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Spontanversammlung oder Spontanaktion | APuZ 10/1969 | bpb.de

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APuZ 10/1969 Außerparlamentarische Bewegungen, Demonstrationsrecht und Widerstand Spontanversammlung oder Spontanaktion Demonstration unter dem Gesetz

Spontanversammlung oder Spontanaktion

Manfred Schreiber

1. Politische Realität

Eine Abhandlung über die Spontanversammlung kann nur dann zur angemessenen rechtlichen Zuordnung führen, wenn diese neue Form der öffentlichen Versammlung eingebettet wird in die politischen Fakten unserer Zeit und in die Erfahrungen des Alltags. Diese Erkenntnis gibt wohl auch dem polizeilichen Praktiker Anlaß und Mut, sich in der rechts-theoretischen Erörterung zu Wort zu melden.

In den letzten Jahren hat die politische Aktivität unseres Volkes in einem bisher nicht gekannten, wohl aber erhofften Ausmaß zugenommen. Die Jugend, hier vornehmlich die studentische Jugend, hat Stellung zu politischen Fragen genommen, die weit über die Wahrung berufsständischer Belange hinausgingen. Ihrer Meinung hat unsere Jugend dabei überwiegend in öffentlichen Versammlungen und Aufzügen mit demonstrativem Charakter Ausdruck gegeben. Dabei kam es zu teilweise erheblichen Sicherheitsstörungen, an deren Ausmaß und Folgen die Öffentlichkeit häufig mehr Anteil nahm als am politischen Anlaß der öffentlichen Versammlung.

Seit über einem Jahr werden die Auseinandersetzungen über staats-und gesellschaftspolitischen Fragen in der Hauptsache initiiert und getragen von jungen Menschen, die ihre Ziele und Vorstellungen in der Verfassungswirklichkeit nicht mehr genügend realisiert oder überhaupt nicht mehr vertreten sehen und die glauben, daß sich die Verfassungswirklichkeit immer mehr vom Verfassungsauftrag entfernt habe. Sie versprechen sich von den Einwirkungsmöglichkeiten auf die politischen Parteien und Gruppierungen nichts mehr und wollen daher durch Demonstrationen unmittelbar auf die Bewußtseinsbildung des Volkes einwirken und auf diesem Wege die politische Willensbildung beeinflussen.

Dabei werden Vorgänge aus den verschiedensten Bereichen des staatlichen oder politischen Lebens zum Anlaß genommen, die äußerlich nichts miteinander zu tun haben oder zu haben scheinen. Auch die Hintergründe werden nicht hinreichend ausgeleuchtet. Man demonstriert gegen angeblichen Feudalismus des Schahs von Persien, gegen die vermeintliche Presseallmacht von Springer, gegen die Notstandsgesetze und gegen die inneren Verhältnisse Griechenlands. Hinreichende Vorstellungen ersetzt man durch Vorbilder; diese reichen von Che Guevara bis Mao, von Ho Chi Min bis Dutschke.

Dennoch kann zwischenzeitlich recht gut und verläßlich unterschieden werden zwischen jenen Kräften, die aus demokratischer Verantwortung einer Stagnation unseres Staatswesens entgegenwirken wollen, eine Fortentwicklung unserer Gesellschaftsordnung zum sozialen Rechtsstaat mit verfassungskonformen Mitteln anstreben und dabei die Grundrechte der Meinungs-und Versammlungsfreiheit radikal und bis zur Neige ausschöpfen, und solchen, die versteckt oder schon offen erklären, daß durch ein verfassungskonformes Vorgehen ihr Ziel nicht oder nicht mehr erreicht werden könne.

Ein weiteres ist allen politischen Menschen in den letzten zwei Jahren klar geworden: Die Ansichten über Meinungs-und Versammlungsfreiheit haben sich extensiv verändert. Grenzen dieser Freiheit werden nicht oder nur mehr sehr bedingt anerkannt, die Forderungen werden radikaler vorgetragen, die Auseinandersetzungen erfolgen härter. Der Dialog wird zu oft verschmäht, Entscheidungen erzwungen oder erpfiffen, die Überzeugung des anderen ist nicht mehr gefragt. Man fordert häufiger Freiheit vom oder gegen den Staat. Die Frage nach Inhalt und Grenzen der Freiheit im Staat, die rechtstheoretisch noch soviel Bedeutung hat und um die oft so guälerisch gerungen wird, gilt bei manchen schon als überwunden. Dadurch wird bei den Sicherheitsbehörden eine massive Abwehrstellung ausgelöst, das Unterscheidungsvermögen zwischen verfassungskonformen und verfassungswidrigen Demonstrationen noch mehr erschwert.

