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Utopisches Denken als Faktor der politischen Wirklichkeit | APuZ 22/1969 | bpb.de

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APuZ 22/1969 über die Unruhe in der jungen Generation Utopisches Denken als Faktor der politischen Wirklichkeit Deutschland, die Westmächte und das Kolonialproblem Ein Beitrag über Hitlers Außenpolitik vom Ende der Münchener Konferenz bis zum „Griff nach Prag"

Utopisches Denken als Faktor der politischen Wirklichkeit

Jürgen Weber

Die Sehnsucht nach Vollkommenheit

Der englische Staatsmann Thomas Morus hat in seinem 1516 erschienen Werk „De optimo republicae statu deque nova insula Utopia" ein in seinen Augen ideales Staatswesen entworfen, wobei er für sein „Nirgendwo" von der Frage des Erwerbs, des Gebrauchs und des Verbrauchs von Macht als einem wesentlichen Faktor der staatlichen Organisation absieht. Allein ihre Gestaltung und ihr Funktionieren sind ihm wesentlich, nicht aber die dazu notwendigen Voraussetzungen und realen Möglichkeiten. Solche Vorstellungen einer politischen Ordnung nennen wir seither Utopie und verstehen darunter einen von Wunschträumen geformten und von den tatsächlichen Gegebenheiten abstrahierenden Idealzustand menschlicher Daseinsgestaltung.

Die Utopie ist Ausdruck des säkularen Erlösungsbedürfnisses des Menschen, der die Harmonie des Diesseits ersehnt. Natürlich impliziert die Kennzeichnung irgendeiner Forderung im politisch-gesellschaftlichen Bereich als utopisch bereits eine Wertung und eine eigene Standortbestimmung des so urteilenden Beobachters. Trotzdem darf man feststellen, daß das bei dieser Fragestellung zu erreichende Maß an Objektivität im Sinne der geisteswissenschaftlichen Methode solche Untersuchungen rechtfertigt und diese keineswegs als subjektivistische Meinungsäußerungen abgetan werden können, wenn auch viele das augenblickliche Sein transzendierende Wünsche politischer Art nicht zu verwirklichen und miteinander in Einklang zu bringen sind, es sei denn, der Mensch würde geändert und die von ihm geschaffene Ordnung funktioniere nach völlig neuen Gesetzen. Es geht uns im folgenden nicht um die philosophische Auslotung des Begriffes der Utopie, sondern um die politische Relevanz des utopischen Denkens in der Demokratie in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und um die Erhellung seiner Problematik und Gefahr. Utopisches Denken ist keineswegs nur im Verlauf der politischen Ideengeschichte bei Theoretikern und Praktikern festzustellen, die sich mit den Fragen nach Staat, Gesellschaft und Ordnung beschäftigten. Wenn man einmal die Vorstellungen, Erwartungen und Kritiken vieler in einem freiheitlichen System lebender Menschen der Gegenwart dazu näher analysiert, muß man zu dem Schluß kommen, daß das Denken in utopischen Kategorien zeitlos ist — wohl wegen seiner engen Verwandtschaft zur Irrationalität. Dieses spezifische Element, das wir das utopische Bewußtseinselement nennen wollen, ist dabei — für sich genommen — oft nur von geringer Bedeutung; sein Vorhandensein und seine Verbreitung jedoch weisen auf eine gewisse Offenheit für politische Heilslehren hin und dürfen daher nicht unbeachtet bleiben.

Die verfeinerten Methoden der Demoskopie könnten sicherlich dieses Phänomen rein statistisch näher untersuchen. Aber bereits die historische Erfahrung sowie eine Analyse der Ideologien extremistischer politischer Parteien lehren, daß ein Teil der Staatsbürger in dieser Hinsicht verfügbar ist. Das Entstehen einer rechtsradikalen Partei und der linksradikalen sogenannten außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik, zweier politischer Formationen also, die sich als Motor einer neuen, recht nebulösen Ordnung begreifen und die die bestehende parlamentarische Demokratie in Frage stellen und dafür einem mystischen Volks-und cäsaristischen Führerbegriff bzw. einem anarchischen und totalitären Elite-begriff huldigen, ist der sichtbare Beweis für die mehr oder minder brachliegenden utopisch-unreflektierten Denkstrukturen in unserer Gesellschaft. Es spielt dabei keine Rolle, daß die Anhängerschaft auf den beiden Flügeln des politischen Spektrums zahlenmäßig gering ist. Man muß davon ausgehen, daß hier eine aktive Minderheit zum Ausdruck bringt, was in vielleicht abgemilderter Form eine weit größere Anzahl meint. Gemeinsam ist den Agitatoren von rechts nach links der Kampf gegen das „System" und die „Lizenzparteien". Die Neue Linke setzt den Institutionen der parlamentarischen Demokratie die Vorstellung eines repressionsfreien Gemeinwesens, das heißt eines säkularisierten Paradieses entgegen, der Alten Rechten schwebt eine konflikt-lose Gemeinschaft zwischen Herrschern und Beherrschten vor.

