Die Friedensverhandlungen in Paris sind gekennzeichnet durch das klassische Vietnam-Syndrom: Optimismus wechselt ab mit Bestürzung, auf Euphorie folgt Enttäuschung. Die Einstellung der Bombenangriffe erzeugte eine Welle von Hoffnung. Aber gleich darauf begann die Kontroverse mit Saigon wegen seiner Teilnahme an den Gesprächen. Vom Inhalt dieser Streitfrage einmal abgesehen, müssen wir uns über eines im klaren sein: Es ist unwahrscheinlich, daß ein Bürgerkrieg, der seit zwanzig Jahren eine Gesellschaft zerfleischt und in den die Großmächte hineingezogen worden sind, mit einem einzigen dramatischen Streich beendet wird. Selbst wenn es gegenseitiges Vertrauen gäbe — eine nicht gerade im Überfluß vorhandene Sache —, wäre mit langwierigen Verhandlungen zu rechnen; so verwickelt sind die Fragen und so schwierig ist es, ihren wechselseitigen Zusammenhang zu erfassen. Während des ganzen Krieges war es schwer, Kriterien zu finden, an denen sich Fortschritte messen ließen; und dies gilt unverändert für die Verhandlungen. Das Dilemma ist: Von fast jeder Äußerung über Vietnam kann man annehmen, daß sie wahr ist; nur ist Wahrheit leider keine Garantie für sachliche Bedeutung.
Die Abfolge der Ereignisse, die zu den Verhandlungen führten, begann wahrscheinlich mit dem Besuch General Westmorelands in Washington im November 1967. Damals erklärte General Westmoreland in einer gemeinsamen Sitzung des Kongresses, man sei im Begriff, den Krieg militärisch zu gewinnen. Er nannte „Anzeiger" des Fortschritts und sagte, voraussichtlich könne man Ende 1968 mit einem begrenzten Abzug amerikanischer Kampftruppen beginnen. Am 17. Januar 1968 hob Präsident Johnson in seiner Botschaft über die Lage der Nation hervor, daß das Befriedigungsprogramm — die Ausdehnung der Herrschaft Saigons auf die ländlichen Gebiete — befriedigende Fortschritte mache. 67 Prozent der Bevölkerung Südvietnams lebten in verhältnismäßig sicheren Gebieten; man erwarte ein Ansteigen dieser Zahl. Eine Woche später warf die Tet-Offensive die Annahmen der amerikanischen Strategie über den Haufen.
Wo lag der Fehler? Der Hauptmangel war ein Denken in falschen Begriffen; die Tendenz, traditionelle Grundsätze der Strategie und der „Nationbildung" auf eine Situation anzuwenden, zu der sie nicht paßten.
Die amerikanische Militärstrategie folgte der klassischen Lehre, wonach der Sieg von der Herrschaft über das Gelände und der Zermürbung des Gegners abhängt. Deshalb stationierte man die amerikanischen Streitkräfte zum größten Teil entlang den Grenzen Südvietnams, um eine feindliche Invasion zu verhindern, sowie im zentralen Hochland, wo die meisten regulären nordvietnamesischen Truppen — traditionell militärisch organisierte Einheiten — konzentriert waren. Die Theorie war, daß eine Niederlage der regulären Truppen den Zerfall der Guerillas nach sich ziehen werde. Um zu siegen, komme es darauf an, den Nordvietnamesen Verluste, die bedeutend größer als die unsrigen wären, solange zuzufügen, bis diese Verluste für Hanoi „untragbar" würden. Diese Strategie ließ zweierlei außer acht:
a) das Wesen des Guerillakrieges, b) die Asymmetrie in den Auffassungen darüber, was untragbare Verluste seien. Der Guerillakrieg unterscheidet sich von traditionellen militärischen Operationen dadurch, daß es bei ihm nicht in erster Linie um Herrschaft über ein Territorium, sondern um Kontrolle der Bevölkerung geht. Diese hängt teilweise von psychologischen Kriterien ab, besonders vom Gefühl der Sicherheit. Kein positives Programm kann erfolgreich durchgeführt werden, wenn sich nicht die Bevölkerung sicher vor Terror oder Repressalien fühlt. Guerillas versuchen selten, Grund und Boden zu halten; ihre Taktik besteht darin, durch Terror und Einschüchterung von der Zusammenarbeit mit den regulären Behörden abzuschrecken.
Die unterschiedliche Besiedlungsdichte in Vietnam macht dieses Problem besonders akut. Uber 90 Prozent der Bevölkerung leben in der Küstenebene und im Mekong-Delta; das zentrale Hochland und die Grenzgebiete sind nahezu unbevölkert. 80 Prozent der amerikanischen Streitkräfte wurden in Gebieten konzentriert, in denen weniger als 4 Prozent der Bevölkerung lebten; der Schauplatz der militärischen Operationen war geographisch weit entfernt von dem der Guerillakämpfe. Wie nordvietnamesische theoretische Schriften nie müde wurden zu betonen, konnten die Vereinigten Staaten nicht gleichzeitig das Territorium halten und die Bevölkerung beschützen. Indem sich die amerikanische Strategie für den militärischen Sieg durch Zermürbung entschied, brachte sie hervor, was zum charakteristischen Zug des Vietnam-Krieges wurde: militärische Erfolge, die nicht in dauernde politische Vorteile umgesetzt werden konnten. (Selbst das Ziel, die Infiltration zu stoppen, war in den weglosen, fast undurchdringlichen Dschungel-gebieten entlang der kambodschanischen und der laotischen Grenze nur sehr schwer zu erreichen.) Infolgedessen hatte die amerikanische Vorstellung von Sicherheit nur wenig mit den Erfahrungen der vietnamesischen Dorfbewohner gemein. Auf amerikanischen Karten zeigten verschiedene Farben säuberlich an, zu welchen von drei Kategorien ein Gebiet gehörte: ob es unter der Herrschaft der Regierung stand, ob es umkämpft war oder ob es von den Vietcong kontrolliert wurde. Die formalen Kriterien waren kompliziert, und die Klassifizierung beruhte weitgehend auf den Berichten von Offizieren, denen es im Laufe ihrer kurzen Dienstzeit (ganze zwölf Monate) so gut wie unmöglich war, die Unwägbarkeiten und Nuancen zu erfassen, welche die eigentlichen Elemente der Herrschaft in den ländlichen Gebieten Vietnams ausmachen. Zur ersten Kategorie rechneten in der Hauptsache alle Dörfer, in denen die Regierung irgendwie vertreten war; als „umkämpft" wurden Gebiete bezeichnet, wo das Einrücken von Regierungskadern vorgesehen war. Der amerikanische Sicherheitsbegriff war ein Ausdruck westlicher Verwaltungstheorie;
man ging davon aus, daß die Herrschaft mehr oder weniger ausschließlich in den Händen einer der kämpfenden Parteien sein müsse.
Aber die wirkliche Lage in Vietnam war ganz anders. Eine realistische Sicherheitskarte hätte wenig Gebiete mit ausschließlicher Herrschaft einer der beiden Parteien gezeigt; was der vietnamesische Dorfbewohner so durchdringend zu spüren bekam, war gerade die Allgegenwart beider Seiten. Saigon kontrollierte tagsüber einen großen Teil des Landes in dem Sinne, daß Regierungstruppen, sofern sie stark genug waren, sich überall bewegen konnten; die Vietcong beherrschten einen großen Teil derselben Bevölkerung bei Nacht. Die Dorfbewohner mußten abwägen zwischen der Anwesenheit der Regierungsvertreter bei Tag und ihrer Abwesenheit nach Dunkelwerden —dann nämlich zogen sich Saigons Kader fast stets in die Kreis-oder Provinzhauptstädte zurück. Wenn bewaffnete Gruppen von Verwaltungsbeamten die Dörfer bei Nacht für unsicher hielten, konnte man von den Dorfbewohnern schwerlich Widerstand gegen die Guerillas erwarten. Der typische Zustand in Vietnam war somit der der Doppelherrschaft; die Dorfbewohner gehorchten jeweils der Macht, die während eines bestimmten Teils des Tages dominierte. Die politische Wirkung dieser Doppelherrschaft war jedoch keineswegs symmetrisch. Um erfolgreich zu sein, mußte die Regierung eine sehr große Fähigkeit, Schutz zu bieten, demonstrieren; wahrscheinlich weit über 90 Prozent. Das Ziel der Guerillas war im wesentlichen negativ: zu verhindern, daß sich die Autorität der Regierung konsolidierte. Sie brauchten nicht alle Vorhaben der Regierung zu vereiteln; in einigen Gebieten machten sie gar keinen Versuch, sie zu stören. Sie mußten nur demonstrieren, daß sie fähig waren, Personen zu bestrafen, die sich uneingeschränkt zu Saigon bekannten. Hin und wieder ein Mord oder ein Überfall genügten, das Vertrauen auf Monate hinaus zu erschüttern.
