Dringlichkeit der Kooperation demokratischer Kräfte
„Ein Gespenst geht um in Europa!" An diese Worte von Karl Marx, die im Jahre 1848 das „Manifest der kommunistischen Partei" alarmierend und selbstbewußt einleiteten, wird man angesichts mancher zeitgenössischer Erörterungen über die National-Demokratische Partei Deutschlands (NPD) erinnert. Gibt es hier wirklich Analogien? Marx erwartete im Frühjahr 1848 felsenfest die soziale Revolution, und zwar unmittelbar. Sie begann auch wirklich und bewies sehr schnell, daß der Kommunismus seinerzeit tatsächlich mehr ein Gespenst als eine ideelle oder gar praktisch-politische Realität war. Karl Marx'Freund Friedrich Engels hat fast ein halbes Jahrhundert später über die „Illusion" gesprochen
Gefahr der Übertreibung — und der Verharmlosung
4. 5. 24 7. 12. 24 20. 5. 28 14. 9. 30 6. 11. 32 5. 3. 33 6, 5 3, 0 2, 6 18, 3 33, 1 43, 9 19, 5 20, 5 14, 2 7, 0 8, 3 8, 0 12, 6 9, 0 10, 6 13, 1 16, 9 12, 3 38, 6 0/0 32, 5 0/0 27, 4 0/0 38, 4 °/o 58, 3 0/0 64, 2 % Reichstagswahlen vom 4. Mai 1924 bis 5. März 1933: NS DN KPD Insgesamt
4. 5. 24 7. 12. 24 20. 5. 28 14. 9. 30 6. 11. 32 5. 3. 33 6, 5 3, 0 2, 6 18, 3 33, 1 43, 9 19, 5 20, 5 14, 2 7, 0 8, 3 8, 0 12, 6 9, 0 10, 6 13, 1 16, 9 12, 3 38, 6 0/0 32, 5 0/0 27, 4 0/0 38, 4 °/o 58, 3 0/0 64, 2 % Reichstagswahlen vom 4. Mai 1924 bis 5. März 1933: NS DN KPD Insgesamt
Aber nicht nur die dringende Notwendigkeit des einheitlichen Vorgehens der „Demokraten aller Länder" wird durch dieses Beispiel demonstriert. Es lassen sich daraus auch in zweifacher Hinsicht für die Beurteilung des Phänomens der NPD Ähnlichkeiten ableiten. Auch bei dieser Erscheinung drängt sich geradezu auf, daß seit einigen Jahren zunehmend heftig — um nicht zu sagen hektisch — in ganz Europa trotz der auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkten Aktivität von der NPD wie von einem Gespenst gesprochen wird.
Es handelt sich um die überarbeitete und ergänzte Fassung eines Beitrages, der zuerst in „The Wiener Library Bulletin", Institute oi Contemporary History, Winter 1968/69, vol. XXIII, No. 1, erschienen ist. Die Erfolge der NPD bei den Landtagswahlen von Ende 1966 bis April 1968 sind gewiß gehaltvoller als die des Kommunismus in seiner Anfangszeit. Aber es scheint uns trotzdem nicht begründet zu sein, der NPD immer weitere und schnell wachsende Erfolge zuzutrauen. Dieser Glaube aber scheint uns die Größe der Gefahr sinnlos zu übertreiben und sie damit zu vergrößern, weil diese Übertreibung natürlich Wasser auf die Mühlen der NPD treibt.
Aber eine zweite Lehre aus der Analogie verdient ebenfalls im Auge behalten zu werden: Auch wer die Gefahr der NPD heute weit weniger groß sieht, als es viele unserer Kulturpessimisten tun, sollte nicht vergessen, daß sowohl die Partei der Bolschewisten als auch die der Nationalsozialisten klein angefangen hat, so daß man Lenin gelegentlich verspottete, seine Parteigänger hätten in einer Telefonzelle Platz. Beim Vergleich der beiden Parteien sollte man allerdings neben den vielen überraschenden Gemeinsamkeiten
„Zehn Prozent Anti-Europäer"
Funktion DN-Gesellschafter .... Bundesredner............... Parteivorstand............. Funktionäre auf Landesebene .................. Landtagsabgeordnete Funktionäre auf Kreisebene.................... NPD-Mitglieder insgesamt ca.................. 12 11 30 446 48 ca. 2 378 28 000 9 6 12 90 12 ca. 300 ca. 2 400 2 3 7 36 6 ca. 80 ca. 450 11 4 12 162 20 ca. 550 ca. 3 300 3 4 12 ca. 120 10 ca. 300 ca. 5 300 12 = 100% 10 = 91 % 22 = 73 °/o ca. 300 = 29 = ca. 1 000 = ca. 9 800 = 67 % 60 °/o 42 % 35 % Politische तޡ=
Funktion DN-Gesellschafter .... Bundesredner............... Parteivorstand............. Funktionäre auf Landesebene .................. Landtagsabgeordnete Funktionäre auf Kreisebene.................... NPD-Mitglieder insgesamt ca.................. 12 11 30 446 48 ca. 2 378 28 000 9 6 12 90 12 ca. 300 ca. 2 400 2 3 7 36 6 ca. 80 ca. 450 11 4 12 162 20 ca. 550 ca. 3 300 3 4 12 ca. 120 10 ca. 300 ca. 5 300 12 = 100% 10 = 91 % 22 = 73 °/o ca. 300 = 29 = ca. 1 000 = ca. 9 800 = 67 % 60 °/o 42 % 35 % Politische तޡ=
Kommen wir also zu den bisherigen Erfolgen der NPD. Sind sie wirklich über alle Maßen ungewöhnlich? Die Diskussion darüber hat sich besonders heftig entzündet am Beispiel der Wahlen zum Landtag von Baden-Württemberg im April 1968. Bleiben wir zunächst bei einigen Stimmen, die von jenseits der bundesdeutschen Grenzen kamen:
„Die Resultate der Sozialdemokraten . . . werden die Forderungen aus dem breiten Parteivolk verstärken, aus der Koalition in Bonn auszusteigen."
