Der vermeintliche Musterfall
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hat in den letzten Monaten einige harte Lehren durchgemacht. Es ist bald ein Jahr her, seit — am
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Die Gründer der EWG hatten es sich anders gedacht. Der stufenweise Abbau der Zölle, die Verflechtung der Industrien und die gemeinsame Landwirtschaftspolitik haben zwar auf einigen Sektoren des Wirtschaftsleben bereits so etwas wie europäische Innenpolitik entstehen lassen. Auch in einer solchen Gemeinschaft gibt es — wie im Innern eines einzelnen Staates — Gegensätze, Reibereien zwischen Interessengruppen, Streit um Präferenzen und Subventionen, um Finanzausgleich und Kartelle. Man brauchte über das, was der Volksmund „Kuhhandel" nennt, kein Wort zu verlieren, denn nur unpolitische Gemüter können glauben, es müsse auch ohne solche Querelen gehen. Aber diese Schwierigkeiten nehmen eher zu, je länger der Gemeinsame Markt besteht und je besser die Staaten mit den europäischen Gesetzen leben und sie ihren nationalen Sonderinteressen unterordnen lernen. Neue Einfuhrbeschränkungen verwaltungs-und steuertechnischer Art werden erprobt, um die abgeschafften Zölle zu ersetzen; die Nationalstaaten wetteifern darin, den Europäischen Gerichtshof mit Verstößen gegen die Römischen Verträge zu beschäftigen. Der Anspruch, an der europäischen Einigung zu arbeiten, ist nach elfjährigem Bestehen der EWG eine Floskel geworden. Das Bewußtsein gar, daß die EWG ursprünglich nicht zum Selbstzweck geschaffen wurde, sondern als Vorstufe eines umfassenderen Zusammenschlusses, lebt nur noch in den Köpfen einiger Idealisten. Nach dem Rücktritt de Gaulles stieg der Pegel der Europahoffnungen für einige Tage leicht an. Aber die Verhältnisse haben sich schon zu sehr eingespielt, als daß man ernstlich an eine entscheidende Änderung denken könnte, das heißt an eine Integration jener Art, von der in den fünfziger Jahren die Rede war.
Als die Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde, glaubten noch fast alle Beteiligten an einen Automatismus, der zwangsläufig und von selbst die politische Einheit hervorbringen müsse, wenn erst einmal die Volkswirtschaften miteinander verschmolzen wären. Damals hatte man das erste Jahrzehnt europäischer Einigungspolitik bereits hinter sich, und die Erfahrung zeigte, daß alle Anläufe vom Politischen her vergeblich gewesen waren. Schon im Jahre 1951 war Paul Henri Spaak als Präsident der Beratenden Versammlung des Europarats zurückgetreten, weil er einen politischen Sinn dieser Institution vermißte. Er sagte damals: „Kaum mehr als sechzig Delegierte dieser Versammlung glauben wirklich an eine europäische Einheit. ... Wir täten besser daran, die Illusion zu begraben, daß hier etwas Wichtiges passieren werde." 1)
Spaak behielt recht. Der Europarat zog sich immer mehr auf Tätigkeiten wie die Reinhaltung der Gewässer oder den internationalen Denkmalsschutz zurück, die wichtig sind, aber mit europäischer Einigung nichts zu tun haben. Selbst die scheinbar unwiderruflichste Errungenschaft, der Schutz der Menschenrechte im europäischen Rahmen, erwies sich als illusorisch in dem Augenblick, da in einem Mitgliedsland eine Diktatur errichtet wurde. Die einzelstaatliche Souveränität war immer die Schranke, an der die Tätigkeit des Europarats unwirksam wurde. An ihr scheiterten auch alle anderen Versuche in dieser Richtung. Von dem Plan einer „Politischen Gemeinschaft", deren Statut eine parlamentarische Versammlung der Montanunion im Jahr 1952 entwarf, über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft bis zum Fouchet-Plan ruhen sämtliche Ansätze für eine politische Einigung bei den Akten. Die wirtschaftliche Integration galt daher vielen als der Weg, der an den Sackgassen vorbeiführen würde. Die Wirtschaft, so schien es oder so hoffte man, könnte eine Einigung durch die Hintertür bewerkstelligen. Sie galt damals vielen als der Weg des geringeren Widerstandes. So heißt es in einer Erklärung von Jean Monnets „Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa" aus dem Jahr 1958: „Für den Augenblick scheint es nicht möglich, zwei Stufen auf einmal zu nehmen, so dringend die politische Einigung und so groß die erzielten Fortschritte auch sein mögen. Die künftige politische Einheit wird davon abhängen, inwieweit die wirtschaftliche Einheit ins tägliche Leben eindringt. In dem Maße, in dem sich die Tätigkeit der Gemeinschaft durchsetzt, werden auch die Bande zwischen den Menschen und die Solidarität, die sich bereits abzuzeichnen beginnt, gefestigt werden und weitere Kreise einbeziehen. Auf Grund der realen Gegebenheiten wird es dann möglich sein, die politische Einigung, die Vereinigten Staaten von Europa, zu schaffen."
Heute wissen wir, daß es in der Wirtschaft keinen Mechanismus gibt, der politische Taten auslöst. Trotz der engen wirtschaftlichen Verbindungen und trotz der gemeinsamen Gesetze, denen die Staaten ihren Handel unterstellt haben, liegt die Vorstellung eines politischen Zusammenschlusses heute ferner als vor zehn oder zwanzig Jahren.
Ist es nun einem Versagen der Verantwortlichen zuzuschreiben, daß die Politik nicht, wie gedacht, in das Kielwasser der Wirtschaft geriet? Oder hatte Herbert Lüthy recht, der vor acht Jahren schrieb: „Wie die wirtschaftliche Integration eines Tages ohne eine völlig neue, grundsätzliche Entscheidung in die politische umschlagen sollte, das ist so unersichtlich wie je. Daß die wirtschaftliche Integration mit irgendeinem Grad von Zwangsläufigkeit auch die politische nach sich ziehen müßte, ist schierer Unsinn; Staaten wachsen nicht unmerklich zusammen, wie Wirtschaftsgebiete bei politischer Windstille auch über Staatsgrenzen zusammenwachsen können — und solch wirtschaftliches Zusammenwachsen schafft nie derart unwiderrufliche Tatsachen, daß nicht der erstbeste politische Konflikt es wieder auseinanderreißen könnte."
Vor hundertundzehn Jahren konnte der österreichische Finanzminister Karl Ludwig von Bruck auf einschlägige Erfahrungen zurückblicken. Zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Deutschen Zollvereins schrieb er, dieser habe zwar auf die Gemeinsamkeit der Interessen und auf den allgemeinen Wohlstand günstig eingewirkt. „Allein! Untreu seiner ursprünglichen Absicht ist auch er auf halbem Wege stehengeblieben. . . . Trotz des viertel-hundertjährigen Bestandes des Zollvereins hat dieser Verband souveräner Staaten das Wesen der ihn bildenden Bundesstaaten unversehrt gelassen. Auch alle neueren ... Vereinbarungen auf dem Felde des Verkehrslebens haben den Kern des deutschen Staatensystems viel weniger umgewandelt als befestigt."
Nun wird aber gerade der Deutsche Zollverein als ein Beispiel dafür genannt, wie sich aus einer Wirtschaftsunion schließlich die politische Einheit ergab. Man sieht in ihm gern den Embryo des deutschen Nationalstaats und daher einen Modellfall im Hinblick auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als Vorläuferin eines politisch geeinten Europas.
Tatsächlich gibt es in beiden Gemeinschaften erstaunliche Parallelen. Aber leider betreffen sie hauptsächlich die Krisen und Fehlentwicklungen und die Kontroversen, die um sie entbrannt sind. Die politischen Resultate des Zoll-vereins sind dagegen kaum geeignet, in ihm ein ermutigendes Exempel zu sehen. Gerade deshalb scheint ein Rückblick auf diesen Präzedenzfall aufschlußreich zu sein.