Schließlich verwirren die neuen Gestaltungsformen der Versammlungsfreiheit wie Go-in, Teach-in, Sit-in — aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung unter den Begriffen „gewaltloser Widerstand" und „kollektiver Meinungsäußerung" übernommen — sowie die weiteren Formen der Einzeldemonstrationen wie Plakatträger und Einzelredner, Mahn-wachen und Ausstellungen (mit und ohne Agitatoren). Eine der bedeutendsten neuen Gestaltungsformen von Versammlungen sind auch die Spontanaktionen

2. Rechtliche Bewertung

a) Begriff Spontanaktion ist eine Gestaltungsform der öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel oder des Aufzuges, die keinen Veranstalter im Sinne des Versammlungsgesetzes hat, bei der sich vielmehr Teilnehmer aus eigenem Antrieb, in eigener individueller Reaktion zeitlich unmittelbar auf ein bestimmtes Ereignis hin zusammengefunden haben, ohne durch einen Veranstalter dazu veranlaßt worden zu sein, der zu einer Versammlung auffordert, einlädt oder auch nur die äußeren Vorbereitungen dazu trifft Daraus ergibt sich, daß Fälle denkbar sind, in denen nur eine spontane oder ganz kurzfristig anberaumte öffentliche Versammlung unter freiem Himmel den ihr zugedachten Sinn erfüllen kann und ihn durch Zeitablauf (über 48 Stunden) verlieren würde, wenn die Anmeldefrist eingehalten werden würde Solche Spontaneität auf besondere konkrete Ereignisse ist daher nicht der Regelfall, sondern bildet die Ausnahme b) Spontanaktion und Versammlungsgesetz Die Spontanaktion fällt bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzung einer Versammlung unter das Versammlungsgesetz

Das ergibt sich einmal aus dem Willen des Gesetzgebers, auch Spontanversammlungen erfassen zu wollen. Nach der Begründung der Bundesregierung zu den §§ 22— 29 des Entwurfes eines Gesetzes über öffentliche Versammlungen und Aufzüge (BT-Drucksache 1. Wahlperiode, Nr. 1102, S. 11) bezog sich die hier nicht weiter interessierende Strafvorschrift des § 29 „nicht auf Teilnehmer von Veranstaltungen, die anmeldepflichtig sind, aber weder angemeldet noch ausdrücklich verboten waren (Spontankundgebungen)." „In solchen Fällen soll es bei der Bestrafung des Veranstalters nach § 27 sein Bewenden haben."

Wenn auch die Formulierung des § 27 („wer den Bestimmungen der §§ 2, 14 I und 20 vorsätzlich zuwiderhandelt, wird mit Gefängnis oder Geldstrafe bestraft") im Gesetzgebungsverfahren noch Änderungen erfahren hat, so ist doch die Strafbarkeit des Veranstalters einer „Spontankundgebung" in § 26 Abs. 1 VersG unverändert normiert worden.

Daher irren wohl Ott Herzog und Gintzel wenn sie annehmen, der Gesetzgeber habe das „übersehen oder für ungefährlich angesehen" (Ott) oder „nach der klaren Anlage die Spontanversammlung nicht erfaßt"

(Herzog).

Sicher wollte der Gesetzgeber nicht ausdrücklich eine von mehreren Gestaltungsformen regeln. Damit ist nichts dazu gesagt, ob eine Regelung nicht zweckmäßig gewesen wäre oder in der Zukunft sein würde (vgl. Ziff. 5 II), nachdem die Spontanaktion die schwierigste und bedeutsamste Form, vor allem hinsichtlich ihrer noch zu behandelnden Abgrenzung zur vorgetäuschten Spontanaktion, ist (vgl. Ziff. 3). Aus dem Wortlaut des § 14 VersG folgt weiter, daß „spontane" Versammlungen und Aufzüge von der zeitlich befristeten Anmeldeverpflichtung dieser Vorschrift nicht ausgenom-men sind. Ebenso läßt schon der Wortlaut des § 15 Abs. 2 VersG nicht die Auslegung zu, bei der Prüfung des Tatbestandsmerkmals „wenn sie nicht angemeldet ist" sei zwischen Spontanversammlungen und angemeldeten Versammlungen sowie Aufzügen zu unterscheiden.

