„Eine bisher wenig erforschte Seite der Geschichte des Dritten Reiches ist die der Kolonialpolitik Hitlers." So umschreibt Gerhard L. Weinberg den Stand der Forschung auf einem Gebiet, aus dem im folgenden Beitrag ein begrenzter Ausschnitt betrachtet werden soll. Welche — bisher von der wissenschaftlichen Literatur fast gänzlich übersehene — Bedeutung der Kolonialfrage speziell für die diplomatischen Beziehungen der dreißiger Jahre zukam, vermag vielleicht am besten ein Blick auf jene Monate des politischen Geschehens zu vermitteln, da Europa — nach der Konferenz von München und vor dem deutschen „Griff nach Prag" — noch einmal darauf hoffte, daß es seinen Staatsmännern gelingen möge, den Frieden zu sichern: Auf der einen Seite sehen wir Hitler, der auch nach dem 29. /30. September 1938 weiterhin versuchte, die Westmächte durch koloniale Forderungen zu kontinentalen Konzessionen zu zwingen und dabei einen späteren Ausgriff nach Übersee nicht prinzipiell ablehnte, ja die „Fahrt über See" während dieser Zeit sogar schon vorbereiten ließ. Auf der anderen Seite steht der englische Premierminister Neville Chamberlain, der daran glaubte, nicht zuletzt durch koloniale Offerten an das Reich Hitler zu einem friedlichen Übereinkommen bewegen zu können.
Koloniale Forderungen und Angebote als Mittel der Politik Hitlers und der Westmächte
Am 11. Oktober 1938 stellte Belgiens Botschafter Graf Davignon im Gespräch mit dem deutschen Staatssekretär von Weizsäcker die Prognose auf, in Zukunft werde nicht allein England, sondern vor allem auch Frankreich dem Reich auf kolonialem Feld entgegenkommen Am gleichen Tag führte in London Fritz Hesse, Vertreter des Deutschen Nachrichtenbüros und der „Dienststelle Ribbentrop" in der engli-sehen Hauptstadt und zugleich Mitarbeiter der Presseabteilung in der Londoner Botschaft, eine längere Unterhaltung mit Mr. Steward, dem Pressechef und Berater Chamberlains 2a). Steward berichtete von den Schwierigkeiten, denen der englische Premierminister mit seiner Politik der Verhandlungsbereitschaft im eigenen Land begegne, bat in der Kolonial-frage sowohl um die Zurückhaltung Berlins als auch vor allem darum, die deutschen Kolonialwünsche nicht öffentlich vorzubringen, „weil dies dem Premierminister unmöglich mache, die Dominions für die deutschen Forderungen zu gewinnen". Jede Kolonialforderung von seifen des Reiches löse in den Commonwealthländern einen Proteststurm aus und lege deren Politik fest, bevor London eingreifen könne. Hesses englischer Gesprächspartner ließ durchblicken, die Kolonialfrage könne überhaupt nur „Zug um Zug mit der Abrüstungsfrage gelöst werden, wobei die Ab-Diesem Beitrag liegen Ergebnisse der am Seminar für Neuere Geschichte der Universität Mannheim entstandenen Dissertation des Verfassers über „Hitler, NSDAP und koloniale Frage 1919— 1945" zugrunde, die in Kürze als Buch im Wilhelm Fink Verlag, München, erscheint. Auf eine Erörterung des Forschungsstandes und erschöpfende Belege, besonders zur außenpolitischen „Konzeption" Hitlers, darf im Hinblick auf die Veröffentlichung verzichtet werden. rüstungsfrage die Priorität haben müsse". Welch eine bezeichnende Unterredung, in der das koloniale Thema nach englischer Vorstellung zu einem zeitweiligen „Bündnis" zwischen den beiden Regierungen gegen jeweilige innenpolitische Gegner führen sollte!
Erinnern wir uns, daß Chamberlain — ohne es zu beabsichtigen — durch den Abschluß des Münchener Abkommens dazu beitrug, Hitler vor einem Coup seiner konservativen Verschwörer zu bewahren. Nunmehr war es ein Mann aus der Umgebung Chamberlains, der unmißverständlich erkennen ließ, daß es im deutschen Interesse liege, den englischen Premierminister vor der Opposition und den Dominions in Schutz zu nehmen. Es komme nicht darauf an, die von Chamberlain längst als Verhandlungsobjekt anerkannte Kolonialforderung immer wieder aufs neue zu stellen, sondern durch Zurückhaltung des Reiches gerade auf diesem Sektor der Außenpolitik die innenpolitische Stellung des englischen Premiers zu stärken, damit dieser in aller Stille und ohne Widerstände seine, wie man glaubte, auch für Deutschland vorteilhafte Außenpolitik realisieren könne. Koloniale Konzessionen Englands auf der einen Seite und die an Deutschland gerichtete Bitte um einen Halt der Kolonialpropaganda im Reich auf der anderen Seite, um innenpolitisch im Sattel zu bleiben, erscheinen als Devisen der Regierung Chamberlain im Oktober 1938. Das ist ein Musterbeispiel für das Ineinandergreifen von Innen-und Außenpolitik, wobei noch als Kuriosum hinzutritt, daß es der demokratisch gewählte Premierminister Chamberlain war, der durch kontinentale Konzessionen an den Diktator Hitler dazu beitrug, innenpolitische Gegner des nationalsozialistischen Regimes mattzusetzen und nun erwartete, daß der Diktator durch Konzessionen auf dem Feld der kolonialen Propaganda half, die innenpolitische Opposition in England und im Empire, die Labour Party, die konservativen Dissenters und die Dominions in Schach zu halten! Dafür winkte dem Diktator die Lösung der Kolonialfrage, die wiederum nur Chamberlain, nicht aber etwa ein Mann der konservativen Opposition, den vermeintlichen Wünschen des Reiches entsprechend, durchführen könne. Für den englischen Premierminister ergab sich durch diesen über Afrika geschlossenen „Bund" mit dem Diktator die Möglichkeit, seine Politik zu realisie-ren und den Frieden zu bewahren. Die Kolonialfrage erschien als politisches Mittel, mit dem der deutsche Diktator in die englische Innenpolitik eingreifen konnte, und als Brücke zum „Bündnis" zwischen Demokratie und Diktatur. Hitler selbst schätzte sie als Fernziel seiner kriegerischen Expansionspolitik ein, und Chamberlain wiederum glaubte — wie ehemals Hitler unter anderen Vorzeichen —, mit der Kolonialfrage den Schlüssel gefunden zu haben, mit Deutschland zu friedlichem Übereinkommen zu gelangen.
Denn nach wie vor hielt der Premierminister an der Politik des Junktims fest, die Lösung der Kolonial-und der Rüstungsfrage miteinander zu verquicken. In England selbst bestand ein beträchtliches Verlangen danach, wie der deutsche Botschafter von Dirksen am 15. Oktober 1938 nach Berlin berichtete im Sinne dieser von Chamberlain initiierten Politik und auf dem Wege der Kolonialfrage und der Rüstungsvereinbarungen zu einem Übereinkommen mit dem Reich zu gelangen. Hitler aber war allen diesen Vorschlägen, ja allein schon der Prozedur von Verhandlungen grundsätzlich abgeneigt! Die Kolonialfrage war für ihn noch nicht aktuell, die Rüstung aber konnte er in Anbetracht seiner auf die Dauer von mehreren Jahren veranschlagten Politik einer kriegerischen Expansion der getrennten Schläge nicht begrenzen. Und was die Einschätzung Englands im allgemeinen betraf, so zählte es inzwischen durchaus zu den Gegnern des „Führers", wie nicht nur seine „unbegreiflich rüde Rede in Saarbrücken" am 9. Oktober 1938 einen Tag nach der besonders im Ausland Schrecken und Abscheu hervorrufenden „Reichskristallnacht" zeigte, sondern wie auch Äußerungen in sehr privatem Kreis am 14. Oktober 1938 beweisen Und doch respektierte Hitler zu dieser Zeit, aus Desinteresse und Klugheit gleichermaßen dazu veranlaßt, den Wunsch Chamberlains nach einem Stopp in der Kolonialpropaganda. In keiner seiner England angreifenden Äußerungen stellte der Diktator die Kolonialforderung, und ein für die Redner des Reichskolonialbundes bestimmtes Zirkular teilte unter dem Datum des 18. Oktober 1938 vertraulich mit „Die Kolonialfrage ist bis auf weiteres mit Zurückhaltung zu behandeln." 9a) Hitler schien das „Bündnis" mit Chamberlain einzugehen, sollte doch das Kolonialproblem für ihn erst in einigen Jahren interessant werden.
