.

In diesen Jahren wurde Gandhis Ashram im Dorf Sevagram bei Wardha zur inoffiziellen Hauptstadt Indiens, in der sich die Kongreßpolitiker aller Provinzen trafen, um sich Rat und Weisungen zu holen. Ein ständiger Strom Korrespondenz aus der allen Landesteilen unterrichtete Gandhi über alle wichtigen Einzelheiten. Er selbst war der unermüdlichste Kor -respondent und hielt jeden Tag eine eiserne Arbeitsroutine durch, die jedem regierenden Staatsmann Ehre gemacht hätte. Wie kaum ein anderer Inder lebte er nach der Uhr und verlangte von sich und anderen Pünktlichkeit in allen Dingen. Die Welt, die ihn nur als den großen Agitator kannte, wußte wenig von seinem stillen und ständigen Wirken, das es ihm ermöglichte, stets alle Fäden in der Hand zu behalten.

V. Nichtzusammenarbeit und bürgerlicher Ungehorsam

Gandhis Ruhm als Führer des indischen Freiheitskampfes gründete sich besonders auf zwei große Kampagnen der Nichtzusammenarbeit und des bürgerlichen Ungehorsams, die er in den Jahren 1920/21 und 1930/31 organisierte. In der ersten Kampagne übertrug er das Beispiel des Widerstandes der indischen Minderheit in Südafrika auf den indischen Freiheitskampf, der sich unter ganz anderen Voraussetzungen vollzog und nur eines mit der Lage der Minderheit gemeinsam hatte, daß auch hier Entmachtete und Entrechtete einer herrschenden Macht gegenüberstanden. Es fehlte aber der spezifische Druck, dem die Minderheit aus-gesetzt war, und infolgedessen war auch der Wille zum Widerstand schwach und richtungslos. Gandhi spürte diesen Mangel wohl, aber er erkannte ihn zunächst nicht klar. Es fehlte vor allem an den eindeutig diskriminierenden Gesetzen, die sich gezielt übertreten ließen, um dem gewaltlosen Widerstand einen Ansatzpunkt zu bieten. Er suchte daher nach konkreten Anlässen, die eine Verweigerung der Zusammenarbeit im Sinne seines „Satyagraha" rechtfertigen konnten. Satyagraha, das Festhalten an der Wahrheit, das Gandhi auch allgemeiner mit dem Wort Seelenstärke übersetze, war ohne konkreten Ansatz undenkbar, denn es bestand eben nicht in der unverbindlichen Äußerung irgendwelcher Wahrheiten, sondern war ganz aktionsbezogen. Politische Resolutionen ohne klare Handlungsweisungen, die befolgt werden konnten, waren für Gandhi vom Übel, da sie die Beschlußfassenden zu nichts verpflichteten und die Organisationen, in deren Namen die Beschlüsse gefaßt wurden, lächerlich machten. Die „Seelenstärke" konnte nur im Willen zur Tat bewiesen werden, und zwar nicht irgendeiner Tat, sondern einer genau umschriebenen Tat, zu derem vorschriftsmäßigen Vollzug sich möglichst viele verpflichteten. Gehorsam und Hingabe, die dazu erforderlich waren, konnten aber nicht befohlen werden, sondern mußten aus der Sache selbst hervorgehen. Es blieb dem Geschick des politischen Führers vorbehalten, den Gegenstand der Aktion so zu wählen, daß sich die Über-zeugung und die aus ihr erwachsende Disziplin von selbst ergaben.

Die Ereignisse der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg erzeugten zwar eine allgemeine Unruhe in Indien, gaben aber wenig Anlaß zu konkreten Aktionen. Als die britisch-indische Regierung die strengen Notstandsgesetze der Kriegszeit durch neue Gesetzgebung auf die Friedenszeit auszudehnen versuchte, war damit ein gerechter Anlaß zum Protest gegeben, aber diese verhaßten Gesetze ließen sich nicht eigentlich übertreten, da sie nur eine rigorose Verkürzung der Strafprozeßordung vorsahen. Der von Gandhi organisierte Protest gegen diese Gesetze blieb daher auf Demonstrationen beschränkt, zu denen auch ein Schließen der Läden gehörte, ein sogenannter Hartal, eine traditionelle Methode des Protests gegen die Obrigkeit in Indien.

