Die Parteiendemokratie
Unsere Demokratie wird sowohl von den Verfassungsrechtlern als auch von den politischen Soziologen als eine parteienstaatliche bezeichnet. Mit Recht so, sie ist es. Die Analyse einer aus diesem System herausdrängenden Bewegung muß deshalb mit der Diagnose des bestehenden Zustandes beginnen.
Zur Bestandsaufnahme über Grad und Ausmaß, in dem sich unsere Demokratie zu einer Parteiendemokratie entwickelt hat, zitiere ich einige Sätze von Johannes Gross, also von einem Mann, der der Neigung zum Anarchismus und zur Freude am Umsturz gewiß nicht leicht verdächtigt werden kann:
„Wer politische Karriere machen will in der Bundesrepublik, muß es über die politischen Parteien und den Bundestag tun."
„Die gegenüber der Weimarer Republik und im Verhältnis zu den kontinentalen europäischen Nachbarn ebenfalls sehr auffällige Verfestigung der deutschen Parteiendemokratie offenbart sich nicht zuletzt in der Aussichtslosigkeit der Rolle des politischen Außenseiters." „Unter normalen Verhältnissen genügt die übliche 5 °/o-Klausel der Wahlgesetze, die Heraufkunft einer neuen Partei unmöglich zu machen; schon nach anderthalb Jahrzehnten Bundesrepublik hat der Versuch einer neuen politischen Partei den Anblick des Verzweifelten, Aussichtslosen und Absurden."
Soweit Johannes Gross. Wenn dieser Autor hier von der Außenseiterrolle spricht — die an und für sich zum demokratischen Integrationsprozeß dazugehört und die als Abgrenzungskriterium und dialektischer Widerpart notwendig ist — und sie als „verzweifelt, aussichtslos und absurd" bezeichnet, so zeigt sich damit schon die erste Antwort auf unser Thema: Die Abdrängung der Außenseiterfunktion in eine solche Position bewirkt notwendig Gefühle der Frustrierung, die ihrerseits dann nicht ohne ganz handfeste Folgen bleiben können. Seit den grundlegenden Arbeiten von Mitscherlich dürfte ja wohl auch die psychoanalytische Methode zu den anerkannten Mitteln der Diagnose politischer Zustände gehören. Unter den vielfältigen Ursachen, die der angedeuteten Entwicklung der Parteiendemokratie zugrunde liegen, will ich mich, der gegebenen Themenstellung folgend, auf die rechtlichen Aspekte konzentrieren. Der Ausgangspunkt ergibt sich dabei aus zahlreichen Regelungen des Grundgesetzes, die bei einer kritischen Gesamtwürdigung schon frühzeitig bezeichnet worden sind als „Mediatisierung des Volkes durch die Parteien". Ich erwähne in diesem Zusammenhang außer der in Art. 21 GG enthaltenen Funktionsgarantie der Parteien, also ihrer Transformierung aus dem gesellschaftlichen in den staatsorganschaftlichen Bereich, die Bestimmungen des Grundgesetzes, die Erscheinungen der direkten Demokratie weitgehend ausschließen. Es gibt, von gesamtpolitisch bedeutungslosen Ausnahmen abgesehen, weder Volksbegehren noch Volksabstimmungen, und auch eine Wahl des Bundespräsidenten durch das Volk ist nicht vorgesehen. Hinzu kommt die Entscheidung des Verfassunggebers für einen Bundesrat an Stelle der als andere Möglichkeit auch erwogenen Senatslösung, die zu der polemischen Bezeichnung eines „Parteienbundesstaates" geführt hat; denn auch die im Bundesrat handelnden Landesregierungen bestehen ja aus Politikern, die den gleichen Parteien angehören, die auch das Bild des Bundestages bestimmen.
Die Parteien haben nun nicht gezögert, und zwar hier mit einer sonst im politischen Leben nicht immer anzutreffenden Eintracht, diese ihnen von der Verfassung gegebene bevorzugte Ausgangsstellung auf dem Wege der Gesetzgebung weiter auszubauen, zunächst auch durchaus sekundiert von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Ich erwähne hier nur als „Merkposten" die in den Wahlgesetzen vorgesehenen technischen Erleichterungen, z. B. bei der Einreichung von Wahlvorschlägen und der Kandidatenaufstellung, die staatliche Parteienfinanzierung, den Zugang zu den Propagandamitteln des Rundfunks und des Fernsehens, die aus dem Verbotsmonopol des Bundesverfassungsgerichts abgeleiteten Privilegierungen in Form einer erhöhten Bestandsgarantie sowie einer Schutz-garantie für die Funktionäre, sowie vor allem die noch besonders zu erörternden Sperrklauseln gegen Splitterparteien in den Wahlgesetzen.