Angesichts dieser Zurückhaltung Hitlers auf kolonialem Feld verwundert es kaum, daß der deutsche Botschafter in London am 31. Oktober 1938 nach Unterredungen mit Innenminister Sir Samuel Hoare, Verkehrsminister Burgin und anderen dem Premierminister näherstehenden Persönlichkeiten melden konnte „Chamberlain hat volles Vertrauen zum Führer." Es gehe dem englischen Regierungschef und seinem Kabinett nunmehr darum, „eine dauernde Annäherung beider Länder" herbeizuführen. Nach Auffassung der maßgeblichen politischen Kreise und besonders auch nach Meinung Sir Samuel Hoares sei kein Zeitpunkt für einen solchen Schritt so günstig wie der gegenwärtige: „In Chamberlain verfüge die englische Regierung über einen Staatsmann, dem die Erreichung seines Ziels einer dauernden deutsch-englischen Annäherung gleichzeitig Verstandesforderung und Herzenssache sei." Im Zentrum solcher Besprechungen sollten nach englischer Vorstellung Rüstungsfragen, insbesondere aber das Problem der Luft-rüstung, stehen. Daß solche Verhandlungen über die Begrenzung der Luftrüstung natürlich deutscherseits im Blick auf die russische Luft-macht geführt werden müßten, traf in England, von Dirksens Worten zufolge, auf volles Verständnis. „Wenigstens ließ Sir Samuel Hoare auf meine diesbezüglichen Ausführungen die Bemerkung fallen, daß nach einer weiteren Annäherung der vier europäischen Großmächte die Übernahme gewisser Abwehr-Verpflichtungen bzw. sogar einer Garantie durch sie gegen Sowjetrußland im Falle eines sowjetrussischen Angriffs denkbar sei." Zumindest Sir Samuel Hoares Sympathien scheinen im Oktober 1938 eher dem nationalsozialistischen Deutschland als dem stalinistischen Rußland gehört zu haben, wie aus dieser für die englische Politik vielleicht aufschlußreichen Feststellung hervorgeht. Auf der anderen Seite, so meldete von Dirksen weiter, sei der britischen Regierung klar, daß „ein voller deutsch-englischer Ausgleich eine Befriedigung der berechtigten deutschen Kolonialansprüche zur Voraussetzung hat . ..". Der Botschafter beurteilte die Chancen einer deutschen Initiative auf kolonialem Feld zum damaligen Zeitpunkt, also kurz nach Beendigung der Münchener Konferenz, positiv.
Rüstungsbeschränkung contra Kolonien — das waren Chamberlains diplomatische Vorschläge; Rüstung, Europa und Kolonien — so lautete Hitlers konträres „Programm" für die Zukunft.
In der offiziell gelenkten Propaganda des Reiches aber hielt die vom Goebbelsschen Ministerium verordnete kolonialpropagandistische Flaute an. Am 31. Oktober erklärte der Gesandte Aschmann aus dem Stabe von Ribbentrops den Pressevertretern, es sei momentan nicht erwünscht, eine große Kolonialdebatte anzuzetteln. Deutschland habe den anderen die Initiative zugeschoben und warte ab Am gleichen Tag, dem 1. November 1938, aber berichtete der englische Geschäftsträger Sir George Arthur Ogilvie-Forbes aus Berlin an seinen Außenminister in London Ritter von Epp habe am 29. Oktober die erste kolonialpolitische Schulungsstätte der NSDAP in Ladeburg bei Berlin eröffnet und zwei Tage darauf habe Goebbels Mr. F. L. Kerran, dem Kandidaten der Labour Party für den Wahlkreis Luton, gegenüber die koloniale Forderung mit Leidenschaft erhoben. Sir Ogilvie-Forbes'Bericht mag als Beweis dafür dienen, wie aufmerksam die Briten jedes Wort über die kolonialen Forderungen — aus englischer Sicht ein Thema der Weltpolitik schlechthin — registrierten.
Auch in den Beziehungen des Reiches zu Frankreich, das gegenüber Berlin eine, wenn auch nur wenige Monate andauernde selbständige Politik zu treiben versuchte spielte die koloniale Frage eine erhebliche Rolle. Durch die englisch-deutsche Erklärung vom 30. September 1938 angeregt, hatte Frankreichs scheidender Botschafter Francois-Poncet — um nicht, von England getrennt und Berlin feindlich gegenüberstehend, die Angriffe Mussolinis abwehren zu müssen — einen Versuch unternommen, Beschwichti-gungspolitik im Sinn des Quai d’Orsay zu treiben. Als Frangois-Poncet am 25. Oktober Berlin verließ, hatte er in groben Zügen in Übereinstimmung mit Hitler einen Entwurf vorbereitet, der als offizielles Dokument von den Außenministern beider Länder unterzeichnet werden sollte. Nachdem er und Außenminister Bonnet dann jedoch vierzehn Tage lang nichts mehr aus Berlin gehört hatten, argwöhnte der Botschafter, „Hitler sei wieder unter den Einfluß seiner radikalen Ratgeber geraten"
Diese aber rieten ihm ab, sich Frankreich gegenüber zu binden und sich somit die Handlungsfreiheit nehmen zu lassen. „Sie sollen namentlich betonen", so überliefert uns der damalige Chef des Quai d’Orsay, Georges Bonnet, die Befürchtungen Franfois-Pöncets, „daß eine Anerkennung unserer Grenzen Deutschland in seinen kolonialen Ansprüchen behindern würde. Es heißt weiter, daß sie ihn dazu drängten, sofort und in der energischsten Weise diese Forderung zum Ausdruck zu bringen, von der er nur als von einer wichtigen, indessen nicht dringlichen Angelegenheit gesprochen hatte." Fran? ois-Poncet machte die Berliner „Kriegspartei" dafür verantwortlich, daß Deutschland und Frankreich nicht zu einer entsprechenden Vereinbarung kamen, wie sie Chamberlain und Hitler am 30. September in München abgeschlossen hatten. Als entscheidenden Grund aber sah er dabei die Kriegslüsternheit und Kolonialforderungen der Berliner „Bravados" an Sicherlich mochte von Ribbentrop als ein Vertreter kolonialer Revisionspolitik gelten und vielleicht war Fran-
ois-Poncet bekannt, daß von Ribbentrops Freund, Heinrich Himmler, gerade damals koloniale Vorbereitüngsarbeiten in der SS anlaufen ließ 15a). Im November 1938 aber in entscheidenden Fragen der deutschen Politik an prinzipielle Meinungsverschiedenheiten, soweit sie für die politische Praxis relevant werden konnten, zu glauben, hieß, die Lage völlig zu verkennen. Es mochte einfach Hitlers Desinteresse an einem papiernen Bündnis mit Frankreich sein, das ihn davon abhielt, den mit Francois-Poncet vereinbarten Plan weiter zu verfolgen. Niemals jedoch hätte ihn das koloniale Argument seiner Berater von einer Aussöhnung abhalten können, wäre sie ihm erwünscht gewesen!
Hitler aber hatte indessen ein weiteres Objekt seiner Politik anvisiert. Bereits am 24. Oktober 1938 hatte Polen die erste Anfrage der deutschen Regierung abgelehnt die von Warschau erfahren wollte, ob es bereit sei, Danzig ans Reich zurückzugeben und einer exterritorialen Verbindung durch den Korridor zuzustimmen. Schon schwelte die Lunte unter dem polnischen Pulverfaß, als Paris den Weg zur Verständigung mit dem Reich zu suchen begann. Trotz des offenkundigen Desinteresses der deutschen Seite an einer solchen Lösung liefen die Verhandlungen weiter, und von Ribbentrop betonte am 5. Dezember 1938, daß mit der Garantie der Grenzen „die Kolonialfrage . . . natürlich nicht präjudiziert" werde Derweil unternahm Hitler in seiner Rede zum Jahrestag des Novemberputsches im Münchener Bürgerbräukeller am 8. November 1938 aufs neue einen Angriff gegen Englands Staatsmänner und machte unmißverständlich klar, daß er den Austausch zwischen Vereinbarungen auf kolonialem und rüstungstechnischem Sektor ablehne. Er unterstrich, daß die Regelung kolonialer Forderungen eine Frage der Gerechtigkeit sei und niemals Anlaß kriegerischer Verwicklungen werden könne. Uber die Kolonialfrage hinaus aber wisse er nicht, was er mit den Demokratien zu verhandeln habe, da es keine Reibungsflächen mehr gebe. Schon vorher hatte er erklärt, Deutschland denke nicht an Abrüstung angesichts einer Welt, die in Waffen klirre. Fast unberührt von allen diplomatischen Bemühungen bietet sich Hitlers Politik dar: Zwar konnte er den Westmächten seinen „Fahrplan" zur „Weltmachtstellung" nicht vorlesen, doch stellte er immer wieder das Vehikel, das ihn ans Ziel tragen sollte, zur Schau, nämlich militärische Macht. Militärische Macht würde es sein, die England im Zaume halten und seine Erfolge garantieren sollte. Um keinen Preis der Welt — auch nicht um afrikanische Gebiete, wie Chamberlain es glaubte — war er sie zu opfern bereit. Denn nach den kontinentalen Gewinnen winkten die afrikanischen Ziele als ein im Kampf mit England dem Reich als reife Frucht zufallendes Geschenk, als von Großbritannien freiwillig gezolltes Opfer. Im Sinne Hitlers sprach der zu dieser Zeit schon mit kolonialen Vorbereitungen beschäftigte Himmler am gleichen Tag, dem 8. November 1938, gegenüber seinen SS-Gruppenführern davon daß „das, was Deutschland in der Zukunft vor sich hat, . . . entweder das großgermanische Imperium oder das Nichts" sei. Hans Booms hat bereits darauf aufmerksam gemacht wie sich darin Hitlers 1925 in „Mein Kampf" ausgegebene Parole „Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein" spiegelte. Himmler aber fuhr in der Rede an „seine lieben Männer" fort: „Ich habe den Glauben, wenn wir in dieser Schutzstaffel unsere Pflicht tun, daß dann der Führer dieses großgermanische Imperium, das großgermanische Reich schaffen wird, das größte Reich, das von der Menschheit errichtet wurde und das die Erde je gesehen hat." Ob Himmler mit diesen Worten wohl Hitlers „Programm" der Errichtung einer kontinental-überseeischen „Weltmachtstellung" meinte? Was Admiral Carls, der Chef des „Flottenkommandos", im September 1938 als den Willen Hitlers bezeichnete, nämlich die Errichtung einer in sich gesicherten „Weltmachtstellung" mag bei Himmler, dem Vorkämpfer der germanischen Rassenherrschaft über die Welt, biologisch-mythische Züge angenommen haben und tritt uns daher als „großgermanisches Reich" entgegen. Ja, man kann nicht umhin, in Kenntnis der Hitlerschen Gedanken vom Kampf der durch das rassisch hochwertige Deutschland geführten „Weltmacht Europa" gegen die „Weltmacht USA" Himmlers Ausführungen über „das größte Weltreich, das von der Menschheit errichtet wurde und das die Erde je gesehen hat", als einen Aufruf zu verstehen, sich für die Auseinandersetzung um die Weltvorherrschaft zu wappnen.