Die Nordvietnamesen und die Vietcong verfügten über einen weiteren Vorteil, den sie geschickt nutzten. Amerikanische „Siege" waren nichtig, wenn sie nicht die Voraussetzungen für den späteren Abzug schufen. Die Nordvietnamesen und die Vietcong, die in ihrem eigenen Lande kämpften, brauchten nur Kräfte zu unterhalten, die ihre Herrschaft über die Bevölkerung sichern konnten, wenn die Amerikaner eines Tages kriegsmüde sein würden. Wir führten einen militärischen Krieg, unsere Gegner einen politischen. Wir strebten nach physischer Zermürbung, unsere Gegner nach unserer psychologischen Erschöpfung. Im Laufe des Kampfes verloren wir eine Haupt-maxime des Guerillakrieges aus dem Auge: Der Guerilla gewinnt, wenn er nicht verliert. Die herkömmliche Armee verliert, wenn sie nicht gewinnt. Die Nordvietnamesen benutzten ihre regulären Truppen so, wie der Stierkämpfer sein Tuch benutzt — sie veranlaßten uns damit, immer wieder in Gebiete vorzustoßen, die politisch nur wenig Bedeutung besaßen.
Die Strategie der Zermürbung schwächte die Guerillas nicht und war auch gegenüber den nordvietnamesischen regulären Truppen problematisch. Da Hanoi keinen Versuch machte, ein Gebiet zu halten, und da das Terrain des zentralen Hochlands die Bewegungen der Nordvietnamesen der Beobachtung entzog, war es schwierig, die gegnerischen Kräfte zum Kämpfen zu bringen — außer an Stellen, die sie selbst wählten. Tatsächlich wurden die meisten Gefechte von der anderen Seite angefangen; das ermöglichte es Hanoi, seine Verluste (und unsere) zumindest in bestimmten Grenzen zu halten. Die sogenannten kill-ratios, d. h. das jeweilige Verhältnis der Zahl der amerikanischen zur Zahl der nordvietnamesischen Verluste, waren höchst unzuverlässige Anzeiger. Selbst wenn die Zahlen stimmten, waren sie doch irrelevant, weil der Maßstab des „Untragbaren" für Amerikaner, die Tausende von Meilen von der Heimat entfernt kämpften, viel niedriger lag als für Nordvietnamesen, die in Vietnam kämpften.
All das führte dazu, daß unsere militärischen Operationen in keinem rechten Verhältnis zu unseren erklärten politischen Zielen standen. Die Schaffung einer politischen Basis schritt qualvoll langsam voran; unsere Diplomatie und unsere Strategie wurden isoliert voneinander gesteuert. Präsident Johnson hatte wiederholt verkündet, wir seien bereit zu verhandeln — bedingungslos, zu jeder Zeit, an jedem Ort. Damit wurde die Wahl des Zeitpunkts für Verhandlungen praktisch der Gegenseite überlassen. Aber außer für den Fall eines vollständigen Zusammenbruchs des Gegners war unsere militärische Entfaltung nicht geeignet, Verhandlungen zu unterstützen. Für Verhandlungszwecke wäre unsere Position mit 100prozentiger Kontrolle über 60 Prozent des Landes besser gewesen als mit 60prozentiger Kontrolle über 100 Prozent des Landes.
Das Bemühen, Saigons politische Herrschaft zu stärken, stieß. auf andere Probleme. Um wirksam zu sein, mußte das sogenannte Pazifizierungsprogramm zwei Voraussetzungen erfüllen: a) es mußte Sicherheit für die Bevölkerung bieten; b) es mußte eine politische und institutioneile Verbindung zwischen den Dörfern und Saigon schaffen. Keine der beiden Bedingungen wurde jeweils erfüllt. Die Ungeduld, „Fortschritte" in der Zermürbungsstrategie aufweisen zu können, veranlaßte uns, für den Schutz der Bevölkerung zu wenig Energie aufzuwenden; und es gab kein Konzept für die Schaffung eines politischen Gerüsts, das Saigon mit dem flachen Lande verbände. Die Folge war, daß wirtschaftliche Vorhaben eine übergroße Bürde zu tragen hatten. In Vietnam wie in den meisten Entwicklungsländern besteht das dringendste Problem nicht darin, ein politisches Gerüst zu stützen, sondern ein solches Gerüst erst zu schaffen. Wirtschaftlicher Fortschritt, der die bestehenden Systeme von Verpflichtungen — gewöhnlich persönlicher oder feudaler Natur — untergräbt, verstärkt noch das Bedürfnis nach politischen Institutionen. Unsere Mißerfolge in Vietnam — das ist ein ironischer Aspekt dieses Krieges — sind darauf zurückzuführen, daß wir, die wir uns doch zu einer idealistischen Philosophie bekennen, uns allzusehr auf materielle Faktoren verlassen haben. Die Kommunisten dagegen, die eine materialistische Anschauung vertreten, verdanken viele ihrer Erfolge ihrer Fähigkeit, eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen und der Grundlage politischer Autorität zu geben.
Die Tet-Offensive brachte die Schwächen — oder, wie die Nordvietnamesen sagen, die inneren Widersprüche — der amerikanischen Position alle zusammen an den Tag. Gewiß, vom rein militärischen Standpunkt war Tet ein amerikanischer Sieg. Die Verluste der Vietcong waren sehr hoch; in vielen Provinzen kam die Vietcong-Infrastruktur der Guerillas und Schattenbehörden an die Oberfläche und konnte von den amerikanischen Streitkräften schwer angeschlagen werden. Aber in einem Guerillakrieg sind rein militärische Erwägungen nicht entscheidend; psychologische und politische Faktoren spielen eine mindestens ebenso große Rolle.
Und auf dieser Ebene war die Tet-Offensive für Saigon und die Vereinigten Staaten eine politische Niederlage auf dem Lande. Die Dörfer waren von zwei Seiten bedrängt worden. Die Vereinigten Staaten und Saigon hatten versprochen, daß sie eine ständig wachsende Zahl von Dörfern schützen könnten. Die Vietcong hatten dergleichen nie für sich beansprucht; sie hatten lediglich behauptet, daß sie die wahre Macht in den Dörfern seien, und denen Vergeltung angedroht, die mit Saigon oder den Vereinigten Staaten zusammenarbeiteten.
Wie so oft in der Vergangenheit machten die Vietcong ihre Behauptung wahr. Etwa zwanzig Provinzhauptstädte wurden besetzt. Obwohl die Vietcong keine von ihnen (außer Hue) länger als ein paar Tage hielten, waren sie doch lange genug dort, um Hunderte von Vietnamesen auf Grund vorbereiteter Listen hinzurichten. Der Ausdruck „sicheres Gebiet"
hatte für vietnamesische Zivilisten nie die gleiche Bedeutung wie für Amerikaner; aber wenn er überhaupt einen Sinn hatte, so bezog er sich auf die Provinz-und Kreishauptstädte.
Und gerade dort forderte die Tet-Offensive die meisten Opfer. Die Vietcong hatten etwas demonstriert, was an Bedeutung weit über militärische Erwägungen hinausreichte: Für vietnamesische Zivilisten gibt es keine sicheren Gebiete. Das hat die ohnehin schon starke Tendenz der vietnamesischen Bevölkerung, die Entwicklung abzuwarten und sich nicht unwiderruflich mit der Saigoner Regierung einzulassen, noch weiter verstärkt. Der Abzug von Regierungstruppen aus den ländlichen Gebieten zum Schutz der Städte und die darauffolgende Steigerung der Vietcong-Aktivität in den Dörfern selbst bei Tage haben diesem Trend weiteren Auftrieb gegeben. Ein Resultat der Tet-Offensive war dies: sie verzögerte — vielleicht auf unabsehbare Zeit — die Konsolidierung der Regierungsautorität, und „Sieg" im Guerillakrieg kann man sinnvoll nur als Konsolidierung der Regierungsautorität definieren.
Aus all diesen Gründen war die Tet-Offensive die Wasserscheide der amerikanischen Krieg-führung. Wie wirksam unsere Aktionen auch sein mochten, eines war jetzt klar: die geltende Strategie konnte ihre Ziele nicht in einem Zeitraum und mit einem Kraftaufwand erreichen, die für das amerikanische Volk politisch annehmbar waren. Diese Einsicht bewog Washington, für die Zahl der in Vietnam eingesetzten Truppen erstmalig eine Höchstgrenze festzulegen. Als der militärischen Führung in Vietnam die geforderten sehr umfangreichen Verstärkungen verweigert wurden, sah sie sich genötigt, von ihrer peripheren Strategie allmählich zu einer Strategie überzugehen, deren Hauptziel der Schutz der dichtbevölkerten Gebiete war. Das machte die Hinwendung zu einer politischen Lösung unvermeidlich und be-zeichnete den Beginn der Suche nach einem Verhandlungsfrieden. So wurde der Boden bereitet für Präsident Johnsons Rede vom 31. März 1968, die den Anstoß zu den gegenwärtigen Verhandlungen gab.