Die Khilafat-Bewegung der indischen Mohammedaner Ein weiterer Anknüpfungspunkt für den Widerstand gegen die Kolonialmacht bot die Khilafat-Bewegung der indischen Mohammedaner, die gegen die Bedingungen protestierten, die die Briten der besiegten Türkei und dem Kalifen aufzwangen. Die Bewegung war nicht zukunftsträchtig, denn wenige Jahre später setzten die Jungtürken selbst den Kalifen ab, und die indischen Mohammedaner bewiesen nur, daß sie die Zeichen nicht erkannt hatten. Gandhi aber sah in dieser Bewegung eine einmalige Gelegenheit, Hindus und Mohammedaner zusammenzuführen und setzte sich voll und ganz für sie ein. Auch fand er bei den Khilafatisten Verständnis für ein konsequentes Programm der Nichtzusammenarbeit, das mit einem Boykott der britischen Bildungsanstalten und Gerichtshöfe beginnen sollte. Ebenso sollten die Wahlen im Rahmen der neuen Verfassungsreform boykottiert werden. Den Boykott der Wahlen hatte auch der Nationalkongreß auf seine Fahne geschrieben, der in seiner Mehrheit Gandhis Programm zunächst ablehnte und der Khilafat-Bewegung wenig Beachtung schenkte. Die von westlicher Bildung beeinflußten Mohammedaner im Nationalkongreß wie Mohammed Ali Jinnah teilten den Khilafat-Eifer ihrer orthodoxen Glaubensgenossen nicht und betrachteten Gandhis Bemühungen äußerst skeptisch. Schließlich kam es Gandhi jedoch zugute, daß der Nationalkongreß nach dem Boykott der Wahlen weitere agitatorische Initiativen ergreifen mußte, um nicht tatenlos dazustehen, während die, die die Wahlen nicht boykottiert hatten, unter der neuen Verfassung Regierungsfunktionen übernahmen. Erst als es soweit gekommen war, bekannte sich der Nationalkongreß zu Gandhis Programm der Nichtzusammenarbeit und machte gemeinsame Sache mit den Khilafatisten. Boykott und Satyagraha Das Programm der Nichtzusammenarbeit war jedoch zu breit angelegt und gab der politischen Aktion keinen deutlichen Brennpunkt. Viele Studenten verließen die Universitäten, Rechtsanwälte gaben ihre Praxis auf, einige Begeisterte gründeten nationale Bildungsanstalten, um den Studenten einen von der Regierung unabhängigen Bildungsweg zu weisen, aber die staatlichen Anstalten überlebten den Boykott ohne große Schwierigkeiten, und bald kehrte das Leben in die gewohnten Bahnen zurück. Nur wenige machten den Boykott zum lebenslänglichen Entschluß und widmeten sich ganz der nationalen Bewegung. Der Boykott importierter Textilien gehörte ebenfalls zu Gandhis Programm und wurde von ihm betont, als die anderen Punkte seines Programms sich als weniger zugkräftig erwiesen, überall verbrannten die Nationalisten öffentlich ihre westlichen Kleider. Kaum hatte das den Reiz der Neuheit verloren, bot der von der britischen Regierung ungeschickterweise angesetzte Staatsbesuch des englischen Kronprinzen einen willkommenen Anlaß zu weiteren Demonstrationen in allen Städten, die der Prinz besuchte. Gandhi versäumte die Chance, in diesem Moment die Kampagne der Nichtzusammenarbeit abzubrechen, bevor sie sich totlief, und eine Konferenz am runden Tisch anzunehmen, die die Regierung angeboten hatte, um beim Besuch des Kronprinzen Ruhe zu haben. Wenige Monate später kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen von Demonstranten in einem Dorf in Nordindien, und Gandhi brach die ganze Kampagne ab. Erst jetzt griff die Regierung zu, ließ ihn verhaften und vor Gericht stellen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Regierung sich zurückgehalten und sich gehütet, Gandhi durch übereilte Unterdrückungsmaßnahmen die Ansatzpunkte zur Agitation zu liefern, die er brauchte. Vor dem Gericht verteidigte sich Gandhi nicht, sondern bekannte sich schuldig, wie es die Regeln des Satyagraha vorschrieben.