Natürlich ist das politische Bewußtsein der Staatsbürger unterschiedlich ausgeprägt und diffus in seinen konkreten Äußerungen. Es ist geradezu ein Merkmal für die Reife einer demokratischen Ordnung, den verschiedenen und gegensätzlichen Ausdrucksformen dieses politischen Bewußtseins einen breiten Raum zu gewähren. Das Funktionieren des Staates erfordert jedoch von seinen Bürgern einen Konsensus über einige fundamentale Notwendigkeiten. Dazu gehören nicht nur die demokratische Spielregel der Gültigkeit einer ohne Zwang zustande gekommenen Mehrheitsentscheidung und die Option für die unumgängliche Kontrollfunktion von Parlament und öffentlicher Meinung, sondern auch die Einsicht, daß es der Zweck des Staates ist, „irdischen Durchschnittsmenschen zu dienen und von diesen gestaltet zu werden" Wahrheitsfanatismus und unbedingter Glaube an eine objektive Richtigkeit in der Politik sind unheilvoll und Ausdruck wirklichkeitsfremden Denkens im politischen Bereich.

Das Unverständnis für die notwendigen Auseinandersetzungen von Parteien — das „Parteiengezänk" — entspringt einem weitverbreiteten harmonistischen Staatsideal, dem die Wirklichkeit nicht entspricht. Auch der mit seinen abwertenden Bemerkungen über Parlament und Parteien nicht geizende bisherige französische Staatspräsident de Gaulle, der sich als Inkarnation der französischen Geschichte begreift, mußte spätestens im Mai 1968 erkennen, daß zwischen dem Präsidenten der Republik und der Nation keineswegs ein problemloses Verhältnis ungetrübten Verstehens herrschen kann. In der nicht selten geäußerten harten und oft völliges Unverständnis an den Tag bringenden Kritik am „Parteiapparat", an seiner „Protektionswirtschaft" drückt sich der im Unterbewußtsein genährte Wunsch nach einem Staatswesen aus, in dem etwa nach Rousseauschem Vorbild der Bürger direkt die ihn angehenden Entscheidungen trifft, in dem er ganz und gar Subjekt und nicht willenloses und nichtgefragtes Objekt „anonymer Herrschaftszentralen" ist, wo nicht hinter den Kulissen nach dem Motto: „Die eine Hand wäscht die andere" angeblich Absprachen getroffen und die Interessen der Allgemeinheit zugunsten von Partikularinteressen verhökert werden. Ohne dies vielleicht klar zu artikulieren, ersehnt derjenige, der so denkt, eine gerechte Ordnung, in der sich das Gute durchsetzt und das sinnvoll Notwendige sich sozusagen von selbst realisiert. Wer von diesen Voraussetzungen ausgehend die ihn umgebende politische Landschaft betrachtet, muß notwendigerweise enttäuscht und unzufrieden sein. Er wird sich dann entweder ganz in seine Privatsphäre zurückziehen („Politisch Lied ein garstig Lied", „Es sind ja doch alles Gauner", „Ich mache mir doch nicht die Hände schmutzig"), oder er wird im Gegenteil diese sich ihm so darbietende Wirklichkeit gänzlich zu zerstören suchen, um eine neue an ihre Stelle zu setzen. Der „Neue Mensch" als Ziel einer totalen politischen Umgestaltung sollte nach nationalsozialistischer Doktrin die Krönung dieser Politik sein. Die kommunistische Ideologie sieht ebenfalls in diesem Ziel ihre höchste Rechtfertigung. Wenn auch im ersten Fall das neue Menschenbild auf biologistisch-rassistischen Vorstellungen, im zweiten Fall auf dem Glauben an die Gestaltbarkeit des menschlichen Bewußtseins beruht, so treffen sich diese totalitären Vorhaben doch in ihrer menschen-verachtenden Radikalität.

Das Desinteresse an der bestehenden Ordnung oder ihre Ablehnung sind häufig in dem Gefühl der Enttäuschung, der Desillusionierung, des Zerplatzens von Tagträumen begründet. Ein Teil der deutschen Bevölkerung stand der Weimarer Republik reserviert oder gar ablehnend gegenüber, weil man Glanz und Gloria vermißte, den jungen Staat für die Fehler des Kaiserreiches verantwortlich machte und an ihn unerfüllbare Forderungen stellte, in denen sich autoritätsgläubiger Untertanengeist mit ungehemmtem politischen Egoismus verband. Radikale Gruppen unserer Tage proklamieren die bruchlose Ordnung und wischen den Hinweis auf die Relativität alles menschlich und damit politisch Erreichbaren mit leichter Hand vom Tisch. Auf der anderen Seite attackiert ein so bedeutender Philosoph wie Karl Jaspers die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik als eine zur Diktatur tendierende Parteienoligarchie der er seinen antidemokratischen Volksbegriff entgegenhält. Jaspers möchte „die wichtigsten der im Grundgesetz eingebauten institutionellen Sicherungen der rationalen Freiheit abschaffen. Er will einerseits durch die Einführung des Räte-systems dem Volke eine anarchische Freiheit, andererseits dem Staatsoberhaupt eine autokratische Gewalt zubilligen. Das Ergebnis seiner Vorstellungen liegt erschreckend nahe. Wenn die Parteien und damit das Parlament entmachtet sind, das Volk anarchisch desorganisiert ist, dann bleibt nur der cäsaristische Staatspräsident, der mit den Mitteln des Plebiszits sich zum absoluten Herrscher macht. Dann werden auch die Jasperschen Eliten genauso wenig vermögen, wie etwa Othmar Spann, Carl Schmitt, die Gebrüder Jünger, Edgar Jung und, last not least, Karl Jaspers selbst im Dritten Reich auszurichten vermochten"