Ebenso ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang der Vorschriften des VersG, daß die sogenannten Spontanversammlungen unter das Versammlungsgesetz fallen. Wollte man nämlich derartige Versammlungen unter freiem Himmel für zulässig erachten, so müßte eine Reihe zwingender Vorschriften des VersG außer Anwendung bleiben. Bereits beim Vollzug des § 13 Abs. 1 Nr. 3 und 4 VersG entstünden Zweifelsfragen, weil die Spontan-versammlung keinen Leiter kennt.

Die Nichtanwendung dieser Bestimmungen würde der ungeleiteten Versammlung unter freiem Himmel eine größere Sicherheit gegenüber dem polizeilichen Einschreiten gewähren als der in Übereinstimmung mit den Versammlungsvorschriften geleiteten. Spontanversammlungen unter freiem Himmel und Aufzüge wären auch gegenüber Versammlungen in geschlossenen Räumen insoweit privilegiert.

Bei Fehlen des nach § 7 Abs. 1 VersG zwingend vorgeschriebenen Leiters bestände, zumal der Veranstalter (§ 7 Abs. 2 VersG) bei einer vorgetäuschten Spontanaktion ohnehin nicht in Erscheinung treten würde und auch nicht ohne Zeitverlust ermittelt werden könnte, keine Möglichkeit, eine andere anwesende Person ersatzweise zum Leiter zu bestimmen. § 15 Abs. 2 VersG könnte umgangen werden, wenn die Initiatoren erwarten könnten, eine derartige Veranstaltung dürfte durch eine beliebig bestimmte andere Person als Leiter fortgesetzt werden.

Für die rechtliche Beurteilung kommt weiter die Strafbestimmung des § 26 Abs. 1 Nr. 2 VersG in Betracht, die wirkungslos bleiben müßte, wenn man in derartigen Fällen von dem Erfordernis der Anmeldung nach § 14 VersG absehen wollte. Mangels entsprechender versammlungsrechtlicher Anhaltspunkte werden deshalb spontane öffentliche Versammlungen und Aufzüge wegen Nichtbeachtung zwingender Vorschriften des Versammlungsrechts als unzulässig zu gelten haben

Ott legt alle diejenigen, die eine Spontan-aktion als neue Gestaltungsform akzeptieren, nunmehr am Begriff der „Spontaneität“ fest. Er sagt, wenn alle spontan handeln, gibt es keinen Veranstalter, also kann es auch keinen Anmelder geben Das ist wahrlich die Achillesferse. Es ist nicht zu bestreiten, daß Spontanaktionen tatsächlich erfolgten, unzweifelhaft ist auch in der Regel die faktische Unmöglichkeit, diese mit polizeilichen Zwangsmitteln aufzulösen (ohne dabei „unverhältnismäßig" zu werden), unbestritten schließlich die Berechtigung eines solchen spontanen Lebensvorgangs; dennoch steht fest, daß unser Gesetzgeber diese Fortentwicklung unseres Versammlungswesens als unzulässig erklärt hat.

Hat er sich dabei gar nichts gedacht? Führt das in eine Sackgasse ohne Lösung? Geschieht damit Unrecht? Wird dadurch das VersG den veränderten politischen Bewußtseinsförmen unserer Zeit nicht mehr gerecht?

Es erhebt sich die Frage, ob das Grundgesetz einen Ausweg anbietet oder gar die Unzulässigkeitsfeststellung verfassungswidrig ist. c) Spontanaktion und Grundgesetz Das GG fordert nicht, daß Spontanversammlungen von der im § 14 Abs. 1 VersG vorgesehenen Anmeldepflicht ausgenommen werden. Die Verfassungsmäßigkeit des § 14 VersG ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Art. 8 GG. Wenn dort in Absatz 1 allen Deutschen das Recht zugesprochen wird, sich „ohne Anmeldung und Erlaubnis" zu versammeln, so bedeutet die im nächsten Absatz niedergelegte Möglichkeit, dieses „Recht" aufgrund eines Gesetzes für Versammlungen unter freiem Himmel zu beschränken, nichts anderes, als daß für solche Versammlungen eine Anmelde-fund sogar Erlaubnis-) -pflicht normiert werden kann.