Gesamtdeutsche Zolleinigungsversuche 1815— 1820
Deutschland stand nach dem Ende der napoleonischen Kriege vor einem Neubeginn. Aus dem alten Deutschen Reich war der Deutsche Bund hervorgegangen — eine lockere Föderation von neununddreißig souveränen Staaten, darunter zwei Großmächten, Preußen und Österreich —, die sich nur in der Unterdrükkung aller freiheitlichen und nationalen Strömungen einig waren und sich ansonsten in der einzigen gesamtdeutschen Institution, dem Frankfurter Bundestag, gegenseitig blockierten. Diese politische Neuordnung, die im Grunde keine Ordnung war, fiel mit der größten sozialen und ökonomischen Veränderung der neueren Zeit zusammen — mit dem Beginn des Industriezeitalters. Deutschland trat als eine unterentwickelte Staatengruppe in diese neue Epoche ein. Das weit fortgeschrittene England dagegen bot nun Waren, die sich während der napoleonischen Kontinentalsperre gestapelt hatten, zu Schleuderpreisen auf dem Festland an. Die meisten europäischen Länder schützten sich gegen diese Konkurrenz mit Hilfe hoher Einfuhrzölle. Die deutschen Kleinstaaten wurden davon fast noch härter betroffen als durch die Kriege Napoleons, denn die anderen europäischen Länder waren nun für ihre Exporte verschlossen, und sie selbst bildeten den wichtigsten Absatzmarkt für die englischen Waren. Die Staaten des Deutschen Bundes aber konnten sich nicht zu einer gemeinsamen Handelspolitik entschließen. Kaum jemand interessierte sich für den Artikel 19 der Bundesverfassung, der in einer sehr vagen Formulierung wenigstens Verhandlungen über eine gemeinsame Zollpolitik empfohlen hatte. Während Zollgrenzen den innerdeutschen Warenverkehr behinderten und sogar lähmten, gab es nach außen keinen wirksamen Schutz. Zwar hatten auch die deutschen Länder Zollgesetze, aber viele erhoben die Abgaben auf Importe nur in der Theorie, weil sie nicht die Mittel besaßen, ihre Grenzen zu bewachen. Der Schmuggel übertraf häufig das offizielle Handelsvolumen um ein Vielfaches. Arbeitslosigkeit und der Niedergang der noch jungen deutschen Industrie und eine Hungers-not im Jahr 1817 waren die Folgen. In Rankes „Historisch-politischer Zeitschrift" hieß es zwanzig Jahre später: „Wir würden uns nicht beklagt haben, daß alle unsere Märkte mit englischen Manufakturwaren überschwemmt würden, daß Deutschland allein an britischen Baumwollwaren mehr erhielt als die hundert Millionen britischer Untertanen in Ostindien, hätte nicht England, während es uns mit seinen Erzeugnissen überschwemmte, seine Märkte unseren Produkten beharrlich verschlossen. . . . Sie sagten uns geradezu, wir wären in der Welt zum Kaufen, nicht aber zum Verkaufen."
Diese Handelsmisere traf nicht alle deutschen Staaten gleich hart. Das österreichische Kaiserreich bildete nach dem Ende Napoleons einen großen, in sich geschlossenen Wirtschaftsraum mit eigenen Seehäfen, und es betrieb seit Maria Theresia eine scharf protektionistische Handelspolitik. Die ungleichartige Zusammensetzung der Donaumonarchie mit ihren vielen Nationalitäten ließ zwar gewisse Binnenzölle notwendig erscheinen. Aber von Mailand bis Siebenbürgen, von Prag und Lemberg bis Venedig und Triest erstreckte sich ein reiches Handelsgebiet, das man etwa mit dem britischen Commonwealth vergleichen kann. Eine Wirtschaftsunion mit den anderen Ländern des Deutschen Bundes, dem die Donaumonarchie ja nur mit einem Teil ihres Territoriums angehörte, hätte dieses Gefüge von Grund auf verändert, und zu dieser Änderung sah man in Österreich ebensowenig Anlaß, wie man nach dem Zweiten Weltkrieg in England daran dachte, den britischen Welthandel gegen einen europäischen Kontinentalhandel einzutauschen.
Vor allem an Österreich scheiterten deshalb auch die ersten Bemühungen um eine gesamtdeutsche Regelung der Handelsfrage. Württemberg beantragte 1817 im Frankfurter Bundestag Beratungen über dieses Thema. Die Reaktion des österreichischen Staatskanzlers Metternich war zwiespältig. Er setzte sich beim Kaiser für die Freigabe wenigstens des Handels mit Lebensmitteln ein. Aber in Erinnerung an 1813, als nationale, revolutionäre und liberale Strömungen gemeinsam gegen die Ausläufer des Absolutismus aufstanden, sah man in allen Einigungsbestrebungen den Keim einer neuen Revolution gegen das monarchische Prinzip. Und die deutschen Patrioten, die eine politische Einigung Deutschlands wollten, waren in der Tat demokratisch, was damals gleichbedeutend mit revolutionär war. Auf der Karlsbader Konferenz von 1819, deren Zweck es war, nach dem aufrührerischen Wartburgfest von 1817 und der Ermordung Kotzebues 1819 ein Polizeisystem gegen nationale und demokratische Umtriebe zu errichten, beantragte Württemberg wiederum, man möge über Handelsfragen im Sinne des Artikels 19 der Bundesverfassung konferieren. Metternich erklärte nun, der Handel gehöre zu den Befugnissen der souveränen Staaten und man solle auf der für das Jahr 1820 geplanten Minister-konferenz in Wien, wo die Wiener Schlußakte erarbeitet werden sollte, darüber beraten. Dort bot sich die letzte Gelegenheit, daß alle deutschen Bundesländer miteinander verhandelten. Aber auch in Wien scheiterten alle Bemühungen — hauptsächlich an der Haltung der Großmächte. Der preußische Außenminister Graf Bernstorff erklärte, es sei unter den gegebenen Umständen nicht möglich, den Handel zwischen den einzelnen Bundesländern freizugeben. Darauf könne sich Preußen niemals einlassen
Gerade diese nachbarliche Einigung war aber unmöglich, wie Metternich sehr gut wußte. Als der Ausschuß für Handelsfragen deshalb beantragte, die Angelegenheit dem Bundestag in Frankfurt zu übergeben, brach unter den in Wien versammelten Delegierten allgemeines Gelächter aus, denn die Überweisung an den Bundestag bedeutete praktisch nichts anderes, als daß man das Projekt aufgab. Damit waren alle Versuche, auf Bundesebene über die Handelsfrage wenigstens zu sprechen, gescheitert.
Das preußische Zollgesetz von 1818
Für Preußen war der bestehende Zustand besonders unerfreulich. Es war geographisch zerrissen. Die auf dem Wiener Kongreß neuerworbene Rheinprovinz war vom Stammland durch die Staaten Hannover, Braunschweig und Kurhessen getrennt. In Preußen selbst lagen als Enklaven die Fürstentümer Anhalt und Schwarzburg und Dutzende kleiner Einsprengsel — Streubesitz von dreizehn souveränen deutschen Fürsten, die ihre eigene Handelspolitik betrieben und einige wichtige Verkehrswege kontrollierten. In den preußischen Provinzen gab es 119 verschiedene Geldsorten und 67 verschiedene Zolltarife.
Preußen führte deshalb im Jahre 1818 als erstes Bundesland eine Zollverfassung ein, die es wenigstens im Innern wirtschaftlich einigte. Alle Binnenzölle wurden abgeschafft, ebenso alle Ein-und Ausfuhrverbote, die noch aus der Zeit Friedrichs des Großen stammten, als man in der handelspolitischen Isolierung der Länder deren wirtschaftliches Heil sah. Inzwischen hatte sich nämlich, mindestens in der Theorie, die Freihandelslehre des Engländers Adam Smith durchgesetzt. Nach langen Auseinander-
Setzungen mit Fabrikanten und Kaufleuten entschied sich die preußische Verwaltung für eine liberale Außenhandelspolitik. Die Ausfuhr war — abgesehen von einigen wichtigen Rohstoffen — frei. Nur die Einfuhr von Getreide und Industriegütern wurde mit Zöllen belegt.