„Wenn die SPD im nächsten Jahr eine Katastrophe verhindern will, muß sie damit beginnen, sich als Alternative zur CDU anzubieten, und dieses wird unvermeidlich ein gespanntes Verhältnis in der Koalition auslösen."
„In dem größten Erfolg ihrer dreijährigen Geschichte erzielte Westdeutschlands Neonazi-partei alarmierende Gewinne."
„Der Erfolg der NPD ist die Quittung auf eine lange Serie des Schwankens und Zögerns ge-genüber dieser Gruppierung sowohl in der Politik der Christlichen Demokraten wie auch in der der Sozialdemokraten."
Was kann man diesen Stimmen entnehmen? Lassen wir hier beiseite, welche Rolle bei dieser Wahlentscheidung die Bildung der „Großen Koalition" als solche gespielt hat. Für den Erfolg der NPD spielt sie wohl kaum eine wesentliche Rolle; es gibt für ihn andere Gründe genug. „Le Figaro" scheint uns der richtigen Deutung am nächsten zu kommen. Die „Anhänger der traditionellen Rechten" und die des Nazismus summierten „ihre Stimmen, die gleichzeitig die Unzufriedenheit der einen und das Heimweh der anderen ausdrücken". Unzufriedenheit und Heimweh glauben wir allerdings bei beiden Gruppen zu finden; aber diese Feststellung des „Figaro" trifft doch den Kern der Frage; denn es ist keineswegs überraschend in der deutschen Geschichte, daß sich 10 °/o der Wähler für eine nationale oder nationalistische Politik aussprechen. Und noch weniger kann es erstaunlich sein, daß diese Stimmen im Grunde auch antidemokratisch sind, selbst wenn sie sich zum demokratischen Grundgesetz „bekennen". Bis zum Überdruß aber wird der Bundesrepublik vor allem im Ausland die Entwicklung in der Weimarer Republik vorgehalten, in der es Hitler nach den „vierzehn Jahren der Schmach" gelang, die Macht an sich zu reißen und danach Deutschland, Europa und die ganze Welt in Brand zu setzen, der bis heute noch nicht ganz gelöscht werden konnte.
Bonn ist nicht Weimar!
Die NPD erhielt der Stimmen. In erhielt sie: Triumphstadt X. XL XII. Rheinau im Durchschnitt besonderen 13, 6 13, 6 14, 6 15, 0 14, 1 etwa 10% Vertriebenen-Siedlungen Giebel Rot Mönchsfeld Freiburg Birnau Hörnle Grünbütel 20, 7 15, 0 16, 3 14, 4 16, 3 14, 6 17, 7 in Aalen in Nürtingen in Mannheim in Stuttgart in Marbach in Ludwigsburg
Die NPD erhielt der Stimmen. In erhielt sie: Triumphstadt X. XL XII. Rheinau im Durchschnitt besonderen 13, 6 13, 6 14, 6 15, 0 14, 1 etwa 10% Vertriebenen-Siedlungen Giebel Rot Mönchsfeld Freiburg Birnau Hörnle Grünbütel 20, 7 15, 0 16, 3 14, 4 16, 3 14, 6 17, 7 in Aalen in Nürtingen in Mannheim in Stuttgart in Marbach in Ludwigsburg
Wir wollen deshalb auch klarstellen, daß wir die Sorgen der Welt vor einer Wiederholung dieser schrecklichen Erfahrungen verstehen, denn der relativ geringe Erfolg der NPD könnte sich ja als erster Schritt zu einer Massenbewegung irrationalen Inhalts ausweiten. In Weimar hatten die Nazis einige Jahre auch nur ein Dutzend Abgeordnete — und nicht bessere als heute die NPD. An dieser Einschätzung der NPD wäre also schon etwas dran, wenn Bonn gleich Weimar wäre! Hier aber müssen sich die Geister scheiden: Denn Bonn ist nicht Weimar! Mindestens für längere Zeit nicht — und wenn es dies je würde, dann läge das mehr an den deutschen und nichtdeutschen Demokraten als an der NPD. Wenn wir sagen: Bonn ist nicht Weimar, dann heißt das natürlich nicht, daß es keine „nationale Rechte" gäbe; es heißt auch nicht, daß die ehemaligen Nazis ausgestorben oder alle bekehrt seien. Der „Figaro" hat darin völlig recht. Auch in der Bundesrepublik haben sie sich immer geregt: Die Deutsche Reichspartei (DRP) hatte im Jahre 1949 einige Abgeordnete im Bundestag und die später vom Bundesverfassungsgericht verbotene Sozialistische Reichspartei bekam 1951 bei den Landtagswahlen in Niedersachsen fast 11 °/o und in Bremen 8 0/0 der Stimmen. Freilich hat sich das politische Bild der Bundesrepublik seitdem wesentlich geändert. Es gab damals viele Arbeitslose; die Heimatvertrie-benen litten zum Teil große Not; die Wohnungsknappheit war schlimm. Das alles ist heute sehr viel besser geworden. Die neuen Erfolge der NPD müssen also weitgehend andere als solche Gründe haben. Halten wir aber trotzdem zunächst fest, daß selbst diese Erfolge in Deutschland nicht exorbitant sind, wie uns „The Daily