Eine zunächst noch behutsame gegenläufige Tendenz zeichnete sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zuerst im Jahre 1960 ab, als eine Reihe von Kommunalwahl-gesetzen für verfassungswidrig erklärt wurde, weil die großen Parteien ihre Privilegien dahin auszunutzen versucht hatten, nunmehr auch im engen ortsgebundenen und regional-politisch begrenzten Bereich alle konkurrierenden Kräfte auszuschalten. Von politisch noch größerer Bedeutung war die 1966 ergangene Entscheidung über die Parteienfinanzierung (BVerfGE 20, 56), die auch auf diesem Gebiet Grenzen für den unbefangenen Zugriff der etablierten Parteien auf die Möglichkeiten staatlicher Gesetzgebung aufgezeigt hat. Das Urteil vom 3. 12. 1968 über die Berechtigung auch der kleineren Parteien, an der Wahlkampfkostenerstattung teilzunehmen, hat diese Linie fortgeführt. Beide Entscheidungen sind um so bedeutungsvoller und eingreifender, als noch in den Jahren 1958 und 1961 eine staatliche Parteienfinanzierung prinzipiell für zulässig erklärt worden war. Hier hat sich also offenbar die Betrachtungsweise des Bundesverfassungsgerichts schon um einiges geändert.
Als vielleicht wichtigster Faktor zur Absicherung des bestehenden parteienstaatlichen Systems hat sich aber die 5 %-Klausel in den Wahlgesetzen erwiesen, die ja auch Johannes Gross als wesentliches Mittel zur Verhinderung einer Heraufkunft neuer Parteien erwähnt hat. In der Entscheidung vom 23. Januar 1957, in der das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung bestätigt hat, wird dazu ausgeführt: „Die Wahl hat aber nicht nur das Ziel, den politischen Willen der Wähler als einzelner zur Geltung zu bringen, also eine Volksrepräsentation zu schaffen, die ein Spiegelbild der im Volk vorhandenen politischen Meinungen darstellt, sondern sie soll auch ein Parlament als funktionsfähiges Staatsorgan hervorbringen. Würde der Grundsatz der getreuen verhältnismäßigen Abbildung der politischen Meinungsschichtung im Volk bis zur letzten Konsequenz durchgeführt, so könnte sich eine Aufspaltung der Volksvertretung in viele kleine Gruppen ergeben, die die Mehrheitsbildung erschweren oder verhindern würde. Große Parteien erleichtern die Zusammenarbeit innerhalb des Parlaments, weil sie in sich bereits einen Ausgleich zwischen verschiedenen Volkskreisen und deren Anliegen vollziehen. Der unbegrenzte Proporz würde die Möglichkeit schaffen, daß auch solche kleinen Gruppen eine parlamentarische Vertretung erlangen, die nicht ein am Gesamtwohl orientiertes politisches Programm vertreten, sondern im wesentlichen nur einseitige Interessen verfechten. Klare und ihrer Verantwortung für das Gesamtwohl bewußte Mehrheiten im Parlament sind aber für die Bildung einer nach innen und außen aktionsfähigen Regierung und zur Bewältigung der sachlichen gesetzgeberischen Arbeit erforderlich. Es ist also ein aus der Natur des Sachbereichs , Wahl der Volksvertretung'sich ergebendes und darum eine unterschiedliche Bewertung des Erfolgswertes der Stimmen rechtfertigendes Kriterium, nach der größeren Eignung der Parteien für die Erfüllung der Aufgaben der Volksvertretung zu differenzieren. Mit dieser Begründung dürfen daher sogenannte . Splitterparteien'bei der Zuteilung von Sitzen in der Verhältniswahl ausgeschaltet werden, um Störungen des Verfassungslebens vorzubeugen.