Nur am Rande sei erwähnt, daß das sonst so autoritäre Preußen keineswegs inkonsequent war, wenn es seine Handelspolitik liberalisierte und entsprechende Sondervereinbarungen mit anderen Staaten traf. Die ostelbischen Großgrundbesitzer konnten mit ihrem billig erzeugten Getreide die englischen Einfuhrzölle ebenso mühelos unterspielen, wie die englischen Fabrikanten durch Niedrigpreise die preußischen Importzölle ausglichen. Während nun die preußischen Gutsbesitzer große Gewinne erzielten, waren die Fabrikanten gezwungen, durch Massenproduktion und niedrige Löhne die Preise ihrer Erzeugnisse herunterzudrücken. Dieser Wettbewerb mit der englischen Industrie führte zwar zu einer Belebung der preußischen, aber dies geschah auf Kosten der Arbeiter. Die riesigen Armenviertel in Berlin, die Frauen-und Kinderarbeit, die Entstehung des Proletariats — das waren die Folgen der zur Unzeit angewandten liberalen Wirtschaftspolitik. Schutzzölle hätten diese Begleiterscheinungen der Industrialisierung zwar gewiß nicht verhindert, aber wahrscheinlich gemildert. Aber Preußen war vorwiegend agrarisch. Achtzig Prozent der Bevölkerung lebten 1815 von der Landwirtschaft. Das ganze soziale Gefüge beruhte auf dem Großgrundbesitz, und in seinem Interesse lagen die handelspolitischen Bestimmungen der Zollverfassung von 1818.
In den übrigen deutschen Staaten regte sich heftiger Widerstand. Die preußischen Einfuhrzölle waren so hoch, daß sie Industriegüter aus anderen deutschen Ländern empfindlich verteuerten, aber sie waren niedrig genug, um die billige ausländische Ware bestenfalls auf das Preisniveau der preußischen Produkte anzuheben. Eine große Lobby arbeitete an den verschiedenen Höfen und vor allem in Wien gegen das Preußische Zollgesetz. Teils wollte man einfach den bisherigen Zustand wiederhergestellt wissen, teils tauchten Gegenvorschläge auf. Friedrich List gründete 1819 den „Deutschen Handels-und Gewerbeverein", in dem sich Kaufleute und Fabrikanten aus ganz Deutschland zusammenschlossen, um für die Abschaffung der Zollgrenzen innerhalb des gesamten Deutschen Bundes und für einen einheitlichen, hohen Außenzoll zum Schutz der noch jungen deutschen Industrie einzutreten. Sie fanden in Wien so wenig Gehör wie in Berlin oder gar im Bundestag, der eine Eingabe des Handels-vereins zurückwies.
Der nächste Schritt auf dem Weg zur Zollunion war die wirtschaftliche Angliederung der störenden Enklaven im preußischen Staatsgebiet. Preußen behandelte sie zolltechnisch kurzerhand als Inland und erhob an seinen Grenzen Zölle auf Waren, die für die Enklaven bestimmt waren. Dreizehn souveräne Fürsten protestierten gegen diesen Eingriff in ihre Rechte, und der Herzog von Anhalt versuchte sogar, Österreich zu einer Intervention gegen die preußische Zollpolitik zu überreden.
Aber der erste Herrscher einer Enklave kapitulierte schon im Jahre 1819. Der Reichsfürst von Schwarzburg-Sondershausen konnte seine verzweifelte Finanzlage nur dadurch verbessern, daß er sein Land wirtschaftlich an Preußen angliederte. Er wurde dafür entsprechend der Bevölkerungszahl seines Landes an den Zolleinnahmen Preußens beteiligt und machte ein gutes Geschäft damit.
Die anderen deutschen Fürsten verurteilten ihn scharf, weil er, wie es hieß, „das Kleinod der Souveränität so würdelos preisgab". Der Herzog von Anhalt-Köthen, der ebenfalls eine Enklave besaß, verfaßte eine Denkschrift, in der er Preußen vorwarf, ruchlos das Recht des Stärkeren auszuüben. Er beschwor die kleineren Regenten, dieser Gewalt nicht zu weichen, und fügte hinzu: „Denn freiwillig werden und können sie sich nicht unterwerfen, wenn sie nicht die heiligsten Pflichten gegen ihre Untertanen, gegen ihre Häuser und gegen ihre eigene Ehre verletzen wollen."
Aber die Durchreisezölle ließen auch den anderen Enklaven schließlich keine Wahl. Nach zehn Jahren waren alle im preußischen Staatsgebiet eingeschlossenen Landesteile fremder Fürsten zolltechnisch angegliedert, auch der Besitz des Herzogs von Anhalt-Köthen. Im Jahre 1830 war Preußen ein einheitlicher Wirtschaftsraum — der größte innerhalb des Deutschen Bundes.
Gruppenbildungen: Ausdehnung des preußischen Zollsystems und Gegenzollvereine
Auch in Süddeutschland hatte es inzwischen Bestrebungen gegeben, einen Zollverband zu gründen. In den kleinen Ländern verschlangen die Kosten der Zollverwaltungen den größten Teil der Einnahmen, und die Wirtschaftsräume waren viel zu klein, um sich selbst zu erhalten. In endlosen Verhandlungen prallten auch hier die Auffassungen über Freihandel und Schutzzoll aufeinander. Schon auf der Wiener Schlußkonferenz von 1820 verhandelten einige süddeutsche Diplomaten inoffiziell über eine separate Einigung. Österreich hielt sich skeptisch abseits. Der badische Außenminister v. Berstett berichtete 1820 nach einer Unterredung mit Metternich, „daß er (Metternich), was Österreich anbelange, durchaus nichts dagegen haben könne; überhaupt betrachte er die österreichische Monarchie als gar nicht in der Handelsfrage befangen, indem sie ein in sich abgeschlossenes Handelssystem besitze und von demselben nicht abgehen könne, noch auch dieses zum Vorteil der übrigen Bundesstaaten notwendig sei. Demnach möge sich das ganze übrige Deutschland oder auch nur ein Teil desselben zu einem Handelssystem vereinigen; das Interesse Österreichs bleibe hierbei immer das nämliche."
Daß dies nicht die wahre Überzeugung Metternichs war, zeigte sich wenig später. Die süddeutschen Staaten verhandelten nach der Wiener Konferenz in Darmstadt weiter, ohne sich einigen zu können. Den einen störte des anderen Schlachtvieh, diesen das Getreide des Dritten. 1822 führte Frankreich ein verschärftes Zollgesetz ein, das die süddeutschen Staaten empfindlich traf. Doch sie taten nichts dagegen. Im Juli 1823 erklärte Hessen-Darmstadt, eine länger dauernde Konferenz sei mit seinen Interessen nicht vereinbar. Es führte nun auf eigene Faust ein strenges Zollgesetz ein. Die Darmstädter Konferenz war damit gesprengt.
Metternich äußerte dazu: „Noch früher als man es vermuten konnte, bewährte sich die von mir stets festgehaltene Überzeugung, daß die Durchkreuzung der mannigfaltigen Interessen der einzelnen, insbesondere aber Eifersucht und Furcht der mindermächtigen Mitglieder des Konsortiums vor den größeren, als hinreichende Elemente zu betrachten seien, welche dem ganzen, vielleicht weit aussehenden Plan schon im Aufkeimen Vernichtung drohten."
In den Jahren 1824— 1825 gingen die Verhandlungen zwischen den Ubriggebliebenen in Stuttgart weiter — ebenfalls ohne Ergebnis. Metternich hatte recht gehabt. Als ein bayerischer Abgesandter den Herzog von Nassau 1825 für die süddeutsche Zolleinigung gewinnen wollte, erklärte dieser: „Niemals werde ich mir von euch in meinem Lande Gesetze vorschreiben lassen. Meine 300 000 Untertanen sind mir gerade so lieb wie euch eure drei Millionen. Ich brauche euch nicht."
Bayern erhöhte 1825 seine Einfuhrzölle, wovon Württemberg hart betroffen wurde. 1826 waren die Verhandlungen um eine süddeutsche Union endgültig gescheitert. Ein Jahr später aber kam ein Vertrag zwischen Bayern und Württemberg über eine Zollverbindung zustande. Sie hatte rein wirtschaftlichen Charakter. Trotzdem schien schon dieser erste, sehr bescheidene Keim eines Zollvereins politische Aspekte zu haben, denn der französische Gesandte in Bayern meinte, nun träte zu dem preußisch-österreichischen Dualismus ein drittes Element, das den ersteren schwächen könnte.
Gründung des Deutschen Zollvereins
Kurze Zeit später aber geschah das Unerwartete: Hessen-Darmstadt unterstellte sich dem preußischen Zollsystem. Die wirtschaftliche Not zwang es, sich an einen starken Partner anzulehnen.