Durch § 14 VersG wird das Grundrecht der Versammlungsfreiheit auch nicht in seinem Wesensgehalt (Art. 19 Abs. 2 GG) angetastet. Denn die Anmeldepflicht für Versammlungen unter freiem Himmel nimmt dem Veranstalter einer solchen Versammlung nicht das Recht, zu der Versammlung einzuladen, berührt daher das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht in seiner Grundsubstanz.

Die Anmeldepflicht für Versammlungen unter freiem Himmel ist keine neue Einrichtung; bereits § 8 des Reichsvereinsgesetzes vom 19. April 1908 (Reichsgesetzblatt S. 151) sah vor, daß die Landeszentralbehörde die in § 7 des Gesetzes statuierte Genehmigungspflicht durch eine Anmeldepflicht ersetzen konnte. Dabei war unbestritten, daß Genehmigungswie Anmeldepflicht auch für spontane oder sonstige eilbedürftige Versammlungen galten. Hätte der Gesetzgeber erstmals diese Unterscheidung treffen wollen, so hätte er sie in Art. 8 Abs. 2 GG ausdrücklich niederlegen müssen. Jedoch ist in dem bezeichneten Gesetzesvorbehalt kein Anhaltspunkt in dieser Richtung zu entnehmen.

Aus alledem muß gefolgert werden, daß § 14 Abs. 1 VersG auch insoweit vom Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG gedeckt ist, also eine Anmeldepflicht auch für spontane oder sonstige eilbedürftige Versammlungen festlegt. Das gleiche muß auch für das Auflösungsrecht nach § 15 Abs. 2 VersG gelten.

Wegen des klaren Wortlautes des § 14 Abs. 1 VersG verbietet sich auch eine verfassungskonforme Auslegung in dem Sinne, daß Spontandemonstrationen von der Anmeldepflicht ausgenommen seien

3. Rechtspolitische Abgrenzung

Die Erfassung von Spontanaktionen durch Art. 8 Abs. 1 GG und über Art. 8 Abs. 2 GG durch das Versammlungsgesetz ermöglicht ein Einschreiten gegen Spontanaktionen nach § 15 Abs. 2 VersG.

Diese Lösung entspricht unserer Rechtslage, und wenn diese exakte Ausgangslage dem nur politisch denkenden Menschen möglicherweise auch lebensfremd und hart erscheinen mag, so wird ihre Notwendigkeit doch deutlich, wenn wir uns — bevor wir zur Art des Ein-schreitens kommen — die sogenannte Spontanaktion, die wir (je nach Standpunkt) begünstigen oder reglementieren wollen, ansehen.

Neben den oben angedeuteten „echten" Spontanaktionen gab es in der Vergangenheit eine Reihe (die Mehrzahl) von vorgetäuschten Spontanaktionen Hierbei fanden sich nach und nach zahlreiche, in der Regel durch ge-meinsame politische Auffassungen — zumindest hinsichtlich des Gegenstandes und des Zieles der Aktion bis zum äußeren Aussehen und der Art des Auftretens — verbundene Leute an einer bestimmten Stelle ein (z. B. vor dem Tagungsort eines Parteikongresses, vor einem Konsulat oder einer Behörde) und demonstrierten schweigend oder auch mit Sprechchören, ohne daß erkennbar ein zwingender Grund für eine Willenskundgebung vorlag, die zum Zwecke einer demokratischen Meinungsbildung gerade zu dieser Zeit und an diesem Orte stattfinden müßte.