Der Gesetzgeber darf Differenzierungen in dem Erfolgswert der Stimmen bei der Verhältniswahl vornehmen und demgemäß die politischen Parteien unterschiedlich behandeln, soweit dies zur Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung des Volkes, im Interesse der Einheitlichkeit des ganzen Wahl-systems und zur Sicherung der mit der Parlamentswahl verfolgten staatspolitischen Ziele unbedingt erforderlich ist. Zu diesen zulässigen Sicherungen gehören die Sperrklauseln, die Parteien benachteiligen, die einen bestimmten Hundertsatz der Gesamtstimmenzahl nicht erreicht haben" (BVerfGE 6, 92/93). Entscheidendes Kriterium für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieses Wahlsystems ist danach die Einsicht in die Erfordernisse des demokratischen Integrationsvorgangs. Es wird ein bewußtes Opfer an der Substanz demokratischer Repräsentation gebracht, um die Funktionsfähigkeit des Parlamentes als des wichtigsten Staatsorgans zu gewährleisten. Hier zeigen sich die Sachzwänge, die sich aus der Na-tur des modernen Staates, aus seiner Aufgabe der Daseinsvorsorge und Dienstleistungsgewährung in der industrialisierten Massengesellschaft ergeben, die es einfach nicht mehr als verantwortbar erscheinen lassen, dem Wunsch nach Erreichung ideal-perfektionistischer Demokratievorstellungen die Belange technischer Funktionsfähigkeit seiner Organe schlechthin unterzuordnen.
Das außerparlamentarische Vorfeld
Hier scheint mir die eigentliche staatspolitische und verfassungsrechtliche Ursache für das Entstehen einer aktiven APO zu liegen. Es beruht auf dem Defizit an demokratischer Repräsentation, das aus diesen technischen Sachzwängen der Staatsgestaltung herrührt. Das politische Spektrum umfaßt nun mal eigentlich eine Farbenskala, die auch ein Quantum von Radikalität verschiedener Provenienz enthält. Vom Ideal der Demokratie her sollte auch sie innerhalb der rechtlich verfaßten Ordnung eine institutionalisierte Plattform finden. Kann ihr diese — und wie ich glaube, aus überzeugenden praktischen Gründen — nicht gewährt werden, wird sie in den außerparlamentarisch-politischen Raum abgedrängt, wie wir es jetzt erleben. Damit wird zwar der Staat in seinem organisatorisch geordneten und institutionell verfaßten Innenbereich gegen die mit radikalen Tendenzen immer verbundenen Störungserscheinungen abgesichert, jedoch bringt dies keine endgültige Lösung, wie man zeitweilig angenommen haben mochte. Es bedeutet lediglich eine Verlagerung des Kampfplatzes, wobei die Auseinandersetzung noch dadurch an Schärfe zunehmen kann, daß die rechtlich formalisierten Kanäle der politischen Auseinandersetzung und damit die Notventile für emotionalen Überschwang fehlen.
Gewiß sind auch noch andere Ursachen maßgeblich als die hier von mir — dem Thema entsprechend — in den Vordergrund gerückten verfassungsrechtlichen und -politischen, die zu der Erscheinung der APO in ihrer heutigen Gestalt geführt haben. Die mit dem Verschleiß aller Ideen und Ideologien in der jüngeren deutschen Geschichte und damit der Versachlichung aller politischen Entscheidungsinhalte zusammenhängende Entideologisierung der großen Parteien hat zu einer Unterversorgung im Angebot von Gefühlsinhalten, Idealen und Utopien geführt. Das wird von einer Generation als Verarmung und Mangel empfunden, die nicht mehr die Nullpunkte ihrer WertmaßStäbe ausrichtet am Erlebnis der NS-Diktatur und dem Elend der Kriegs-und Nachkriegsjahre, sondern ihren Orientierungspunkt sucht in theoretisch-idealisierenden utopischen Gedankensystemen. Im individuellen Einzelfall mag noch manche Existenzangst in einer für viele unverständlich gewordenen Welt hinzukommen, die der Mehrzahl der Menschen nur noch die Möglichkeit zu einer, um mit Mitscherlich zu sprechen, „spurlosen Existenz" anzubieten scheint.
Als Fazit aus all dem bleibt festzuhalten: In der gegenwärtigen Situation hat sich durch die Verengung des Spielraums für die staatliche Willensbildung, die mit der verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Absicherung des von den großen Parteien geprägten Machtgefüges einhergeht, ein politisch-vorparlamentarischer Raum gebildet. Auf diesem Feld werden im gesellschaftlichen Raum politische Funktionen übernommen, die im verfassungsrechtlich geregelten formell-politischen Raum keine institutionalisierte Heimstatt mehr finden.