Zum erstenmal griff Preußen nun über seine Landesgrenzen hinaus. Die Empörung der übrigen deutschen Höfe war groß, und sie hatten die volle Unterstützung Österreichs, als sie nun einen gemeinsamen Gegenzug unternahmen. Lange Verhandlungen brachten 1828 den Mitteldeutschen Handelsverein hervor, der aus politischen, nicht aus wirtschaftlichen Interessen gegründet worden war. Er stand unter der Führung Sachsens, und Hannover, Braunschweig, Oldenburg, Kurhessen, die meisten thüringischen Staaten, Nassau und Frankfurt am Main traten ihm bei. Im Grunde handelte es sich um einen Anti-Zollverein, denn in ihm gab es keine gemeinsamen Tarife. Die Mitglieder verpflichteten sich lediglich, ohne die Zustimmung der übrigen keinem anderen Zoll-verband beizutreten. Der Zweck dieses Vereins war es, die weitere Ausbreitung des preußischen Systems nach Süddeutschland zu verhindern.
Es fällt schwer, dabei nicht an die Europäische Freihandelszone (EFTA) zu denken, die als Reaktion auf die Gründung der EWG gebildet wurde und deren Kennzeichen gerade darin besteht, daß ihre Mitglieder keinen vollen Freihandel praktizieren. Den Mitteldeutschen Verein verteidigte die einflußreiche „Augsburger Allgemeine Zeitung" sowohl mit wirtschaftlichen als auch mit patriotischen Argumenten. Wenn sich ein kleiner Staat, der noch keine bedeutende Industrie besitze, mit einem größeren verbinde, so müsse er seine Untertanen den Fabrikanten des größeren Staates unterwerfen und verliere dadurch praktisch seine Handelsfreiheit. Die Zeitung folgerte daraus: „Nicht Fronderie und Oppositionsgeist sind es also, welche den mitteldeutschen Verein ins Leben gerufen haben, sondern der Zweck, die Unabhängigkeit der mitteldeutschen Staaten, als deutsche Freiheit in ihrem alten, ehrwürdigen Sinne dieses Worts, in ihren wesentlichen Punkten aufrechtzuerhalten und zu sichern. Der Mitteldeutsche Verein entspricht vielmehr auf das vollkommenste nicht nur dem Interesse der einzelnen vereinten Staaten, sondern auch der deutschen Bundesverfassung, und befördert die Erreichung ihrer Zwecke, weil er die Unabhängigkeit der einzelnen Glieder des Bundes sichert."
Der hessische Staatsmann Du Thil aber schrieb in seinen Erinnerungen: „Es war ein Gegak-ker, als sei ein großes Werk vollbracht worden, doch war dieses so sehr aus leerem Stroh gebaut, daß nach Verlauf von weniger als zwei Jahren der Name . Mitteldeutscher Verein'nicht mehr ausgesprochen ward.“
Preußen gelang es sehr rasch, sich über diesen mitteldeutschen Riegel hinweg mit Bayern und Württemberg zu verständigen und einen Handelsvertrag abzuschließen. Der Mitteldeutsche Handelsverein wurde daraufhin ausgehöhlt. Auch diese Länder mußten sich größere Märkte öffnen. Wie die wirtschaftliche Situation der deutschen Kleinstaaten in Wirklichkeit aussah, darüber schrieb ein Frankfurter Leser an die „Augsburger Allgemeine Zeitung": „Die bevorstehende Auflösung des mitteldeutschen Handelsvereins ist kein Unglück für unsere Stadt. Unser Handel geriet täglich mehr in Verfall; der Wohlstand verminderte sich in steigender Progression. ... In wenigen Monaten wird Frankfurt bis an seine Tore mit vereinten Mautämtern umschlossen sein und einer belagerten Stadt gleichen, welcher zwar nicht der Zugang der Lebensmittel abgeschnitten, der aber die Lebensquelle verstopft, das heißt, es unmöglich gemacht sein wird, sich durch Erwerb die Lebensmittel zu sichern. ... Handelsfreiheit mit unseren Nachbarstaaten heißt das Heilmittel, dessen Anwendung wir nicht länger aussetzen dürfen. Diese Freiheit ist aber nur möglich, wenn wir uns dem preußischen Mautvereine anschließen."
Welche Widerstände dem gerade in einer freien Stadt entgegenstanden, läßt sich einer anderen Stelle des gleichen Briefes entnehmen. Es heißt dort: „Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, ob Preußen durch bisherige Weigerung, die repräsentative Regierungsform einzuführen, gut oder übel getan." Der Schreiber meint, Preußen habe jedenfalls mehr für die Heilung der deutschen Zersplitterung getan, als von manchen konstitutionellen Regierungen zu rühmen sei.
Trotzdem war der Widerstand gegen einen Anschluß an das autoritäre Preußen in den mit Verfassungen regierten Staaten ebenso groß wie in den autoritär regierten, wo die Fürsten ihre Souveränität behüten wollten.
Kurhessen war das erste Land, das aus dem Mitteldeutschen Verein in den preußischen überwechselte. Dann vereinigte sich der bayerisch-württembergische Verband mit dem hessisch-preußischen. Weitere Staaten traten der Union bei. Nicht der Wille zur Zusammenarbeit bewog sie dazu, sondern leere Staatskassen und der Augenschein, welche Vorteile diejenigen Staaten, die bereits Mitglieder des preußischen Systems waren, daraus zogen. Alle wurden prozentual je nach ihrer Bevölkerungszahl an den preußischen Zolleinnahmen beteiligt, allen öffnete sich ein aufnahmefähiger Markt, überall nahm der Handel zu, erholte sich die Industrie. Im Laufe des Jahres 1833 wurden die Verträge durch die achtzehn Staaten — die Hälfte der deutschen Bundesstaaten mit drei Vierteln der Einwohner des Bundes — unterzeichnet, die ab 1. Januar 1834 den Deutschen Zollverein bildeten, der übrigens noch zwei Jahre lang offiziell „Preuß* scher Zollverein" hieß.
Ein Deutschland der Vaterländer
Das war zweifellos ein Lichtblick in der deprimierenden deutschen Nationalgeschichte des 19. Jahrhunderts, wenn auch keine nationale Tat. Denn der Zollverein wird weit überschätzt in seiner Bedeutung für die Einheit Deutschlands, in seinem wirtschaftlichen Wert und schließlich auch als Institution.
Bei einem Vergleich mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zeigen sich erhebliche Unterschiede, die sozusagen umweltbedingt sind. Die EWG hatte günstigere Voraussetzungen als der Zollverein, da sich hier sechs Regierungen von Anfang an auf ein Programm einigten, während der Zollverein gegen den Sog der Einzelinteressen aller Beteiligten aufgebaut wurde. Wirtschaftliche Opfer der Gemeinschaft zuliebe, wie sie in der EWG etwa die Niederlande oder die Bundesrepublik auf dem Agrarsektor brachten, gab es im Zollverein nicht. Und der Zollverein beruhte nicht auf einem gemeinsamen Vertragswerk, sondern auf einem Netz von zweiseitigen Vereinbarungen — zuletzt waren es etwa hundertdreißig Einzelverträge.
Andererseits war die Zolleinigung damals technisch leichter zu bewerkstelligen. Es gab noch nicht die riesigen Verwaltungsapparate, die heute das Wirtschaftsleben lenken. Für die Handelspolitik waren meist die Finanzministerien zuständig, und sogar Preußen, das den Zollverein leitete, hatte nur zeitweilig ein Handelsministerium. Sozialpolitik gab es ebensowenig wie Konjunktur-und Währungspolitik, Probleme des Devisenausgleichs waren ebenso unbekannt wie die des Arbeitsrechts.
Innerhalb des Zollvereins — er wuchs bis 1842 auf sechsundzwanzig Mitglieder an — gab es ebenso viele verschiedene Finanz-und Steuersysteme wie Staaten. Von einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet konnte also keine Rede sein. Unter den heutigen Bedingungen des Wirtschaftslebens könnte ein solcher Verband überhaupt nicht existieren.