Wie sollte Englands Politik der vernünftigen Regelungen angesichts der hier in wenigen Sätzen sichtbaren Motive deutscher Politik zum Zuge kommen, wenn man sich dazu als nicht zu unterschätzendes Hindernis, die wahren Ziele der Politik des Dritten Reichs zu erkennen, vor Augen hält, daß im offiziellen diplomatischen Verkehr die typisch nationalsozialistischen Triebkräfte der Politik hinter den traditionellen Gesten einer geschulten Berufsdiplomatie fast völlig verschwanden? Inwieweit mußte man sich, selbst wenn man von den utopisch anmutenden Plänen Hitlers und Himmlers erfahren hätte, nicht an die offizielle Position der bekannten Männer in der Wilhelmstraße halten, schien sie doch die einzige Chance zur friedlichen Übereinkunft zu bieten? Wie der diplomatische Verkehr vor der Folie der „programmatischen" Utopie normal weiterzulaufen schien, so planten zur gleichen Zeit auf innenpolitischer Ebene Unternehmungen wie die IG-Farben, „mit Rücksicht auf das jetzt im Vordergrund stehende Kolonialproblem" eine Verkaufsorganisation in Afrika aufzubauen versuchten damit zugleich, wirtschaftlich von der ins Auge gefaßten überseeischen Politik zu profitieren, ohne die rassisch motivierten Weltmachtsgedanken weiter zu beachten. Im innen-wie im außenpolitischen Bereich gingen die Geschäfte und Verhandlungen der Diplomaten und der Wirtschaft in den traditionellen Bahnen weiter, erschienen unabhängig vor den Hintergrund des „totalitären Programms" gestellt und waren doch von ihm abhängig, gründeten ihre Arbeit auf seine Existenz und ermöglichten damit Bestand und Realisierung dieses „Programms". Dem „totalitären" Prinzip Hitlerscher Außenpolitik korrespondierten als „normale" Kehrseite die Geschäfte, Verhandlungen und Planungen der Wirtschaft, der Diplomatie und der Wehrmacht, halfen das Prinzip zu verdecken und bereiteten den Weg zu seiner Verwirklichung 22a). Als einzige Gegenleistung des Regimes für diese oft unbewußt und unfreiwillig dargebrachten Tarndienste mögen die Vertreter der Wirtschaft, der Diplomatie und der Wehrmacht es angesehen haben, daß es vielleicht nur der „totalitären" Überanstrengung des Jahres 1933 und der folgenden Zeit zu verdanken war, wenn die ihre Existenz garantierende Gesellschaftsordnung vorläufig und scheinbar durch die Errichtung eines politischen Systems vor Veränderungen bewahrt werden konnte dem sie nun selbst unterworfen waren. Als im November 1938 der südafrikanische Verteidigungsminister Oswald Pirow im Rahmen seiner Europareise auch Berlin besuchte stand das Kolonialproblem neben der „Judenfrage''und der deutschen Ostpolitik im Vordergrund der Gespräche. Aber Hitler schenkte den diplomatischen Vorschlägen des südafrikanischen Politikers wohl kaum allzu große Aufmerksamkeit, war doch sein „unabänderlicher Entschluß" gefaßt, sein „Programm" militärisch zu realisieren. So übernahm es zuerst einmal Außenminister von Ribbentrop Pirow ganz im Sinne der Hitlerschen „Konzeption" zu antworten, die Kolonialfrage als „im Augenblick nicht akut" zu bezeichnen und hinzuzusetzen, „daß sie in einigen Jahren (fünf bis sechs) besprochen werden könne". Als zwei Tage darauf Frankreichs neuer Botschafter in Berlin, Robert Coulondre, dem deutschen Außenminister seinen Antrittsbesuch abstattete, führte von Ribbentrop Hitlers Gedanken noch weiter aus und forderte Frankreich auf, sich am Kontinent zu desinteressieren. Er machte dem neuen Botschafter des Quai d'Orsay klar, daß sich die europäischen Staaten auf ihre wirklichen Interessen beschränken sollten: Frankreich auf sein großes Kolonialreich, England auf sein Empire und Deutschland auf seine eigentliche Interessensphäre, den Südosten Europas. Als Coulondre die Kolonialfrage anschnitt, erklärte von Ribbentrop unter Bezug auf seine Unterhaltung mit Pirow, „daß, wie man sehe, diese Frage noch nicht reif sei und man gut daran täte, sie erst in einigen Jahren anzupacken". Im übrigen aber sei ja der deutsche Rechts-standpunkt ganz klar. Von Ribbentrop argumentierte jetzt, im November 1938, in offiziellen Verhandlungen ganz auf der Linie Hitlerscher Politik, die der „Führer" ein Jahr zuvor eingeschlagen hatte: Erst Europa und in den vierziger Jahren der Griff nach Ubersee! 26a)
Während sich Chamberlain und Halifax in London anschickten, zur Erörterung einer gemeinsamen Politik gegenüber den Diktatoren ihre französischen Kollegen aufzusuchen glaubte man deutscherseits, erste Erfolge der in München eingeschlagenen Politik der Franzosen, wie man sie im Umkreis von Ribbentrops verstand, zu erblicken. In der Versteifung der französischen Haltung in der Kolonialfrage — offenbar schien sich Davignons eingangs erwähnte Prognose nicht zu bestätigen — sah man einen Beweis für die von Daladier und Bonnet angestrebte außenpolitische Neuorientierung Frankreichs. In Mittel-und Osteuropa, so wollte man es in Berlin sehen, befinde sich die Trikolore auf dem Rückzug, um um so stolzer die Macht des „größeren Frankreichs" in Ubersee zu verkünden
Betrieb Paris in der Tat 1938 die Politik der getrennten Interessensphären, die Hitler den Engländern so lange angepriesen hatte? Wie war es um Chamberlains großen Plan, über die Kolonialpolitik zur Errichtung einer friedlichen Welt zu gelangen, bestellt, wenn die eigensinnigen Vorstellungen des gallischen Partners zutrafen? War Frankreich wirklich so kurzsichtig, seine östlichen Partner aufzugeben und Hitler „freie Hand" zu lassen? War nicht allgemein bekannt, daß der „Führer" — anders als in seinen Bemühungen um Großbritannien — Frankreich gegenüber nie eine ähnliche Offerte auf kolonialem Gebiet als Aufforderung zur Partnerschaft gemacht hatte? Ja, reflektierte nicht Mussolini, neidisch und aggressiv, auf die überseeischen Besitzungen der lateinischen Schwesternation?
Während — besonders von französischer Seite vorangetrieben — die Vorbereitungen für das deutsch-französische Abkommen weiterliefen und Paris sich bereits zu dem Vorbehalt des deutschen Reichsaußenministers, das Kolonial-problem dürfe keinesfalls durch die gegenseitige Garantie der Grenzen präjudiziert werden, verstanden hatte gelang es nun dem immer noch in Europa weilenden Pirow endlich, nach von Ribbentrop und anderen Prominenten des Dritten Reiches, wie etwa dem Ritter von Epp Hitler in Berchtesgaden zu treffen Unter dem Eindruck der Reichskristallnacht und der jüdischen Emigration schlug der südafrikanische Politiker vor, die Juden in deutschen Kolonien anzusiedeln. Auf Hitlers Bemerkung, das Reich habe keine überseeischen Besitzungen, entgegnete Pirow, „daß dieses Angebot, Juden in deutschen Kolonien anzusiedeln, eine neue Situation in der internatonalen Diskussion der Kolonialfrage schafft". Doch Hitler lehnte es ab, das Kolonialproblem und die „Judenfrage" in einer Regelung miteinander zu verquicken. Selbst wenn er dazu bereit wäre, so erklärte der „Führer", könne er das dem deutschen Volk gegenüber nicht tun. Man würde es im Reich nicht verstehen, „daß Gebiete, in denen so viel deutsches Heldenblut geflossen sei, in denen ein Lettow-Vorbeck gekämpft hätte, den ärgsten Feinden der Deutschen zur Verfügung gestellt würden".