Es wird einfach nicht in Betracht gezogen, daß die gerechte, gute Ordnung, in der jeder leben will, sich nicht aus der Natur der Dinge ergibt, sondern genauso wie das Gute ihren Anwalt braucht, der sie anderen, konträren Ordnungsvorstellungen zum Trotz durchsetzen muß. Es wird nicht gesehen, daß die politische Ordnung nicht etwas Vorgegebenes ist, das mit gutem Willen erreicht werden kann, sondern daß sie vielmehr ständig neu errungen werden will und stets unzulänglich bleibt. Die Kunst der Politik wird darin gesehen, eine Idealvorstellung zu verwirklichen, anstatt sie darin zu erblicken, wie das sachlich Notwendige unter den jeweils gegebenen mitmenschlichen Umständen verwirklicht werden kann

Utopisches Denken auf politischem Gebiet ist allgegenwärtig. Es beginnt damit, daß von den immer im Blickpunkt des öffentlichen Interesses stehenden Politikern Eigenschaften erwartet werden, die der einzelne von sich selbst nicht fordert: Allwissenheit, Vorurteilslosigkeit, Unfehlbarkeit, ständige Höchstleistungsbereitschaft. Dabei ist es durchaus richtig, an den Politiker hohe Anforderungen charakterlicher und fachlicher Art zu stellen, jedoch darf man nicht den Übermenschen fordem. Diktatoren aller Zeiten haben sich gerne als „Sonderausgaben" ihres Geschlechtes dargestellt, um das ihnen entgegengebrachte blinde Vertrauen um so skrupelloser auszunutzen. Utopisches Denken zeigt sich beispielsweise in der übertriebenen Forderung an Institutionen des demokratischen Staates, von deren Existenz allein bereits sein reibungsloses Funktionieren erwartet wird, das in Wirklichkeit jedoch nur dann gewährleistet ist, wenn die Institutionen von Menschen gehandhabt werden, die sie sinnvoll und verantwortungsbewußt gebrauchen. Die geschriebene Verfassung ist nur der Rahmen, in dem sich das politisch-gesellschaftliche Leben abspielt, sie nützt wenig, wenn die Staatsbürger ständig gegen ihren Geist verstoßen. Die Rechtsordnung steht und fällt mit ihrer täglichen Respektierung oder Nichtrespektierung. Das Parlament kann nicht besser sein als seine Repräsentanten, die der Staatsbürger gewählt hat.

Der Föderalismus wird in Deutschland oft angegriffen: Mangelnde Koordination in der Schulpolitik, kleinliches Beharren der Länder auf ihrer Kulturhoheit, Kompetenzüberschneidungen, aufgeblähte Verwaltungsapparate sind in der Tat Negativa dieses Prinzips. Anstatt sich jedoch an diese konkreten Mißstände zu halten und bei ihrer Bewertung die gewalten-kontrollierende und gewaltenverteilende Funktion des Föderalismus in Rechnung zu stellen, wird der Föderalismus in Bausch und Bogen verurteilt, und das zu einer Zeit, in der in dem zentralistischen Frankreich eine weitgehende Dezentralisierung vorangetrieben und als eine der bedeutenden Zukunftsaufgaben betrachtet wird. Die Reihe der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. Ein letztes sei lediglich noch angeführt, das von besonderer Bedeutung ist: Die Vorstellung nämlich, das Repräsentativ-system verhindere eine echte Einwirkung des Staatsbürgers auf die ihn letzten Endes wieder treffenden Entscheidungen von Parlament und Regierung, er habe keinen Einfluß auf die politische Gestaltung seiner Zukunft. Hier kommt wieder der schon erwähnte Antiparteienaffekt zum Vorschein, der auf einem zweifelhaften Verständnis von Demokratie beruht. Die Gegenvorstellung ist nämlich, es sei demokratischer, wenn das Volk durch Referendum und Volksbegehren an wichtigen Entscheidungen mitwirken könne. In solchen Forderungen treffen sich Jaspers, der als einziges Gegengewicht zum Parlament einen starken, vom Volk gewählten, mit mächtiger Autorität und der Möglichkeit politischer Einflußnahme ausgestatteten Bundespräsidenten sieht und das Parteiprogramm der NPD, das für entscheidende Lebensfragen das Volk durch Volksbegehren und Volksentscheid zu hören verlangt Auch die Bevorzugung des Rätesystems durch die Neue Linke entspringt solchem Denken. Wer glaubt, die Verwirklichung solcher Postulate erzeuge echtere Demokratie, täuscht sich gründlich und zeigt sein eigenes autoritäres, antidemokratisches Denken. Die den Alleinherrschern aller Schattierungen zugute kommende und allen demokratischen Bestrebungen zuwiderlaufende Sprengwirkung von Volksentscheidungen läßt sich unschwer nachweisen. Während der jakobinischen Schreckensherrschaft entschied in den französischen Revolutionstribunalen das „gesunde Volksempfinden". Die Militärdiktatur Napoleons wurde 1799 mit nur 1562 Gegenstimmen durch ein Plebiszit sanktioniert, drei Jahre später wurde er durch die gleiche Methode Konsul auf Lebenszeit und 1804 schließlich Kaiser der Franzosen. Sein Neffe verstand ebenso trefflich das Instrument des Plebiszits zu handhaben und wurde 1852 „Kaiser der Franzosen durch die Gnade Gottes und den Willen der Nation".

Volksbefragung und Volksentscheid sind in der Hand von Demagogen wirksame Mittel zur Beseitigung der Freiheit, denn die zu entscheidenden Fragen müssen notwendigerweise auf simplifizierende Alternativen gebracht werden. Wer am skrupellosesten agiert, erhält die meisten Stimmen. Der Hinweis auf die Fünfte Republik in Frankreich ist kein überzeugendes Argument, da dort die Integrität de Gaulles ein wirksames Gegengewicht gegen Machtmißbrauch darstellte. Ein Staat steht jedoch auf einer solideren Grundlage, wenn seine Bürger mehr ihrer eigenen Mündigkeit und ihren demokratischen Institutionen vertrauen als einem einzigen Menschen.