Er wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt, aber schon nach zwei Jahren aus Gesundheitsgründen wieder entlassen. Der Nationalkongreß wandte sich inzwischen dem parlamentarischen Weg zu, und Gandhi galt bereits als eine Größe der Vergangenheit. Er beschäftigte sich mit seinen sozialen Programmen und zog sich in die Lebensgemeinschaft des Ashram zurück.

Der Widerstand gegen die Salzsteuer Erst als der Nationalkongreß im Jahre 1930 dazu gezwungen war, erneut den Weg der Agitation einzuschlagen, trat Gandhi wieder in den Mittelpunkt des Interesses. Er ließ sich vom Kongreß weitgehende Vollmachten erteilen und ersann dann eine Kampagne, die alles übertraf, was er vor oder nach dieser Zeit auf diesem Gebiet leisten konnte. Anstelle der Nichtzusammenarbeit, die sich nicht deutlich genug definieren ließ, empfahl er jetzt den bürgerlichen Ungehorsam. Dieser Ungehorsam hatte den Vorzug der Offensive: die Regierung wurde von vornherein in die Verteidigung gedrängt, während sie bei der Nichtzusammenarbeit eine abwartende Haltung einnehmen konnte. Es war nun äußerst wichtig, den Gegenstand des Ungehorsams so zu wählen, daß er nicht zwischen den Indern selbst zum Konfliktstoff wurde und zugleich von den breiten Massen so verstanden wurde, daß sich die Aktionen des Ungehorsams leicht überall nachvollziehen ließen. Eine Steuerverweigerungskampagne, die zunächst naheliegend erschien, hatte den Nachteil, daß es dabei auch zum Streit zwischen Grundbesitzern und Pächtern kommen mußte, weil in weiten Teilen Nordindiens Pacht und Steuer zusammen an den Grundbesitzer gezahlt wurden. Dagegen bot das staatliche Salzmonopol eine bessere Angriffsfläche. Salz mußte von allen gekauft werden, und der Staat hatte sich durch die gesetzliche Festlegung des Salzmonopols eine gute Einnahmequelle gesichert. Proteste gegen die Salzsteuer waren schon oft laut geworden, aber es blieb Gandhi vorbehalten, diese Frage in den Mittelpunkt der nationalen Agitation zu rücken und zum Gegenstand des zivilen Ungehorsams zu machen. Die Salzgesetze luden auch geradezu zur Übertretung ein, denn schon das Auslesen von etwas Salz am Strande genügte, um sich strafbar zu machen.

Gandhi bereitete diese symbolische Handlung der Gesetzesübertretung gut vor. Er sammelte in seinem Ashram eine Gruppe disziplinierter Gefolgsleute und begab sich mit ihnen auf eine lange Pilgerreise, die schließlich am Strand von Dandi in Gujarat endete. Gandhi wählte nicht den geraden Weg zum Meer, sondern hielt sich in vielen Dörfern auf und achtete darauf, daß die Pilgerreise selbst bereits viel Aufsehen erregte, so daß das Auslesen des Salzes am Strand als Höhepunkt von weiten Kreisen erwartet wurde. Kaum hatte Gandhi das Salz aufgelesen, kaum war er verhaftet worden, da begann im ganzen Lande das Salzsieden, und die Regierung war überrascht von den Ausmaßen der Resonanz, die Gandhis symbolische Handlung überall in Indien fand. Die Gefängnisse füllten sich, die Regierung war gezwungen, eine Reihe von Notverordnungen zu erlassen. Diesmal nützte Gandhi die Gelegenheit, die Kampagne zu einer günstigen Zeit zu beenden, ehe sie sich totlief. Die britisch-indische Regierung war daran interessiert, daß der Nationalkongreß an den Konferenzen am Runden Tisch in London teilnahm, bei denen die nächste Verfassungsreform ausgehandelt werden sollte. Der Vizekönig Lord Irwin entließ Gandhi aus dem Gefängnis und lud ihn zu einem Gespräch ein, das zum Gandhi-Irwin-Pakt führte. Dieser Pakt enthielt keine wesentlichen Zugeständnisse von Seiten der Regierung, wurde aber von Gandhi als Erfolg gewertet, weil sich hier zum erstenmal eine Gleichberechtigung anzudeuten schien. Auch Churchill sah das so, als er mit Entrüstung von dem „aufrührerischen nackten Fakir" sprach, der es wagen durfte, als gleichberechtigter Verhandlungspartner dem Repräsentanten des britischen Reiches entgegenzutreten.