Express" glauben machen möchte, der darin sein Deutschland-Bild bestätigt zu erhalten glaubt. Gerade wenn wir Weimar und Bonn in ihrer demokratisch fundierten Struktur miteinander vergleichen, dann zeigt sich die ganze Unhaltbarkeit von Annahmen, auch die Bundesrepublik könne in das Kaudinische Joch einer neuen nationalistischen Welle geraten und Europa damit eine Neuauflage Hitlerscher Terrorherrschaft zugemutet werden. Selbst das „alarmierende" Ergebnis von Baden-Württemberg hat klar gezeigt, daß 85 % der Wähler eindeutig den Parteien der Bundesrepublik ihre Stimme gegeben haben, die sich in ihrer Vorstellungswelt und in ihrer politischen Praxis — wenn auch mit unterschiedlich starken Akzenten — zur Demokratie bekennen. In der ganzen Geschichte Deutschlands, die Weimarer Republik eingeschlossen, hat es solchen Konsensus im Grundsätzlichen und im Praktischen einer demokratischen Politik nicht gegeben, wie er sich selbst bei den Wahlergebnissen mit den größten Erfolgen der NPD darstellt.
Die drei Zerstörer der Demokratie
In Weimar hat von Anfang an solche Einmütigkeit nicht bestanden — und die ersten Zustimmungen zum Versuch des Aufbaus eines demokratischen Gemeinwesens bröckelten sehr bald nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages ab. Eindrucksvoll ist zum Beispiel das Schicksal der Deutschen Demokratischen Partei, die von 75 Mandaten im Jahre 1919 auf 5 Mandate im März 1933 absank. Jahrelang haben die Deutschnationale Volkspartei, die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei und die Kommunistische Partei Deutschlands gegen die Demokratie gewütet, die sie nicht reformieren, sondern zustören wollten, was ihnen schließlich gelang. Nur weil sie sich natürlich über ihre negative Ablehnung der Demokratie hinaus politisch nicht einigen konnten, hatte die Demokratie eine längere Atempause bekommen!
Bei den Reichstagswahlen am 4. Mai 1924 — nach der eine katastrophale Inflation überwindenden Währungsreform — erhielten die Nationalsozialisten (NS), die Deutschnationalen (DN) und die Kommunisten (KP) zusammen 38, 6 0/0 der Stimmen. Einige Monate später gab es Neuwahlen. Sie brachten dem antidemokratischen Trio einen kleinen Rückgang an Stimmen, der sich nur noch einmal 1928 unter besonders günstigen Bedingungen etwas verstärkte. Das Gesamtbild der Wahlen sah wie folgt aus:
Woran scheiterte die Weimarer Republik?
Die Gründe für das traurige Schicksal der Weimarer Republik sind noch kaum historisch eindeutig geklärt. Es begann sich bereits abzuzeichnen, als die beiden linken Parteien, die Mehrheitssozialisten und die Unabhängigen, bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 nur rund 45 0/0 der Stimmen erhielten, was sie ohne Frage ihrer Spaltung und der Agitation der Kommunisten, die diese Wahlen boykottierten, zu verdanken hatten. Der revolutionäre Impuls war also abgetötet. Wenn man der Sozialdemokratie, der man in den Tagen der militärischen Niederlage die Verantwortung für das Deutsche Reich übergeben hatte, vorwirft, sie sei auf diese Tatsache nicht hinreichend vorbereitet gewesen, so mag daran etwas Wahres sein. Vorbereitet im Sinne einer geplanten Politik war aber niemand auf dieses Ereignis. Es kam also weitgehend auf entschlossene und wirksame Improvisationen an. Und da zeigte es sich als verhängnisvolle Fehlhaltung, daß die deutschen Demokraten jener Zeit von den demokratischen Siegern des Weltkrieges nicht unterstützt, sondern eher gehemmt worden sind. Der Versailler Vertrag bestrafte die demokratischen Nachfolger des Kaiserreichs für dessen Sünden. J. M. Keynes bezeichnete die Reparationssummen schon damals als schlichten Wahnsinn. Die „nationale Oppostion", wie sie sich in alter Überheblichkeit nannte, gewann schnell Oberwasser mit ihrer Agitation gegen die „Erfüllungspolitiker", die dem Vertrag zugestimmt hatten und jetzt als die Verführer hingestellt wurden, die dem Volk die Kapitulation angeraten hätten. Trotzdem wurde der erste offene Versuch der Gegenrevolution, der Kapp-Putsch, abgewehrt. Aber die Inflation hatte die kleinen Sparer und große Teile des Mittelstandes wirtschaftlich ruiniert. Den „neuen" Männern wurde die Schuld hierfür angekreidet und damit der politischen Rechten die Agitation erleichtert.