Alle diese Mechanismen müssen heute im überstaatlichen Rahmen aufeinander abgestimmt werden. Schon deshalb gehen die Römischen Verträge sehr viel weiter als die Zollvereinsverträge und greifen tiefer in die souveränen Rechte der Einzelstaaten ein. Die Brüsseler Kommission hat Weisungsbefugnisse, die ein Herzog von Köthen niemals hingenommen hätte. Wir haben einen Europäischen Gerichtshof, der bindende Urteile fällt. Der Zollverein dagegen unterhielt nicht einmal ein ständiges Sekretariat. Die einzige gemeinsame Institution war die jährlich einmal tagende Generalzollkonferenz, in der alle Beschlüsse einstimmig gefaßt werden mußten, so daß noch das unbedeutendste Zollvereinsmitglied wichtige Entscheidungen blockieren konnte — wenigstens in der Theorie.
Preußen glich diese institutionellen Mängel durch geschickte Diplomatie und durch sein wirtschaftliches Übergewicht aus. Es schloß im Namen des Zollvereins eigenmächtig Verträge mit anderen Staaten ab, und wenn die Mitglieder damit nicht einverstanden waren, mußten sie auf die Ausübung ihres Vetorechts trotzdem verzichten, weil sie von Preußen finanziell abhängig waren.
Das führte immer wieder zu Verstimmungen und Krisen. Mehrmals drohte Preußen erfolgreich, den Zollverein auflösen zu wollen, falls die anderen Mitglieder seine Politik nicht gut-hießen. Es konnte keine Rede davon sein, daß irgendwelche nationalen Gefühle das Entstehen des Zollvereins erleichtert und seine Krisen gemildert hätten. Wenn es damals überhaupt einen Anflug von deutscher Einheit gab, dann hat Hoffmann von Fallersleben sie treffend charakterisiert:
Schwefelhölzer, Fenchel, Bricken, Kühe, Käse, Krapp, Papier, Schinken, Scheren, Stiefel, Wicken, Wolle, Seife, Garn und Bier; Pfefferkuchen, Lumpen, Trichter, Nüsse, Tabak, Gläser, Flachs, Leder, Salz, Schmalz, Puppen, Lichter, Rettich, Rips, Raps, Schnaps, Lachs, Wachs! Und ihr anderen deutschen Sachen, tausend Dank sei euch gebracht!
Was kein Geist je konnte machen, ei, das habet ihr gemacht.
Daß nicht der Gemeinschaftsgeist, sondern der Blick auf die Handelsstatistiken die Wirtschaftsunion am Leben erhält, wissen wir aus unserer eigenen Gegenwart. Wir kennen auch die Politik der leeren Stühle und der Ultimaten, mit der diejenige Macht, von der die Existenz der Gemeinschaft abhängt, ihre Sonderinteressen durchsetzte. Vor allem aber kennen wir das Bekenntnis zu Europa, das so wenig zu bedeuten hat und so viele partikularistische Bestrebungen kaschieren kann wie das deutsche Bekenntnis der damaligen Festredner. Viel wurde in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts von Deutschland und seiner politischen Einheit gesprochen. Aber wenn zwei dasselbe sagten, meinten sie nicht unbedingt das gleiche. Und auch damals wurden die Äußerungen führender Politiker, die auf das größere Ganze hinzielten, gern mißverstanden. So schrieb beispielsweise der preußische Finanzminister Friedrich von Motz, einer der Schöpfer des Zollvereins, im Jahr 1829 in einem Memorandum: „Wenn es staats-wissenschaftliche Wahrheit ist, daß Zölle nur die Folge politischer Trennung verschiedener Staaten sind, so muß es auch Wahrheit sein, daß Einigung dieser Staaten zu einem Zoll-und Handelsverbande zugleich auch Einigung zu einem und demselben politischen System mit sich führt. Preußen muß heute wünschen, mit allen den Staaten, die nur von wahrhaft deutschem Interesse geleitet und Preußen mit offenem Vertrauen ergeben sind, in jeder Beziehung, politisch und kommerziell, sich recht innig und recht enge zu verbinden. In dieser Verbindung wird erst wieder ein in Wahrheit verbündetes, von innen und außen festes und freies Deutschland unter dem Schutz und Schirm von Preußen bestehen."
Das klang recht vaterländisch, verriet aber eine einseitig preußische Zielsetzung und enthielt einen Irrtum. Damit haben wir ein ganzes Bündel von Problemen in der Hand, die wir nur zu gut kennen. Der Irrtum von Motz war damals allgemein verbreitet und ist es heute noch — die Meinung nämlich, die wirtschaftliche Verbindung würde auch die politische nach sich ziehen. Motz meinte mit dem „freien Deutschland" zwar keinen deutschen Gesamtstaat, sondern höchstens ein Bündnis, ein Deutschland der Vaterländer unter der Vorherrschaft Preußens. Aber gerade dagegen erhob sich heftiger Widerspruch, und zwar aus zwei entgegengesetzten Richtungen. So wie in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts sowohl überzeugte Europäer als auch Anhänger des Nationalstaats gegen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aufbegehrten, so wandten sich damals auf der einen Seite die deutschen Patrioten gegen den Zollverein, weil sie den Zusammenschluß ganz Deutschlands wollten und sich ihr Vaterland nicht als eine preußische Interessensphäre dachten, und auf der anderen Seite erbosten sich die Fürsten, die überhaupt keinen Zusammenschluß wünschten und die fiktive Einheit des Deutschen Bundes einer wirklichen Einheit vorzogen, die ihre Souveränität angetastet hätte. Die Argumente beider Seiten lauteten ungefähr gleich: Es sei ein Unding, daß sich innerhalb des größeren Ganzen eine Sondergruppe abspalte, so hieß es im 19. wie im 20. Jahrhundert.
Der Dualismus zweier Führungsmächte
Es ist die wohl deprimierendste Parallele zwischen der EWG und dem Deutschen Zollverein, daß sich der Kampf um die kleine oder die große Lösung der Einigungsfrage wiederholt. Der „Schutz und Schirm Preußens", den Motz empfahl, war eine Form der Einigung, die Österreich niemals akzeptieren konnte. Die Donaumonarchie war daher aus einem solchen System von vornherein ausgeschlossen.
Metternich erkannte früh, welche Gefahr der entstehende Zollverein für Österreich bedeutete. Im Jahr 1831 sagte er in einem Vortrag vor dem österreichischen Kaiser: „Diejenigen Staaten, welche durch materielle Interessen miteinander verbunden sind, haben auch ein gewichtiges Motiv, sich in politischen Fragen nicht voneinander zu trennen. . .. Daß hierdurch der erste Keim zu einem Bund im Bunde gegeben werde, läßt sich nicht verkennen, und daß das Resultat kein anderes sein könnte, als daß Österreich (von den übrigen deutschen Regierungen) als Ausland betrachtet werden wird."
Als die Zollvereinsverträge des Jahres 1833 abgeschlossen wurden, umriß Metternich in einem für den Kaiser bestimmten Dokument die neue Lage, und in seinen Ausführungen standen die politischen Sorgen an erster Stelle. Weder Österreich noch Preußen hätten bisher im Deutschen Bund eine Vorrang-stellung beansprucht. Nun aber, nachdem einige Staaten Teile ihrer Souveränität an Preußen abgetreten hätten, sei eine Teilung des Einflusses nicht mehr möglich. „Mit allen Künsten diplomatischer Tätigkeit, mit allen Verlockungen durch materielle Interessen wird daher in der Zukunft Preußen dahinstreben, an den seinem System verschriebenen Höfen den Einfluß Österreichs zu schwächen, deren Beziehungen mit uns zu mindern, die Höfe daran zu gewöhnen, ihre Blicke der Furcht wie der Hoffnung nur nach Berlin zu richten, Österreich endlich als das, was es in kommerzieller Beziehung allen diesen Staaten gegenüber allerdings bereits ist, . .. als Ausland ansehen zu machen."
Nachdem sich nun eine Reihe bisher unabhängiger Staaten verpflichtet habe, sich in Zoll-und Handelsfragen den Gesetzen eines übermächtigen Nachbarn zu unterwerfen, höre die in der Bundesverfassung vorgesehene Rechts-gleichheit der deutschen Staaten auf, um einem Verhältnis zwischen Beschützer und Schutzbefohlenem Platz zu machen. „In dem großen Bundesverein entsteht ein kleinerer Neben-bund, in dem vollsten Sinne des Wortes ein Status in statu, welcher nur zu bald sich daran gewöhnen wird, seine Zwecke mit seinen Mitteln in erster Linie zu verfolgen und die Bundeszwecke und Bundesmittel in zweiter Linie, insofern sie mit den ersteren sich vereinbaren lassen, zu berücksichtigen."