Einige der Teilnehmer trugen Plakate oder Transparente, andere verteilten Flugblätter oder ließen sich vor den Zielobjekten nieder. Führte die Polizei Ermittlungen wegen des Verdachtes einer Zuwiderhandlung gegen das VersG durch, gaben die Beteiligten — der Personenkreis und der Verteidiger waren zudem meist gleich — in der Regel übereinstimmend an, daß sie sich spontan und ohne Absprache mit anderen an dieser Stelle eingefunden hätten, um aufgrund ihres individuellen Rechtes auf freie Meinungsäußerung gegen bestimmte Vorfälle oder für politische Ziele allein durch ihr persönliches Auftreten Stellung zu nehmen.

Ein verantwortlicher Veranstalter war dann nicht feststellbar, wenn auch in der Regel offenkundig war, daß die angeblich spontanen Aktionen planmäßig vorbereitet, gesteuert und mit Aktionen an anderen Orten zeitlich und inhaltlich perfekt abgestimmt waren. Strafrechtliche Ermittlungsverfahren sind meist ohne Erfolg Derartige vorgetäuschte und planmäßig gesteuerte Aktionen sind Versammlungen im Sinne des Versammlungsgesetzes. Sie erfüllen grundsätzlich auch die Merkmale einer öffentlichen Versammlung.

Sie wollen gegen die Anmeldepflicht unter Berufung auf die „Spontaneität" verstoßen und können daher von der Polizei nach § 15 Abs. 2 VersG (in Bayern in Verbin Abs. 2 VersG (in Bayern in Verbindung mit Art. 7 Abs. 2 AG-VersG vom 14. Juli 1957, GVB 1. Seite 160, in der Fassung vom 15. 12. 1965, GVB 1. S. 346) im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aufgelöst werden.

Wenn man wie Ott 14) u. a. Spontanversammlungen als grundsätzlich erlaubt ansieht und es generell als rechtswidrig betrachtet, ein nach § 15 VersG auch von ihm bejahtes Verbot oder eine Auflösung nur darauf zu stützen, daß die Spontanveranstaltung nicht angemeldet ist, könnte man den vorgetäuschten Spontanaktionen nicht mehr begegnen. Das ist es, was die Befürworter der Unzulässigkeit motiviert; diese reale Betrachtungsweise, das mögliche und geschehene vorsätzliche Ausnützen guter Rechte für alle Zwecke und zu jeder Zeit würdigen Ott u. a. nicht ausreichend oder zu lebensfremd.

Der Gesetzgeber hat durch Art. 8 Abs. 2 GG zu erkennen gegeben, daß es sich keine Gemeinschaft leisten kann, das Versammlungsrecht völlig unkanalisiert zu lassen, damit nicht auf dem Umweg über eine „Dauerspontaneität" permanente Verhältnisse wie Ostern oder um den 28. Mai 1968 oder gar wie in China entstehen können. Wir haben es bei allen Spielarten des Faschismus schon erlebt, wie leicht es ist, „Dauerspontanaktionen" hervorzubringen und so den Boden für revolutionäre Gewaltmaßnahmen zu bereiten.

Die APO 15) rühmt sich bereits dieses revolutionären, nicht mehr nur progressiven Effektes. Nur vor diesem Extrem ist zu warnen, denn das wäre keine Fortentwicklung des politischen Bewußtseins mehr. Wir dürfen beim Versammlungsrecht bei aller wünschenswerten Liberalisierung nicht in den Fehler der Strafrechtsreform verfallen, die Benefizien geben mußte, weil vieles verstaubt war, aber in deutscher Extremmanier Personenkreise mitbegünstigte, die niemand bevorzugen wollte. Das Versammlungsrecht ist dabei nur ein Beispiel für viele andere Vorgänge in unserem Staat (Hochschulreform etc.). Es fehlt das feine Differenzierungsvermögen! Alte Zöpfe sollte man abschneiden, aber nicht mit dem Kopf!

Wie kann aber nun die hier vertretene Ansicht einer zweifellos fortgeschrittenen politischen Bewußtseinsbildung gerecht werden und der echten Ausnahme-Spontanaktion (hierunter fallen auch solche, die sich nach Beendigung einer regulären Veranstaltung bilden) Raum geben, ohne sich übertölpeln (um das Ding beim rechten Namen zu nennen) oder mit Nur-Logik schlagen zu lassen? Nach meiner Ansicht auf eine durchaus befriedigende, die einzige vom Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 31. 1. 1967 angedeutete, von Herzog mit guten verfassungsmäßigen und allgemein polizeirechtlichen Gründen gleichfalls bejahte Weise, nämlich die sinnvolle Anwendung der Ermessensentscheidung aus der Ermächtigung nach § 15 Abs. 2 VersG.