Das Milieu der Verhandlungen
Natürlich ist das populäre Bild, wonach im Mai 1968 Verhandlungen begonnen haben, nur teilweise richtig. Die Vereinigten Staaten und Hanoi sind nur selten ganz ohne Fühlung miteinander gewesen, seit die Eskalation des amerikanischen Einsatzes in Vietnam ihren Anfang nahm. Nicht alle diese Kontakte waren direkt. Manchmal hatten sie die Form öffentlicher Erklärungen. Zwischen 1965 und 1968 legten die einzelnen Parteien ihre Positionen öffentlich vor verschiedenen Foren dar: Hanoi verkündete Vier Punkte, die Nationale Befreiungsfront (NLF) Fünf Punkte, Saigon Sieben Punkte und die Vereinigten Staaten (vielleicht dank ihrer größeren Bürokratie) Vierzehn Punkte.
Nach diesen öffentlichen Erklärungen zu urteilen, besteht anscheinend ziemlich weitgehende Übereinstimmung über einige allgemeine Grundsätze, nämlich: daß das Genfer Abkommen die Grundlage einer Regelung bilden könnte, daß die amerikanischen Truppen eines Tages abgezogen werden sollen, daß die Wiedervereinigung Vietnams durch direkte Verhandlungen zwischen den Vietnamesen herbeigeführt werden soll und daß es in Vietnam nach einer Regelung keine ausländischen Stützpunkte geben soll. Die Vereinigten Staaten haben wissen lassen, daß drei von Hanois Vier Punkten für sie akzeptabel sind
Uneinigkeit besteht über den Status der Streitkräfte Hanois im Süden; Hanoi hat noch nicht einmal zugegeben, daß es überhaupt Streitkräfte im Süden hat, doch verfügt es über eine vorbereitete „Rückzugsposition", nämlich die These, daß nordvietnamesische Truppen im Süden nicht als „Ausländer" betrachtet werden könnten. Ebenfalls umstritten ist die Rolle der NLF. Saigon spricht der NLF eine selbständige politische Rolle ab; die NLF bezeichnet Saigon als Marionettenregime. Es besteht auch kein Einvernehmen darüber, was jene Vorschläge, die auf beiden Seiten ähnlich lauten, wirklich bedeuten und wie sie durchgeführt werden sollen.
Neben Verhandlungen durch öffentliche Erklärungen hat es auch geheime Kontakte gegeben, die in vielen Büchern und Artikeln geschildert worden sind
Die Hanoier Regierung ebenso wie die Vereinigten Staaten sind in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt durch die Mentalität der Bevölkerung Südvietnams, die in letzter Instanz über den Ausgang des Konflikts entscheiden wird. Das vietnamesische Volk hat nahezu die Hälfte seiner Geschichte unter Fremdherrschaft verbracht. Es hat sich einen bemerkenswerten kulturellen und sozialen Zusammenhalt dadurch bewahrt, daß es sich geschickt auf die Realitäten der Macht einstellte. Um zu überleben, mußten die Vietnamesen lernen, fast instinktiv die wirklichen Kräfteverhältnisse abzuschätzen. Wenn Verhandlungen den Eindruck einer verschleierten Kapitulation erwecken, dann wird nichts zum Verhandeln übrigbleiben. Niemand wird mehr zu der Seite halten, die zu verlieren scheint. So sind sich denn alle Parteien bewußt — Hanoi ganz klar, denn es betrachtet Krieg und Verhandeln nicht als getrennte Prozesse; wir auf kompliziertere bürokratische Weise —, daß das Wie der Verhandlungen fast ebenso wichtig ist wie das Was. Die Choreographie — wie man in die Verhandlungen eintritt, was zuerst geregelt wird und auf welche Art — ist von der Substanz der Fragen nicht zu trennen.
Die Unterhändler müssen also behutsam vorgehen; eine Reihe von Stockungen ist schwer zu vermeiden. Es gibt keine „leichten" Fragen, denn jede Frage ist symbolisch und präjudiziert deshalb in gewissem Maße die endgültige Regelung. Die Debatte über den Konferenzort, die sich im April und Mai vier Wochen lang hinzog, war ihrem Inhalt nach trivial. Intellektuell beurteilt, waren diese vier Wochen „vergeudet". Aber sie erfüllten eine nützliche Funktion: sie ermöglichten es den Vereinigten Staaten, Saigon an den Gedanken zu gewöhnen, daß es Verhandlungen geben würde, und gleichzeitig darzutun, daß sie die Ereignisse unter Kontrolle behielten. Es wäre nicht verwunderlich, wenn Hanoi ein ähnliches Problem mit der NLF hätte.
Das gleiche Problem wird illustriert durch Vorgänge im Zusammenhang mit dem Beschluß, die Bombenangriffe einzustellen. Binnen vierundzwanzig Stunden nach der Verkündung des Bombenstopps gaben sowohl Hanoi als auch Saigon äußerst kriegerische Erklärungen ab, die, wörtlich genommen, die bevorstehenden Gespräche von vornherein zum Scheitern verurteilt hätten. Doch ihr wirklicher Zweck war es, die jeweiligen Anhänger im Süden zu beruhigen. Besonders Saigon war in großen Schwierigkeiten. Viele haben es wegen seines Feilschens um den Status der NLF als heillos störrisch bezeichnet. Für Saigon kann jedoch der Status der NLF keine Verfahrensfrage sein; er ist für Südvietnam beinahe das Zentralproblem des Krieges. Zumindest teilweise ist Washington selbst dafür verantwortlich, daß es unterschätzt hat, wie tief und ernst diese Besorgnis Saigons ist.
Die Lage, der sich Washington und Hanoi auf internationaler Ebene gegenübersehen, ist kaum weniger komplex. Der bittere Streit, der in den Vereinigten Staaten um den Vietnam-
Krieg geführt wird, dreht sich zu einem großen Teil um die Jahre 1961 und 1962. Zweifellos hat der Umstand, daß damals die geopolitische Bedeutung Vietnams nicht hinreichend analysiert wurde, zu dem heutigen Dilemma beigetragen. Aber die Frage der Bedeutung Vietnams ist durch den Einsatz von 500 000 Amerikanern geklärt worden. Worum es jetzt geht, ist Vertrauen auf amerikanische Versprechungen. So sehr es Mode sein mag, sich über die Ausdrücke „Glaubwürdigkeit" und „Prestige"
lustig zu machen, sie sind keine leeren Worte;
andere Nationen können ihr Handeln nur dann auf das unsrige abstimmen, wenn sie auf unsere Festigkeit zählen können. Der Zusammenbruch des amerikanischen Einsatzes in Vietnam würde viele Kritiker nicht besänftigen; sie würden dem Vorwurf der Fehleinschätzung nur den der Unzuverlässigkeit hinzufügen. Die Länder, deren Sicherheit oder deren nationale Zielsetzung von amerikanischen Verpflichtun-B gen abhängig ist, könnten nur entsetzt sein. In vielen Teilen der Welt — im Nahen Osten, in Europa, in Lateinamerika, auch in Japan — hängt die Stabilität vom Vertrauen auf amerikanische Versprechungen ab. Ein einseitiger Rückzug — oder eine Regelung, die unbeabsichtigt auf das gleiche hinausliefe — könnte deshalb zum Abbau von Hemmungen und zu einer noch gefährlicheren internationalen Lage führen. Kein verantwortlicher amerikanischer Politiker kann diese Gefahren einfach beiseite schieben.
Hanois Position ist mindestens ebenso kompliziert. Seine Sorgen sind nicht global, sie sind fremdenfeindlich vietnamesisch (wozu freilich hegemoniale Ambitionen in Laos und Kambodscha gehören). Aber Hanoi ist in hohem Grade abhängig von der internationalen Umwelt. Ohne fremde materielle Hilfe könnte es den Krieg nicht fortsetzen, und fast in gleichem Maße ist es auf die Gunst der Weltmeinung angewiesen. Jedes Ereignis, das die Aufmerksamkeit der Welt vom Vietnam-Krieg ablenkt, verschlechtert daher Hanois Verhandlungsposition. Von diesem Standpunkt war der sowjetische Einmarsch in die Tschechoslowakei ein schwerer Schlag für Hanoi.
Hanois Uberlebensspielraum ist so schmal, daß ihm genaues Kalkulieren zur zweiten Natur geworden ist; seine Vorsicht grenzt an Besessenheit. Seine Verhandlungsposition hängt von einer präzisen Einschätzung internationaler Faktoren ab — besonders was den Dschungel der intra-kommunistischen Beziehungen betrifft. Um seine Autonomie zu wahren, muß Hanoi geschickt zwischen Peking, Moskau und der NLF manövrieren. Es hat nicht den Wunsch, völlig abhängig von einem der kommunistischen Giganten zu werden. Da diese aber miteinander in heftiger Fehde liegen, verstärken sie Hanois ohnehin schon starke Tendenz zu vieldeutigen Formulierungen. Kurz, Hanois Manövrierfreiheit ist stark eingeschränkt.