Nach diesem Triumph gelang es Gandhi nicht mehr, eine ähnlich großangelegte Kampagne in Indien durchzuführen. Die Jahre des Zweiten Weltkrieges waren für die nationale Agitation ungeeignet, da die Regierung große Vollmachten zu ihrer Unterdrückung hatte. Auch waren Gandhi und die meisten Führer des Kongresses antifaschistisch eingestellt und wollten daher den Briten während des Krieges nicht in den Rücken fallen, da sie so nur deren Feinden genützt hätten. Nach dem Krieg brachte die Teilung des Landes neue Probleme, und Gandhi sah sich mehr und mehr isoliert.

Am 30. Januar 1948 wurde Gandhi von einem extremistischen Hindu erschossen, der befürchtete, daß Gandhi, der selbst die Teilung nicht gewollt hatte, nun doch Pakistan gegenüber allzu großzügig sein würde. Der große Agitator hatte in den letzten Jahren seines Lebens immer mehr den Alleingang vorgezogen. 1934 war er sogar formell aus dem Nationalkongreß ausgetreten, um sich dort nicht in die Opposition drängen zu lassen. Sein aufsehenerregendes Fasten hatte mehrmals den Gang der Ereignisse beeinflußt. Selbst in den Wirren, die der Teilung des Landes folgten, hatte er durch solches Fasten Mord und Tod-schlag Einhalt geboten. Der Nationalkongreß verwandelte sich in eine staatstragende und staatsgetragene Partei, Gandhi aber verfolgte seinen eigenen Kurs, und wenn er das Attentat von 1948 überlebt hätte, wäre er im unabhängigen Indien wohl auch dem Nationalkongreß unbequem geworden.

VI. Einer für alle: die Grenzen symbolischer Handlung

Der Alleingang hatte für Gandhi zunächst große Vorteile. Nach seinen beiden großen Kampagnen der nationalen Agitation war er so berühmt geworden, daß jede seiner Handlungen weithin beachtet werden mußte. Die Kongreßpolitiker, die nach den großen Kampagnen wieder zur Alltagsroutine zurückkehrten, waren dankbar, wenn Gandhi die Last der Durchsetzung politischer Forderungen auf sich nahm, und waren in diesem Sinne gern bereit, einen für alle einstehen zu lassen. Doch diese Entwicklung lähmte die Tatkraft der Gefolgschaft. Gandhis Einsatz war exemplarisch, aber nicht beispielgebend. Keiner konnte daran denken, es ihm nachzutun. Sobald man sich aber erst einmal daran gewöhnt hatte, daß alle wesentlichen Dinge von Gandhi ausgefochten wurden, brauchte man an sich selbst keine großen Forderungen mehr zu stellen. Die Verehrung des großen Mannes ersetzte die eigene Initiative, und sie gab zugleich der Vielfalt des indischen politischen Lebens einen einigenden Mittelpunkt. Gandhis Soziallehre, die die Entscheidung des Individuums betonte und keine nationale Ideologie sein wollte, wirkte sich schließlich so aus, daß er der entscheidende einzelne wurde, während die anderen den Chor bildeten, der mit seinem Echo seinen Taten Resonanz gab. Auf diese Weise ließ sich die politische Aktion natürlich am besten steuern, denn je mehr die eigene Initiative unzähliger kleiner Agitatoren ins Spiel kam, um so mehr wurde die Disziplin zum Problem.