Hier teile ich die Meinung Otts daß solche Aktionen wegen der unterbliebenen Anmeldung allein nicht polizeilich aufgelöst werden können. Maßgeblich für einen unter Ziffer 2 definierten Ausnahmefall können aber nur die jeweilige Sachlage, die objektiven Tatsachen und der objektive Sinn der Versammlung sein, nicht der subjektive oder behauptete Wille der „Veranstalter" Anlaß für solche Spontanaktionen können hiernach nur wenige wichtige Ereignisse sein, die wegen ihres plötzlichen Eintretens, ihrer Tragweite und ihrer Auswirkungen auf die Öffentlichkeit eine sofortige kollektive Meinungsäußerung dazu durch öffentliche Kundgebung hervorrufen.

Für eine solche „echte" Spontanaktion sind alle versammlungsrechtlichen Auflagen möglich, die auch sonst Gegenstand eines Auflagenbescheides nach § 15 Abs. 2 VersG sein können.

Zuständig für den Erlaß wird in der Regel die Polizei sein (in Bayern Art. 7 Abs. 1 Satz 2 AG-VersG); solche polizeilichen und versammlungsrechtlichen Anordnungen fallen dann unter § 80 Abs. 2 Nr. 2 VerwO. Verstöße gegen diese Anordnung können die Voraussetzungen für eine Auflösung nach § 15 Abs. 2 VersG erfüllen.

4. Behördliche Abgrenzung

In die Ermessensentscheidung aus § 15 VersG müssen alle die grundgesetzlichen, Verwaltungs-und polizeirechtlichen Erfordernisse zur Wahrung der Persönlichkeitsverwirklichung, des demokratischen Prinzips, der Versammlungs-und Meinungsfreiheit wie der Zweckmäßigkeit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit einfließen

Ich räume ein, daß hier in der Vergangenheit behördlicherseits hauptsächlich wegen Gedankenlosigkeit und aus Mangel an politischem und demokratischem Gespür manchmal gesündigt wurde. Vielleicht liegen die rechtlichen Konstruktionsversuche, Spontanaktionen als zulässig zu erklären, mit in diesem Mißtrauen begründet. Die Behörden haben sogar manchmal behindernde oder nicht vollziehbare Auflagen gemacht (z. B. in Zweierreihe auf dem Gehsteig zu marschieren, nicht bei besonderen Verkehrsspitzen und an besonders publikums-intensiven Plätzen zu demonstrieren, Verbot zum Betreten von Anlagen oder von Rasen, Hinweise, daß in allen Fällen der Straßenverkehr den Vorrang habe, sowie die Führung von Aufzügen durch Nebenstraßen).

Dieser Bürokratismus aber ist abgelegt; insoweit sind auch bei den Behörden neue Bewußtseinsbildungen erfolgt. Sicher muß zur Klarlegung der Ermessensentscheidung noch manches Recht erfochten, manche Abhandlung geschrieben, manches Beamtendenken umgeformt werden (insoweit sind Extremmeinungen wie die von Ott nicht umsonst).

Um diese Ermessensentscheidung wird derzeit gerade in der Polizei gerungen So setzt sich Gintzel mit dem Hinweis von Hannover in der „Zeit" auseinander, das subjektive Ermessen eines Beamten entscheide über die Grenzen eines Grundrechtes. Er weist auf die Nachprüfbarkeit des Ermessens der Polizei durch das Verwaltungsgericht, aber auch zutreffend auf die Gesichtspunkte des Ermessens bei der Frage der Spontanentscheidung hin. Er postuliert Gerechtigkeit im Einzelfall und verwendet sie mit dem Hinweis, daß gerade die Ermessensentscheidung durch die Kann-Bestimmung das Grundrecht gewährleistet und ermöglicht. Schließlich behandelt er überzeugend alle Abgrenzungsprobleme und die daraus entstehenden Konfliktsituationen des Polizeibeamten, zumal bei der nur in diesen Situationen aufkommenden schwierigen ad hocEntscheidung. Auch die Polizei weiß, daß diese Ermessensentscheidung letztlich unter dem Grundsatz in dubio pro libertate stehen muß.