Trotzdem bedurfte es erst noch der verheerenden Weltwirtschaftskrise, um dem Irrationalismus der Nationalsozialisten die Schleusen zu öffnen, nachdem sich gerade bei den Wahlen von 1928 eine gewisse Beruhigung als Ergebnis der relativen Stabilisierung nach der Durchführung des Daves-Plans von 1924 eingestellt hatte.
Wir wollen mit dieser Feststellung nicht einfach „das Ausland" mit der Verantwortung für den Zusammenbruch von Weimar belasten. Für jeden Einsichtigen mußte klar sein, daß der Weg aus den Schwierigkeiten der Weimarer Republik hinaus durch Hitlers Nationalsozialismus nicht einfacher werden konnte! Aber bei sieben Millionen Dauerarbeitslosen, bei dem ständigen Trommeln der Nationalsozialisten und bei dem Bürgerkrieg der letzten Jahre von Weimar hatten die Einsichtigen an Zahl abgenommen — und das Ausland hat sie nicht ermutigt. Es war Hitler gegenüber viel entgegenkommender, der viele Verbote des „Versailler Systems" mit offener oder duldender Zustimmung der früheren Alliierten beseitigen konnte. Das erhöhte seinen Kredit beim deutschen Volk, aber die Gefahr für Deutschland und die Umwelt verstärkte sich. Der Papst schloß mit ihm ein Konkordat ab; die Berliner Olympiade war ein Welterfolg für ihn; er durfte die allgemeine Wehrpflicht einführen und das Rheinland remilitarisieren, ohne daß die Locarno-Mächte intervenierten, wozu sie sogar vertraglich verpflichtet waren; er durfte Österreich „heimführen" und die Sudetendeutschen „befreien" — und erst seine Besetzung von Prag brachte die Wendung, ohne noch den Krieg verhindern zu können.
Die Bundesrepublik im geteilten Deutschland
Wozu sollen diese Erinnerungen gut sein? Nur um zu zeigen, was in Bonn anders ist als in Weimar. Das neue Deutschland nach 1945 hat verglichen mit dem nach 1918 den traurigen Unterschied aufzuweisen, daß wir heute ein gespaltenes Deutschland haben. Es ist zu billig zu sagen, das sei die Verantwortung der Alliierten gewesen, denn die scharfe Trennung zwischen Ost und West, die sich bald nach dem gemeinsamen Waffengang gegen die „Achse" vollzog, die ihn unter Hitlers Führung provozierte, ist ja nur der Ausdruck dafür, daß die Waffenbrüderschaft der vier Alliierten nur im Negativen begründet war: im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind. Darüber hinaus geht es um den Gegensatz zwischen Demokratie und Kommunismus. Deutschland ist bis heute das Opfer dieses Gegensatzes, der sich in zwei Militärblöcken äußerlich demonstriert.
Aber hier interessiert das Schicksal der Bundesrepublik Deutschland, in der die NPD wirkt, deren Chancen zur Debatte stehen. Wie sah es in der Bundesrepublik bei ihrer Gründung und wie sieht es heute dort aus? Bleiben wir zunächst bei der Wirtschaft. Die anfänglichen Schwierigkeiten wurden erheblich vermindert durch die Hilfe aus dem Marshall-Plan. Er zeigte, daß die Westalliierten aus der Erfahrung mit dem Versailler Vertrag viel gelernt hatten. Die Bezeichnung „Wirtschaftswunder" für die wirtschaftliche Entwicklung sagt deutlich genug, daß es der Bundesrepublik wirtschaftlich jedenfalls nicht schlecht geht, wenn auch an diesem „Wunder" nicht alle gleichermaßen beteiligt waren. Aber wir sagten bereits, daß — da eine gewisse „Rezession" im Herbst 1966 inzwischen überwunden wurde — wirtschaftliche Gründe kaum den Erfolg der NPD ausmachen können. Welche Gründe sind es also? Um diese aufzuzeigen, müssen wir die zwanzig Jahre seit dem Ende des Hitler-Krieges kurz rekapitulieren.
Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung
Hitler hatte diesen Krieg nicht im Auftrag, aber im Namen Deutschlands begonnen und eindeutig verloren. Diesmal hatte die Heeresleitung kapituliert, eine neue „Dolchstoßlegende" konnte nur auf Geistesschwache Eindruck machen. Die Nürnberger Prozesse stellten zwar Sieger und Ankläger in einer Person; sie ließen zwar die Anklagen aus, die Ankläger betrafen, aber im großen und ganzen wurde das Urteil als gerecht angenommen. Der Wille zum demokratischen Neubeginn war ziemlich allgemein wie die Bereitschaft zur Wiedergutmachung. Für eine Abwertung des kommunistischen Einflusses sorgten am meisten der Kreml und seine Besatzungsmethoden im Osten Deutschlands. Die Wahlziffern für die KPD sind in den letzten Jahren ihrer Legalität auf einige Prozent beschränkt geblieben.