Der Pirowsche Vorschlag brachte für Hitler keinen ersichtlichen Vorteil, wenn wir der von Legationsrat Hewel besorgten Aufzeichnung folgen und die von Pirow in seinen Memoiren berichtete Version aufgrund des minderen Quellenwerts außer acht lassen. Ihr zufolge hatte der Besucher aus Südafrika nämlich dem „Führer" gegenüber versichert, wenn Deutschland sich zu der von ihm skizzierten Lösung des Juden-und Kolonialproblems verstehen könne, so würde Hitler bei Chamberlain bestimmt Verständnis und Erlaubnis für seine Politik der „freien Hand" im Osten erhalten Doch das Judenproblem sollte, Hitlers Doktrin folgend, endlich auf andere Art als durch überseeische Aussiedlung gelöst werden, und es erschien ihm noch zu früh, die Kolonialfrage zu regeln. Pirows Plan hätte den später initiierten, doch schon in „Mein Kampf" angekündigten 33a) „Vernichtungsfeldzug" gegen das Judentum verhindert und Hitler u. U. gerade solche Gebiete in Ubersee genommen, die in die geplante „Weltmachtstellung" mit einbezogen werden konnten. Seiner Doktrin und dem daraus entwickelten außenpolitischen „Programm" liefen Pirows Pläne entgegen. Ja, wäre Hitler dem südafrikanischen Politiker gefolgt, so wären es seiner monomanen Vorstellung zufolge, rückblickend gewiß die Juden gewesen, die das Reich auch um seine überseeische „Weltmachtstellung" gebracht hätten. Daher, so ist man heute anzunehmen geneigt, behielt er sich den weltweit vorgestellten und dann auch international geführten Kampf gegen das Judentum als eine nationale Aufgabe vor und beseitigte Diskussionen über die Kolonialfrage mit der nun schon aus seinem Mund seit über einem Jahr bekannten und auch durch von Ribbentrop benutzten Formel, man müsse sie in fünf oder sechs Jahren wieder aufwerfen. Nur wenige Sätze später gab Hitler eine Begründung für diese Verzögerung und erklärte, die Abänderung seines „Programms", nämlich — früher als ursprünglich vorgesehen — nach Übersee auszugreifen, aus seiner enttäuschten Liebe zu England: „Wenn England schlau gewesen wäre, so könnte zwischen England und Deutschland ein Verhältnis engster Freundschaft bestehen. Deutschland als stärkste Militärmacht der Welt, England als stärkste Seemacht der Welt würden die gigantischste Macht der Welt darstellen .. 33b). Nun aber, so darf man Hitlers Gedanken wohl ver-stehen und ergänzen, schien ihm der Kampf mit Großbritannien fast unausweichlich, würde Deutschland die störrischen Briten strafen und zum überseeischen Konkurrenten heranwachsen.
Unterdessen versteifte sich auf französischer Seite in allen Lagern, von den Radikalsozialisten des Ministerpräsidenten Daladier über die rechtsstehende Federation Republicaine bis hin zur Senatskommission für Kolonialfragen und beiden Häusern des Parlaments, die Front gegenüber den deutschen Kolonialforderungen Es erscheint einleuchtend, daß Hitler mit seinen Äußerungen, die nicht auf eine baldige Regelung des Kolonialproblems drängten, in Frankreich — anders als die die Kolonialfrage immer wieder anrührenden Diplomaten und Propagandisten des Reiches — als Vertreter einer gemäßigten Außenpolitik gelten konnte.
Noch blickte Hitler nach Prag, ja hin und wieder sogar schon nach Warschau, als sein Außenminister von Ribbentrop beim Oberkommando der Wehrmacht in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt die Vorbereitung der Kolonialarbeit anregte. Seit dem 28. November 1938, so erfahren wir aus dem Bericht Nr. I des OKW über den Stand der kolonialen Vorarbeiten, kooperierten das Oberkommando der Wehrmacht und die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes aufgrund der Anregung des Ministers Gleichzeitig aber sprach Hitler gegenüber dem belgischen Botschafter Davignon nur beiläufig über das koloniale Thema, und von Ribbentrop erklärte dem belgischen Grafen, die Frage werde wohl erst in fünf bis sechs Jahren spruchreif sein Die praktischen, nicht nur wie bisher propagandistischen Vorbereitungen für die vierziger Jahre hatten bereits begonnen, die Planungen für das „never — never land of history" setzten ein, und in der im Herbst 1938 verfaßten Schlußdenkschrift des Planungsausschusses des Oberkommandos der Marine „Seekriegsführung gegen England" wurden kolonial« Erwerbungen bereits als eine unter andere] Möglichkeiten diskutiert, um überseeisch« Stützpunkte für die Auseinandersetzung mi England zu gewinnen. Hitlers Plan dagegei war es, Kolonien erst nach den kontinentale! Aktionen, auf keinen Fall aber sofort zu er werben, wie es die Marine der Diplomatie vorschreiben wollte. Vorläufig aber hieß es auf dem Gebiet der kolonialen Propagande „kurz zu treten" und „nicht mehr gegen die englische Regierung zu Felde zu ziehen unte: dem Thema Kolonialfrage usw." Die „heimliche Allianz" zwischen Chamberlair und Hitler bestand weiterhin!
Endlich wurde in diesen Tagen, amß. Dezembe] 1938, die deutsch-französische Freundschafts erklärung unterzeichnet Bevor von Ribbentrop am Vormittag um 11 Uhr in der historischen Salle l’Horloge des Quai d'Orsay seine Unterschrift unter dieses so unbedeutende Dokument setzte, das zugleich den Höhe-unc Endpunkt der vom Oktober bis zum Dezembei von Paris versuchsweise selbständig geführten Deutschlandpolitik bedeutete hatte Gral Welczek Außenminister Bonnet nochmals auf die deutschen Kolonialansprüche hingewiesen, die unbeachtet der Grenzgarantien weiterbestünden In einer sich an den historischen Akt anschließenden Aussprache zwischen den beiden Außenministern machte Bonnet von Ribbentrop auf dessen Nachfrage hin klar, daß Frankreich in der Kolonialfrage im jetzigen Augenblick nichts zugunsten Deutschlands unternehmen könne. „Es habe in München sehr erhebliche Opfer bringen müssen, und als daher im Anschluß an das Münchener Abkom-men aus deutschen Verlautbarungen bei Frankreich der Eindruck entstanden sei, als wolle das Reich nunmehr unmittelbar nach München mit neuen Forderungen auf dem Kolonialgebiet kommen, habe sich in französischen Kreisen der bekannte absolute Widerstand in der Kolonialfrage erhoben, so daß im Augenblick nichts zu machen sei ..
Nicht nur für Frankreich und Großbritannien war es wichtig, die künftige Stoßrichtung deutscher Politik zu kennen, auch kleinere Nationen, wie z. B. Bulgarien, zeigten Interesse für das deutsche Kolonialproblem. So wollte der bulgarische Gesandte am 9. Dezember 1938 von Unterstaatssekretär Woermann „besonders wissen" ob die Kolonialfrage mit Pirow erörtert worden sei. Das Interesse des südosteuropäischen Landes scheint dabei eindeutig zu sein: Man wollte erfahren, ob der nächste Vorstoß Hitlers in den Süden, Osten oder Südosten des europäischen Kontinents oder in die Weiten überseeischer Länder führen werde. Wie gebannt, so scheint es, blickten alle Nationen in diesen ersten Dezembertagen des Jahres 1938 auf den Mann in Berlin, der seinerseits fernab von den diplomatischen Verhandlungen und, fast ist man geneigt zu sagen, in krankhafter Monomanie seinen Zielen nachjagte.
Unter seinen Mitarbeitern herrschte indessen Uneinigkeit über die Vor-und Nachteile der verschiedenen in Berlin vertretenen außen-politischen Konzeptionen. Das Kolonialpolitische Amt gab sich auf einer am 15. Dezember abgehaltenen Pressekonferenz — ganz im Sinne des englisch-deutschen Stillhalteabkommens — zurückhaltend Ostpreußens selbstherrlicher Gauleiter Koch erschien wenige Tage später bei von Ribbentrop, um mäßigend auf ihn einzuwirken Der Mann, der drei Jahre später den Ostminister Rosenberg kaltstellen sollte bezeichnete den Gedanken an einen europäischen Krieg als „das Ende von allem" und als reinen Wahnsinn, charakterisierte die Idee kolonialer Erwerbungen als absurd, da man gar nicht wisse, was damit anzufangen sei, und sah als fernes Ziel deutscher Politik die Ukraine an: „Ja das ist etwas anderes, aber nicht für heute, für morgen, und mit den anderen". Ein tiefer Unterschied trennte Koch von Hitler. Was der „Führer" — an seinem „Programm" gemessen und psychologisch bedingt — unter Zeitdruck in Kürze erreichen wollte, das war für Koch ein fernes Ziel. Was Koch im Verein mit den anderen, das heißt mit England und etwa im Rahmen einer neuen „Münchener Vereinbarung" zu erreichen gedachte, wollte Hitler bei englischer Neutralität in einem kurzen Feldzug erraffen!