Das utopische Bewußtseinselement bewirkt, daß sich die dumpf empfundene Unzufriedenheit und die klar formulierte Kritik an einem Idealbild gesellschaftlicher Verhältnisse orientieren, die nicht existieren und nie existiert haben. Die Frage stellt sich dann nicht, in welcher Weise unter den gegebenen Verhältnissen ein Optimum zu erreichen ist, wie also etwa die Vor-und Nachteile einer Institution, eines Regierungssystems etc. zueinander in ein vernünftiges Verhältnis gebracht werden können, sondern sie nimmt kategorischen Charakter an. Maximale Erwartungen werden zum Bewertungsmaßstab. Für jene so Denkenden ist das Wort vom größten Glück der größten Zahl als Ziel einer realistischen Politik eine inhaltsleere Formel, ihnen genügt nicht das relativ Beste, „weil sie der Hang zum Absoluten plagt" Wer jedoch das Totale will — totale Freiheit, totale Gerechtigkeit, totale Unabhängigkeit —, wer sich nicht mit Zwischenlösungen zufrieden geben kann und einen Kompromiß als eine Niederlage empfindet, der landet im Totalitarismus oder er ist zumindest in dieser Richtung manipulierbar.

Die Notwendigkeit der geistigen Unruhe

Es wäre natürlich unzureichend, das utopische Bewußtseinselement ausschließlich unter dem bisher eingenommenen Blickwinkel zu betrachten. Die Tatsache, daß alles Menschenwerk immer nur eine relative Vollkommenheit erzielt, daß es sein Ziel nur in der Annäherung erreicht, ist kein Grund, einem distanzierten Relativismus das Wort zu reden. Im politisch-gesellschaftlichen Bereich gilt das geflügelte Wort „comprendre c'est pardonner" nicht. Die Unvollkommenheit von Institutionen, Regierungs-, Verfassungs-und Wirtschaftssystemen verstehen, heißt nicht, sie billigen undentschuldigen, sondern sie bessern. Kann dazu die die Wirklichkeit überspringende Denkkategorie, von der hier die Rede ist, etwas beitragen? Zunächst sei einmal festgestellt, daß die anfänglichen Bemerkungen über die übertriebenen und an einem falschen Leitbild orientierten Erwartungen mancher Zeitgenossen gegenüber dem, was z. B. ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat vermag, falsch verstanden würden, wollte man aus ihnen etwa die Behauptung herauslesen, Kritik, Unzufriedenheit mit Bestehendem, Ablehnung, Änderungsbestrebungen seien einer utopischen Geisteshaltung zuzuordnen. Dies wäre natürlich ganz irrig Unzufriedenheit mit dem, was ist, war schon immer die Grundlage für jede Weiterentwicklung und für die Besserung herrschender Mißstände. „Daß ein für die bestehende, geltende Sozialordnung bewußt oder unbewußt optierender Beobachter einen dem Umfang nach so umfassenden, unbestimmten und un-differenzierten Begriff des Utopischen hat, in dem der Unterschied des absolut und nur relativ Unverwirklichbaren verwischt wird, ist kein Zufall. Von diesem Standort will man einfach nicht über den gegebenen Seinsstatus hinauskommen. Dieses Nichtwollen trachtet das allein in der gegebenen Seinsordnung Unverwirklichbare als etwas völlig Unverwirklichbares anzusehen, um durch diese Verschüttung der Differenzen das nur relativ Utopische als Forderung nicht aufkommen zu lassen. Indem man ohne Unterschied alles utopisch nennt, was über das Gegebene hinausragt, vernichtet man die Beunruhigung, die aus dem in anderen Seinsordnungen verwirklichbaren . relativ Utopischen'entstehen könnte." Darin liegt auch der Keim der Hoffnung, daß der Protest der radikalen Jugend im Jahre 1968 gegen die Industriegesellschaft, den Kapitalismus und die formale Autorität jenseits seiner exzeßhaften Ausdrucksformen die Verantwortlichen zur Besinnung und alle Staatsbürger zum überdenken überkommener Positionen bewegt und somit ein Reformklima geschaffen hat.