Weder aus dem Sinngehalt unserer Verfassung noch aus der demokratischen Idee heraus brauchen jedoch hiergegen Bedenken angemeldet zu werden. Im Gegenteil: Der außer-parlamentarische politische Raum schließt hier eine Lücke, die sonst auf die Dauer gefährlich werden könnte.
Jedes etablierte System ist von der Gefahr der Selbsterstarrung bedroht. Mangelt es an den zur Erhaltung der inneren Lebendigkeit und Flexibilität erforderlichen Impulsen zur ständigen Selbst-in-Frage-Stellung des Systems, seiner Institutionen und eingeschliffenen Denkgewohnheiten, bedarf es der Stimulantien von außerhalb des in sich geschlossenen System-kreislaufes.
Das gilt insbesondere für eine Epoche, die wie die unsere als ihr Lebensgesetz auf eine ständige Veränderung hin angelegt sein muß. In diesem Sinne erfüllt, so glaube ich, eine APO, oder wie man eine solche Erscheinung sonst bezeichnen mag, eine für uns derzeit geradezu lebenswichtige Funktion, indem sie als Instrument der Vorbereitung und des Nachschubes politischer Ideen und Aktivitäten aus dem gesellschaftlichen in den politischen Raum dient. Daß sie diese Aufgabe auch wirklich zu erfüllen vermag, hat sich, um einen aktuellen Bezug hinzuzufügen, in letzter Zeit auf dem Gebiet der Hochschulpolitik gezeigt. Wesensbestimmende Strukturprinzipien unseres staatlichen Lebens werden durch solche Erscheinungen und Entwicklungen nicht verletzt. In seinem Urteil über die Zulässigkeit der Gesetze über eine Volksbefragung zur Frage der atomaren Aufrüstung in einigen deutschen Ländern hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, daß „die im gesellschaftlich-politischen Raum erfolgende Bildung der öffentlichen Meinung und die Vorformung der politischen Willensbildung des Volkes sich ungeregelt und durch alle verfassungsrechtlich begrenzten Kompetenzräume hindurch unter Mitbeteiligung aller lebendigen Kräfte nach dem Maß ihres tatsächlichen Gewichts und Einflusses" vollzieht (BVerfGE 8, 115).
Und in dem Urteil, in dem die früher praktizierte Form der Parteienfinanzierung für verfassungswidrig erklärt wurde, heißt es:
„In einer Demokratie muß sich die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin vollziehen."
„Die Parteien wirken an der politischen Willensbildung des Volkes mit. Sie haben aber kein Monopol, die Willensbildung des Volkes zu beeinflussen. Neben ihnen wirken auch die einzelnen Bürger und vor allem Verbände, Gruppen und Vereinigungen auf den Prozeß der Meinungs-und Willensbildung ein" (BVerfGE 20, 99/114).
Nach dieser Interpretation des im Grundgesetz niedergelegten Verständnisses des demokratischen Prinzips kann es wohl keinem Zweifel unterliegen, daß eine im freien gesellschaftlichen Raum erfolgende politische Aktivität einer sich als APO verstehenden Kraft mit dem unsere Verfassung bestimmenden Begriff der demokratischen Legitimität voll vereinbar ist.
Diese Feststellung hat Konsequenzen nicht nur für eine politische Würdigung dieser Erscheinung, sondern sie hat auch rechtliche Auswirkungen. Sie besagt nämlich, daß eine in diesem Rahmen sich entfaltende Aktivität jedenfalls prinzipiell vom Freiheitsrecht der Bürger gedeckt ist und damit vollen Umfanges am Grundrechtsschutz teilhat. Eine Deklassierung a limine oder eine prinzipielle Diskriminierung, etwa gestützt auf die stillschweigend vorausgesetzte Unterstellung, es handele sich um ein die demokratische Verfassungsordnung störendes Element, wäre daher verfassungswidrig. Aus dieser Feststellung ergeben sich zwingende Wertmaßstäbe, die zumindest überall dort zu beachten sein werden, wo es sich bei der Anwendung der staatlichen Macht durch die Behörden und Gerichte um die Ausübung eines Ermessens oder die Ausfüllung sonstiger Spielräume zu wertender Entscheidung handelt, z. B. bei der Strafzumessung.
Das Demonstrationsrecht
Diese Erwägungen leiten über zu der Frage, wie denn nun das Erscheinungsbild des tatsächlichen Wirkens der APO rechtlich zu beurteilen sei, wobei ich die allgemein vermeldeten Geschehnisse als bekannt voraussetze.