Hitlers Kolonialauftrag vom März 1939
Doch der Gedanke, Kolonien zu erwerben, erschien Hitler längst nicht mehr als „absurd", denn bald schon verlieh er den kolonialpolitischen Vorbereitungen seine offizielle Anerkennung. Bereits Anfang Dezember 1938 griff er mit entsprechenden Anweisungen bei den beteiligten Dienststellen ein. In den ersten Dezembertagen des Jahres 1938 sprach Oberst von Geldern-Crispendorf, Offizier in der Abteilung I des OKW und Beauftragter seiner Dienststelle für die Kolonialfrage, in einer Unterredung mit dem Vertreter der Dienststelle des Wirtschafts-und Rüstungsamtes des Oberkommandos der Wehrmacht davon Hitler habe die „Anweisung" gegeben, die Kolonialfrage bei allen Staats-und Partei-dienststellen propagandistisch weiterzubearbeiten, sie jedoch zur Zeit nicht „zur akuten Forderung" zu machen, „da andere politische Ziele im Vordergrund stehen". Daß Deutschland für die Regelung der Kolonialfrage einen Aufschub als erwünscht betrachtete, ließ Hitler zu diesem Zeitpunkt auch ausländische Di-plomaten wissen Den Grund bildeten, wie das OKW erfuhr, andere, im Zentrum des Interesses stehende politische Ziele. Als besonders wichtig notierte von Geldern dies: „Insbesondere will der Führer auf keinen Fall die Kolonialfrage mit der Judenfrage verquickt haben. Die Judenfrage sei für das Ausland sehr erwünscht gekommen und sofort aufgegriffen worden, das wäre jedoch nur taktisch zu werten. Schon vor ihrer Zuspitzung hätte eine völlige ablehnende Haltung im gesamten Ausland in der Kolonialfrage vorgelegen. Der Führer wird auf der Rückführung sämtlicher Kolonien bestehen . . .". Austauschpläne, wie im Pirowplan erwähnt, seien als indiskutabel abzulehnen. Weiter informierte Oberst von Geldern seine Kollegen vom Wirtschafts-und Rüstungsamt über die Tätigkeit weiterer, gleichfalls mit Kolonialangelegenheiten betrauter Dienststellen, verwies auf die Abteilung X des Auswärtigen Amtes, auf den Geheimrat Karlowa, der sich sozusagen halbamtlich, aber im Rahmen des Auswärtigen Amtes und als enger Berater von Ribbentrops besonders kolonialwirtschaftlichen Fragen und Planungen widme. Dabei erfahren wir, allerdings ohne genaue Angabe des Informanten, daß von Ribbentrop vor Jahren seine Dienststelle, aus der auch Karlowa hervorging, „als Grund-stock eines Kolonialministeriums eingerichtet" habe. Im Zusammenhang mit von Gelderns Ausführungen über das schon seit geraumer Zeit unter von Epp mit Kolonialangelegenheiten befaßte Kolonialpolitische Amt hören wir, daß diese Dienststelle auch die vom Auswärtigen Amt wahrgenommenen Kolonialbelange unter ihre Führung zu nehmen gedenke: „Dementsprechend besteht ein Plan des Führers, das Kolonialpolitische Amt (KPA) zum Reichs-amt zu machen, das in engster Fühlung mit der Wehrmacht die gesamten Angelegenheiten amtlich bearbeiten soll."
Hatte Hitler zu dieser Zeit schon eine entsprechende Bemerkung darüber gemacht, das KPA zu einem Kolonialministerium zu erheben, wie Gerhard L. Weinberg diesen Ausführungen offenbar entnimmt Einerseits entspräche es durchaus der „Konzeption" Hitlers, eine zentrale Stelle für die vorbereitenden Arbeiten zu schaffen, um in einigen Jahren für die „Fahrt über See" bereit zu sein. Andererseits erscheint es als zu diesem Zeitpunkt taktisch unklug und daher unwahrscheinlich, dem „Führer" zu unterstellen, die öffentliche Mei-nung des Auslandes, besonders aber in England, durch Errichtung eines offiziellen Ministeriums aufs neue zu erregen. Daher wurden die vorbereitenden Arbeiten bis auf weiteres ohne ein-offizielles Ministerium vorangetrieben.
Entscheidend aber ist, daß Hitler — mit europäischen Fragen vollauf beschäftigt — nun die in ein konkretes Stadium eintretenden, das heißt über die reine Propagandatätigkeit hinausgelangten Vorbereitungen beobachtete und billigte.
Von Geldern erwähnte weiter, er sei bereits vor Jahresfrist mit den Kolonialvorbereitungen vom „Wehrmachtsstandpunkt" aus beauftragt worden und Heer und Marine seien gemeinsam damit beschäftigt, die Aufstellung einer Schutztruppe vorzubereiten. Da der Oberst während der tschechischen Krise jedoch anderweitig beschäftigt war, nahmen diese Arbeiten erst am 1. Dezember 1938 ihren Fortgang. Die Kriegsmarine war mit ihren Vorbereitungen — so von Geldern — am weitesten fortgeschritten. Sie war es auch, die die gesamte Entwicklung stark forcierte. Stoßtrupps der Marine in Stärke von jeweils zwei Kompanien waren inzwischen ausgebildet und bereits entsprechende Ausbildungsrichtlinien ergangen. Aber auch die „Abteilung Ausland I" im Oberkommando der Wehrmacht hatte das „Infanterieregiment 69" in Hamburg schon als Schutztruppe in Aussicht genommen, während die Luftwaffe noch keine besonderen Vorbereitungen zu melden hatte. Oberst von Geldern hielt ferner eine enge Zusammenarbeit seiner Abteilung „Ausland I" mit dem Wirtschafts- und Rüstungsamt für wichtig und bat darum, nicht nur die früheren deutschen Kolonialgebiete, sondern auch deren afrikanische Nachbargebiete wie Angola, Mozambique, Belgisch-Kongo, Französisch-Äquatorialafrika „auf alle Fälle" in die wehrwirtschaftlichen Untersuchungen mit einzubeziehen Die ersten Schutztruppen des Dritten Reiches wurden aufgestellt. Wann würden sie gebraucht werden?
Am 20. Dezember 1938 fand in München eine Zusammenkunft zwischen Ritter von Epp und Vizeadmiral Canaris sowie Kapitän zur See Bürckner als den Abgesandten des Oberkommandos der Wehrmacht statt. Neben von Epp nahmen noch sein Stabsleiter im Kolonialpolitischen Amt, Kapitänleutnant a. D. Wenig, und der Leiter der Verbindungsstelle Berlin des Kolonialpolitischen Amtes, Oberstleutnant Bauszus, an der Besprechung teil Man vereinbarte, künftig in enger Fühlungnahme zwischen dem Oberkommando der Wehrmacht und Reichsleiter von Epp auf sämtlichen einschlägigen Kolonialgebieten zusammenzuarbeiten — ähnlich waren ja bereits im November OKW und Auswärtiges Amt übereingekommen. Zusammen damit wurde der wohl noch entscheidendere Beschluß gefaßt, die „grundlegenden Vorarbeiten für die Aufstellung von einsatzbereiten kolonialen Truppen sofort" aufzunehmen. Das Oberkommando der Wehrmacht sollte die Vorbereitungen für den Aufbau späterer Schutztruppen und das Kolonialpolitische Amt die der „Polizei-Truppen" „im zukünftigen kolonialen Neu-Besitz“ bearbeiten.
Bedenkt man in diesem Zusammenhang, daß auch Himmler, die SS und der SD die Aufstellung kolonialer Polizeitruppen planten so wird klar, daß für diesen Fall wahrscheinlich noch eine harte Auseinandersetzung bevorstehen würde. Zwischen von Epp und dem OKW bestand indessen eine „einheitliche Auffassung darüber, daß die vorbereitende Ausbildung für den Kolonialdienst — in heutiger Lage — für Wehrmacht und Polizei gleich sein müsse". Die waffenmäßige Ausbildung als Ganzes — und auch dies wird kaum den Beifall Himmlers und Heydrichs gefunden haben — sollte für Wehrmacht und Polizei beim Oberkommando der Wehrmacht liegen. Das OKW war aufgrund früherer Recherchen über die Nachwuchslage für den Schutztruppendienst orientiert und leitete zusammen mit den Wehrmachtsstellen Bemühungen ein, um für den kolonialen Nachwuchs Sorge zu tragen Heer und Marine, Kolonialpolitisches Amt und SS planten bereits im Dezember 1938 — dem „Programm" ihres „Führers" vorauseilend — für die vierziger Jahre.
Dagegen war Hitler in diesen Tagen mit einer anderen Frage beschäftigt, die sich ihm als Alternative stellte und über die der damals nur teilweise eingeweihte Staatssekretär von Weizsäcker dem ehemaligen Botschafter in Rom, von Hassell, am 16. Dezember berichtete Man plane den Krieg gegen England, so schilderte der Staatssekretär die Politik Hitlers und von Ribbentrops, schwanke aber noch, ob man sich dafür Polens Neutralität erhalte oder aber zuerst im Osten zur „Liquidation" der deutsch-polnischen und der ukrainischen Frage sowie der „Memelfrage" schreite, „die aber nach Hitlers Ansicht keiner Waffengewalt, sondern nur eines eingeschriebenen Briefes an Kaunas bedürfe". Keinesfalls, das dürfen wir allein schon im Blick auf Hitlers Flottenplanung feststellen, dachte der deutsche Diktator 1938 an einen unmittelbar bevorstehenden Krieg gegen England. Vielmehr stand für Hitler fest, erst nach Osten vorzustoßen — sei es, um gemeinsam mit Warschau, bzw. durch ein neutrales Polen gedeckt, gegen die Ukraine zu ziehen, sei es, um den östlichen Nachbarn zu schlagen und die polnische Frage vor dem ukrainischen Problem zu lösen. Hitler blickte nach Prag, Warschau und Kiew, die Kriegsmarine aber plante für den kommenden Krieg gegen England, für das Stützpunktsystem im Atlantik und für die koloniale Landnahme der vierziger Jahre.