Den nachfolgenden kommunistischen Tarnorganisationen geht es nicht besser. Der schnelle Bruch zwischen den früheren Alliierten, die scharfe Trennung zwischen „Ost" und „West", verhinderte einen Friedensschluß und gab den konservativen Kräften in Deutschland Auftrieb. Die Erfahrungen mit der kommunistischen Politik beim Staatsstreich in der CSSR, bei der Berlin-Blockade und im Korea-Krieg ließen den Westen nach der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik rufen. Die Wahl zwischen West und Ost, die bei den meisten Bürgern Deutschlands zugunsten des Westens ausfiel, führte zunächst dem Osten gegenüber zu einer „Politik der Stärke", militärischer Stärke und politischer Intransigenz. Das ging soweit, daß man warnende Stimmen, die darauf hinwiesen, daß ohne den „Osten", was immer man über sein System denken mochte, eine Wiedervereinigung Deutschlands nicht möglich sei, als national unzuverlässig, als unbewußte Agenten Moskaus hinstellte, die, da sie die bloße Politik militärischer Stärke als unzureichend ansahen, auch die Wiedervereinigung gefährdeteten. Im Westen sah man diese Frage anders. Denn wie Walter Lippmann später enthüllte, wußte man in Amerika, daß die „Politik der Stärke" praktisch den Verzicht auf die Wiedervereinigung bedeutete, und selbst de Gaulle hat gelegentlich, wenn auch sehr spät, gesagt, daß es „ein Traum" gewesen sei, auf diese Weise Ost und West wiederzuvereinen. Als im März 1952 das Angebot Stalins für einen Friedensvertrag ohne Diskussion ausgeschlagen wurde, beraubte man sich der Chance, Stalin auf die Probe zu stellen. Vorstellungen über ein „europäisches Sicherheitssystem", die erreichen wollten, daß die beiden
Teile Deutschlands nicht in je einem der feindlichen Militärblöcke standen, wurden als Kapitulanten-Neutralität angesehen. Mit der Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO war vorerst jede Chance für eine Wiedervereinigung zunichte gemacht, so wie die Sowjets es angekündigt hatten.
Die Errichtung der Mauer im August 1961 bekräftigte diese Entwicklung noch. Sie hat die Menschen diesseits und jenseits der Zonengrenze an ihr gemeinsames Schicksal erinnert, um so mehr, als die Zeit der größten materiellen Not vorüber war. Seit 1966 ist klar geworden, daß die „Politik der Stärke" als Wiedervereinigungspolitik ein Fiasko gewesen ist. Sie hatte die Fronten vertieft und die Gemüter verhärtet, hatte den Osten in seiner Unnachgiebigkeit gestärkt und den Westen ratlos gelassen. Deütschland war isoliert.
Die allgemeine Frustration
Die Wahlerfolge der NPD beruhen zum großen Teil auf der Stagnation in der Politik der freien Welt. Der „Guardian" hat sicher recht, wenn er meint, daß „die SPD eine Alternative herausstellen" sollte — die in der Koalition verlorengegangen zu sein scheint, in Wirklichkeit aber vorhanden war und ist. Aber wenn der „Combat" schreibt, daß „die NPD das Europa der Sechs beunruhigt", so mag das zwar stimmen, doch er vergißt, daß dieses Europa der Sechs seit Jahren von keinem so gebremst wird wie von dem vom Komplex des Anti-Angelsachsentums geplagten Präsidenten de Gaulle, der den gerade angesichts der östlichen Politik unerläßlichen Zusammenschluß Europas ständig verzögert. Seine Vorstellung von einem „Europa der Vaterländer", nachdem die „Mutterländer" ihrer „white man's bürden“ endlich verlustig gegangen sind, ist zwar auch prinzipiell gegen supranationale Einrichtungen gerichtet, aber auf seiner Presse-Konferenz am 9. 9. 1968 in Paris hat er enthüllt, daß er Großbritannien nicht etwa wegen seiner komplizierten Wirtschaftslage aus der EWG heraushalten will, sondern weil es den angelsächsischen Einfluß dort stärken würde. Daß er gleichzeitig die NATO in ungeheure Schwierigkeiten und überflüssige Umzugskosten gestürzt hat, macht die Politik der Bundesregierung, die ihm trotzdem ihre Freundschaft immer wieder versichert, in den Augen vieler zu einer etwas hilflosen Geste. Für „nationale Leute" vom Schlage der NPD ist das eine „schlappe Haltung", der größte Vorwurf, den sie jemand machen können.
Halten wir also fest: Das deutsche „Auf-derStelle-Treten" in der Europa-Politik ist etwas auch „national" Beunruhigendes, und das um so mehr, als die Jugend nach 1946 dem Europa-Gedanken wirklich anhing, weil Europa eine große Kraft zwischen Ost und West darstellen könnte und das Satelliten-Dasein der Länder Europas zugunsten der beiden übrig-gebliebenen Weltmächte in einen gewichtigeren Status umändern könnte. Diese zukunftsträchtige Idee ist weitgehend verflogen — dank de Gaulle und zur Freude des Kremls, der ein solches Vorbild seinem Comecon nicht gern gegenübersähe.