5. Ergebnis und Folgerungen

I. 1. Spontanaktionen sind Veranstaltungsformen des Versammlungswesens.

2. Spontanaktionen fallen unter das VersG. 3. Spontanaktionen sind grundsätzlich unzulässig. 4. Für echte Spontanaktionen sind alle versammlungsrechtlichen Auflagen möglich.

5. Echte Spontanaktionen sind nicht wegen unterlassener Anmeldung allein auflösbar (§ 15 Abs. 2 VersG).

II. Wir leben in einem Normativrecht. Daher würde es unserer Vorstellung von Rechtssicherheit dienen und dem Vollzug helfen, wenn künftig nicht die Ermessensentscheidung aus § 15 Abs. 2 VersG zur Anerkennung dieser neuen politischen Bewußtseinsform benützt werden müßte, sondern diese Ausnahmesituation positiv-rechtlich geregelt würde

Es wäre auch politisch sinnvoll, die bedeutendste Gestaltungsform des Versammlungswesens nicht durch ausnahmsweisen Gnadenakt zu gewähren (§ 15 Abs. 2), sondern das Ausnahmerecht zu normieren und dadurch zu manifestieren. Der Weg über § 15 Abs. 2 VersG ist „nur" rechtsstaatlich, jener der Normierung hingegen zugleich demokratisch.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Besser als Spontan„versammlungen", weil sie nur eine von mehreren möglichen Gestaltungsformen und ein Unterfall der Versammlung sind.

  2. Eine Absprache von Teilnehmern in dem Sinne, unverzüglich eine Demonstration zu veranstalten, ist keine Einladung oder Organisation (vgl. Sieg-hart Ott, Das Recht auf freie Demonstration, Neuwied u. Berlin 1967).

  3. Vgl. hierzu Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 31. 1. 67 — (NJW 67, S. 1191).

  4. Beispiele hierfür sind: Der Aufstand in OstBerlin am 17. 6. 1953, der Mauer-Bau in Berlin im Jahre 1961, Kennedy-Tod 22. 11. 1963, Ohnesorge-Tod 5 6. 1967, Dutschke-Attentat 11. 4. 1968 (allerdings mit recht gut koordinierten Maßnahmen innerhalb des Bundesgebietes); auch der Einmarsch der Sowjets in der Tschechoslowakei am 21. 8. 1968 wäre ein solcher Anlaß gewesen!

  5. So vor allem OLG Hamm am 16. 8. 1956, in: Neues Polizeiarchiv, Februar 1958, S. 891.

  6. A. a. O., S. 55/56.

  7. In: Bayer. Verwaltungsblätter 3/68, S. 78, Änmerk. 10.

  8. In: Die Polizei 7/68, S. 215.

  9. Anderer Ansicht ist Neuberger in Deutsche Richterzeitung 10/68, S. 349/350.

  10. Ott, a. a. O„ S. 56.

  11. Das Bundesverwaltungsgericht deutet demnach in seinem Urteil vom 31. 1. 1967 in dieser Richtung auch nur eine „mildernde Regelung über §§ 15 Abs. 2, 14, 26 VersG" an.

  12. Geplante „Spontan" aktionen in München waren beispielsweise:

  13. Anderer Meinung ist Ott a. a. O., S. 58.

  14. APO press Nr. 22, 28. 10. 1968, vornehmlich die Beilagen III ff.

  15. DVB 1. 3/68 S. 78 Sp. 2 am Ende zu II.

  16. A. a. O., S. 60.

  17. Vgl. hier besonders die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 31. 1. 1967.

  18. So auch Herzog a. a. O.

  19. Siehe Görlach in: Die Neue Polizei, Heft 2/1968 S. 23.

  20. Die Polizei 7/68, besonders S. 215, Spalte 2 ff.

  21. Vom 3. 5. 1968.

  22. Das Bayer. Staatsministerium des Innern hat auf dem Richtlinienweg dazu bedeutende Ausführungen gemacht und entsprechende Möglichkeiten aufgezeigt.

Weitere Inhalte

Manfred Schreiber, Dr. jur., geb. 3. April 1926, Polizeipräsident in München.