Der Oberbefehlshaber der Marine, Admiral Raeder, gewann im Zuge der im Winter 1938/1939 auf längere Sicht geplanten Kriegsvorbereitungen gegen England „in entscheidendem Grad Gehör bei Hitler" Der „Führer" selbst genehmigte im Januar 1939 den Z-Plan, in dessen Zentrum der Bau von sechs Schlacht-schiffen zu 50 000 Tonnen stand und der — vorläufig — absolute Priorität vor allen anderen Rüstungsunternehmen genoß. Ja, auf Hitlers Drängen hin wurde die Frist für die Ausführung des Z-Plans vom Jahr 1948 auf das Jahr 1945 vorgezogen, und in Marinekreisen veranschlagte man die Erfüllung des Z-Plans und den Kriegsbeginn mit den Westmächten schon auf das Jahr 1943 1943— 1945 wollte Hitler den im Osten notwendigen „Lebensraum" spätestens erobert haben, und danach sollte nach seinen eigenen Worten auch das Kolonialproblem wieder aktuell werden. Nach Schätzungen der Marineleitung hätte die für den Kampf gegen England nötige Flotte im Jahre 1943, nach der Kalkulation Hitlers 1945, zur Verfügung gestanden. Die Auseinandersetzung um die Errichtung einer überseeischen „Weltmachtstellung" des Reiches konnte so-dann beginnen und auch Afrika seinen Platz in Hitlers Weltreich einnehmen. In den deutsch-englischen Flottenbesprechungen von Ende 1938/Anfang 1939 forderte das Reich, bereits die im Flottenvertrag vom 18. Juni 1935 festgelegte Klausel anwenden und hinsichtlich der U-Boot-Tonnage die 45 °/o-Grenze überschreiten zu dürfen
Als Polens Außenminister Beck am 5. /6. Januar 1939 in Deutschland weilte und Hitler und von Ribbentrop versuchten, ihn für die „große Lösung" einer deutsch-polnischen Partnerschaft zu gewinnen, da betonte der „Führer" in bekannter Weise „früher oder später" werde er die lebensnotwendigen Kolonien zurückerhalten, ohne Zweifel darüber aufkommen zu lassen, daß es — und zwar zusammen mit Polen — vorher noch andere Probleme zu lösen gelte. Typisch für Hitlers skrupellose Verhandlungstaktik erscheint, daß er Beck gegenüber versicherte, Deutschland wäre vielleicht bereit gewesen, zur Lösung der „Judenfrage" — ein Problem, das Polen wie Deutschland betreffe — ein Territorium in Afrika zur Verfügung zu stellen, wenn nur die Westmächte für die Forderungen des Reiches Verständnis aufgebracht hätten. Es waren erst knapp drei Monate vergangen, als er eben diesen Vorschlag Pirows abgelehnt und an das OKW die Weisung gegeben hatte, strikt von solchen Plänen abzurücken. Doch trotz aller Drohungen und Beteuerungen gemeinsamer Interessen ging Beck auf Hitlers Plan der „großen Lösung" nicht ein!
Hitler und von Ribbentrop bereiteten das Terrain für den nächsten europäischen Schlag vor; OKW und AA führten Besprechungen für den zweiten, den überseeischen Teil der Hitler-sehen Planungen: Am 10. Januar 1939 teilte der Leiter der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt, Bielfeld, in einer Unterredung dem Beauftragten des OKW, von Geldern, mit daß in nächster Zeit in München zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Kolonialpolitischen Amt Verhandlungen begännen, um eine Stelle im Reich zentral mit allen kolonialen Vorbereitungsarbeiten zu betrauen. Dadurch sollten alle anderen Stellen beseitigt werden, die sich ohne besondere Genehmigung mit kolonialen Vorarbeiten beschäftigten. Ob diese neue Zentralstelle dem Außenminister von Ribbentrop oder dem Reichsleiter von Epp unterstehen werde, bleibe der Entscheidung Hitlers Vorbehalten. Dahinter erhob sich die Frage: Würde von Epp bald Chef eines neu geschaffenen Kolonialministeriums sein, und würde es ihm gelingen, der Ämter-und Planungsanarchie auf kolonialem Gebiet Herr zu werden?
Unterdessen schmiedete das Auswärtige Amt weiter an der europäischen Koalition gegen England. Ungarn trat dem Antikominternpakt bei, und von Ribbentrop kündigte dem ungarischen Außenminister Csaky gegenüber an
— wohl immer noch von der Hoffnung auf die polnische Einwilligung bestimmt —, bald würden noch andere Mächte folgen. Die stets wachsende Dynamik und Stärke der „Achsenmächte" bestimme souverän das Weltgeschehen. Dies werde sich bald schon zeigen, denn Deutschland und Italien hegten durchaus „noch legitime Wünsche". Aber ohne den Blick auf europäische Ziele freizugeben, erwähnte von Ribbentrop in diesem Zusammenhang nur die deutschen Kolonien, „die wir hundertprozentig zurückerhalten wollen .. Doch die Welt war durch derlei Auskünfte nicht zu beruhigen. In einem zur Unterrichtung des amerikanischen Präsidenten von Außenminister Halifax am 24. Januar 1939 nach Washington gesandten Bericht war etwa von den verschiedenartigsten Expansionsplänen und Absichten die Rede. Ausgriffe nach Osten und in die Ukraine, ein Überfall auf die Westmächte und dem folgend eine überrennung des Ostens wurden in Erwägung gezogen. Daß aber der Erwerb von Kolonien Deutschlands nächstes Ziel sein könne, davon wurde nicht mehr länger gesprochen. Anders aber als Lord Halifax, der den amerikanischen Präsidenten schon im Januar 1939 durch den britischen Diplomaten Mallet über die Pläne des „totalitären" Gegners unterrichten ließ 64a), glaubte man in Paris zur gleichen Zeit ebenso an die Forderung des Reiches nach Kolonien wie an einen Über-fall auf die Niederlande, den auch Lord Halifax erwähnte, ja sogar an einen plötzlichen Luftangriff auf Großbritannien mit einer nachfolgenden Invasion. In Berlin gingen indessen die kolonialen Vorbereitungen und die Koordination zwischen den Abteilungen des □KW, dem Kolonialpolitischen Amt und dem Auswärtigen Amt weiter während die Welt gespannt den Besuch des Außenministers von Ribbentrop in Warschau verfolgte.
Noch einmal — selbst nach dem ablehnenden Bescheid der polnischen Regierung vom Januar 1939 — versuchte der deutsche Außenminister, für eine „große Lösung" eines deutsch-polnischen Zusammengehens zu werben. Angesichts der Herzlichkeit der gewechselten Worte argwöhnte man besonders in Paris einen Abfall des polnischen Partners. Doch offenbar verkannte damals selbst Außenminister Bonnet den Zweck eines solchen, auf Ostexpansion abgestellten Verhältnisses zwischen Deutschland und Polen, wenn er die Trage stellte: „Würde Polen auf unserer Seite stehen, falls Deutschland seine Kolonien zurückverlangte?" Gewiß mochte sich solcher Argwohn breitmachen, wenn man die Losungen der deutschen Kolonialpropaganda hörte. Aber Lord Halifax sollte mit seinen Vermutungen über Hitlers europäische Pläne viel eher Recht behalten. Natürlich gab auch Hitlers Rede vor dem Reichstag am 30. Januar 1939 keinen sicheren Aufschluß über seine Ziele, stellte der „Führer" doch vornehmlich zwei Forderungen der deutschen Politik heraus: einmal die Erweiterung des „Lebensraumes" durch Exportförderung und die Teilnahme am Kolonialbesitz, zum anderen die Sicherung des Friedens durch Stärkung der Wehrkraft und der inneren Einheit. Wir wissen, wie mißtrauisch und ablehnend Hitler einer auf dem Export basierenden Wirtschaft gegenüberstand. Daher scheint es klar, daß die Stärkung der Wehrkraft allein der Gewinnung des „Lebensraumes" dienen sollte. Aber wie schon in den vorhergehenden Jahren, so sprach der „Führer" von seinen fernen afrikanischen Forderungen, während er seine nächsten europäischen Ziele bereits anvisiert hatte.
Die deutsche Presse wurde inzwischen vom Propagandaministerium dazu angehalten, die Kolonialforderung in der Führerrede zu kommentieren auch die Rekrutierungsmaßnah-men für die Schutztruppe im Oberkommando der Wehrmacht gingen weiter Am 3. Februar 1939 berichtete Englands Gesandter in Danzig seinem Außenminister das Reich plane nach Auskunft eines Vertreters des Auswärtigen Amtes nicht, den Danziger Status zu verändern, doch sei ihm von seinem deutschen Kollegen versichert worden, daß das Reich in diesem Jahr, im nächsten Jahr oder ein wenig später seine Kolonien zurückerhalten werde. Oberst von Geldern vom OKW äußerte ein paar Tage darauf die Ansicht, daß die koloniale Frage nicht vor dem Sommer 1939 in ein akutes Stadium treten werde
Für diesen Fall, der nach Hitlers Zeitplan erst einige Jahre später kommen sollte, war im Oberkommando der Wehrmacht vorgesehen, die Marine im wesentlichen mit der Besetzung der Kolonien zu betrauen Eine Woche, nachdem von Geldern über diese Planung berichtet hatte, trafen am 13. Februar 1939 General von Epp und Hitler zusammen. Der Reichsleiter hielt seinem „Führer" Vortrag über die kolonialen Vorbereitungsarbeiten Hitler beauftragte von Epp und seinen kolonialen Stab an diesem Tag „mit der verantwortlichen Vorarbeit für einen Aufbau späterer Kolonialbelange", wie es im zweiten Bericht des OKW über den Stand der kolonialen Vorarbeiten hieß 74a). Der „Führer" war nun, so dürfen wir ganz sicher feststellen, über alle Schritte auf kolonialem Gebiet unterrichtet. Er gestand von Epp zu, die Vorbereitungen weiter voranzutreiben und betraute ihn mit der verantwortlichen Leitung. Allerdings hieß es nicht, die Arbeiten seien zu beschleunigen, sondern es war vom „Aufbau späterer Kolonialbelange" die Rede! Immerhin hatte Hitler damit die im Auswärtigen Amt, im Kolonial-politischen Amt, in verschiedenen Ministerien, bei der SS und im OKW angelaufenen Kolonialvorbereitungen gebilligt!
