Die Sehnsucht nach Vollkommenheit
Der englische Staatsmann Thomas Morus hat in seinem 1516 erschienen Werk „De optimo republicae statu deque nova insula Utopia" ein in seinen Augen ideales Staatswesen entworfen, wobei er für sein „Nirgendwo" von der Frage des Erwerbs, des Gebrauchs und des Verbrauchs von Macht als einem wesentlichen Faktor der staatlichen Organisation absieht. Allein ihre Gestaltung und ihr Funktionieren sind ihm wesentlich, nicht aber die dazu notwendigen Voraussetzungen und realen Möglichkeiten. Solche Vorstellungen einer politischen Ordnung nennen wir seither Utopie und verstehen darunter einen von Wunschträumen geformten und von den tatsächlichen Gegebenheiten abstrahierenden Idealzustand menschlicher Daseinsgestaltung.
Die Utopie ist Ausdruck des säkularen Erlösungsbedürfnisses des Menschen, der die Harmonie des Diesseits ersehnt. Natürlich impliziert die Kennzeichnung irgendeiner Forderung im politisch-gesellschaftlichen Bereich als utopisch bereits eine Wertung und eine eigene Standortbestimmung des so urteilenden Beobachters. Trotzdem darf man feststellen, daß das bei dieser Fragestellung zu erreichende Maß an Objektivität im Sinne der geisteswissenschaftlichen Methode solche Untersuchungen rechtfertigt und diese keineswegs als subjektivistische Meinungsäußerungen abgetan werden können, wenn auch viele das augenblickliche Sein transzendierende Wünsche politischer Art nicht zu verwirklichen und miteinander in Einklang zu bringen sind, es sei denn, der Mensch würde geändert und die von ihm geschaffene Ordnung funktioniere nach völlig neuen Gesetzen. Es geht uns im folgenden nicht um die philosophische Auslotung des Begriffes der Utopie, sondern um die politische Relevanz des utopischen Denkens in der Demokratie in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und um die Erhellung seiner Problematik und Gefahr. Utopisches Denken ist keineswegs nur im Verlauf der politischen Ideengeschichte bei Theoretikern und Praktikern festzustellen, die sich mit den Fragen nach Staat, Gesellschaft und Ordnung beschäftigten. Wenn man einmal die Vorstellungen, Erwartungen und Kritiken vieler in einem freiheitlichen System lebender Menschen der Gegenwart dazu näher analysiert, muß man zu dem Schluß kommen, daß das Denken in utopischen Kategorien zeitlos ist — wohl wegen seiner engen Verwandtschaft zur Irrationalität. Dieses spezifische Element, das wir das utopische Bewußtseinselement nennen wollen, ist dabei — für sich genommen — oft nur von geringer Bedeutung; sein Vorhandensein und seine Verbreitung jedoch weisen auf eine gewisse Offenheit für politische Heilslehren hin und dürfen daher nicht unbeachtet bleiben.
Die verfeinerten Methoden der Demoskopie könnten sicherlich dieses Phänomen rein statistisch näher untersuchen. Aber bereits die historische Erfahrung sowie eine Analyse der Ideologien extremistischer politischer Parteien lehren, daß ein Teil der Staatsbürger in dieser Hinsicht verfügbar ist. Das Entstehen einer rechtsradikalen Partei und der linksradikalen sogenannten außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik, zweier politischer Formationen also, die sich als Motor einer neuen, recht nebulösen Ordnung begreifen und die die bestehende parlamentarische Demokratie in Frage stellen und dafür einem mystischen Volks-und cäsaristischen Führerbegriff bzw. einem anarchischen und totalitären Elite-begriff huldigen, ist der sichtbare Beweis für die mehr oder minder brachliegenden utopisch-unreflektierten Denkstrukturen in unserer Gesellschaft. Es spielt dabei keine Rolle, daß die Anhängerschaft auf den beiden Flügeln des politischen Spektrums zahlenmäßig gering ist. Man muß davon ausgehen, daß hier eine aktive Minderheit zum Ausdruck bringt, was in vielleicht abgemilderter Form eine weit größere Anzahl meint. Gemeinsam ist den Agitatoren von rechts nach links der Kampf gegen das „System" und die „Lizenzparteien". Die Neue Linke setzt den Institutionen der parlamentarischen Demokratie die Vorstellung eines repressionsfreien Gemeinwesens, das heißt eines säkularisierten Paradieses entgegen, der Alten Rechten schwebt eine konflikt-lose Gemeinschaft zwischen Herrschern und Beherrschten vor.