Metternich schlug daher vor, Österreich mit ins Spiel zu bringen, und zwar so, daß dies ein möglichst geringes Engagement erfordere. So wie England sich in den fünfziger Jahren um die Bildung einer gesamteuropäischen Freihandelszone bemühte, so empfahl Metternich, den vagen Artikel 19 der Bundesverfassung zu beleben und d
Das entspricht ganz der anfänglichen Haltung Englands gegenüber der EWG. Die Londoner „Times" erläuterte 1956 die Einstellung der britischen Regierung zur geplanten Atomgemeinschaft folgendermaßen — und dieser Standpunkt galt ebenso hinsichtlich der Wirtschaftsgemeinschaft: „Großbritannien wird nicht Mitglied des EURATOM werden, da es nicht bereit ist, die nationale Souveränität über diesen höchst bedeutsamen Sektor der nationalen Wirtschaft an eine übernationale Körperschaft zu übertragen. Die britische Regierung wird jedoch bei jedem Plan, der in Westeuropa zustandekommt, mitarbeiten und ist bereit, ein Abkommen mit dem EURATOM zu treffen, sofern dieser Plan verwirklicht wird. Nach britischer Auffassung sollte die europäische Atomenergie durch die OEEC organisiert werden, was eine wesentliche beweglichere Form des Zusammenschlusses bedeuten würde." 19)
Und eine beweglichere Form ist natürlich eine lockere Form. Viele Europäer empfahlen damals die OEEC, die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit, als Heilmittel gegen die Absonderung der sechs EWG-Länder vom übrigen Westeuropa. Aber die OEEC war nicht viel mehr wert als der berüchtigte Artikel 19 der Verfassung des Deutschen Bundes. Sie war 1947 gegründet worden, um die Marshallplanhilfe zu verwalten. Sie hatte den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas nach dem Krieg in Gang gebracht und sich große Verdienste erworben, aber ihre eigentliche Aufgabe war Ende der fünfziger Jahre erfüllt. Die achtzehn souveränen Mitglieder hatten so lange zusammengearbeitet, wie Wirtschaftshilfe verteilt wurde. Danach war die OEEC nur noch ein Beweis dafür, wie uneins Europa war. Als die sechs Länder der Montanunion ihre Verhandlungen über die Bildung eines Gemeinsamen Marktes aufnahmen, bemühte sich England mit allen erdenklichen diplomatischen Mitteln, Frankreich von der Teilnahme an der EWG abzuhalten und die Gemeinschaft zu torpedieren. Man fürchtete nicht nur die Blockbildung. Man meinte auch, die sechs EWG-Län-der würden durch Planwirtschaft und Dirigismus alle nichtbeteiligten Staaten diskriminieren. Wilhelm Röpke schrieb 1958: „Diese Schwierigkeiten haben außerordentlich dazu beigetragen, den wohlgemuten Optimismus, mit dem der Gemeinsame Markt konzipiert und geschaffen worden ist, zu dämpfen, da sich inzwischen über den Kreis derjenigen hinaus, die sich von vornherein ein nüchternes Urteil zu bewahren gesucht haben, die aufschrekkende Erkenntnis Bahn gebrochen hat, daß, wenn die Ergänzung des Gemeinsamen Marktes durch die Freihandelszone nicht rechtzeitig gelingt, der Gemeinsame Markt aus einem Mittel der Integration zu einem solchen der Desintegration Europas, aus Mörtel zu Dynamit wird."
Solche Argumente lebten natürlich von der gleichen Logik wie diejenigen, die dem Zollverein vorwarfen, Deutschland zu spalten, das daher nicht einig gewesen war. Die Teilintegration war in beiden Fällen nahezu unvermeidlich und eine Einigung mit den jeweiligen Gegengruppen unmöglich, denn Sondergruppen bilden sich ja immer dann, wenn sich das größere Ganze nicht verwirklichen läßt.
Ebenso folgerichtig war es aber auch, daß die enger zusammengeschlossenen Staaten sich wirtschaftlich bedeutend günstiger entwickelten als die Nichtmitglieder, die weiterhin eine souveräne Handelspolitik zu betreiben versuchten. Schon in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts regte sich daher in Österreich der Wunsch nach einer Zolleinigung mit Preußen — zunächst keineswegs in amtlichen Kreisen, aber in der Öffentlichkeit. Zeitungen berichteten von kurz bevorstehenden Verhandlungen zwischen beiden Ländern und nannten sogar Termine für einen wirtschaftlichen Zusammenschluß. Es handelte sich dabei um Zweckmeldungen, die die öffentliche Meinung kundgaben und auch beeinflussen sollten.
Inzwischen war aber der Zollverein für Preußen ein Vehikel politischer Ambitionen ge-worden. Von Anfang an hatte in Berlin keiner der Verantwortlichen ernsthaft daran gedacht, Österreich in den Zollverein aufzunehmen. Aber erst als Österreich nach der Revolution von 1848 offizielle Annährungsversuche machte, zeigte sich der Gegensatz in aller Schärfe.
Auch von Österreich aus gesehen hatte das Beitrittsbegehren politische Hintergründe. Es bemühte sich 1849 und 1850 wiederholt um eine Zolleinigung mit den anderen Bundesländern, und zwar im Rahmen einer allgemeinen Revision der Bundesverfassung. Der österreichische Finanzminister Bruck legte den Plan einer mitteleuropäischen Zollunion vor und fand damit in den deutschen Mittelstaaten viele Anhänger. Endlich schaffte Österreich auch seine Binnenzölle ab und führte einen neuen Zolltarif ein, der sein System dem des Zollvereins annäherte. Nachdem es so die technischen Voraussetzungen geschaffen hatte, lud es die Regierungen der deutschen Bundesländer nach Wien ein, damit über einen Zoll-und Handelsvertrag beraten würde, der die schrittweise Einigung über einen Zeitraum von acht Jahren hinweg einleiten sollte. Die „Augsburger Allgemeine Zeitung" berichtete damals aus Wien: „Man hofft damit alles, was von den kleinen Staaten noch zu retten, von der Hegemonie Preußens zu emanzipieren ist, zu gewinnen. Man ist hier durchdrungen von dem Gedanken, daß Österreich sich selbst rettet und erhält, wenn es seine ehemalige Stellung in Deutschland nach und nach wieder zu erobern sucht."
Einige süddeutsche Zollvereinsstaaten verlangten sehr gebieterisch den Abschluß eines Vertrags mit Österreich. Preußen arbeitete dem zunächst noch mit wirtschaftlichen Argumenten entgegen. Bismarck, zu jener Zeit (1852) preußischer Gesandter am Frankfurter Bundestag, schrieb: „Ich hielt es weder damals noch später für ratsam, diesem Streben entgegenzukommen. Zu den notwendigen Unterlagen einer Zollgemeinschaft gehört ein gewisser Grad von Gleichartigkeit des Verbrauchs; schon die Unterschiede der Interessen innerhalb des deutschen Zollvereins zwischen Nord und Süd, Ost und West sind schwer und nur mit dem guten Willen zu überwinden, der der nationalen Zusammengehörigkeit entspringt; zwischen Ungarn und Galizien einerseits und dem Zollverein andererseits ist die Verschiedenheit des Verbrauchs zollpflichtiger Waren zu stark, um eine Zollgemeinschaft durchführbar erscheinen zu lassen."
Ihm ging es in Wahrheit ebensowenig um galizische Verbrauchergewohnheiten, wie es de Gaulle ernstlich um die neuseeländische Butter ging, als er England wegen seiner Bindungen an das Commonwealth von der EWG fernhielt. Bismarck ging es um Preußen, nicht um Zölle. Ihm ging es um Politik. Und auf dem Feld der Politik fielen von nun an die Entscheidungen. Ein Intrigenspiel begann, in dem Preußen sein diplomatisches Geschick ebenso wie seine wirtschaftliche Potenz ausspielen konnte und in dem ihm außerdem einige Glücksfälle zu Hilfe kamen.