Wie sehr der Kreml die Politik de Gaulles schätzt, geht aus der Stellung der besonders sowjet-hörigen Kommunistischen Partei Frankreichs hervor, die den General immer mit Samthandschuhen anfaßte. Aber die Haltung des Kremls gegenüber der Bundesregierung ist nicht weniger gewissenlos: Die ständigen unsubstantiierten Anwürfe Moskaus gegen den „Revanchismus, Militarismus, Nazismus und Revisionismus" der Bundesrepublik, ihre juristische Spitzfindigkeit, mit der sie beweisen möchte, daß ihr aus alten Verträgen ein „Recht der Intervention" in die Bundesrepublik zu-stünde — all das muß geradezu der NPD Pro-B testwähler zutreiben. Diese wissen zwar nicht genau, was man gegen solche Vergewaltigungen der Wahrheit durch die „Prawda" unternehmen könnte, meinen aber, daß die neue Ostpolitik der Regierung der Bundesrepublik die Gefahren aus dem Osten unterschätze oder daß sie zumindest zu sanft auf die Töne Moskaus antworte
Es ist also genau umgekehrt, wie es der „Combat" sieht, der meint, die NPD gebe Moskau „psychologische Waffen gegen die Liberalisierung in die Hand". Moskau hat auch ohne die Bundesrepublik sehr viel gegen „Liberalisierungen" — am 17. Juni 1953 in der Ostzone, 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR hat sich für diejenigen, die diesen Beweis noch nötig hatten, gezeigt, daß die Sowjetunion unter Entspannung etwas anderes versteht als viele andere Menschen und daß damit für sie die Aufrechterhaltung des Status quo gemeint ist, den höchstens sie selbst zu ihren Gunsten ändern dürfte. Wenn sie irgend etwas noch mit Marx verbände, dann sollte sie eigentlich wissen, daß es in der Geschichte auf die Dauer kein Kleben am Status quo gibt und daß man auf Bajonetten auf lange Sicht zu unbequem sitzt.
Nationale und Nazis in der NPD
Gewiß gibt es noch manche Nazis in der Bundesrepublik, wie die vielen Prozesse gegen sie gezeigt haben. Aber irgendeine Politik im Sinne der alten Nazis, die für die Politik der Bun-desregierung maßgebend sein könnte, gibt es nicht. In der Führung der NPD sind ehemalige Nazis reichlich vorhanden. Darüber besagt eine Statistik
Die neue Ostpolitik
Ein weiterer Grund für den Anstieg der NPD-Stimmen liegt in der Haltung der Vertriebenenverbände. Zwar besteht Grund zur Vermutung, daß der größte Teil der Vertriebenen gar nicht zurück in die verlorene Heimat will. Aber er sieht die Hoffnungslosigkeit einer Wiedervereinigung und reagiert entsprechend, obwohl niemand diese Wiedervereinigung einfach abgeschrieben hat. über die Haltung der Heimatvertriebenen sagen die Wahlergebnisse von Baden-Württemberg im April 1968 ganz eindeutig folgendes:
Die neue Ostpolitik hatte einen führenden Vertreter der Vertriebenen, einen Sozialdemokraten, zu schweren Vorwürfen veranlaßt, die bis zum Vorwurf des „Verkaufs seiner Landsleute" gingen. Am 10. September 1968 haben die in Berlin „beim Tag der Deutschen"
beteiligt gewesenen sozialdemokratischen Vertreter der Landtage und Bürgerschaften an den „Bund der Vertriebenen" geschrieben:
„Der Bund der Vertriebenen kann eine wirkungsvolle und glaubwürdige Vertretung seiner Interessen allein in Zusammenarbeit mit den demokratischen Kräften unseres Landes erreichen." Diese Feststellung war erforderlich gewesen, weil auch NPD-Vertreter an dem Berliner Kongreß teilgenommen hatten. Die SPD, so heißt es in dieser Mahnung weiter, „versteht sich nach wie vor als Anwalt der Interessen der Vertriebenen und Flüchtlinge. Sie erinnert aber in aller Deutlichkeit an die Urheber des Vertriebenen-Problems." Darüber reden natürlich die NPD-Leute lieber nicht! Das Gespräch mit den Vertriebenen wird also einen erheblichen Teil weiterer Aufklärungsarbeit ausmachen müssen. Aber an Taten, die hier korrigierend wirken können, sind Erfolge in der Europa-Politik nötig, die das Selbstbewußtsein der Menschen stärken könnten. Leider ist de Gaulle, wie Gustav Heinemann einmal gesagt hat, vielleicht „eher geneigt, Kanada auseinanderzunehmen, als dabei zu helfen, Europa zusammenzuführen" — eine Haltung, die zumindest so irrational ist wie die Haltung vieler Vertriebener.