Natürlich ist das politische Bewußtsein der Staatsbürger unterschiedlich ausgeprägt und diffus in seinen konkreten Äußerungen. Es ist geradezu ein Merkmal für die Reife einer demokratischen Ordnung, den verschiedenen und gegensätzlichen Ausdrucksformen dieses politischen Bewußtseins einen breiten Raum zu gewähren. Das Funktionieren des Staates erfordert jedoch von seinen Bürgern einen Konsensus über einige fundamentale Notwendigkeiten. Dazu gehören nicht nur die demokratische Spielregel der Gültigkeit einer ohne Zwang zustande gekommenen Mehrheitsentscheidung und die Option für die unumgängliche Kontrollfunktion von Parlament und öffentlicher Meinung, sondern auch die Einsicht, daß es der Zweck des Staates ist, „irdischen Durchschnittsmenschen zu dienen und von diesen gestaltet zu werden"
Das Unverständnis für die notwendigen Auseinandersetzungen von Parteien — das „Parteiengezänk" — entspringt einem weitverbreiteten harmonistischen Staatsideal, dem die Wirklichkeit nicht entspricht. Auch der mit seinen abwertenden Bemerkungen über Parlament und Parteien nicht geizende bisherige französische Staatspräsident de Gaulle, der sich als Inkarnation der französischen Geschichte begreift, mußte spätestens im Mai 1968 erkennen, daß zwischen dem Präsidenten der Republik und der Nation keineswegs ein problemloses Verhältnis ungetrübten Verstehens herrschen kann. In der nicht selten geäußerten harten und oft völliges Unverständnis an den Tag bringenden Kritik am „Parteiapparat", an seiner „Protektionswirtschaft" drückt sich der im Unterbewußtsein genährte Wunsch nach einem Staatswesen aus, in dem etwa nach Rousseauschem Vorbild der Bürger direkt die ihn angehenden Entscheidungen trifft, in dem er ganz und gar Subjekt und nicht willenloses und nichtgefragtes Objekt „anonymer Herrschaftszentralen" ist, wo nicht hinter den Kulissen nach dem Motto: „Die eine Hand wäscht die andere" angeblich Absprachen getroffen und die Interessen der Allgemeinheit zugunsten von Partikularinteressen verhökert werden. Ohne dies vielleicht klar zu artikulieren, ersehnt derjenige, der so denkt, eine gerechte Ordnung, in der sich das Gute durchsetzt und das sinnvoll Notwendige sich sozusagen von selbst realisiert. Wer von diesen Voraussetzungen ausgehend die ihn umgebende politische Landschaft betrachtet, muß notwendigerweise enttäuscht und unzufrieden sein. Er wird sich dann entweder ganz in seine Privatsphäre zurückziehen („Politisch Lied ein garstig Lied", „Es sind ja doch alles Gauner", „Ich mache mir doch nicht die Hände schmutzig"), oder er wird im Gegenteil diese sich ihm so darbietende Wirklichkeit gänzlich zu zerstören suchen, um eine neue an ihre Stelle zu setzen. Der „Neue Mensch" als Ziel einer totalen politischen Umgestaltung sollte nach nationalsozialistischer Doktrin die Krönung dieser Politik sein. Die kommunistische Ideologie sieht ebenfalls in diesem Ziel ihre höchste Rechtfertigung. Wenn auch im ersten Fall das neue Menschenbild auf biologistisch-rassistischen Vorstellungen, im zweiten Fall auf dem Glauben an die Gestaltbarkeit des menschlichen Bewußtseins beruht, so treffen sich diese totalitären Vorhaben doch in ihrer menschen-verachtenden Radikalität.