Zunächst gelang es Preußen, sich mit dem Königreich Hannover zu einigen. Hannover stand dem „Norddeutschen Steuerverein" vor, der sich 1834 aus den Resten des Mitteldeutschen Handelsvereins konstituiert und seither seine Selbständigkeit bewahrt hatte, weil er sich zusammen mit den ebenfalls noch freien Hansestädten hauptsächlich auf den Überseehandel stützen konnte und diesen nicht den Interessen des Binnenlandes zuliebe aufgeben wollte. Unter dem sanften Druck Englands, dem ein preußisch geführter kleindeutscher Zollverein lieber war als eine großdeutsche Einigung, schloß Hannover im Jahr 1851 einen Zollanschluß-Vertrag ab, der zu Beginn des Jahres 1854 in Kraft treten sollte. Für Preußen bedeutete dies eine enorme Stärkung — sowohl wirtschaftlich als auch politisch —, denn nun konnte es seine Interessen im Norden gegen eventuelle Unbotmäßigkeiten im Süden absichern. Vor der preußisch-hannoverschen Einigung hatten die süddeutschen Staaten erklärt, die Zollvereinsverträge, die Ende 1853 ausliefen, nur dann erneuern zu wollen, wenn eine Einigung mit Österreich zustandekäme. Nun aber gab Preußen das Ultimatum zurück: Mit Österreich könne man erst dann verhandeln, wenn die Zollvereinsverträge zuvor erneuert worden seien. Preußen wußte, daß sein Ultimatum das stärkere war.
Die süddeutschen Staaten erwogen zwar 1852 auf einer Konferenz, sich von Preußen zu trennen und mit Österreich einen neuen Zollverband zu gründen. Österreich sollte ihnen dafür ihre bisherigen Zolleinkünfte garantieren. Davor schreckte wiederum Österreich zurück. Es konnte nichts gewinnen, wenn es einfach an Stelle Preußens die Vorherrschaft über einen Rumpfzollverein übernahm. Der Zollverein, der an dem preußisch-österreichischen Gegensatz beinahe zerbrochen wäre, wurde 1854 in der alten Gestalt für zwölf Jahre erneuert.
Nachdem Preußen 1853 einen belanglosen Handelsvertrag mit Österreich abgeschlossen hatte, durfte man in Wien immer noch hoffen, daß dies eine Tür nach Deutschland sei, die man zu gegebener Zeit aufstoßen könne. Aber eine europäische Wirtschaftskrise im Jahr 1857, ausgelöst hauptsächlich durch den Krimkrieg, traf Österreich wesentlich härter als Preußen, und nach dem Verlust Oberitaliens durch den französisch-österreichischen Krieg von 1859 konnte von der Wirtschaft der Donaumonarchie erst recht kein Impuls mehr ausgehen. Österreich mußte zu seiner protektionistischen Politik der Ein-und Ausfuhrbeschränkungen zurückkehren. Wenn sich die süddeutschen Staaten nun von Preußen lösten, so waren sie vom Weltmarkt abgeschnitten, während Preußen durch seine liberale Handelspolitik längst fest in das westeuropäische Wirtschaftsgefüge eingegliedert war. Österreich suchte noch einmal nach einer Lösung: diesmal nach einer politischen. Es bot 1863 eine Zentralregierung für den Deutschen Bund an und ein aus den Landtagen zusammengesetztes gesamtdeutsches Parlament — wohl das Beste, was man aus einem Bund souveräner Staaten machen konnte. Aber Bis-
marck, seit einem Jahr preußischer Ministerpräsident, brachte diesen Plan mit einer Handbewegung zu Fall. Auf seine Manöver, die ihm gerade im Zusammenhang mit der deutschen Einigung den Beinamen eines „Mephisto auf der Kanzel" eingetragen haben, brauchen wir hier nicht einzugehen. Er hatte bei seiner Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten geäußert, die deutsche Frage lasse sich nicht durch Reden und Mehrheitsbeschlüsse lösen, sondern nur durch Blut und Eisen.
Der Sieg der „kleinen" Lösung
Und das ist geschehen: Als der preußisch-österreichische Dualismus im Jahr 1866 auf dem Schlachtfeld bei Königgrätz gelöst und Österreich endgültig aus Deutschland hinausgedrängt wurde, war die Stimmung in den deutschen Mittelstaaten immer noch überwiegend anti-preußisch, und sogar in Preußen selbst hatte diese Politik nur wenige Anhänger. Aber die öffentliche Meinung war machtlos. Als Bismarck sicher war, daß Preußen nicht in Deutschland aufgehen würde, sondern daß der Nationalgedanke in den Dienst Preußens gestellt werden könnte, verwirklichte er die deutsche Einheit auf seine Weise, wahrscheinlich auf die einzig mögliche. Der Zollverein hatte nicht ausgereicht, um die deutschen Länder zu einem Gesamtstaat zusammenzufassen. Er hatte nicht einmal verhindert, daß Zollvereinsmitglieder im Jahre 1866 auf der Seite Österreichs gegen Preußen kämpften. Die Bildung des Norddeutschen Bundes und dann des Zweiten Deutschen Reichs war ein Zusammenschluß unter dem Diktat des stärksten Partners. Sie beruhte auf einer „völlig neuen grundsätzlichen Entscheidung", um noch einmal Herbert Lüthy zu zitieren. Die Demokratie, um die deutsche Patrioten seit fünfzig Jahren gekämpft hatten, blieb dabei auf der Strecke.
Als Bismarck am 15. Dezember 1866 seinen Verfassungsentwurf für den Norddeutschen Bund vorlegte, hielt er eine Rede, die an Aktualität nicht übertroffen werden kann, wenn man sich statt „Deutschland" das Wort „Europa" denkt: „Der frühere Deutsche Bund erfüllte in zwei Richtungen die Zwecke nicht, für welche er geschlossen war; er gewährte seinen Mitgliedern nicht die versprochene Sicherheit und befreite die Entwicklung der nationalen Wohlfahrt des deutschen Volkes nicht von den Fesseln, welche die historische Gestaltung der inneren Grenzen Deutschlands ihr anlegten.
Soll die neue Verfassung diese Mängel und die Gefahren, welche sie mit sich bringen, vermeiden, so ist es nötig, die verbündeten Staaten durch Herstellung einer einheitlichen Leitung ihres Kriegswesens und ihrer auswärtigen Politik fester zusammenzuschließen und gemeinsame Organe der Gesetzgebung auf dem Gebiet der gemeinsamen Interessen der Nation zu schaffen. .. . Daß (der vorliegende Entwurf) den einzelnen Regierungen wesentliche Beschränkungen ihrer Unabhängigkeit zum Nutzen der Gesamtheit zumutet, ist selbstverständlich. Die unbeschränkte Selbständigkeit, zu welcher im Laufe der Geschichte Deutschlands die einzelnen Stämme und dynastischen Gebiete ihre Sonderstellung entwik-kelt haben, bildet den wesentlichen Grund der politischen Ohnmacht, zu welcher eine große Nation verurteilt war, weil ihr wirksame Organe zur Herstellung einheitlicher Entschließungen fehlten, und die gegenseitige Abgeschlossenheit, in welcher jeder der Bruchteile des gemeinsamen Vaterlandes ausschließlich seine lokalen Bedürfnisse ohne Rücksicht für die der Nachbarn im Auge behielt, bildete ein wirksames Hindernis der Pflege derjenigen Interessen, welche nur in größeren nationalen Kreisen ihre legislative Förderung finden können."
Bismarck konnte den deutschen Landesfürsten solche Beschränkungen ihrer Souveränität zumuten, wie er in der Lage gewesen war, gegen den massiven Druck der öffentlichen Meinung die große Lösung zu verhindern und die kleine durchzusetzen. Daß die innere Struktur des von ihm geschaffenen Staates undemokratisch, ja antidemokratisch sein mußte, war der Preis der Einheit. Und dies wird wohl immer der Preis einer Vereinigung sein, die nicht durch freie Übereinkunft zustande kommt.