Das gleiche gilt für die Sowjetunion, die durch ihre umfangreiche Hilfeleistung für Hanoi halb und halb am Krieg beteiligt ist. Moskau muß von widerstreitenden Neigungen hin-und hergerissen sein. Ein voller Sieg Hanois würde Peking im Ringen um Einfluß auf die kommunistischen Parteien der Welt begünstigen; er würde die chinesische These stützen, daß Unnachgiebigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten zwar nicht gefahrlos, aber immerhin noch praktizierbar sei. Andererseits würde eine Niederlage Hanois die Unfähigkeit der Sowjetunion demonstrieren, kommunistische „Bruder" -länder vor den Vereinigten Staaten zu schützen. Sie würde außerdem eine potentielle Barriere gegen den chinesischen Einfluß in Südostasien schwächen und Peking in den Stand setzen, seinen vollen Zorn über Moskau auszugießen. Es scheint, als wäre Moskau lange Zeit durch widersprüchliche Erwägungen und bürokratische Trägheit gelähmt gewesen.
Die Ereignisse in der Tschechoslowakei haben Moskaus Nützlichkeit noch weiter verringert. Wir würden die hohen Kosten unserer schwächlichen Reaktion auf die Ereignisse in der Tschechoslowakei noch mehr vergrößern, wenn unsere Bundesgenossen unser Verhalten als Gegenleistung dafür deuten könnten, daß die Sowjetunion uns in Südostasien aus der Patsche hilft. Washington muß deshalb sehr behutsam vorgehen, wenn es mit Moskau über die Vietnam-Frage verhandelt. Es liegt nicht im amerikanischen Interesse, dem schon weit-verbreiteten Vorwurf, die Supermächte opferten ihre Verbündeten, um ihre Einflußsphären zu wahren, neue Nahrung zu geben.
Dieser Stand der Dinge würde hinreichend erklären, warum die Verhandlungen langwierig und mit scheinbaren Pattsituationen durchsetzt sein werden. Hinzu kommt aber, daß zwischen dem kulturellen und bürokratischen Stil Hanois und dem Washingtons ein Abgrund klafft. Man kann sich schwer zwei Gesellschaften vorstellen, die so wenige Voraussetzungen für gegenseitiges Verständnis mitbringen, wie die vietnamesische und die amerikanische. Geschichte und Kultur im Verein haben die Vietnamesen fast krankhaft mißtrauisch gemacht. Da das überleben immer von einer hohen Geschicklichkeit im Umgang mit physisch stärke-ren Fremden abhing, ist der vietnamesische Kommunikationsstil indirekt und — nach amerikanischen Maßstäben — unaufrichtig; er vermeidet eindeutige Festlegungen und offene Kraftproben. Die Furcht, hereingelegt zu werden, scheint fast alle anderen Erwägungen zu überschatten. Selbst wenn die Vereinigten Staaten Flanois Maximalprogramm akzeptierten, könnte es noch zu einem monatelangen Feilschen kommen, in dessen Verlauf Hanoi unsere „Kniffe" studieren und sich Gewißheit verschaffen würde, daß mit weiteren Konzessionen nicht zu rechnen wäre.
Diese Tendenzen werden verstärkt durch die kommunistische Ideologie, welche die Vereinigten Staaten für feindlich ihrem ganzen Wesen nach erklärt, und durch Hanois Erfahrungen aus früheren Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten. Hanoi mag durchaus das Gefühl haben, daß die Genfer Konferenzen von 1954 und 1962 (über Laos) ihm einen Teil dessen raubten, was es auf dem Schlachtfeld errungen hatte.
All das zusammen erzeugt den besonderen Verhandlungsstil Hanois: die sorgfältige Planung, die subtilen, indirekten Methoden, die Vorliebe für dunkle Äußerungen, die gegenüber Feind wie Freund (beides scheint für Hanoi gleich wichtig zu sein) möglichst viele Wege offenlassen. Nordvietnams Diplomatie arbeitet zyklisch; Erkundungsvorstoß wechselt ab mit Rückzug, um die Reaktion des Gegners einschätzen zu können; dann folgt ein neuer diplomatischer Vorstoß, der entweder die Gewinne der vorigen Phase konsolidieren oder einen anderen Weg ausprobieren soll. In diesem Sinne dienten viele Kontakte mit Hanoi, die uns „fruchtlos" erschienen, von Hanois Standpunkt wahrscheinlich dem Zweck, das Terrain abzustecken. Die Methoden der nordvietnamesischen Diplomatie sind nicht sehr verschieden von der Militärstrategie der Viet-cong, und manchmal erscheinen sie uns ebenso undurchschaubar wie diese.
Wenn diese Ansicht richtig ist, sind wenige Schritte der Nordvietnamesen zufällig; selbst von der undeutlichsten Kommunikation steht zu vermuten, daß sie einen Zweck verfolgt. Das ist jedoch ein Stil, der sich nicht leicht jener Art von Analyse erschließt, die unsere Stärke ist: der pragmatischen, juristischen Zergliederung einzelner Fälle. Hanoi macht die Planung zum Fetisch, Washington ist allergisch gegen sie. Wir ziehen es vor, jede Sache für sich zu behandeln, wenn sie akut wird. Eine Ankündigung, daß die Vereinigten Staaten verhandlungsbereit sind, garantiert nicht, daß eine Verhandlungsposition existiert oder daß die amerikanische Regierung ihre Ziele artikuliert hat.
Im Vorbereitungsstadium einer Konferenz wirken gewöhnlich zwei Gruppen in der amerikanischen Bürokratie zusammen, um die Ausarbeitung einer Verhandlungsposition zu vereiteln: diejenigen, die gegen Verhandlungen sind, und diejenigen, die dafür sind. Die Gegner pflegen Verhandlungen mit Kapitulation gleichzusetzen; wenn sie sich überhaupt zur Diskussion von Bedingungen bereit finden, dann nur, um die Kapitulationsbedingungen für den Feind festzulegen. Die Befürworter von Verhandlungen kennen diese Tendenz und wissen auch, daß die Spitze Aufwand zur Klärung von Streitigkeiten ohne unmittelbare praktische Folgen scheut; so weichen sie gleichfalls der Frage aus. Zudem dient eine Verzögerung ihren eigenen Zwecken, denn dadurch gewinnen sie Handlungsfreiheit im Konferenzsaal.
Pragmatismus und Bürokratie im Verein erzeugen auf diese Weise einen diplomatischen Stil, der gekennzeichnet ist durch Starrheit vor Beginn formeller Verhandlungen und übermäßige Berücksichtigung taktischer Erwägungen, sobald die Verhandlungen begonnen haben. In den Vorbereitsungsphasen fehlt uns im allgemeinen ein Verhandlungsprogramm; während der Konferenz pflegen Gesichtspunkte des zweckmäßigsten Vorgehens die internen Diskussionen zu beherrschen. Damit berauben wir uns der Kriterien, nach denen Fortschritte beurteilt werden könnten. Die übergroße Rücksicht auf Taktik unterdrückt das Gefühl für Nuancen und Unwägbarkeiten. Die Unvereinbarkeit des amerikanischen und des nordvietnamesischen Stils der Diplomatie führte dazu, daß die Kommunikation lange Zeit schwer gestört war, besonders in den Vorbereitungsphasen der Verhandlungen. Während Hanoi sich langsam in Richtung auf Verhandlungen vortastete, bot es seine ganze Erfindungsgabe auf, um klare, förmliche Festlegungen zu vermeiden. Seine Vieldeutigkeit erlaubte ihm, ohne große Gegenleistungen Sondierungen anzustellen; Hanoi ist unerreicht in der Kunst, die Salami in dünnste Scheiben zu schneiden. Es wollte seine Verpflichtungen nicht in einem formellen Dokument, sondern mehr durch den Zusammenhang der Ereignisse definiert wissen, um seine Beziehungen zu Peking und zur NLF nicht aufs Spiel zu setzen.
Washington war für dieses Kommunikationsverfahren nicht gerüstet. Für eine Regierung, die Verpflichtungen mit gerichtlich einklagbaren Verbindlichkeiten gleichsetzt, waren Hanois subtile Änderungen in der Ausdrucksweise schlechterdings unverständlich. In einer Pressekonferenz im Februar 1968 sagte Präsident Johnson: „Soweit ich feststellen kann, hat Hanoi seinen Kurs seit der allerersten Antwort, die es gab, nicht geändert. Manchmal ändern sie , wird‘ in . würde'oder , soll‘ in, sollte', oder sonst etwas in dieser Art. Aber die Antwort ist immer dieselbe." Eine andere Art von Analyse hätte vielleicht gefragt, ob Hanoi wirklich einen Kanal für eine bedeutungslose Mitteilung öffnen würde, zumal seine bisher so sorgfältige Planung einen Tempuswechsel ohne besondere Absicht äußerst unwahrscheinlich erscheinen ließ.