Das Desinteresse an der bestehenden Ordnung oder ihre Ablehnung sind häufig in dem Gefühl der Enttäuschung, der Desillusionierung, des Zerplatzens von Tagträumen begründet. Ein Teil der deutschen Bevölkerung stand der Weimarer Republik reserviert oder gar ablehnend gegenüber, weil man Glanz und Gloria vermißte, den jungen Staat für die Fehler des Kaiserreiches verantwortlich machte und an ihn unerfüllbare Forderungen stellte, in denen sich autoritätsgläubiger Untertanengeist mit ungehemmtem politischen Egoismus verband. Radikale Gruppen unserer Tage proklamieren die bruchlose Ordnung und wischen den Hinweis auf die Relativität alles menschlich und damit politisch Erreichbaren
Es wird einfach nicht in Betracht gezogen, daß die gerechte, gute Ordnung, in der jeder leben will, sich nicht aus der Natur der Dinge ergibt, sondern genauso wie das Gute ihren Anwalt braucht, der sie anderen, konträren Ordnungsvorstellungen zum Trotz durchsetzen muß. Es wird nicht gesehen, daß die politische Ordnung nicht etwas Vorgegebenes ist, das mit gutem Willen erreicht werden kann, sondern daß sie vielmehr ständig neu errungen werden will und stets unzulänglich bleibt. Die Kunst der Politik wird darin gesehen, eine Idealvorstellung zu verwirklichen, anstatt sie darin zu erblicken, wie das sachlich Notwendige unter den jeweils gegebenen mitmenschlichen Umständen verwirklicht werden kann
Utopisches Denken auf politischem Gebiet ist allgegenwärtig. Es beginnt damit, daß von den immer im Blickpunkt des öffentlichen Interesses stehenden Politikern Eigenschaften erwartet werden, die der einzelne von sich selbst nicht fordert: Allwissenheit, Vorurteilslosigkeit, Unfehlbarkeit, ständige Höchstleistungsbereitschaft. Dabei ist es durchaus richtig, an den Politiker hohe Anforderungen charakterlicher und fachlicher Art zu stellen, jedoch darf man nicht den Übermenschen fordem. Diktatoren aller Zeiten haben sich gerne als „Sonderausgaben" ihres Geschlechtes dargestellt, um das ihnen entgegengebrachte blinde Vertrauen um so skrupelloser auszunutzen. Utopisches Denken zeigt sich beispielsweise in der übertriebenen Forderung an Institutionen des demokratischen Staates, von deren Existenz allein bereits sein reibungsloses Funktionieren erwartet wird, das in Wirklichkeit jedoch nur dann gewährleistet ist, wenn die Institutionen von Menschen gehandhabt werden, die sie sinnvoll und verantwortungsbewußt gebrauchen. Die geschriebene Verfassung ist nur der Rahmen, in dem sich das politisch-gesellschaftliche Leben abspielt, sie nützt wenig, wenn die Staatsbürger ständig gegen ihren Geist verstoßen. Die Rechtsordnung steht und fällt mit ihrer täglichen Respektierung oder Nichtrespektierung. Das Parlament kann nicht besser sein als seine Repräsentanten, die der Staatsbürger gewählt hat.
Der Föderalismus wird in Deutschland oft angegriffen: Mangelnde Koordination in der Schulpolitik, kleinliches Beharren der Länder auf ihrer Kulturhoheit, Kompetenzüberschneidungen, aufgeblähte Verwaltungsapparate sind in der Tat Negativa dieses Prinzips. Anstatt sich jedoch an diese konkreten Mißstände zu halten und bei ihrer Bewertung die gewalten-kontrollierende und gewaltenverteilende Funktion des Föderalismus in Rechnung zu stellen, wird der Föderalismus in Bausch und Bogen verurteilt, und das zu einer Zeit, in der in dem zentralistischen Frankreich eine weitgehende Dezentralisierung vorangetrieben und als eine der bedeutenden Zukunftsaufgaben betrachtet wird. Die Reihe der Beispiele ließe sich beliebig fortsetzen. Ein letztes sei lediglich noch angeführt, das von besonderer Bedeutung ist: Die Vorstellung nämlich, das Repräsentativ-system verhindere eine echte Einwirkung des Staatsbürgers auf die ihn letzten Endes wieder treffenden Entscheidungen von Parlament und Regierung, er habe keinen Einfluß auf die politische Gestaltung seiner Zukunft. Hier kommt wieder der schon erwähnte Antiparteienaffekt zum Vorschein, der auf einem zweifelhaften Verständnis von Demokratie beruht. Die Gegenvorstellung ist nämlich, es sei demokratischer, wenn das Volk durch Referendum und Volksbegehren an wichtigen Entscheidungen mitwirken könne. In solchen Forderungen treffen sich Jaspers, der als einziges Gegengewicht zum Parlament einen starken, vom Volk gewählten, mit mächtiger Autorität und der Möglichkeit politischer Einflußnahme ausgestatteten Bundespräsidenten sieht
Volksbefragung und Volksentscheid sind in der Hand von Demagogen wirksame Mittel zur Beseitigung der Freiheit, denn die zu entscheidenden Fragen müssen notwendigerweise auf simplifizierende Alternativen gebracht werden. Wer am skrupellosesten agiert, erhält die meisten Stimmen. Der Hinweis auf die Fünfte Republik in Frankreich ist kein überzeugendes Argument, da dort die Integrität de Gaulles ein wirksames Gegengewicht gegen Machtmißbrauch darstellte. Ein Staat steht jedoch auf einer solideren Grundlage, wenn seine Bürger mehr ihrer eigenen Mündigkeit und ihren demokratischen Institutionen vertrauen als einem einzigen Menschen.