Das politische Defizit
Es ist nicht der Sinn dieses Vergleichs, die Festredner zu wiederholen und die Erfolge der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aufzuzählen, die ungleich größer sind als die des Zollvereins. Ebensowenig kann es darum gehen, die Krisen und Gefahren, denen die EWG ausgesetzt ist, zu beklagen. Bei ihnen handelt es sich ja nur um die vordergründigen Symptome eines Gebrechens, an dem auch der Zollverein litt. Der Deutsche Zollverein war ein Paradefall, der die Wirkungslosigkeit einer Wirtschaftsunion in einer schwierigen politi23) sehen Konstellation bewies. Die merkwürdige Parallelität zu unserem gegenwärtigen Dilemma rührt natürlich nicht daher, daß sich die Geschichte auf irgendeine mysteriöse Weise wiederholt. Sie ergibt sich einfach dadurch, daß sich das Wesen der Politik im Verlauf von hundert Jahren nicht grundlegend ändert und daß die Aufgabe, die es zu lösen gilt, nahezu die gleiche ist. Damals wie heute gab es den Dualismus zweier Mächte innerhalb des gleichen Systems. Damals wie heute gab es die Wirtschaftsunion einer Teilgruppe unter dem beherrschenden Einfluß der einen Macht und gegen den Willen einer anderen, die sich jedoch nach einigen Jahren um den Beitritt bemühte. Damals wie heute wurde sie von der Führungsmacht der Gemeinschaft zurückgewiesen. Damals wie heute ergaben sich innerhalb der Gemeinschaft schwere Kontroversen über diese Frage — und ihre Ursachen waren nicht so sehr handelspolitische, sondern nationale Probleme.
Die weitere Entwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wird sich jedoch in diese Parallelität nicht mehr einordnen lassen. Denn die Zwangseinigung, die Bismarck erreichte, ist für Europa schwer denkbar. Kein Land und kein Staatsmann der Gegenwart kann der Gemeinschaft eine Verfassung präsentieren, wie Bismarck es tat. Aber so wenig heute irgendein europäisches Land die Rolle Preußens spielen kann, so undenkbar ist es auch, daß auf freiwilliger Basis eine Einheit zustande kommt. Da man nicht die politische Einigung haben und zugleich souverän bleiben kann, ist der politische Zusammenschluß Westeuropas so lange eine Illusion, bis ein völlig neuer Ansatz gefunden wird.
Aber in der Politik lassen sich Anachronismen sehr lange aufrechterhalten. Auch dies hat die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts gezeigt. Die Restauration tat so, als hätte es die französische Revolution nie gegeben; die deutschen Kleinstaaten taten so, als seien sie jeder für sich lebensfähig, ja als beruhe ihre Lebensfähigkeit gerade auf ihrer Duodez-Souveränität. Hundert Jahre später erkennt man die Anachronismen und kann ihre Folgen analysieren. Aber die Herzöge von Anhalt-Köthen, die immer noch leben, sind blind für ihre eigene Antiquiertheit.
Das ist nicht etwa deshalb zu beklagen, weil dadurch eine europäische Idee oder Ideologie zu Bruch geht, sondern weil der Gemeinsame Markt selbst gefährdet ist ohne eine politische Absicherung. Die Währungskrise vom November 1968 und der Versuch, bei ihrer Lösung das nationale Prestige über die wirtschaftliche Vernunft zu stellen, hat gezeigt, daß die EWG auf ihrem bisherigen Weg nicht weiterkommt.
Die Gemeinschaft wäre in ihrer jetzigen Form nicht in der Lage, dem Zusammenbruch einer nationalen Währung vorzubeugen, aber sie ist eng genug, um die Schwierigkeiten eines Landes in alle Partnerstaaten zu übertragen. Die französische Devisenbewirtschaftung, die Handelsrestriktionen und protektionistischen Praktiken anderer Länder, das langweilige Feilschen um Milchpfennige und Butterberge — das alles sind keine bloßen Pannen. Es ergibt sich aus dem System selbst, das den Rückzug in die nationalstaatliche Politik jederzeit möglich macht. Man braucht bei der Lösung derartiger Sachfragen nicht das Wort „Europa"
oder gar das Wort „Integration" zu strapazieren, denn diese Form der Zusammenarbeit ist auch unter klassischen Staaten möglich.
Die eingangs gestellte Frage, ob in der wirtschaftlichen Vereinigung die politische angelegt sei, scheint heute bereits negativ entschieden zu sein. Diese Frage wurde schon vor der Gründung der EWG oft gestellt. Damals hieß es immer wieder, die integrierte Wirtschaftspolitik sei an sich schon ein Politikum. Gemeinsame Kartellpolitik, Landwirtschaftspolitik, Währungsund Konjunkturpolitik seien politische Erscheinungsformen der Gemeinschaft; Wirtschaftspolitik lasse sich von reiner Politik nicht strikt unterscheiden. Daran ist viel Wahres, und mit diesem Argument arbeiteten sowohl Anhänger als auch Gegner der EWG. Den ersteren war es Anlaß, die politische Bedeutung der EWG zu überschätzen und in den wirtschaftlichen Erfolgen die Vorboten eines gewandelten Europa zu sehen. Die Gegner prophezeiten das Scheitern der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, weil sie die politische Bedeutung der EWG-Verträge nüchterner sahen. Weder die Optimisten noch die Pessimisten haben ganz recht behalten. Wilhelm Röpke beklagte die Bildung der EWG, weil sie einen Block innerhalb Europas darstelle und daher spaltend wirke. Die Wirtschaftsintegration sei in den zwanziger Jahren viel eher verwirklicht gewesen, weil die freie Konvertierbarkeit der Währungen und sehr niedrige Zölle eine freiere Wirtschaft gewährleistet hätten, als es beispielsweise innerhalb der USA der Fall sei, wo allein die Transportkosten wegen der riesigen Entfernungen wie Binnenzölle wirkten. Neoliberale wie er fürchteten vor allem einen Dirigismus, der bei jeder institutionellen Lösung unvermeidlich sei. Allerdings standen hinter diesen Befürchtungen auch Sorgen ganz anderer Art: „Daß eine planwirtschaftliche Lösung des Problems der europäischen Wirtschaftsintegration auch deshalb paradox ist, weil der von ihr nicht zu trennende Zentralismus, Uniformismus und Bürokratismus dem innersten Wesen Europas widerspricht, in dessen Namen diese Wirtschaftsintegration gefordert wird, sollte sich von selbst verstehen."
Das ist natürlich Ideologie, die das „innerste Wesen Europas" als etwas Naturgegebenes, als etwas Statisches auffaßt, das sich auch unter dem Zwang der Notwendigkeiten nicht ändern darf und nicht ändern wird. Mit dieser Mythosgläubigkeit scheiterten die kleindeutschen Fürsten des 19. Jahrhunderts. Sie glaubten, Realisten zu sein und wurden zu Marionetten. Der gleiche Mythos könnte Europa vollends zur Machtlosigkeit verurteilen. Denn keiner der Fortschritte, die Europa auf seinem jetzigen Weg erzielen kann, wie etwa die Beseitigung aller Zölle, führt zur politischen Einigung. Alle weiteren Erfolge, und seien sie noch so ermutigend, können nur dem Ausbau einer völkerrechtlichen Verbindung dienen, das heißt eines jederzeit kündbaren Vertrags-werks — kündbar unter der Voraussetzung, daß in einem Staat das Nationalstreben jenen Grad erreicht, wo es den eigenen materiellen Vorteil mißachtet. Und wann gab es in der Geschichte je eine Garantie dafür, daß die Vernunft über einen längeren Zeitraum hinweg regiert?
Die Zollunion ist heute so untauglich, wie sie es im 19. Jahrhundert gewesen war. Der Weg des geringeren Widerstandes, der in den fünfziger Jahren eingeschlagen wurde, hat sich als ein Weg der größeren Gefahr herausgestellt. Immer noch gilt, was Otto von Gierke im Jahr 1868 im Hinblick auf den Deutschen Zollverein sagte: „Ohnmächtig erwiesen sich alle Versuche freiwilliger fürstlicher Föderation. Wie immer wollten die Fürsten nur eine Einheit, die ihren gemeinsamen Einzelinteressen diente, nicht wollten sie eine wahrhaft staatliche Einheit über sich, an die es ein Stück der eigenen Staatsgewalt zu veräußern galt. So konnte zwar ein völkerrechtlicher Bund mit einigen staatlichen Scheinelementen zustande kommen, der durch seine Glieder etwas vermochte, nicht aber ein wirklicher Bundesstaat, der trotz seiner Glieder und gegen sie mächtig ist."