Wenn und Aber beiseite — jedenfalls machte Hanoi auf Washington den Eindruck, listig, verschlagen und hinterhältig zu sein. Und Washington muß auf Hanoi, wenn nicht beschränkt, dann schlau und zielbewußt gewirkt haben. Die Schwierigkeiten, die den Unterschieden im Verhandlungsstil entsprangen, betrafen nicht so sehr bestimmte Punkte als vielmehr grundsätzliche Fragen wie die, was eine internationale „Verpflichtung" ist oder was das Wort „Betrug" bedeutet. Dieses Problem war der Hauptgrund dafür, daß die Auseinandersetzungen über den Bombenstopp in eine Sackgasse gerieten.
Lehren des Bombenstopps
Der Bombardierungsstopp nahm die ersten sechs Monate der Pariser Gespräche in Anspruch. Die offiziellen Positionen waren verhältnismäßig umkompliziert. Der amerikanische Standpunkt war in der sogenannten Formel von San Antonio enthalten, die Präsident Johnson im September 1967 verkündet hatte: „Die Vereinigten Staaten sind bereit, alle Bombardierungen Nordvietnams aus der Luft und von der See aus einzustellen, wenn dies sofort zu produktiven Diskussionen führt. Wir setzen natürlich voraus, daß Nordvietnam, während die Diskussionen ihren Verlauf nehmen, keinen Vorteil aus der Einstellung oder Begrenzung der Bombenangriffe zieht." In der Hauptsache blieb der amerikanische Standpunkt während der ganzen Verhandlungen unverändert.
Hanois Reaktion war ebenfalls einfach und hart. Einen klaren Punktgewinn erzielte es mit dem Hinweis, daß es nützliche, aber nicht „produktive" Gespräche garantieren könne, da dies auch von den Vereinigten Staaten abhänge
Die legalistische Formulierung dieser Sorgen verdunkelte, worum es eigentlich ging. Wenn die Bombenangriffe unter Bedingungen großer öffentlicher Empörung wiederaufgenommen wurden, würde es viel schwerer sein, Zurückhaltung in der Wahl der Ziele zu üben, und bedeutend schwieriger, sie wiederum einzustellen, um Hanois Absichten zu erkunden. Der häufig zu hörende Ratschlag, „Risiken für den Frieden auf sich zu nehmen", ist nur dann vertretbar, wenn man weiß, daß die Folge eines unvorsichtig eingegangenen Risikos vermutlich eher Eskalation als Friede sein wird.
Hanoi seinerseits hatte einen besonderen Grund, auf bedingungsloser Einstellung der Bombenangriffe zu bestehen. Eine so gewitzte Regierung wie Hanoi mußte wissen, daß es in den Beziehungen zwischen souveränen Staaten keine „bedingungslosen" Akte gibt, schon deshalb, weil zur Souveränität das Recht gehört, veränderte Verhältnisse einseitig neu einzuschätzen. Aber Hanoi hat stets in hohem Maße auf den Druck der Weltmeinung gebaut; die „Rechtswidrigkeit" der amerikanischen Bombenangriffe war deshalb eine starke politische Waffe. Durch eine Gegenleistung hätte es diesen seinen Anspruch aufs Spiel gesetzt; es hätte zu verstehen gegeben, daß Bombenangriffe unter gewissen Umständen doch berechtigt sein könnten. Hanoi wollte keine Formel, nach der die Vereinigten Staaten mit der Begründung, die Gegenseite habe ein Übereinkommen verletzt, „rechtmäßig" die Bombenangriffe wiederaufnehmen konnten. Schließlich war Hanoi daran interessiert, bei seinen Anhängern im Süden den Eindruck zu erwecken — als Symbol des bevorstehenden Sieges —, daß es uns veranlaßt habe, die Angriffe bedingungslos einzustellen. Aus dem gleichen Grunde war es für uns wichtig, daß beide Seiten in Südvietnam daran glaubten, daß es Gegenleistungen gegeben habe.
Die Folge war, daß sechs Monate benötigt wurden, um eine Gegenleistung festzulegen, die als „bedingungslos" ausgegeben werden konnte. Das Problem des Bombenstopps zog die Frage nach sich, was eine internationale Verpflichtung sei. Was ist die Sanktion für die Verletzung eines Übereinkommens? Lange Zeit verhielten sich die Vereinigten Staaten so, als wäre ihre wichtigste Garantie eine formelle, bindende Verpflichtung Hanois, sich gewisse Beschränkungen aufzuerlegen. Da es aber keinen Gerichtshof gibt, vor dem die Vereinigten Staaten Hanoi verklagen könnten, bestand die amerikanische Sanktion in dem, was die Vereinigten Staaten einseitig tun konnten, falls Hanoi aus der Bombardierungspause „Vorteile ziehen" sollte. Hanois Furcht vor den Folgen ist ein besserer Schutz vor Betrug als eine formelle Verpflichtung. Mitzuteilen, was wir unter „Vorteile ziehen" verstanden, erwies sich als wichtiger, als den Nordvietnamesen eine offizielle Reaktion zu entlocken.
Es scheint, daß mit diesem Verfahren die endgültige Klärung des Problems erreicht worden ist. In seiner Rede, in der er den Bombenstopp ankündigte, betonte Präsident Johnson, Hanoi sei sich über unsere Definition von „Vorteile ziehen" im klaren. Hanoi hat diese Bedingungen nicht formell anerkannt; vielmehr besteht es darauf, daß die Bombenangriffe bedingungslos eingestellt worden seien. Aber Hanoi kann nicht daran zweifeln, daß der Bombenstopp zu Ende wäre, wenn es die von Außenminister Rusk und Präsident Johnson öffentlich verkündeten Punkte außer acht ließe. Demonstrieren die Verhandlungen über den Bombenstopp, daß stillschweigendes Aushandeln eine entscheidende Rolle für eine endgültige Regelung spielen kann, so zeigen sie auch, wie außerordentlich gefährlich es ist, den politischen Rahmen zu vernachlässigen. Washington hatte während der ganzen Verhandlungen darauf bestanden, daß Saigon an den Diskussionen zur Sache teilnähme, die einem Bombenstopp folgen sollten. In seiner Rede, mit der er den Bombenstopp ankündigte, ließ Präsident Johnson durchblicken, daß Saigons Teilnahme die Forderung der Formel von San Antonio nach „produktiven Gesprächen" erfülle. Wie wir dazu kamen, eine Bedingung zu stellen, die im Grunde weder im unserem noch in Saigons Interesse lag, wird — falls überhaupt — erst dann festzustellen sein, wenn die Akten zugänglich sind. Es hätte klar sein müssen, daß die Teilnahme Saigons zwangsläufig die Fragen nach dem Status der NLF und der inneren Struktur Vietnams aufwerfen würde — Fragen, die, wie wir weiter unten sehen werden, in jedermanns Interesse auf ein möglichst spätes Stadium der Verhandlungen verschoben werden sollten.
Nachdem wir Saigons Teilnahme zur Bedingung gemacht hatten, vertraten wir die Formel „Eure Seite, unsere Seite". Nach dieser Formel sollen Saigon und die NLF an der Konferenz teilnehmen. Jede Seite kann für sich in Anspruch nehmen, sie setze sich aus zwei Delegationen zusammen; der Gegenseite steht es frei zu behaupten, sie habe es in Wirklichkeit nur mit einer Delegation zu tun. So lehnen es die Vereinigten Staaten ab, die NLF als Verhandlungspartner „anzuerkennen", und lassen nur Hanoi als solchen gelten; Hanoi kann einen ähnlichen Standpunkt beziehen und sich weiterhin weigern, formell mit Saigon zu verhandeln. Es ist schwer, öffentlichen Quellen eindeutig zu entnehmen, ob Saigon dieser Formel jemals zugestimmt und ob es verstanden hat, daß diese Formel darauf hinausläuft, der NLF gleichberechtigten Status einzuräumen
Auf den ersten Blick ist Saigons Widerstreben, die Gleichstellung der NLF zu akzeptieren, begreiflich, denn sie berührt alle anderen Probleme, von der Feuereinstellung bis zur inneren Struktur. Vom Gegenstand des Streits einmal abgesehen, hat der öffentliche Zwist zwischen Saigon und Washington das bereits Erreichte aufs Spiel gesetzt. Einen Keil zwischen Washington und Saigon zu treiben, war stets das Ziel Hanois; verwandeln sich die Pariser Gespräche in ein Instrument, dieses Ziel zu erreichen, so wird Hanoi versucht sein, sich ihrer mehr zur politischen Kriegführung als für ernsthafte Diskussionen zu bedienen.