Das Unbehagen am „Establishment"
Damit haben wir zum Teil die Frage beantwortet, wieweit das Ausland auf die heutige Grundhaltung der Deutschen eingewirkt hat, die wir als ein Gefühl der Frustration bezeichnen möchten, einen Geisteszustand, der zwischen Enttäuschung, Hilflosigkeit und ohnmächtigem Zorn angesiedelt ist. Dieser Zorn hat, wie bei den Studentenprotesten deutlich geworden ist, zu einer Attacke auf ein nicht faßbares „Establishment" geführt. Daß dabei oft die Ratio in den Hintergrund gedrängt wird, darf uns nicht wundern. Mindestens seit Freud wissen wir, wozu das große „Unbehagen in der Kultur" führen kann. Man hat die Deutschen in der Wiedervereinigungsfrage mit leeren Versprechungen hingehalten, so daß liese kaum noch Gegenstand vernünftiger Überlegungen sein kann. Das „Provisorium" les Grundgesetzes scheint versteinert! Die ehandlung Berlins hat seit langem zum Status quo minus x" geführt: die Salamiaktik der Kommunisten ist bekannt — und ie lahme Taktik der Gegenspieler nicht ainder. Europäische Politik verhindert de Gaulle, nachdem er die NATO fast gesprengt at. Die Entspannungspolitik der Regierung vird von Moskau und Pankow mit aus er Luft gegriffenen Verleumdungen beantvortet, so daß viele Menschen die Frage Stelen, ob sie weiter einen Sinn hat. Man hat geegentlich den Eindruck, daß manche Leute im Ausland es ganz gern sehen, wenn die NPD stimmen gewinnt, damit sie einen Vorwand haen, Deutschland gegenüber eine Wächterrolle u spielen. Das zeigt sich zum Beispiel darin, aß man nach wie vor die NPD einfach als Neonazis" ansieht. Wir zeigten bereits, daß es iele alte Nazis in der NPD gibt, aber die vie-en jungen Leute dort sind kaum einfach mit em „Gedankengut" der Nazis zu identifizieen. Was sie bewegt, ist offenbar ein konervativer Nationalismus, der es nicht mehr innehmen will, daß der jungen Generation tändig die Sünden der Väter angekreidet werden, an denen sie nicht teilhatte, und daß ie Kritik an den Deutschen von so wenig elbstkritik der Kritiker begleitet ist. Es ist chwer zu sagen, wieweit das Bekenntnis der PD zum Grundgesetz ehrlich gemeint ist; ber wenn sie daran festhält, werden ihr auf ie Dauer die richtigen Nazis davonlaufen; renn nicht, wird sie vor der Frage des Verboes durch das Bundesverfassungsgericht steen. Das Verbot der NPD wird schon heute von ielen Bundesdeutschen, insbesondere von den Gewerkschaften, verlangt — es bleibt als letzter Weg immer offen, wobei man allerdings bedenken muß, daß Verbote selten eine bestimmte Geistesrichtung liquidieren. Auf jeden Fall sollte man versuchen, mit den Nicht-Nazis in ihr zu reden, statt nach jeder Wahl erneut den Kopf zu schütteln über ihre Erfolge, deren Ursprung man nicht begreift. Schließlich protestiert sie ja nicht nur gegen das „Ausland", auch gewisse Auflösungserscheinungen unserer „Kultur" scheinen ihr — nicht völlig unbegründet — ein Greuel zu sein. Aber was immer man über sie denkt, man sollte sie ernst nehmen, denn von selbst wird sie nicht verschwinden. Diese Mahnung richtet sich an alle Demokraten, vor allem natürlich an Deutsche. Die unendlichen Konflikte dieser Welt, und besonders der „westlichen": Vietnam, die Rassen-frage in den USA, die Schwierigkeiten beim Aufbau der früheren Kolonien, der Entwicklungsländer, der Kampf im Nahen Osten um die Existenz Israels, die Ratlosigkeit bei der Wiedervereinigungspolitik, die Politik der Sowjetunion mit ihren Vetos im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und ihrer Härte gegenüber den Verbündeten des Warschauer Paktes, das ergebnislose Hin und Her in der Organisation Europas, die Schwierigkeiten der NATO und schließlich die Studentenunruhen mit ihrer Tendenz zur Auflösung demokratischer Verfassungen zugunsten von „Räten", deren Funktion rätselhaft bleibt, der Mißbrauch mancher Freiheiten, wie er sich z. B. in der riesigen Konzentration der Presse zeigt — all dies und vieles andere haben ein „Unbehagen in der Demokratie" erzeugt, das im Grunde der NPD und ähnlichen Organisationen Auftrieb geben muß.
Die Einheit und Freiheit Deutschlands
amit kommen wir zu einem Aspekt der Poli-ik der NPD, der uns der gefährlichste zu sein cheint, weil er eine konsequente, wenn auch erhängnisvolle politische Leitlinie enthält, ie ruht eigentlich auf Fundamenten, die aus ismarcks Zeiten stammen und die den alten ionflikt widerspiegeln, in dem das national estimmte Bürgertum des 19. Jahrhunderts ich befand. Die Versuche, Deutschland nach em Ende des „Heiligen Römischen Reiches •eutscher Nation" im Jahre 1806 zu einigen, Iso die Interessen Gesamt-Deutschlands ein-chließlich Österreichs und die Preußens auf inen gemeinsamen Nenner zu bringen, haben schließlich dazu geführt, daß man sich „zwischen Einheit und Freiheit" entscheiden zu müssen glaubte. Wer durch Einheit zur Freiheit wollte, der meinte damit, daß die Einigkeit der Nation der Freiheit im Innern, daß das Ideal der Nation liberalen Prinzipien notfalls übergeordnet werden muß.