Drei Tage nach seinem Zusammentreffen mit dem „Führer" empfing von Epp am 16. Februar 1939 in München wieder den Vertreter des Oberkommandos der Wehrmacht, Oberst von Geldern. Die Frage nach den Kompetenzen für das zukünftige Kolonialministerium schien entschieden, und General von Epp hatte bereits unter seiner Führung einen entsprechenden „Central-Ausschuß für den Wiederaufbau deutschen Kolonialbesitzes" gebildet. Dem „Central-Ausschuß" unterstanden die Sonderausschüsse für die ehemaligen Kolonien Südwest-und Ostafrika, Kamerun und Togo. In den von kolonialerfahrenen General-Referenten geleiteten Ausschüssen wurden die Ressorts Verwaltung, Finanzen, Verkehr und Wirtschaft bearbeitet. Der Aufbau der Schutztruppen lag dagegen weiterhin beim Oberkommando der Wehrmacht. Hitler hatte den Planungen offiziell zugestimmt. Seine Rede vom 30. Januar 1939 hatte die Kolonialforderung wiederum aller Welt vor Augen geführt und veranlaßte die Reichspressekonferenz dazu, den Journalisten am 14. Februar vorzuhalten nach Hitlers Ausführungen nicht mehr länger von den „verlorenen deutschen Kolonien" oder „ehemaligen deutschen Kolonien" zu sprechen, sondern von „den deutschen Kolonien" oder „unseren Kolonien".
Daher erscheint es verständlich, daß im Reich ein kolonialer Enthusiasmus ausbrach, der für die verantwortlichen Regierungsstellen nur allzu leicht peinlich werden konnte. In der Reichspressekonferenz vom 15. Februar wurde bekannt eine große deutsche Zeitung habe kürzlich eine Karte von Nordafrika veröffentlicht, auf der eine Verlängerung der „Achse Berlin—Rom" über Lybien bis nach Kamerun eingezeichnet gewesen sei. Die französische Kolonialpresse habe entsprechend erregt reagiert, und die anwesenden Zeitungsleute wurden gebeten, „in Zukunft in dieser Richtung etwas vorsichtiger zu sein".
Ebenso wie Ashton-Gwatkin, der Direktor der Wirtschaftsabteilung im Foreign Office, in seinem Gespräch mit von Ribbentrop am 20. Februar 1939 den Eindruck erhalten mußte, als sei die Kolonialforderung für Deutschland ein wichtiges und dringliches Anliegen so trat, von dieser Überzeugung geleitet, in Paris Flandin für eine gemeinsame deutsch-französische Erschließung afrikanischer Gebiete ein, plädierte der ehemalige Außenminister Delbos für die Regelung der Kolonialfrage im Rahmen eines Gesamtabkommens Obwohl im Auswärtigen Amt durchaus Bedenken gegen eine deutsch-französische Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet in den ehemaligen deutschen Kolonien bestanden, verhandelte Direktor Weigelt von der Deutschen Bank in Paris über entsprechende Projekte Wie man in deutschen Kreisen annahm 79a), war es dem Einfluß Ministerpräsident Daladiers zuzuschreiben, daß „in den letzten Tagen" eine so plötzliche Neigung auf französischer Seite zur Zusammenarbeit mit Deutschland auf kolonial-wirtschaftlichem Gebiet hervorgetreten sei. Von Seiten des deutschen Auswärtigen Amtes wollte man sich auf keinen Fall als offizieller Partner einer Zusammenarbeit angesehen wissen, um nicht dadurch deutsche „Rechtsansprüche" einzubüßen. Denn, wie aus einem Bericht Botschafter Welczeks vom 3. März 1939 hervorgeht, waren zwischen der deutschen „Reichsgruppe Industrie", der französischen Regierung, in einer Besprechung durch Daladier selbst vertreten, und dem französischen Industriellenverband bereits konkrete Kolonialprojekte als Diskussionsobjekte ins Auge gefaßt worden 97b). Am 9. März betonte der Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt, Ministerialdirektor Wiehl, Weigelt gegenüber soweit der rein private und geschäftliche Charakter gewahrt bleibe, sei von seifen des Reiches nichts gegen solche Projekte einzuwenden. Allerdings wünsche das Auswärtige Amt keine Unternehmungen, die irgendwelches Aufsehen erregen könnten, und auch künftige Finanzverpflichtungen des Reiches seien durch diese Erlaubnis nicht gegeben. Am gleichen Tag, dem 9. März 1939, da Weigelt durch die wirtschaftspolitische Abteilung des Auswärtigen Amtes grünes Licht für seine kommenden, ungestört neben Hitlers „großer Politik" einherlaufenden Unternehmungen erhielt, diktierte der Reichsminister und Chef der Reichskanzlei, Lammers, in Hitlers Auftrag ein später als Weisung des „Führers" zirkulierendes Schreiben an den Reichsleiter des Kolonialpolitischen Amtes, von Epp Der Brief beantwortete eine Denkschrift des Reichs-leiters in der von Epp vorschlug, eine Dienststelle „Reichskolonialamt (Schutzgebietsbevollmächtigter) " zu errichten und dafür etatmäßige Mittel bereitzustellen. In seiner von Lammers verfaßten Antwort billigte Hitler die Grundgedanken der Denkschrift, nahm aber von der sofortigen Errichtung eines Reichskolonialamtes zunächst noch Abstand. Sicherlich wurde der „Führer" dabei durch außenpolitische Rücksichten bestimmt, denn es wäre unklug gewesen, durch Einrichtung einer offiziellen Dienststelle schon auf die Ziele hinzudeuten, die den vorrangigen und bald wieder im Mittelpunkt stehenden europäischen Forderungen erst folgen sollten. Davon abgesehen aber hieß es im Schreiben der Reichskanzlei: „Vor allem wünscht der Führer, daß die Vorbereitungsarbeiten für die künftige Kolonialverwaltung in straffer organisatorischer Zusammenfassung, unter zentraler Leitung, unter Vermeidung jeglicher Nebeneinanderarbeit und im engsten Einvernehmen der beteiligten Stellen durchgeführt werden." Lammers hob besonders hervor, daß zwischen der Vorbereitung der künftigen Kolonialverwaltung und allen Angelegenheiten, welche die Wiedererlangung von Kolonien beträfen, scharf zu unterscheiden sei. Für die erstgenannten Angelegenheiten war nach dem Wunsch des „Führers" in erster Linie das Kolonialpolitische Amt zuständig, die zweite Aufgabe dagegen fiel dem Auswärtigen „Eine Amt zu. enge Fühlungnahme zwischen dem Kolonialpolitischen Amt und dem Auswärtigen Amt", so hieß es weiter, „ist um so notwendiger, als im Augenblick der Wiedererlangung von Kolonien die künftige Kolonialverwaltung schon vorbereitet und in der Lage sein muß, ihre Tätigkeit sogleich aufzunehmen." Obwohl Hitler im Augenblick noch kein Kolonialministerium wünschte, erging an von Epp die Weisung: „Der Führer beauftragt
Sie daher, die vorbereitenden Arbeiten für die künftige Kolonialverwaltung mit Nachdruck zu fördern und die notwendigen Vorbereitungen für die Errichtung eines Reichskolonialamtes zu treffen. Der Führer hat den Wunsch, daß diese Vorbereitungsmaßnahmen nach einheitlichen Richtlinien in straffer organisatorischer Zusammenfassung und im engsten Einvernehmen der beteiligten Stellen durchgeführt werden." Am Schluß des Briefes fand sich dann ein untrüglicher Beweis dafür, daß Hitler selbst — auch inhaltlich — für den Brief an von Epp und damit für die kolonialen Zukunftsplanungen verantwortlich war. Dort heißt es nämlich, der „Führer" wünsche nicht, daß irgendwelche Maßnahmen „zur Aufstellung von farbigen Cadre-Formationen" getroffen würden. Von seinen Ausführungen in „Mein Kampf" bis in den März 1939, als er den offiziellen Startschuß für die schon vorangeeilten Dienststellen und Ämter und deren koloniale Planungen gab, und auch später in den Kriegsjahren 1940/41 weigerte sich Hitler hartnäckig aus rassischen, seiner Doktrin entspringenden Gründen, farbige Truppen in den zukünftigen deutschen Kolonien aufzustellen 83a).
Ob es von Epp freilich so reibungslos gelingen würde, die von höchster Stelle verordnete Kompetenzenverteilung und Zusammenarbeit durchzusetzen, erscheint fraglich, wenn wir erfahren, daß zu gleicher Zeit der Reichsführer der SS und Chef der deutschen Polizei im Reichsinnenministerium um die Meldung von Offizieren, Meistern und Wachtmeistern für die Aufstellung einer Polizeitruppe in den Schutzgebieten ersuchte — eine Aufgabe, die eigentlich dem Kolonialpolitischen Amt und dem OKW gemeinsam zufallen sollte. Der auch auf kolonialem Feld sogleich einsetzende und sich in Zukunft noch verstärkende Kompetenzenhader ist charakteristisch für die strukturelle Ämteranarchie des Dritten Reiches. Als entscheidend aber gilt es festzuhalten: Hitler hatte die bereits angelaufenen Vorbereitungen zur Errichtung einer deutschen „Weltmachtstellung" nun offiziell gebilligt und darum gebeten, die seiner Vorstellung nach erst in den vierziger Jahren aktuelle Frage kolonialen Landerwerbs „mit Nachdruck" vorzubereiten. Marine und Kolonialpolitisches Amt als zentrale Stellen planten bereits — von Hitler dazu angehalten — für die Phase seines „Programms", da alle kontinentalen Ziele erreicht sein würden. Jetzt aber, im Frühjahr 1939, lagen sie noch vor Hitler.