Natürlich gibt es einen Punkt, über den hinaus man Saigon kein Veto in den Verhandlungen einräumen kann. Andererseits ist es nicht unnatürlich, wenn Saigon verlangt, bei Entschei-düngen, die sein eigenes Land betreffen, ein kräftiges Wort mitzureden. Und es kann unsere Position in Paris nicht stärken, wenn wir zu Beginn der Diskussionen zur Sache öffentliche Auseinandersetzungen über den Status einer Regierung führen, deren Verfassungsmäßigkeit wir in den vergangenen Jahren vor der Welt nachdrücklich beteuert haben. Die Sackgasse hat bewiesen, daß es zu gefährlich ist, Probleme auf einer ad-hoc-Basis zu behandeln; bevor wir in den Verhandlungen ein größeres Stück weitergehen, müssen wir uns einig sein über unsere Endziele und den Weg, sie zu erreichen.
Waffenruhe und Koalitionsregierung
Die Sachverhandlungen stellen die Vereinigten Staaten vor ein schwieriges begriffliches Problem: ob man Schritt für Schritt vorgehen, jeden Punkt „für sich" diskutieren soll, oder ob man zu Beginn versuchen soll, sich über Endziele zu einigen.
Der Unterschied ist nicht trivial. Werden die Verhandlungen Schritt für Schritt nach einer formellen Tagesordnung geführt, dann ist die Gefahr groß, daß sich der Bombenstopp als Eingang einer weiteren Sackgasse erweist. Die Probleme sind so miteinander verschränkt, daß eine Teilregelung dem Endergebnis vorgreift und folglich dessen ganze Kompliziertheit mitenthält. Gegenseitiges Mißtrauen und Unklarheit über die Endziele wirken als Antrieb, alle Vorschläge einer gründlichsten Prüfung zu unterwerfen und Schutzwälle gegen mögliche Versäumnisse oder böse Absichten zu errichten.
Das wird gut illustriert durch zwei Projekte, die in der öffentlichen Debatte als geeignete Themen für das nächste Stadium der Verhandlung herausgestellt worden sind: Waffenruhe und Koalitionsregierung.
Es galt bisher als Axiom, daß ein Bomben-stopp fast automatisch zu einer Waffenruhe führen werde. Doch das Aushandeln eines Waffenstillstands kann gleichbedeutend mit der Herstellung der Vorbedingungen für eine politische Regelung sein. Gäbe es eine Frontlinie und dahinter die unbestrittene Herrschaft je einer Seite, wie in Korea, so wäre die Lösung traditionell und relativ einfach: die beiden Seiten könnten aufhören, aufeinander zu schießen, und die Frontlinie würde zur Waffenstillstandslinie. Aber in Vietnam gibt es keine Frontlinien; Herrschaft ist nichts territorial Feststehendes, sondern hängt davon ab, wer Streitkräfte in einem gegebenen Gebiet hat, und außerdem von der Tageszeit. Wenn eine Waffenruhe den Regierungskräften erlaubt, sich bei Tag und Nacht unangefochten überall zu bewegen, dann kommt sie einem Sieg Saigons gleich. Wird Saigon am Betreten bestimmter Gebiete gehindert, so bedeutet das praktisch Teilung, die, wie in Laos, dazu tendiert, permanent zu werden. Dabei käme jedoch, anders als in Laos, ein bunter Flickenteppich heraus; Enklaven widerstreitender Loyalitäten wären über das ganze Land verstreut. Dies würde zusätzliche Probleme nach sich ziehen: 1. Es käme zu heftigen Kämpfen, um noch an möglichst vielen Stellen vor Inkrafttreten des Waffenstillstands die Vorherrschaft der eigenen Partei zu errichten. 2. Die Kontrolle eines etwa ausgehandelten Abzugs der nordvietnamesischen Truppen würde nahezu unmöglich; die örtlichen Behörden in Gebieten mit kommunistischer Vorherrschaft würden zweifellos bestätigen, daß keine auswärtigen Truppen anwesend seien, und würden jeden Versuch einer internationalen Inspektion verhindern. 3. Es würde sich das Problem erheben, ob und wie ein Waffenstillstand auf die Guerillatätigkeit im nichtkommunistischen Teil des Landes anwendbar wäre; mit anderen Worten, wie man mit der Asymmetrie zwischen den Aktionen der regulären Truppen und denen der Guerillas fertig werden sollte. Reguläre Truppen operieren in einem Maßstab, der eine relativ genaue Definition dessen zuläßt, was erlaubt und was verboten ist; Guerillastreitkräfte hingegen können durch isolierte Terrorakte wirksam werden, die schwer von normaler krimineller Betätigung zu unterscheiden sind.
Es würde noch viele andere Probleme geben: wer Steuern einzieht und wie; wer die Einhaltung der Waffenruhe durchsetzt und mit welchen Mitteln. Mit anderen Worten: Eine stillschweigende de-facto-Feuereinstellung ist vielleicht eher zu erreichen als eine ausgehandelte. überdies würde vermutlich ein formeller Waffenstillstand die endgültige. Regelung beeinflussen und zur Teilung tendieren. Ein Waffenstillstand ist mithin nicht so sehr ein Schritt auf dem Wege zu einer endgültigen Regelung als vielmehr eine Form dieser Regelung selbst.
Das gleiche gilt in noch höherem Grade von einem anderen Hauptthema der Vietnam-Debatte: dem Gedanken einer Koalitionsregierung. Natürlich hat der Terminus zwei verschiedene Bedeutungen: Man denkt dabei entweder an ein Mittel zur Legitimierung der Teilung, ja sogar an einen Deckmantel zur Fortsetzung des Bürgerkrieges, oder man hat eine „wirkliche" Koalitionsregierung im Sinn, die das ganze Land zu regieren versucht. Im ersteren Falle wäre eine Koalitionsregierung eine Fassade mit nichtkommunistischen und kommunistischen Ministern, die in Wirklichkeit ihre eigenen Teile des Landes regieren würden. Eben dies geschah in Laos, wo jeder Partner der „Koalitionsregierung" schließlich seine eigenen Streitkräfte und seine eigene Territorialverwaltung besaß. Die Zentralregierung übte keinerlei wirklich gesamtstaatliche Funktionen aus. Jede Seite betrieb ihre eigenen Angelegenheiten — einschließlich des Bürgerkrieges. Aber in Laos beherrschte jede Seite zusammenhängendes Gebiet, nicht eine Anzahl von Enklaven wie in Südvietnam. Von allen Methoden, eine Teilung herbeizuführen, sind Verhandlungen über eine Koalitionsregierung auch deshalb die gefährlichste, weil die bloße Teilnahme der Vereinigten Staaten an ihnen die politische Landschaft Südvietnams verändern könnte.
Die Frage der Koalitionsregierung ist vielleicht in Südvietnam selbst das am meisten mit Emotionen beladene Problem. Man neigt dort dazu, den Begriff in seiner zweiten Bedeutung aufzufassen: als eine von Saigon und der NLF gemeinsam gebildete Regierung des ganzen Landes. Von amerikanischer Seite kann es natürlich keine Einwände gegen direkte Verhandlungen zwischen Saigon und der NLF geben. Es geht nur darum, ob sich die Vereinigten Staaten an einem Versuch beteiligen sollen, dem Lande eine Koalitionsregierung aufzudrängen. Wir müssen daher uns darüber im klaren sein, daß unsere Teilnahme an einem solchen Unternehmen recht wohl die bestehende politische Struktur Südvietnams zerstören und so zu einer kommunistischen Machtübernahme führen kann.
Manche befürworten Verhandlungen über eine Koalitionsregierung aus eben diesem Grunde. Sie sehen darin eine Formel, den politischen Sieg der Kommunisten, den sie für unvermeidlich halten, zu arrangieren, ohne das Gesicht zu verlieren. Aber wer der Meinung ist, daß die politische Evolution Südvietnams nicht von vornherein durch eine amerikanische Entscheidung abgeschnitten werden sollte, der muß sich vergegenwärtigen, daß die Frage einer Koalitionsregierung das undankbarste und heikelste Verhandlungsthema für Außenstehende ist.
Der Gedanke, eine Koalitionsregierung repräsentiere einen „Kompromiß", der eine neue politische Evolution ermöglichen werde, wird den vietnamesischen Verhältnissen schwerlich gerecht. Schon die nichtkommunistischen Gruppen haben demonstriert, wie schwer es Vietnamesen fällt, Differenzen durch Kompromisse beizulegen. Es ist so schlechthin unvorstellbar, daß Parteien, die sich einander seit fünfundzwanzig Jahren mit Mord und Verrat bekämpft haben, in einer Regierungsmannschaft Zusammenarbeiten und gemeinsame Anweisungen für das ganze Land erlassen könnten. Das Bild einer Befehlskette, die von Saigon bis aufs Dorf reicht, trifft nur sehr bedingt auf die nichtkommunistische Regierung in Saigon zu. Es wäre absurd in bezug auf eine Koalitionsregierung. Eine solche Regierung besäße keine andere Autorität als die Befehlsgewalt eines jeden Ministers über die Kräfte, die ihm persönlich oder seiner Partei ergeben wären.