Das utopische Bewußtseinselement bewirkt, daß sich die dumpf empfundene Unzufriedenheit und die klar formulierte Kritik an einem Idealbild gesellschaftlicher Verhältnisse orientieren, die nicht existieren und nie existiert haben. Die Frage stellt sich dann nicht, in welcher Weise unter den gegebenen Verhältnissen ein Optimum zu erreichen ist, wie also etwa die Vor-und Nachteile einer Institution, eines Regierungssystems etc. zueinander in ein vernünftiges Verhältnis gebracht werden können, sondern sie nimmt kategorischen Charakter an. Maximale Erwartungen werden zum Bewertungsmaßstab. Für jene so Denkenden ist das Wort vom größten Glück der größten Zahl als Ziel einer realistischen Politik eine inhaltsleere Formel, ihnen genügt nicht das relativ Beste, „weil sie der Hang zum Absoluten plagt"
Die Notwendigkeit der geistigen Unruhe
Es wäre natürlich unzureichend, das utopische Bewußtseinselement ausschließlich unter dem bisher eingenommenen Blickwinkel zu betrachten. Die Tatsache, daß alles Menschenwerk immer nur eine relative Vollkommenheit erzielt, daß es sein Ziel nur in der Annäherung erreicht, ist kein Grund, einem distanzierten Relativismus das Wort zu reden. Im politisch-gesellschaftlichen Bereich gilt das geflügelte Wort „comprendre c'est pardonner" nicht. Die Unvollkommenheit von Institutionen, Regierungs-, Verfassungs-und Wirtschaftssystemen verstehen, heißt nicht, sie billigen undentschuldigen, sondern sie bessern. Kann dazu die die Wirklichkeit überspringende Denkkategorie, von der hier die Rede ist, etwas beitragen? Zunächst sei einmal festgestellt, daß die anfänglichen Bemerkungen über die übertriebenen und an einem falschen Leitbild orientierten Erwartungen mancher Zeitgenossen gegenüber dem, was z. B. ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat vermag, falsch verstanden würden, wollte man aus ihnen etwa die Behauptung herauslesen, Kritik, Unzufriedenheit mit Bestehendem, Ablehnung, Änderungsbestrebungen seien einer utopischen Geisteshaltung zuzuordnen. Dies wäre natürlich ganz irrig Unzufriedenheit mit dem, was ist, war schon immer die Grundlage für jede Weiterentwicklung und für die Besserung herrschender Mißstände. „Daß ein für die bestehende, geltende Sozialordnung bewußt oder unbewußt optierender Beobachter einen dem Umfang nach so umfassenden, unbestimmten und un-differenzierten Begriff des Utopischen hat, in dem der Unterschied des absolut und nur relativ Unverwirklichbaren verwischt wird, ist kein Zufall. Von diesem Standort will man einfach nicht über den gegebenen Seinsstatus hinauskommen. Dieses Nichtwollen trachtet das allein in der gegebenen Seinsordnung Unverwirklichbare als etwas völlig Unverwirklichbares anzusehen, um durch diese Verschüttung der Differenzen das nur relativ Utopische als Forderung nicht aufkommen zu lassen. Indem man ohne Unterschied alles utopisch nennt, was über das Gegebene hinausragt, vernichtet man die Beunruhigung, die aus dem in anderen Seinsordnungen verwirklichbaren . relativ Utopischen'entstehen könnte."