Es handelt sich hierbei vor allem um das soge-nannte „Demonstrationsrecht", das zwar als solches nicht in der Verfassung steht, bei dem es sich aber um ein mixtum compositum aus den Grundrechten auf Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit handelt, wobei wiederum der Schwerpunkt auf der Versammlungsfreiheit liegt. Hier sieht nun das Grundgesetz in Art. 8 Abs. 2 vor, daß das Recht der Versammlungsfreiheit für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden kann. Durch das Versammlungsgesetz ist das in der Weise geschehen, daß eine Anzeigepflicht 48 Stunden vorher bei der Behörde besteht und diese die Befugnis hat, „wenn nach den Umständen die öffentliche Ordnung oder Sicherheit unmittelbar gefährdet" ist, ein Verbot auszusprechen oder Auflagen zu erteilen. Unter den gleichen Voraussetzungen kann eine Versammlung — ebenso wie eine nicht-angemeldete Versammlung — aufgelöst werden. In der Praxis geht es vor allem um ein verfassungsgerechtes Verständnis dieser Rechtsvorschriften.
Zunächst ist festzuhalten, daß eine Auffassung, die schon in einer Demonstration als solcher schlechthin und grundsätzlich ein Element der Ordnungsstörung sähe, nicht der Wertent-B Scheidung des Grundgesetzes entspräche. Zwar ist dies die Auffassung eines großen Teiles der deutschen Bevölkerung, wie Meinungsumfragen und gelegentlich das tatsächliche Verhalten des Mannes auf der Straße erkennen lassen, aber hier handelt es sich um Folgen des in Deutschland bestehenden Nachholbedarfs an Erziehung zu demokratischer Einstellung. Man kann sich leider nicht damit trösten, daß die Vertreter der Staatsgewalt mit Sicherheit demokratisch bewußter seien. Manche auf diesem Gebiet ergangene Polizeiverfügung läßt deutlich die Vorstellung der Obrigkeit erkennen, bei Demonstrationen handele es sich um allenfalls ausnahmsweise hinzunehmende Störungen des Wohlverhaltens in der Öffentlichkeit, deren Duldung an enge Voraussetzungen zu knüpfen sei. Selbst bei unserem demokratischen Gesetzgeber steht es nicht unbedingt besser. Die Straßen-und Wegegesetze sehen einen Gemeingebrauch der öffentlichen Straßenfläche nur für Zwecke des Verkehrs vor, und bei den die Verkehrsregelung als solche enthaltenden Rechtsvorschriften verhält es sich nicht anders. Das im Grundgesetz enthaltene Grundrecht der Versammlungsfreiheit und das daraus abzuleitende allgemeine Recht auf Demonstrationen auf den für den Gebrauch der Allgemeinheit gewidmeten Flächen hat man schlicht vergessen. Bei der Rechtsanwendung im Einzelfall wird jeweils gründlich zu prüfen sein, ob man mit den Mitteln verfassungskonformer Auslegung helfen kann oder ob sich die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der anzuwendenden Rechtsnorm selbst unausweichlich stellt.