Am gleichen Tag, dem 9. März 1939 da der „Führer" den Auftrag gab, die „Fahrt über See" vorzubereiten, meldete Sir Nevile Henderson in Kenntnis der nächsten europäischen Ziele Hitlers, dessen großem „Programm" kontinentaler Hegemonie und überseeischer „Weltmachtstellung" gegenüber aber doch wohl ahnungslos, nach London: „Briefly I would sum up Germany's immediate objectives, (i. e., within the next year or two) as follows: Memel, Danzig and colonies, and the complete Subordination of Czecho-Slovakia politically and economically to Germany. We may dislike the latter, but geographically speaking it is inevitable." Henderson meinte, man könne den Deutschen nicht blindlings „carte blanche" im Osten gewähren, aber solange nicht direkt und lebenswichtig britische Interessen verletzt würden, solle sich Großbritannien einem deutschen Engagement im Osten gegenüber neutral verhalten. Chamberlains „appeaser" in Berlin bezeichnete Rußland zwar als eindeutigen Gegner Deutschlands, glaubte aber nicht an einen Versuch Hitlers, die Ukraine abzuspalten. Dagegen hielt er eine wirtschaftliche Vormundschaft des Reiches über Rumänien als vom deutschen Standpunkt aus für erwünscht und verständlich. Auf keinen Fall aber strebe Hitler nach „world dominion", ja er erhebe nicht einmal Anspruch auf Hegemonie über Mittel-und Osteuropa, denn das bedeute die „world hostility", zumindest aber, die Feindschaft der europäischen Nachbarstaaten herauszufordern, „and no state, however powerful would in the end prevail against such a Combination".
Zwar wurde Sir Neviles Analyse durch die Ereignisse der folgenden Jahre teilweise bestätigt, doch ging sie insgesamt in ihrer Einschätzung der Ziele Hitlers in die Irre. Gewiß strebte der „Führer" keine Weltherrschaft an, wie Henderson sie als „predominance not only in Europe, but in Africa, Asia and America as well“ definierte. Aber die Hegemonie über Zentral-und Osteuropa zu erringen, galt Hitler als beschlossene Sache. Der Krieg gegen die UdSSR lag als Zielvorstellung fest, und der Gedanke, nach Westen vorzudringen, war, soweit er Frankreich betraf, eine alte Idee und nicht, wie Sir Nevile Henderson meinte, nur dann wirklich zu befürchten, „if Germany finds all the avenues to the east blocked or if Western Opposition is such as to convince Hitler that he cannot go eastward without first having rendered it innocuous". Die koloniale Frage jedoch, die Sir Nevile unter die nächstliegenden Forderungen rechnete, sollte nach Hitlers Vorstellungen erst geraume Zeit später akut werden. Wie wir wissen 85a), hatte der „Führer" für die Zeit nach der Errichtung der europäisch-überseeischen „Weltmachtstellung" sowohl in seinen frühen „programmatischen" Äußerungen als auch in den späteren, durch die kriegerischen Ereignisse bedingten Planungen stets an eine Auseinandersetzung mit der „Weltmacht Amerika" gedacht — Ziele, die Sir Neviles ganz auf Beschwichtigung eingestelltem Bericht diametral zuwiderliefen, die er nicht kannte und im Zuge seiner politischen Konzeption wohl auch nicht sehen wollte. Inzwischen hatte Hitler beschlossen, das nächste europäische Objekt in Angriff zu nehmen: am 15. März 1939 „zerschlug" er die Tschechoslowakei Der „Führer" war seinem Ziel der europäischen Hegemonie einen Schritt näher gekommen. Aber noch wurde die Presse, so am 16. März 1939, zur Zurückhaltung aufgefordert „Die Verwendung des Begriffs , Großdeutsches Weltreich'ist unerwünscht." Doch Hitlers „programmatisches" Ziel und Himmlers Glaube an „das größte Reich . . ., das die Erde je gesehen hat", kehrten auch in dieser Goebbelsschen Weisung wieder und ließen die mittlerweile laufenden entsprechenden Vorbereitungsarbeiten in bezeichnendem Licht erscheinen: „Letztes Wort ist für spätere Gelegenheiten vorbehalten" 87a). Das tschechische Abenteuer Hitlers, dessen Methode selbst das bisher immer gelassen reagierende London brüskierte und zu Chamberlains Birminghamer Antwort vom 17. März 1939 herausforderte hatte die internationale Situation verschärft. So gab Rumäniens Außenminister Gafencu seiner Besorgnis darüber Ausdruck daß die jetzt noch bestehenden italienischen Wünsche und das deutsche Kolonialverlangen kaum mehr durch friedliche Verhandlungen geregelt werden könnten. Würde Hitlers nächstes Ziel tatsächlich in Afrika liegen, oder würde eine neue, taktisch geführte Kolonialkampagne wiederum an das seit dem Versailler Frieden dem Reich gegenüber schlechte Gewissen der Engländer appellieren und die unliebsamen tschechischen Ereignisse bald vergessen machen? Keins von beiden sollte der Fall sein! Denn bald darauf stürzte Hitler Europa in die nächste Krise. Aber wiederum war es ein Objekt auf der europäischen Landkarte, das der „Führer" anvisierte, schließlich durch Waffengewalt eroberte und dadurch den Weltkrieg auslöste.
Die Kolonialfrage als Faktor der Außenpolitik Hitlers
Brechen wir die Darstellung im Zeichen der heraufziehenden polnischen Krise ab und versuchen wir, die für die Zeit vom Ende der Münchener Konferenz bis hin zur „Zerschlagung" der Tschechoslowakei im einzelnen vorgetragenen Ergebnisse um koloniale Forderungen und Angebote als Mittel und Ziele der Diplomatie der Mächte in das „Konzept" der Außenpolitik Hitlers einzuordnen. Von den zwanziger Jahren, als Hitler sein außen-politisches „Programm" entwickelte, bis ins Jahr 1935 hinein, betrieb er seine Politik des kolonialen und maritimen Verzichts, um mit England zum gewünschten Übereinkommen zu gelangen. Nach seiner Vorstellung sollte Großbritannien die See und das Empire, Deutschland aber den Kontinent beherrschen und „freie Hand" im Osten erhalten. Ein Konflikt mit den Briten würde sich erst sehr viel später abzeichnen, wenn das Reich nach der Eroberung seiner Kontinentalbasis nach Über-see ausgreifen werde.
Im März 1935 lehnten Englands Staatsmänner Simon und Eden anläßlich ihres Deutschland-besuchs dieses „Konzept" Hitlers ab, im Juni schloß Großbritannien — nach einer ersten deutschen Drohung, auf maritimem Gebiet aufzurüsten — den Flottenpakt mit Hitler. Eine weitergehende Übereinkunft mit England blieb jedoch aus. Nun trat neben die Politik, auf Wiedererwerb überseeischer Gebiete zu verzichten, um Englands Partnerschaft zu gewinnen, die in gleicher Absicht angewandte Taktik kolonialer Sanktionsdrohungen. Die nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt durch von Ribbentrop in Hitlers Auftrag 1935/36 herbeigeführte „Gleichschaltung" des Reichs-kolonialbundes stellte dem „Führer" für seine ab 1936 immer wieder angemeldeten Kolonial-forderungen das notwendige Masseninstrument zur Verfügung. Zur „endgültigen Klärung" des deutsch-englischen Verhältnisses schickte Hitler dann seinen außenpolitischen Berater von Ribbentrop als Botschafter nach London. Während der „Führer" jedoch vor allem daran dachte, England durch koloniale Forderungen zum Einlenken zu zwingen, scheint der Wunsch nach Wiederherstellung des überseeischen Besitzes für von Ribbentrop und dessen stärker antibritisch orientierte Politik eher ein politisches Ziel gewesen zu sein.
Als Hitler am 5. November 1937 einem kleinen Kreis von Offizieren und Politikern seine Zukunftspläne entwickelte, hatten alle bisher unternommenen Bemühungen, Großbritannien besonders durch koloniale Zugeständnisse bzw. Sanktionen auf seine Seite zu ziehen, nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Es begann eine „ambivalente Politik" Hitlers gegenüber London, die wir für die Zeit vom 30. September 1938 bis zum 15. März 1939 mitverfolgt haben: Einerseits versuchte er, die Briten immer wieder zur Übereinkunft zu bewegen, andererseits schätzte er sie als „Haßgegner" ein. Entsprechend lernten wir Hitlers Kolonialforderung einmal als drohend erhobenes taktisches Sanktionsmittel kennen, mit dem er überseeische Wünsche anmeldete, um kontinentale Ziele zu erreichen. Zum anderen aber erschien uns die Forderung, besonders im Zusammenhang mit dem Gedanken, England als Widersacher ansehen zu müssen, mit den ab 1938 auch gegen Großbritannien gerichteten Kriegsspielen der Marine, vor allem aber mit dem Z-PIan Raeders vom Januar 1939 und dem Kolonialauftrag des „Führers" vom März des gleichen Jahres betrachtet, als ein Fernziel deutscher Politik, das nicht — wie ursprünglich vorgesehen — nach einem Jahrhundert maritimer und kolonialer Zurückhaltung, sondern nach der spätestens 1945 abzuschließenden kontinentalen Stufe in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre aktuell werden sollte. Daher waren im Reich, dem Auftrag des „Führers" gemäß, bereits alle Vorbereitungen im Gange, um für die koloniale Landnahme gerüstet zu sein, als Hitlers „Programm", in zwei Etappen zur Weltmacht aufzusteigen, bereits auf der kontinentalen Stufe den Rückschlag erlitt, der ihn den Weltkrieg auslösen ließ.