Selbstverständlich ist eine wirkungsvolle, auf positive Aktion bedachte Kritik verpflichtet, ihrem Gegenstand zunächst einmal etwas subjektiv Besseres, überlegeneres entgegenzustellen. Der Kritiker des Parlamentarismus, der als Gegenvorstellung das Rätesystem entwickelt, ist durchaus ernst zu nehmen. Entscheidend ist jetzt aber, ob er rational bereit ist, beider Vor-und Nachteile zu untersuchen und miteinander zu vergleichen, die Durchsetzbarkeit seiner Idee zu überprüfen, möglichen Gewinn in Relation zum sicheren Verlust zu setzen, oder ob er seine Gedanken ideologisiert, das heißt, sie für allein richtig und einzig gültig erklärt. Im ersten Fall können aus solchen Überlegungen fruchtbare Impulse ausgehen, die ganz im Sinne der Kritik verändernde Wirkung am kritisierten Gegenstand hervorrufen können. Im zweiten Fall verfällt er der geistigen Sterilität, oder er muß gewaltsam den Gegenstand seiner Kritik zerstören, um seine Vorstellung zu verwirklichen, der dann ein ähnliches Schicksal bevorsteht. Wenn wir also bisher von dem nicht selten anzutreffenden utopischen Charakter politischer Vorstellungen gesprochen haben, so müssen wir jetzt feststellen, daß er a priori doppelgesichtig ist. Er verdunkelt zwar einerseits den Blick für die realen Möglichkeiten, andererseits kann er aber auch dazu beitragen, in einem von den hemmenden Kräften befreiten Höhenflug neue Perspektiven zu eröffnen. Das Modell vom absterbenden Staat und der klassenlosen Gesellschaft ist utopisch, aber fruchtbar in dem Sinn, als diese Herausforderung eine rationale Antwort verlangt. Der soziale Rechtsstaat hätte sich wohl ohne die Herausforderung durch die marxistischen Ideen nicht zu seiner heutigen Form entwickelt. Die französischen Sozialisten wie Charles Fourier und Pierre-Joseph Proudhon waren Utopisten. Die Tatsache aber, daß ihr Suchen nach einem System der sozialen Gerechtigkeit sie auf nichtrealisierbare Theorien und Forderungen gebracht hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie den Anstoß zur Reflexion und zur Lösung der sozialen Probleme gegeben haben. Gefährlich wird es jedoch, wenn sich das utopische Denken nicht als das versteht, was es wirklich ist, nämlich eine idealisierende Spekulation, die zur geistigen Beunruhigung beitragen kann. Mit dem Glauben an seine Realisierbarkeit verbindet es dann nämlich einen Absolutheitsanspruch, der die bestehende Ordnung verketzert und nur die gewünschte als ideal und dazu noch machbar darstellt. Thomas Morus hat seine Gedankenkonstruktion ein „Nirgendwo" genannt. Er war sich bewußt, daß sie nie Wirklichkeit werden könnte, aber er griff zu diesem Stilmittel, um seinem Gestaltungsdenken freien Lauf lassen zu können. Die „berufsmäßigen" Utopisten unserer Tage sind jedoch zugleich auch Menschen der Tat mit konkreten Zielen, denen ihre utopischen Ideen Glaubensersatz und Kraftreservoir sind. Was aber die politisch nicht aktiven Menschen betrifft, so ist ihr utopisches Bewußtseinselement hinsichtlich politischer Angelegenheiten weitgehend aus Irrationalität, Unkenntnis, Unzufriedenheit und Emotionalität gespeist.

Die Domestizierung des utopischen Bewußtseinselementes

Es stellt sich nun die Frage, ob und wie dieser Sachverhalt verändert werden kann. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß dieses Phänomen — isoliert betrachtet — gar nicht so auffällig ist, daß es aber — global gesehen — ein nicht zu untei schätzendes Unsicherheitsmoment für die politisch-soziale Ordnung darstellt. Man könnte natürlich einwenden, dadurch werde die Offenheit für neue Lösungen in diesem Bereich gewährleistet. In dieser Form stimmt die Aussage aber nicht, denn die auf unreflektierten, utopischen Vorstellungen beruhenden „neuen Lösungen" haben den Charakter von Roßkuren, bei denen der Patient grundsätzlich stirbt. Neue Lösungen, die von Wert und Bestand sein sollen, verlangen neben Phantasie auch noch Augenmaß für das Mögliche. Natürlich können Aufklärung und Information durch Schule, Kommunikationsmittel und Erwachsenenbildung, die sich der Erkenntnisse der politischen Wissenschaft bedienen, einiges leisten, um den Zauberberg der Irrationalität mit einem soliden Schutzwall von Kenntnissen und rationalen Einsichten zu umgeben. Zum Zerfall bringen kann man ihn aber nicht. Das utopische Denken ist daher eine politische Realität, mit der der Politiker sowie der politische Theoretiker rechnen muß. Beide sollten folglich diese Tatsache in das Kalkül ihrer Handlungen oder Theorien mit einbeziehen als eine Unbekannte, die nicht übergangen werden darf. Es geht also nicht darum, über die Unbelehrbarkeit der Menschen zu jammern, sondern vielmehr darum, mit ihrer Uneinsichtigkeit zu rechnen.

Dies ist keineswegs Pessimismus, aber eine gewisse Skepsis gegenüber dem Glauben, es genüge, die Fackel des Wissens — in unserem Fall also des Wissens um politische Zusammenhänge — in die hoch dunklen oder nur schwach erleuchteten Bereiche der Gesellschaft zu tragen, dann würden sich alle utopischen Denkformen schon verflüchtigen. Es besteht natürlich kein Zweifel daran, daß Unterrichtung und Vermittlung von Kenntnissen viel vermögen. Unsere herkömmlichen pädagogischen Institutionen sind jedoch bisher weit besser darauf eingerichtet, Denken in naturwissenschaftlichen, mathematischen, geisteswissenschaftlichen, handwerklich-praktischen und technischen Kategorien zu lehren, als dazu beizutragen, politische Denkweisen zu entwikkeln, ohne der Indoktrinierung zu verfallen. Hier spielt natürlich der historische Faktor eine Rolle, die mangelnde demokratische Tradition und die Tatsache, daß lange Zeit die Staatsbürgerkunde jeweils eine „staatserhaltende" Aufgabe hatte und daß es ihr nicht darum ging, politisches Handeln und politische Vorgänge als notwendige, einer ständigen Kontrolle zu unterwerfende, pragmatische Vorgänge des gesellschaftlichen Lebens zu zeigen, sondern darum, Patriotismus zu erzeugen. Weiterhin darf nicht übersehen werden, daß der Gegenstand der Politik kompliziert und selbst immer der Gefahr ausgesetzt ist, ideologisiert zu werden. Es fehlt ihm die Eindeutigkeit einer naturwissenschaftlichen Disziplin. Einsicht in politische Verhaltensweisen zu lehren, fordert daher zunächst eine Klärung dessen, was man unter dem Gegenstand versteht, der als wichtigste Voraussetzung rationales Denken verlangt. Wenn diese Forderung nicht erfüllt ist, dann fehlt es an einer nötigen Barriere für das utopische Bewußtseinselement des Menschen.