Selbstverständlich ist eine wirkungsvolle, auf positive Aktion bedachte Kritik verpflichtet, ihrem Gegenstand zunächst einmal etwas subjektiv Besseres, überlegeneres entgegenzustellen. Der Kritiker des Parlamentarismus, der als Gegenvorstellung das Rätesystem entwickelt, ist durchaus ernst zu nehmen. Entscheidend ist jetzt aber, ob er rational bereit ist, beider Vor-und Nachteile zu untersuchen und miteinander zu vergleichen, die Durchsetzbarkeit seiner Idee zu überprüfen, möglichen Gewinn in Relation zum sicheren Verlust zu setzen, oder ob er seine Gedanken ideologisiert, das heißt, sie für allein richtig und einzig gültig erklärt. Im ersten Fall können aus solchen Überlegungen fruchtbare Impulse ausgehen, die ganz im Sinne der Kritik verändernde Wirkung am kritisierten Gegenstand hervorrufen können. Im zweiten Fall verfällt er der geistigen Sterilität, oder er muß gewaltsam den Gegenstand seiner Kritik zerstören, um seine Vorstellung zu verwirklichen, der dann ein ähnliches Schicksal bevorsteht. Wenn wir also bisher von dem nicht selten anzutreffenden utopischen Charakter politischer Vorstellungen gesprochen haben, so müssen wir jetzt feststellen, daß er a priori doppelgesichtig ist. Er verdunkelt zwar einerseits den Blick für die realen Möglichkeiten, andererseits kann er aber auch dazu beitragen, in einem von den hemmenden Kräften befreiten Höhenflug neue Perspektiven zu eröffnen. Das Modell vom absterbenden Staat und der klassenlosen Gesellschaft ist utopisch, aber fruchtbar in dem Sinn, als diese Herausforderung eine rationale Antwort verlangt. Der soziale Rechtsstaat hätte sich wohl ohne die Herausforderung durch die marxistischen Ideen nicht zu seiner heutigen Form entwickelt. Die französischen Sozialisten wie Charles Fourier und Pierre-Joseph Proudhon waren Utopisten. Die Tatsache aber, daß ihr Suchen nach einem System der sozialen Gerechtigkeit sie auf nichtrealisierbare Theorien und Forderungen gebracht hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie den Anstoß zur Reflexion und zur Lösung der sozialen Probleme gegeben haben. Gefährlich wird es jedoch, wenn sich das utopische Denken nicht als das versteht, was es wirklich ist, nämlich eine idealisierende Spekulation, die zur geistigen Beunruhigung beitragen kann. Mit dem Glauben an seine Realisierbarkeit verbindet es dann nämlich einen Absolutheitsanspruch, der die bestehende Ordnung verketzert und nur die gewünschte als ideal und dazu noch machbar darstellt. Thomas Morus hat seine Gedankenkonstruktion ein „Nirgendwo" genannt. Er war sich bewußt, daß sie nie Wirklichkeit werden könnte, aber er griff zu diesem Stilmittel, um seinem Gestaltungsdenken
Die Domestizierung des utopischen Bewußtseinselementes
Es stellt sich nun die Frage, ob und wie dieser Sachverhalt verändert werden kann. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß dieses Phänomen — isoliert betrachtet — gar nicht so auffällig ist, daß es aber — global gesehen — ein nicht zu untei schätzendes Unsicherheitsmoment für die politisch-soziale Ordnung darstellt. Man könnte natürlich einwenden, dadurch werde die Offenheit für neue Lösungen in diesem Bereich gewährleistet. In dieser Form stimmt die Aussage aber nicht, denn die auf unreflektierten, utopischen Vorstellungen beruhenden „neuen Lösungen" haben den Charakter von Roßkuren, bei denen der Patient grundsätzlich stirbt. Neue Lösungen, die von Wert und Bestand sein sollen, verlangen neben Phantasie auch noch Augenmaß für das Mögliche. Natürlich können Aufklärung und Information durch Schule, Kommunikationsmittel und Erwachsenenbildung, die sich der Erkenntnisse der politischen Wissenschaft bedienen, einiges leisten, um den Zauberberg der Irrationalität mit einem soliden Schutzwall von Kenntnissen und rationalen Einsichten zu umgeben. Zum Zerfall bringen kann man ihn aber nicht. Das utopische Denken ist daher eine politische Realität, mit der der Politiker sowie der politische Theoretiker rechnen muß. Beide sollten folglich diese Tatsache in das Kalkül ihrer Handlungen oder Theorien mit einbeziehen als eine Unbekannte, die nicht übergangen werden darf. Es geht also nicht darum, über die Unbelehrbarkeit der Menschen zu jammern, sondern vielmehr darum, mit ihrer Uneinsichtigkeit zu rechnen.