Hans Kohn beschreibt diesen Konflikt in hervorragender Weise in seinem Buch über den „Geist des deutschen Bürgertums"
Die schärfsten Opponenten der Schein-Alternative „Einheit oder Freiheit" waren die Sozialdemokraten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für sie waren Demokratie und staatsbürgerliche Freiheiten unabdingbare konstitutive Elemente eines Staatswesens
Die alte Parole der neuen NPD
Diese Beschwörung der deutschen Vergangenheit war nötig, um zu zeigen, daß gerade sie in ihrer autoritär-nationalistischen Linie neu aufgelegt werden soll. Anläßlich der Intervention der Sowjets in der CSSR erklärte Professor Dr. Hans-Bernhard von Grünberg, Vorstandsmitglied der NPD
Angewandt auf die Gegenwart würde das bedeuten: Ein neues Deutschland und das neue
Europa haben die Aufgabe, gegebenenfalls Rußland den Rücken zu decken, und zwar wirksamer als heute Ulbricht, Dubcek, Gomulka usw. mit permanent revoltierenden Bevölkerungen, die alle die Russen hassen.
Zu dieser Aufgabe gehört es, daß einst durch Deutschland und das ganze Europa die Rußlandhasser in Mitteleuropa ebenso gezügelt werden, wie es Bismarck mit Österreich tat, und daß dogmatische Liberalisierungsapostel mit Heilsaufträgen gegen Rußland ebenso zurückgehalten werden, wie Bismarck den ideologisch-rußlandfeindlichen Liberalismus Englands und des deutschen Westens und Südens zurückgehalten hat — damals gegen den Zarismus.
Die Russen wissen trotz aller antifaschistischen Propaganda sehr genau, daß am allerwenigsten die realpolitisch besonnenen Kreise der deutschen und französischen Rechten „revanchistisch" sind. Es ist aber vorläufig den Russen nicht zu verdenken, daß sie diese Rechte zurückdrängen wollen, weil sie den linken Aufweichungstendenzen im Rücken entgegen-tritt, die Moskau angenehm sind, weil sie glauben, dadurch um ein zeitgemäßes Abkommen mit Deutschland und Frankreich billig herum-zukommen, denn mit den alten alliierten Unterwerfungsverträgen von 1945 tut es sich leichter. Vorläufig! —" Dieser Politik fehlt es nicht an einer größeren Konzeption. Der Liberalismus und die Demokratie, die Presse-und Vereinigungsfreiheit — das alles erfordert Geduld, Toleranz und die Respektierung des Andersdenkenden. Das entbehrt des äußeren Glanzes, der Paraden, der Aufmärsche und des Berauschens an kommandierter „Einheitlichkeit" und des gewalttätigen Auftretens. Selbst Ludwig Erhard, gewiß kein Faschist oder gewalttätiger Militarist, suchte aus den Schwierigkeiten einer demokratischen Gesellschaft, die unvermeidlich sind und ständig sachliche Auseinandersetzungen mit sich bringen, den Ausweg in einer „formierten", d. h. eintönig mitgehenden „harmonisierten" Gesellschaft, die unerträglich wäre und zudem ohne Gewalt nicht zu erreichen ist. Wenn sich die NPD zu solcher „Harmonisierung" bekennt, so gewiß aus anderen Gründen als Ludwig Erhard. Aber sie tut es eindeutig — anders ist ihre Ostpolitik nicht zu begreifen. Der Feind steht beim Liberalismus und der Freiheit; die NPD hat an uns dasselbe auszusetzen, was Breschnjew an Dubcek mißfällt. „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten" sang man zu Bismarcks Zeiten; die NPD singt es heute noch, in eine „Geopolitik" verkleidet.
Es gab in Deutschland immer solche Ostpolitiker. Schon in einer Denkschrift vom Herbst 1922 schrieb General von Seeckt
Es ist also „alles schon dagewesen", was die NPD hier vorhat. Und es wird nicht der letzte Versuch dieser Art sein. Er erfordert eine noch bessere Zusammenarbeit der freiheitlichen Kräfte, die um so schwerer ist, weil sie freiwillig erfolgen muß.
Aber auch im übrigen macht man sich die Auseinandersetzung mit der NPD oft etwas zu einfach. So fragte Günter Grass anläßlich der Wahlen zum Bayerischen Landtag 1966
Nun, für Günter Grass und viele andere ist es wirklich keines. Aber für einige Millionen ist es eins — und auf die, nicht auf Günter Grass, spekuliert die NPD. Die NPD hat die „Volksseele" nicht ungeschickt erfaßt. Wir müssen die Vorurteile, von denen sie lebt, zerstreuen helfen. Ich habe mich bemüht, dafür einige Vorschläge zu unterbreiten.
Den eigentlichen Gegensatz, der diesem Streit zugrunde liegt, hat Leonard Nelson, einer der konsequentesten Vertreter rechtsstaatlichen Denkens, formuliert, als er in seiner Schlußvorlesung vor Göttinger Studenten am 31. Juli 1914, zwei Tage vor der Mobilmachung, sagte: „Wer . .. mit Berufung auf die sogenannte nationale Idee dem rücksichtslosen nationalen Machtstreben den Schein einer idealen Rechtfertigung zu geben sucht, der mißbraucht einen an sich ehrwürdigen Ausdruck zur Bemäntelung des Egoismus . .. Die Ehre einer Nation besteht ebenso wie die des einzelnen nicht in Dingen, die man äußerlich greifen, oder die einer dem anderen rauben könnte, sondern sie besteht nur im eigenen Geist der Rechtlichkeit. Die Ehre vorzuschützen, um das Recht mit Füßen zu treten, ist in Wahrheit das ehrloseste Beginnen."