Es besteht also ein Zusammenhang zwischen der Auffassung von Politik, ihrer Verbreitung und dem quantitativen und qualitativen Vorhandensein utopischer Vorstellungen und Erwartungen. Das besagt keineswegs, daß dort, wo Politik weitgehend pragmatisch-rational gesehen wird, utopisches Denken nicht anzutreffen sei. Es ist aber, und das ist sehr wichtig, weniger aktualisierbar und von geringerem Gewicht. Man denke nur an die englische Demokratie mit ihrem Traditionsreichtum und dem Stolz der Staatsbürger auf die funktionsnotwendigen Institutionen wie Wahlen, Interessenverbände, Parlament und freie Presse. Wenn wir daher im folgenden den Gegenstand „Politik" näher beleuchten und auch auf die Möglichkeit zu sprechen kommen, wie er einsichtig gemacht werden könnte, so bedeutet dies keinen Widerruf unserer Behauptung, utopisches Denken sei eine politische Realität. Ihr soll nur hinzugefügt werden, daß eine Entschärfung dieser latenten Gefahr, daß ihr Eindämmen den Stellenwert des hier untersuchten Phänomens verändern kann.

Das Wissen um politische Zusammenhänge

„Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich" (Max Weber). „Politik ist die vernünftige Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens im öffentlichen Bereich" (Hans Buchheim). „Politik ist die Kunst, das Nötige möglich zu machen" (Carlo Schmid). „Politik ist Kampf um die rechte Ordnung" (Otto Heinrich von der Gablentz). „Das politische Denken ist gerichtet auf die res gerendae, und es ist nicht gerichtet auf die res gestae" (Arnold Bergstraesser). „Politik ist Gründung und Erhaltung des Staates; ist Gestaltung — Lockerung und Verdichtung — seines Gefüges; ist Ordnung der Beziehungen von Staat zu Staat; vor allem aber: Politik ist die Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zum Staate selbst. Politik ist aber auch der richtige, vom erkennenden Verstände und der Sorge um die anvertrauten Menschen gelernte Umgang mit der Macht" (Carlo Schmid).

Diese Definitionen mögen genügen, um den Gegenstand der Politik zu erhellen. Dieser vielschichtige, komplexe Begriff kann durch eine Formel nicht erklärt, sondern nur umkreist werden. Aus unseren Definitionen geht hervor, daß der Politik ein dynamisches Prinzip innewohnt. Sie wird von Menschen gemacht, die außer von rein logischen Beweggründen auch von anderen Motiven bestimmt werden. Daher hat Karl Mannheim zwischen einem wißbaren und einem irrationalen Teil bei der Politik unterschieden Zum wißbaren oder rationalen Teil gehört das, was wissenschaftlich analysierbar und deduzierbar ist. Es sind dies etwa Tatsachen und vorausberechenbare Entwicklungen. Im irrationalen Be-reich der Politik hat die Entscheidung des Menschen, des Politikers, ihren Platz. Entscheidung beinhaltet, daß etwas angenommen und etwas abgelehnt wird, daß eine Ordnungsidee verwirklicht und eine Ordnungsidee zurückgewiesen wird. Daraus folgt, daß es im Bereich des Politischen ein Feld grundsätzlicher und personaler Gegensätze gibt, die ausgetragen werden müssen, oder wir können auch sagen, der Kampf um die Macht, seine eigene Ordnungsidee zu verwirklichen, ist ein Kennzeichen der Politik. Dies ist ein völlig legales Streben, das aus der Vielzahl der menschlichen Einzelwillen und der Notwendigkeit einer Entscheidung resultiert. So sind es doch gerade die totalitären Systeme, die eine Pluralität von möglichen Ordnungsideen durch Heiligsprechung der einen und durch Ächtung der anderen verneinen und ihre dialektische, auf bestimmten Spielregeln ruhende Auseinandersetzung verhindern. Man kann Politik allgemein als das noch nicht Entschiedene, als das, was in einer Gesellschaft umstritten ist, betrachten.