Dies ist keineswegs Pessimismus, aber eine gewisse Skepsis gegenüber dem Glauben, es genüge, die Fackel des Wissens — in unserem Fall also des Wissens um politische Zusammenhänge — in die hoch dunklen oder nur schwach erleuchteten Bereiche der Gesellschaft zu tragen, dann würden sich alle utopischen Denkformen schon verflüchtigen. Es besteht natürlich kein Zweifel daran, daß Unterrichtung und Vermittlung von Kenntnissen viel vermögen. Unsere herkömmlichen pädagogischen Institutionen sind jedoch bisher weit besser darauf eingerichtet, Denken in naturwissenschaftlichen, mathematischen, geisteswissenschaftlichen, handwerklich-praktischen und technischen Kategorien zu lehren, als dazu beizutragen, politische Denkweisen zu entwikkeln, ohne der Indoktrinierung zu verfallen. Hier spielt natürlich der historische Faktor eine Rolle, die mangelnde demokratische Tradition und die Tatsache, daß lange Zeit die Staatsbürgerkunde jeweils eine „staatserhaltende" Aufgabe hatte und daß es ihr nicht darum ging, politisches Handeln und politische Vorgänge als notwendige, einer ständigen Kontrolle zu unterwerfende, pragmatische Vorgänge des gesellschaftlichen Lebens zu zeigen, sondern darum, Patriotismus zu erzeugen. Weiterhin darf nicht übersehen werden, daß der Gegenstand der Politik kompliziert und selbst immer der Gefahr ausgesetzt ist, ideologisiert zu werden. Es fehlt ihm die Eindeutigkeit einer naturwissenschaftlichen Disziplin. Einsicht in politische Verhaltensweisen zu lehren, fordert daher zunächst eine Klärung dessen, was man unter dem Gegenstand versteht, der als wichtigste Voraussetzung rationales Denken verlangt. Wenn diese Forderung nicht erfüllt ist, dann fehlt es an einer nötigen Barriere für das utopische Bewußtseinselement des Menschen.
Es besteht also ein Zusammenhang zwischen der Auffassung von Politik, ihrer Verbreitung und dem quantitativen und qualitativen Vorhandensein utopischer Vorstellungen und Erwartungen. Das besagt keineswegs, daß dort, wo Politik weitgehend pragmatisch-rational gesehen wird, utopisches Denken nicht anzutreffen sei. Es ist aber, und das ist sehr wichtig, weniger aktualisierbar und von geringerem Gewicht. Man denke nur an die englische Demokratie mit ihrem Traditionsreichtum und dem Stolz der Staatsbürger auf die funktionsnotwendigen Institutionen wie Wahlen, Interessenverbände, Parlament und freie Presse. Wenn wir daher im folgenden den Gegenstand „Politik" näher beleuchten und auch auf die Möglichkeit zu sprechen kommen, wie er einsichtig gemacht werden könnte, so bedeutet dies keinen Widerruf unserer Behauptung, utopisches Denken sei eine politische Realität. Ihr soll nur hinzugefügt werden, daß eine Entschärfung dieser latenten Gefahr, daß ihr Eindämmen den Stellenwert des hier untersuchten Phänomens verändern kann.