Um die Schwierigkeiten nur an einem Beispiel zu illustrieren: Kommunistische Minister wären im höchsten Grade tollkühn, wenn sie nach Saigon kämen, ohne genügend Streitkräfte zu ihrem Schutz mitzubringen. Aber die Anwesenheit kommunistischer Truppen in der Hochburg der Regierungsmacht würde das politische Kräfteverhältnis in Südvietnam verändern. Die Gefahr bei einer Koalitionsregierung läge darin, daß die nichtkommunistischen Elemente die wirksame Kontrolle über ihre militärischen und polizeilichen Kräfte verlören und nicht mehr imstande wären, sich ausreichend zu verteidigen.
Kurz: Verhandlungen mit dem Ziel, dem Land eine Koalitionsregierung von außen aufzunötigen, würden vermutlich den politischen Prozeß in Südvietnam merklich und unwiderruflich verändern, da Vietnamesen, die eine Koalitionsregierung nicht für arbeitsfähig halten, sich schnell auf die eine oder die andere Seite schlagen würden. Wir würden uns praktisch für einen Ausgang des Krieges entscheiden, der einer Einflußnahme von außen am wenigsten zugänglich wäre, dessen Bedingungen wir am wenigsten unter unserer Kontrolle hätten und dessen langfristige Implikationen höchst problematisch wären.
Das soll nicht heißen, daß die Vereinigten Staaten sich einem zwischen den Vietnamesen frei ausgehandelten Ergebnis widersetzen sollten. Es soll nur heißen, daß ein Verhandeln über diesen Punkt von seifen der Vereinigten Staaten wahrscheinlich in eine Sackgasse oder zum Zusammenbruch Saigons führen würde.
Wie geht es weiter?
Es mag paradox erscheinen, aber wo das Mißtrauen so tief sitzt und die Probleme so verwickelt sind, da erzielt man Fortschritte vielleicht am ehesten dadurch, daß man sich zunächst über die Endziele zu verständigen sucht und erst dann im Detail erörtert, wie man diese Ziele erreichen kann.
Dazu ist es nötig, die Stärken und Schwächen beider Seiten zu analysieren. Hanois Stärke ist, daß es auf vertrautem Boden unter Angehörigen des eigenen Volkes kämpft, während die Vereinigten Staaten weit von der Heimat entfernt kämpfen. Solange Hanoi einige politische Aktivposten im Süden besitzt, behält es die Aussicht auf einen günstigen politischen Ausgang. Es hat gezeigt — was nicht weiter überraschend ist —, daß es die örtliche Situation besser erfaßt und geschickter militärische Operationen für politische Zwecke zu planen versteht. Hanoi baut auf die Weltmeinung und auf den innenpolitischen Druck in den Vereinigten Staaten; es glaubt, die Unpopularität des Vietnam-Krieges werde die Amerikaner schließlich zum Rückzug zwingen. Hanois Schwäche ist, daß überlegene Planung nur bis zu einem gewissen Punkt materielle Hilfsquellen ersetzen kann. Geht es über diesen Punkt hinaus, so erlangen Unterschiede der Größenordnung Gewicht, und eine Fortführung des Krieges wird Auslandshilfe in einem Grade erfordern, der Nordvietnams Autonomie bedrohen könnte. Diese Autonomie hat Hanoi bisher eifersüchtig gehütet. Ein noch weiter in die Länge gezogener Krieg könnte, selbst wenn er siegreich endete, Vietnam so erschöpft zurücklassen, daß das Ziel jahrzehntelangen Kampfes in Frage gestellt wäre.
Ferner: Ein Land, das so empfindlich für internationale Strömungen ist wie Nordvietnam, muß sich durch die jüngste Entwicklung beB unruhigt fühlen. Der sowjetische Einmarsch in die Tschechoslowakei verdrängte Vietnam zumindest eine Zeitlang aus dem Mittelpunkt des Weltinteresses. Einige Länder, die bisher den Vereinigten Staaten kritisch gegenüberstanden, entsannen sich, daß sie selbst gefährdet sind und amerikanischen Schutz brauchen; das verminderte die Intensität des öffentlichen Drucks auf Amerika. Hanoi hieß Moskaus Verhalten gut und demonstrierte damit den Grad seiner Abhängigkeit von der Sowjetunion; vielleicht wollte es auch, indem es Moskau sich verpflichtete, einem sowjetischen Drängen auf größere Flexibilität vorbeugen. Was auch der Grund gewesen sein mag, jedenfalls erschien die Vision eines titoistischen Vietnam plötzlich nicht mehr so plausibel. Und zwar um so weniger, als Moskaus Rechtfertigung des Einmarschs in die Tschechoslowakei als theoretische Grundlage für ein eventuelles chinesisches Vorgehen gegen Nordvietnam dienen könnte. Schließlich machte die sowjetische Doktrin, wonach Moskau ein Recht auf Intervention zum Schutze der sozialistischen Ordnung besitzt, einen chinesisch-sowjetischen Krieg zumindest denkbar. Denn Moskaus Anklagen gegen Peking sind, wenn man hier vergleichen kann, noch schärfer als die gegen Prag. Aber im Falle eines chinesisch-sowjetischen Konflikts säße Hanoi ganz auf dem trockenen. Internationale Krisen der letzten Zeit, die Vietnam zu überschatten drohten — Nahost 1967, Mitteleuropa 1968 —, mögen Hanoi überzeugt haben, daß die Zeit nicht zwangsläufig auf seiner Seite ist.
Mit den amerikanischen Aktiv-und Passiv-posten verhält es sich gerade umgekehrt. Mögen einige unserer politischen Konzeptionen noch so sachwidrig, mag unsere Strategie noch so plump sein, wir sind so stark, daß Hanoi einfach nicht imstande ist, uns militärisch zu besiegen. Aus eigener Kraft kann Hanoi den Abzug der amerikanischen Truppen aus Süd-vietnam nicht erzwingen. Vielmehr hat sich, wie es scheint, die amerikanische militärische Position wesentlich verbessert. Wir haben unser Minimalziel erreicht: Hanoi ist unfähig, einen militärischen Sieg zu erringen. Da es unseren Abzug nicht erzwingen kann, muß es darüber verhandeln. Leider hat unsere militärische Stärke kein politisches Gegenstück; wir waren bisher nicht imstande, eine politische Struktur zu schaffen, die der militärischen Gegnerschaft Hanois nach unserem Abzug widerstehen könnte.
Die Verhandlungen haben daher einen ganz anderen Charakter als in Korea. Es gibt keine Fronten mit gesicherten Gebieten dahinter. In Vietnam wird durch Verhandlungen nicht ein militärischer Status quo ratifiziert, sondern eine neue politische Realität geschaffen. Es gibt keine unzweideutigen Maßstäbe der relativen politischen und militärischen Stärke. Die politische Situation ist für beide Seiten prekär — innerhalb Vietnams für die Vereinigten Staaten, international für Hanoi. Es steht deshalb zu vermuten, daß keine Seite eine so lange Dauer der Verhandlungen riskieren kann wie in Panmunjom vor anderthalb Jahrzehnten. In einer solchen Situation hängt ein günstiger Ausgang von einer klaren Definition der Ziele ab. Die Abgrenzung des amerikanischen Einsatzes läßt sich in zwei Sätzen ausdrücken: 1. Die Vereinigten Staaten können eine militärische Niederlage oder eine durch äußere militärische Gewalt herbeigeführte Veränderung in der politischen Struktur Südvietnams nicht hinnehmen. 2. Nach Entfernung der nordvietnamesischen Streitkräfte und des nordvietnamesischen Drucks sind die Vereinigten Staaten nicht verpflichtet, eine Regierung in Saigon gewaltsam an der Macht zu erhalten.
Das amerikanische Ziel sollte deshalb sein, 1. einen Abzug der auswärtigen — nordviet-namesischen und amerikanischen — Streitkräfte in Etappen herbeizuführen und 2. dadurch für die streitenden Parteien in Süd-vietnam einen maximalen Anreiz zur Herstellung einer politischen Verständigung zu schaffen. Struktur und Inhalt einer solchen Übereinkunft müßte man den Südvietnamesen überlassen. Sie könnte formell auf Landes-ebene erfolgen, aber auch lokal, auf Provinz-ebene, wo schon jetzt vielerorts, etwa im Mekong-Delta, stillschweigende Vereinbarungen nicht unüblich sind.
Die Details eines beiderseitigen Abzugs in Phasen sind für uns hier nicht entscheidend; sie müßten in jedem Falle ausgehandelt werden. Es ist jedoch möglich, einige Prinzipien anzuführen: Der Abzug sollte sich über eine hinreichend lange Periode erstrecken, damit Gelegenheit für die Entwicklung eigenständiger politischer Formen gegeben wäre; die kämpfenden Parteien in Südvietnam müßten sich verpflichten, ihre Ziele nicht gewaltsam zu verfolgen, solange der Abzug der auswärtigen Truppen im Gange ist; es müßte soweit wie möglich den Südvietnamesen überlassen werden festzulegen, welches die richtigen politischen Formen oder Strukturen sind, wobei der zeitliche Rahmen für eine Verständigung durch den Zeitplan des beiderseitigen Abzugs gegeben wäre.