Das politische Tun beruht zu einem großen Teil darauf, daß das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. An diesem Wagnischarakter hat die politische Bildung teil, dieses pädagogische Risiko ist für sie so bezeichnend wie die reine Logik für die Mathematik, denn die politische Bildung vermag nur zu einem Teil gesicherte Tatsachen und Werte zu vermitteln. Wenn Politik vornehmlich Entscheidung, Parteinahme, Auseinandersetzung, Interessenausgleich ist, dann ist ein politischer Unterricht, der nur „einen systematisierten Zusammenhang von Wissen bietet, schlechterdings unpolitisch" Andererseits kann auf konkrete Kenntnisse nicht verzichtet werden, ja, sie sind geradezu die Voraussetzung, wenn politisch geurteilt oder gehandelt werden soll. Weder die reine Gesinnungsbildung, die vor allem Eduard Spranger postuliert, noch die im monarchischen Deutschland und auch weitgehend in der Weimarer Republik übliche staatsbürgerliche Belehrung können der Forderung nach politischer Bildung allein gerecht werden. Die Schule als der Hauptort politischer Erziehung kann weder allein durch das Einpauken von Kenntnissen noch allein durch die Einübung von Tugenden des sozialen Zusammenlebens ihrem Erziehungsgegenstand, der Politik, gerecht werden. Das erste führt dazu, daß die Schule ungewollt zum politischen Desinteresse ihren Beitrag leistet, weil durch das ganze Gewirr von Verfassungsbestimmungen, Verwaltungswegen, Verfahrensweisen, Staatsformen etc. das eigentlich Politische nicht mehr transparent wird, ja, daß es gar nicht als bedeutsam erscheinen kann. Das zweite, als Haupterziehungsziel angestrebt, erliegt leicht der Tendenz, zur staatsbürgerlichen Verantwortung zu erziehen, ohne den Staat in seiner Wirklichkeit zu zeigen; es wird zu einem Staat erzogen, wie er sein soll „Wenn im politischen Unterricht Sein und Seinsollen so weit auseinanderfallen, daß das eine im anderen nicht mehr wiederzuerkennen ist, büßt er jede vernünftige Wirkung ein." Deshalb muß der politische Unterricht in die Realitäten einführen. Er darf kein Schonraum für politische Illusionen oder Abstraktionen werden, wenn das erreicht werden soll, was Felix Messerschmid folgendermaßen ausdrückt: „Das fundamentale Ziel der politischen Bildung bleibt der sich selbst und das Gemeinwesen mitverantwortende, zu begründeten Urteilen fähige, die Methoden der politischen Einwirkung kennende, später möglicherweise politisch aktive Zeitgenosse."

Die Gefahr bei der politischen Pädagogik, nicht realisierbare Erziehungsziele aufzustellen, ist groß. Kurt Sontheimer schreibt dazu: „Die Ziele unserer politischen Bildungsarbeit sind sehr hoch gesteckt; sie richten sich auf einen Staatsbürger, der die politische Klugheit eines erfahrenen Staatsmanns und Politikers verbindet mit der Weisheit des Philosophen und den Kenntnissen des modernen Gesellschaftswissenschaftler." Im politischen Unterricht kommt es auf das Üben des politischen Urteils an Ernstfragen des öffentlichen Lebens an. Die politische Bildung des Menschen soll dazu dienen, konkrete Aktionen und Situationen zu beurteilen. Politische Bildung muß versuchen, über die Kenntnisse zu Einsichten zu gelangen, wobei Einsicht in ihrer Subjektivität immer wieder der Kritik der eigenen Vernunft auszusetzen und in Frage zu stellen ist Aus der Dynamik des Politischen ergibt sich, daß politische Einsichten und Kenntnisse nicht als Absoluta vermittelt werden dürfen, daß ihre prinzipielle überholbarkeit dem Schüler bewußt gemacht werden muß. Die Aufgabe der politischen Erziehung müßte sein, „ein maßgebliches politisches Wissen zu vermitteln, von Vorurteilen und Verblendung zu befreien, das Denken zur kritischen Prüfung anzuregen und zu befähigen, zu Nüchternheit und Besonnenheit anzuhalten" Aus der Untersuchung Gieseckes geht hervor, daß die Hauptaufgabe der Schule darin besteht, die durch die Massenkommunikationsmittel erzeugte Fülle und Diffusität der Vorstellungen und die in der Familie gebildeten Urteile und Vorurteile auf zweierlei Art zu ordnen: durch sachlich elementarisierte Systematik und durch kategoriale Infragestellung. Durch Ordnen, Klären und Kritik von schon vorhandenen Vorstellungen könnten so neue und jetzt objektive politische Vorstellungen entstehen, die den Jugendlichen gegen propagandistische Verdummung feien sollen. Da es nun keinen Zweifel daran gibt, daß alle Aktionen und Situationen im staatlich-gesellschaftlichen Bereich wandelbar sind, daß sie in einer einmaligen Auswahl aus verschiedenen . Lösungsmöglichkeiten realisiert werden, daß alles, was mit Politik zusammenhängt, gekennzeichnet ist durch Entscheidung und Parteinahme — letzten Endes durch Subjektivität und Überzeugung —, muß die Konzeption einer politischen Bildung diesem spezifischen Charakter der Politik entsprechen. Von grundlegender Bedeutung ist dabei, daß sie sich ständig gegen die Gefahr wappnet, selbst ungewollt einen Beitrag zum utopischen Denken zu leisten.

Rationalität als Forderung

Die unreflektierte Übertragung von Verhaltensmustern und Erwartungen aus dem Bereich der Familie in den staatlichen Raum, wobei der jeweilige spezifische Kontext übersehen wird, dürfte in vielen Fällen dem utopischen Denken zugrunde liegen. Hinzu kommt die Entfremdung des Menschen den Zentren der politischen Entscheidung gegenüber. Automatisierung und Bürokratisierung der Gesellschaft geben dem Menschen das Gefühl, sein Einzelwille sei unwichtig, dieses ganze Räderwerk funktioniere unabhängig von ihm. Das Gefühl für die enge Verbindung von Fundament und Dach des staatlichen Gebäudes, die beide aufeinander angewiesen sind, geht verloren. Das sogenannte politische Establishment an den Schalthebeln der Macht wird als Ausdruck dafür gesehen, daß der einzelne Staatsbürger nur noch Objekt ist. Die Vorstellung einer „heilen Welt" drängt sich auf, in der sich der Einzelmensch der Vorteile des technischen Zeitalters bedienen kann und zugleich Herr aller Entscheidungen bleibt, in der er, technisch gesehen, ein Weltbürger ist, aber politisch gesehen, im Klima überschaubarer Kleingruppen lebt. Eine stärker werdende Frustrierung entwickelt sich, die Gleichgültigkeit oder Angriffslust hervorbringt. Solche Ideen müssen ausgeglichen und neutralisiert werden dadurch, daß ihr Vorhandensein bei einem gewissen Prozentsatz der Staatsbürger als gegeben angesehen und in Betracht gezogen wird, und dadurch, daß zumindest versucht wird, durch Appell an Vernunft und Einsicht das Gefühl für das politisch Mögliche zu wecken und die Unterscheidungsfähigkeit für das, was erstrebenswert ist, und für das, was zunächst getan werden kann, zu schärfen.