Das Wissen um politische Zusammenhänge
„Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich"
Diese Definitionen mögen genügen, um den Gegenstand der Politik zu erhellen. Dieser vielschichtige, komplexe Begriff kann durch eine Formel nicht erklärt, sondern nur umkreist werden. Aus unseren Definitionen geht hervor, daß der Politik ein dynamisches Prinzip innewohnt. Sie wird von Menschen gemacht, die außer von rein logischen Beweggründen auch von anderen Motiven bestimmt werden. Daher hat Karl Mannheim zwischen einem wißbaren und einem irrationalen Teil bei der Politik unterschieden
Das politische Tun beruht zu einem großen Teil darauf, daß das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. An diesem Wagnischarakter hat die politische Bildung teil, dieses pädagogische Risiko ist für sie so bezeichnend wie die reine Logik für die Mathematik, denn die politische Bildung vermag nur zu einem Teil gesicherte Tatsachen und Werte zu vermitteln. Wenn Politik vornehmlich Entscheidung, Parteinahme, Auseinandersetzung, Interessenausgleich ist, dann ist ein politischer Unterricht, der nur „einen systematisierten Zusammenhang von Wissen bietet, schlechterdings unpolitisch"
Die Gefahr bei der politischen Pädagogik, nicht realisierbare Erziehungsziele aufzustellen, ist groß. Kurt Sontheimer schreibt dazu: „Die Ziele unserer politischen Bildungsarbeit sind sehr hoch gesteckt; sie richten sich auf einen Staatsbürger, der die politische Klugheit eines erfahrenen Staatsmanns und Politikers verbindet mit der Weisheit des Philosophen und den Kenntnissen des modernen Gesellschaftswissenschaftler."
Rationalität als Forderung
Die unreflektierte Übertragung von Verhaltensmustern und Erwartungen aus dem Bereich der Familie in den staatlichen Raum, wobei der jeweilige spezifische Kontext übersehen wird, dürfte in vielen Fällen dem utopischen Denken zugrunde liegen. Hinzu kommt die Entfremdung des Menschen den Zentren der politischen Entscheidung gegenüber. Automatisierung und Bürokratisierung der Gesellschaft geben dem Menschen das Gefühl, sein Einzelwille sei unwichtig, dieses ganze Räderwerk funktioniere unabhängig von ihm. Das Gefühl für die enge Verbindung von Fundament und Dach des staatlichen Gebäudes, die beide aufeinander angewiesen sind, geht verloren. Das sogenannte politische Establishment an den Schalthebeln der Macht wird als Ausdruck dafür gesehen, daß der einzelne Staatsbürger nur noch Objekt ist. Die Vorstellung einer „heilen Welt" drängt sich auf, in der sich der Einzelmensch der Vorteile des technischen Zeitalters bedienen kann und zugleich Herr aller Entscheidungen bleibt, in der er, technisch gesehen, ein Weltbürger ist, aber politisch gesehen, im Klima überschaubarer Kleingruppen lebt. Eine stärker werdende Frustrierung entwickelt sich, die Gleichgültigkeit oder Angriffslust hervorbringt. Solche Ideen müssen ausgeglichen und neutralisiert werden dadurch, daß ihr Vorhandensein bei einem gewissen Prozentsatz der Staatsbürger als gegeben angesehen und in Betracht gezogen wird, und dadurch, daß zumindest versucht wird, durch Appell an Vernunft und Einsicht das Gefühl für das politisch Mögliche zu wecken und die Unterscheidungsfähigkeit für das, was erstrebenswert ist, und für das, was zunächst getan werden kann, zu schärfen.
Gerade in einer Zeit, deren hervorstechendes Kennzeichen die Veränderung auf allen Gebieten ist, sei es im Bereich der Technik oder hinsichtlich der Moralauffassung, tut Nüchternheit und Sachlichkeit in der Politik not.
Politische Romantik, ganz gleich aus welchen Quellen gespeist, verrät nur die Unfähigkeit, mit der Welt, so wie sie sich heute zeigt, fertig zu werden. Statt dessen werden verstaubte Ideen von gestern aus dem Arsenal der Geschichte hervorgeholt und auf modern zurechtgemacht, oder tagträumerische Sehnsüchte werden zu politischen Waffen geschmiedet. Das technotronische Zeitalter, an dessen Schwelle wir stehen, verlangt jedoch eine rationale Handhabung der Macht, die den Menschen gegeben ist, sofern der Begriff der persönlichen Freiheit als ein Wert betrachtet wird, der erhalten werden soll. Nur dann wird es möglich sein, die Strukturen des freiheitlichen Staates entsprechend den Erfordernissen unserer Zeit zu ändern, ohne auf zerstörerische Extremlösungen zu verfallen. Das Denken in utopischen Kategorien, mögen sie in einer vagen Vergangenheit oder unsicheren Zukunft angesiedelt sein, ist eine Komponente, die im Zusammenspiel mit vielen anderen die politische Wirklichkeit gestaltet, wenn man darunter nicht nur Institutionen, sondern auch das Bewußtsein der Staatsbürger versteht. Der Grad der Virulenz dieser Kategorien ist Maßstab für die demokratische Reife eines Staates.