Die Vereinigten Staaten sollten sich also auf das Thema eines beiderseitigen Abzugs der auswärtigen Truppen konzentrieren und Verhandlungen über die innere Struktur Vietnams vermeiden, solange es angeht, über die innere Struktur Südvietnams sollten in erster Linie die Südvietnamesen direkt miteinander verhandeln. Wenn wir uns zu tief in das Problem der inneren Ordnung Südvietnams einlassen, werden wir in einen Morast von Schwierigkeiten geraten; denn auf unserer Seite sind in diesem Fall zwei große Nachteile. Erstens werden wir derjenige Verhandlungspartner sein, der am wenigsten auf die Feinheiten der vietnamesischen Politik eingestellt ist. Zweitens werden wir vermutlich am Ende vor allem auf Saigon Druck ausüben, weil es einer Verständigung im Wege zu stehen scheint. Herauskommen können dabei die vollständige Demoralisierung Saigons, starke innere Spannungen in den Vereinigten Staaten und ein langes Patt oder eine Wiederaufnahme des Krieges.
Wie auch der Ansatz sein mag, entscheidend wichtig wird die Verhandlungsprozedur sein; sie kann auf das Ergebnis und die Geschwindigkeit, mit der es erreicht wird, bestimmenden Einfluß haben.
Es war wahrscheinlich unklug, den Bomben-stopp mit Saigons Teilnahme an den Sachverhandlungen zu koppeln, um so mehr, als Hanoi anscheinend bereit war, die bilateralen Gespräche fortzusetzen. Die Teilnahme Saigons und der NLF warf Statusfragen auf, die besser verschoben worden wären; sie machte eine Diskussion der inneren Struktur Südvietnams schwer vermeidbar. Trotzdem können die oben skizzierten Prinzipien auch jetzt noch die Verhandlungen leiten, wenn sie nun auch schwerer zu verwirklichen sind. Die Spannung zwischen Washington und Saigon kann sogar heilsam sein, insofern sie beide Seiten zwingt zu lernen, daß sie nur dann wirksam verhandeln können, wenn sie die fundamentalen Fragen in voller Klarheit stellen.
Während diese Zeilen geschrieben werden, ist noch nicht klar, wie die Frage der Teilnahme Saigons an der Konferenz gelöst werden wird. Aber der allgemeine Ansatz sollte der gleiche sein, wie immer der Kompromiß sich gestalten mag.
Das beste Verfahren wäre, drei Foren zu schaffen. Wenn die Südvietnamesen schließlich in Paris erscheinen — womit zu rechnen ist —, sollte man die vierseitige Konferenz in erster Linie als eine Plenarsitzung betrachten, deren Aufgabe es wäre, die Arbeit von zwei Verhandlungskomitees zu legitimieren, die nicht formell eingesetzt zu werden brauchten und sogar geheim tagen könnten: a) zwischen Hanoi und den Vereinigten Staaten, und b) zwischen Saigon und der NLF. Hanoi und Washington würden den beiderseitigen Truppenabzug und verwandte Themen, wie Garantien für die Neutralität von Laos und Kambodscha, diskutieren. (Die Formel könnte die Erfüllung des Genfer Abkommens sein, das von beiden Seiten im Prinzip anerkannt worden ist.) Saigon und die NLF würden die innere Struktur Südvietnams erörtern. Das dritte Forum wäre eine internationale Konferenz, die für die in den anderen Komitees erzielten übereinkom-men Garantien und Sicherheiten auszuarbeiten hätte, einschließlich einer internationalen Maschinerie für die Erhaltung des Friedens.
Wenn Saigon sich der Formel „unsere Seite, eure Seite" weiterhin widersetzte, könnte man der gleichen Prozedur folgen. Die Unterkomitees würden Hauptforen werden, und die vierseitige Plenarsitzung könnte wegfallen. Die internationale „Garantiekonferenz" bliebe unberührt.
Freilich hat sich Saigon aus verständlichen Gründen bisher standhaft geweigert, mit der NLF als einem Gebilde von internationalem Status zu verhandeln. Aber wenn Saigon seine eigenen Interessen recht versteht, wird es einsehen, daß mit dem hier skizzierten Verfahren das kleinstmögliche notwendige Zugeständnis verbunden ist. Die Drei-Ebenen-Prozedur gibt Saigon größtmögliche Kontrolle über die Fragen, die sein eigenes Schicksal betreffen; direkte Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und der NLF werden dadurch überflüssig gemacht. Einer souveränen Regierung steht es frei, mit jeder Gruppe, die über eine bedeutende innenpolitische Macht-basis verfügt, zu verhandeln, ohne ihr dadurch Souveränität zuzuerkennen; das geschieht ständig in Verhandlungen mit Gewerkschaften, und es kommt sogar in der Arbeit der Polizei vor.
Aber warum sollte Hanoi ein solches Verfahren akzeptieren? Die Antwort lautet: Zu einem Teil deshalb, weil es keine Wahl hat; es kann einen Abzug der amerikanischen Streitkräfte nicht aus eigener Kraft herbeiführen, zumal dann nicht, wenn die Vereinigten Staaten zu einer weniger ungeduldigen Strategie übergehen, die besser auf den Schutz der Bevölkerung abgestimmt ist und mit bedeutend geringeren Verlusten durchgeführt werden kann. Auch mag Hanoi glauben, die NLF könne, da sie besser organisiert und entschlossener sei als ihre Gegner, einen politischen Kampf gewinnen. (Die Vorbedingung einer Regelung ist natürlich, daß beide Seiten sich eine Chance ausrechnen, zu gewinnen oder wenigstens nicht zu verlieren.) Vor allem ist anzunehmen, daß Hanoi nicht den Wunsch hat, den Vereinigten Staaten eine ständige Stimme in inneren südvietnamesischen Angelegenheiten einzuräumen, wie es der Fall sein wird, wenn man dem Zwei-Seiten-Verfahren folgt. Hanoi mag in dieser Einstellung bestärkt werden durch die Annahme, daß längere Verhandlungen über eine Koalitionsregierung von seinem Standpunkt aus vielleicht nicht befriedigender enden würden als die Genfer Verhandlungen über Vietnam im Jahre 1954 und über Laos im Jahre 1962. Was die Vereinigten Staaten betrifft, so werden sie, wenn sie eine Entfernung auswärtiger Streitkräfte und auswärtigen Drucks zustande bringen, das Äußerste geleistet haben, was einem Bundesgenossen möglich ist — ausgenommen lediglich permanente Besetzung.
Selbstverständlich kann man Hanoi nicht auffordern, die NLF der Gnade Saigons zu überlassen. Eine Koalitionsregierung ist nicht wünschenswert, aber eine gemischte Kommission, die einen politischen Prozeß zur Reintegration des Landes einzuleiten und zu überwachen hätte — einschließlich freier Wahlen —, könnte nützlich sein. Und notwendig wäre eine internationale Präsenz, um die Erfüllung der Abmachungen zu sichern. Ebenso kann man von uns nicht erwarten, uns auf Hanois Wort zu verlassen, daß es seine Truppen und seinen Druck für immer von Südvietnam abzieht. Eine internationale Streitmacht wäre erforderlich, welche die Zugangswege überwachte. Sie sollte durch eine elektronische Barriere zur Kontrolle von Bewegungen verstärkt werden.
Eine Verhandlungsprozedur und eine Definition der Ziele garantieren natürlich nicht, daß es zu einer Lösung kommt. Wenn Hanoi unnachgiebig bleibt und der Krieg weitergeht, sollten wir versuchen, von unseren Zielen soviel wie möglich einseitig zu erreichen. Wir sollten uns eine Strategie zu eigen machen, die die Verluste vermindert und sich auf den Schutz der Bevölkerung konzentriert. Wir sollten weiterhin die vietnamesische Armee stärken, damit ein allmählicher Abzug eines Teils der amerikanischen Streitkräfte möglich wird, und wir sollten Saigon ermuntern, seine Basis zu verbreitern, damit es besser gerüstet ist für das politische Ringen mit den Kommunisten, das es früher oder später auf sich nehmen muß.
Seit einem Jahrhundert hat kein Krieg solche Leidenschaften entfacht wie der Konflikt in Vietnam. Viele Gruppen haben Vietnam zu einem Symbol tieferer Ressentiments gemacht und damit dem Ziel abgesagt, das sie anzustreben behaupten. Ganz gleich, wie wir nach Vietnam gekommen sind und wie man unser Handeln beurteilen mag, eine ehrenhafte Beendigung des Krieges ist notwendig für den Frieden der Welt. Jede andere Lösung kann Kräfte entfesseln, welche die Aussichten auf internationale Ordnung verschlechtern würden. Eine neue Regierung muß, unbelastet von Schuldvorwürfen, die Chance erhalten, nach einem Frieden zu streben, der den Menschen Vietnams das ermöglicht, wofür sie so lange gekämpft haben: ihr eigenes Schicksal auf ihre eigene Weise zu gestalten.