Gandhi hatte die erste Kampagne der Nichtzusammenarbeit abgebrochen, weil sie in disziplinlose Gewalttätigkeit auszuarten drohte. Er war grundsätzlich gegen jede Gewalttätigkeit, und er wußte auch, daß sie strategisch falsch war. Eine Reihe von sporadischen Ausbrüchen hätte die indische Freiheitsbewegung zersplittert, und sie wäre dann völlig dem Zugriff der Regierung ausgeliefert gewesen, die der Gewalt mit Gewalt begegnen konnte und nur dem gewaltlosen Widerstand ratlos gegenüberstand. Die Gewaltlosigkeit des Widerstandes war dann am besten gesichert, wenn man ihn ganz in der symbolischen Handlung aufgehen ließ. Gandhi bemühte sich daher darum, die Aussagekraft und die überzeugende Wirkung symbolischer Handlungen zu vervollkommnen. Die höchste Steigerung symbolischen Handelns erreichte er durch seine großen Fastenzeiten, mit denen er auch hinter Gefängnismauern dem Volk ein Zeichen geben und die Regierung herausfordern konnte. Die Strategie der symbolischen Handlung hatte ihre Grenzen. Sie konnte durch ihre Vorbildlichkeit ungeahnte Kräfte wecken. Sie war politische Poesie, die Gefühle wachruft, deren man sich kaum bewußt ist. Aber sie konnte zugleich reine Darstellung bleiben und zum Selbstzweck werden. Es war sogar möglich, daß sie Kräfte weckte und diese dann nicht zu weiterem Einsatz anspornte, sondern in der Darstellung politischer Konflikte aufgehen ließ, ohne zu der Lösung der Konflikte beizutragen. Viele der symbolischen Handlungen Gandhis hatten diesen Mangel. Gandhi sah keinen Widerspruch zwischen seiner Rolle als Stratege der symbolischen Handlung und als Mahner zur individuellen Selbstbeherrschung. Er schöpfte seine Kraft aus dem Glauben an eine immanente Einheit aller Individuen. Diese Einheit mußte geradezu vorausgesetzt werden, wenn ein Ansprechen auf symbolische Handlungen erwartet wurde. Seine Erfolge bestätigten Gandhi in seinem Glauben. Erst in den Wirren zur Zeit der Teilung Indiens mußte er an diesem Glauben zweifeln und hielt doch an ihm fest. Bis ihn die Kugel des Mörders erreichte, versuchte er immer wieder, die Ansprechbarkeit seiner Mitmenschen zu erforschen, um zu sehen, ob seine Wahrheit auch ihre Wahrheit war. Die Antwort des Attentäters war eine tödliche Absage. Doch war der Tod auch Gandhis letzte Bewährung; er starb mit dem Namen Gottes auf den Lippen, ungeschützt und furchtlos.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ashram = „Stätte der Einkehr", Einsiedelei oder auch Ort einer religiösen Lebensgemeinschaft eines Lehrers (Guru) und seiner Schüler.

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Dietmar Rothermund, geb. 1933, 1953— 1956 Studium der Geschichte und der Philosophie an den Universitäten Marburg und München, 1956— 1959 Studium der amerikanischen Geschichte an der University of Pennsylvania, Philadelphia, 1959 Promotion, 1960— 1962 Forschungsaufenthalt in Indien als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1963— 1967 Wissenschaftlicher Assistent am Südasieninstitut der Universität Heidelberg, 1967 Habilitation, seit 1968 Lehrstuhl für Geschichte Südasiens an der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen: Die politische Willensbildung in Indien, 1900— 1960, Wiesbaden 1965; Indien und die Sowjetunion, Tübingen 1968.