Gerade in einer Zeit, deren hervorstechendes Kennzeichen die Veränderung auf allen Gebieten ist, sei es im Bereich der Technik oder hinsichtlich der Moralauffassung, tut Nüchternheit und Sachlichkeit in der Politik not.

Politische Romantik, ganz gleich aus welchen Quellen gespeist, verrät nur die Unfähigkeit, mit der Welt, so wie sie sich heute zeigt, fertig zu werden. Statt dessen werden verstaubte Ideen von gestern aus dem Arsenal der Geschichte hervorgeholt und auf modern zurechtgemacht, oder tagträumerische Sehnsüchte werden zu politischen Waffen geschmiedet. Das technotronische Zeitalter, an dessen Schwelle wir stehen, verlangt jedoch eine rationale Handhabung der Macht, die den Menschen gegeben ist, sofern der Begriff der persönlichen Freiheit als ein Wert betrachtet wird, der erhalten werden soll. Nur dann wird es möglich sein, die Strukturen des freiheitlichen Staates entsprechend den Erfordernissen unserer Zeit zu ändern, ohne auf zerstörerische Extremlösungen zu verfallen. Das Denken in utopischen Kategorien, mögen sie in einer vagen Vergangenheit oder unsicheren Zukunft angesiedelt sein, ist eine Komponente, die im Zusammenspiel mit vielen anderen die politische Wirklichkeit gestaltet, wenn man darunter nicht nur Institutionen, sondern auch das Bewußtsein der Staatsbürger versteht. Der Grad der Virulenz dieser Kategorien ist Maßstab für die demokratische Reife eines Staates.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Karl J. Newman, Wer treibt die Bundesrepublik wohin?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 31/68, S. 7.

  2. Ulrich Lohmar, Die „Neue Linke" und die Institutionen der Demokratie, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 44/68, S. 4.

  3. Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik?, München 1966, S. 127.

  4. Newman, a. a. O., S. 22.

  5. Vgl. Hans Buchheim, Was heißt politisch denken?, in: Die Neue Rundschau, Heft 2/1968, S. 255.

  6. Karl Jaspers, a. a. O., S. 134.

  7. Giselher Schmidt, Ideologie und Propaganda der NPD, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 7/68, S. 15.

  8. Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 26.

  9. Karl Mannheim, Das utopische Bewußtsein, in: Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, hrsg. und eingeleitet von Arnheim Neusüss, Neuwied-Berlin 1968, S. 270.

  10. Otto Heinrich von der Gablentz, Politik als Wissenschaft, in: Aufgabe und Selbstverständnis der Politischen Wissenschaft, hrsg. von Heinrich Schneider, Darmstadt 1967, S. 50.

  11. Max Weber, Der Beruf zur Politik, in: Max Weber — Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik. Mit einer Einleitung von Eduard Baum-garten hrsg. und erläutert von Johannes Winckelmann, Stuttgart 19643, S. 185.

  12. Otto Heinrich von der Gablentz, Einführung in die politische Wissenschaft, Köln und Opladen 1965, S. 14.

  13. Arnold Bergstraesser, Der Beitrag der Politikwissenschaft zur Gemeinschaftskunde, in: Heinrich Roth (Hrsg.), Gemeinschaftskunde und politische Bildung. Ein Arbeitsbericht. Zweites Sonderheft der „Neuen Sammlung", Göttingen 1963, S. 59.

  14. Carlo Schmid, Politik und Geist, München 1964, S. 117.

  15. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt 19523, S. 95 ff.

  16. Hermann Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, München 1965, S. 22.

  17. Erich Weniger, Politische Bildung und staatsbürgerliche Erziehung, Würzburg 1954, S. 24; vgl. Theodor Litt, Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes, Bonn 19573, S. 60.

  18. Giesecke, a. a. O., S. 61.

  19. Felix Messerschmid, Zur politischen Bildungsaufgabe der Oberstufe der höheren Schulen, in: Gesellschaft — Staat — Erziehung, 1964 (Sonderdruck), S. 90.

  20. Zit. nach Giesecke, a. a. O., S. 86.

  21. Paul Röhrig, Politische Bildung. Herkunft und Aufgabe, Stuttgart 1964, S. 149— 161.

  22. Röhrig, a. a. O., S. 130.

Weitere Inhalte

Jürgen Weber, cand. phil., geb. am 19. September 1944, Studium der Politikwissenschaft, Romanistik und Geschichte in Mainz und Straßburg, promoviert z. Z. über den Europarat. Veröffentlichungen: Die demokratische Alternative zum Kommunismus, in: Politische Studien, 19. Jg., H. 178, 1968; Die Bemühung der