Nach der Regelung des Grundgesetzes erscheint mir die Konsequenz zwingend, daß zur „öffentlichen Ordnung" im verfassungsrechtlich richtig verstandenen Sinne auch und gerade die Möglichkeit gehört, unbehindert demoussieren zu dürfen. Zwar steht bei uns, wie jemand kürzlich scherzhaft bemerkte, der Straßenverkehr dicht vor der „Heiligsprechung", doch kommt ihm keineswegs ein grundsätzlicher Vorrang vor dem Demonstrationsrecht zu, vielleicht mit Ausnahme einiger Verkehrsanlagen mit spezieller Zweckbestimmung, etwa den Autobahnen und Bundesfernstraßen und den dazugehörenden städtischen Zubringeranlagen. Sonst aber muß gelten, auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung und manche Obrigkeiten hieran noch nicht gewöhnt sein sollten: Der Gemeingebrauch an der öffentlichen Verkehrsfläche umfaßt das Recht zum Straßenverkehr und zur Demonstration in gleicher Weise. Die Belange beider Zwecke wird die Behörde gegeneinander abzuwägen und abzugrenzen haben, wobei im Rahmen der Ermessensbetätigung die grundgesetzlichen Wertmaßstäbe im Vordergrund zu stehen haben. Letztlich wird es in vielen Fällen bei der rechtlichen Bewertung solcher behördlicher Entscheidungen wiederum auf die Leitgedanken hinauslaufen, die das Bundesverfassungsgericht erstmals im so-genannten Lüth-Urteil zur Meinungsfreiheit entwickelt hat (BVerfGE 7, 198). Das Grundrecht wird zwar durch ein Gesetz eingeschränkt, dieses einschränkende Gesetz muß sich aber seinerseits an den Wertmaßstäben der Verfassung orientieren, zu denen eben auch der Wert-gehalt des eingeschränkten Grundrechts gehört. Das bedeutet im Ergebnis materielle Schranken für die Einschränkungsbefugnis des einfachen Gesetzgebers und entsprechende Auslegungsgrundsätze für die solche Gesetze anwendenden Gerichte. Diesen zugegebenermaßen etwas komplizierten Gedankengang hat man zwar als „Schaukeltheorie" bezeichnet, doch wird von den Kritikern, die hier auf einen Mangel an begrifflicher Schärfe und dogmatischer Exaktheit hinweisen, übersehen, daß es hier um die Abwägung und Gegenüberstellung verfassungsrechtlicher Wertgehalte geht. Ein solcher Entscheidungsprozeß läßt sich nicht in gleicher Weise zu eindeutigen Ergebnissen führen wie die Frage nach der Verpflichtung aus einem Wechsel oder nach der Rangfolge der Hypotheken im Grundbuch.
Ihre verfassungsrechtlich-dogmatische Wurzel hat diese, wie man vielleicht etwas respektvoller sagen könnte, „Theorie der Wechselwirkung" darin, daß Grundrechte — und damit unterscheiden diese sich von den meisten anderen Rechtsnormen — zumeist eine mehrdimensionale Wirkung haben, etwa zugleich als subjektives Recht, Institutsgarantie und wert-entscheidende Grundsatznorm. Daraus kann dann eine gewissermaßen aufgefächerte Wirkung entstehen dergestalt, daß der Gesetzgeber zwar in Ausnutzung des Gesetzesvorbehalts das Grundrecht in seiner Funktion als subjektives Recht einschränken darf, bei Gestaltung und Anwendung des einschränkenden Gesetzes aber der Wertmaßstäbe setzende Gehalt des Grundrechts wiederum zu beachten ist.
Bei Anwendung dieser Grundsätze auf unser Problem, nämlich Güterabwägung zwischen Demonstrationsrecht und öffentlicher Ordnung, lassen sich zwar keine Patentrezepte für die Alltagsarbeit der Behörden und Gerichte, wohl aber doch einige hinreichend konkretisierbare Orientierungspunkte und Leitlinien auffinden.
Das gleiche Recht der „anderen"
Zunächst gilt auch hier die ganz grundsätzliche Regel, daß das Recht des einen seine Schranke findet am gleichen Recht des anderen. Im Hinblick auf die Aufteilung der öffentlichen Verkehrsfläche auf die verschiedenen Benutzungsinteressen ist dieser Gedanke gewiß keine umstürzende Neuigkeit: Gemeingebrauch erlaubt seit je nur ein Verhalten im Rahmen des Gemeinverträglichen. Die sich hieraus ergebenden Rechte der jeweils anderen, die die Behörde unter dem Etikett der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zu berücksichtigen und im Rahmen der Güter-und Interessenabwägung bei der Entscheidung über die Duldung einer Demonstration zu beachten hat, haben auch ihrerseits verfassungsrechtlichen Wertgehalt.
Hier kommt nämlich eine Erscheinung zum Zuge, die man als die „Umkehrwirkung" der Grundrechte bezeichnen könnte. Sie ist viel erörtert worden in bezug auf Art. 9 GG und die sogenannte „negative Koalitionsfreiheit" und hat auch eine große Rolle gespielt bei der Auslegung des Art. 4 GG im Zusammenhang mit dem Streit in Hessen um die Zulässigkeit des Schulgebetes. Die dort entwickelten Prinzipien gelten aber auch für andere Grundrechts-bereiche. Das Recht auf freie Meinungsäußerung schließt das Recht ein zu schweigen. Das Recht auf freie Information gewährt zugleich die Befugnis, nicht hinzuhören. Ein etwa zu schaffendes Recht auf Bildung würde zugleich die Möglichkeit gewähren, in ganz legaler Weise dumm zu bleiben. Fast könnte man aus der Summe der Grundrechte in ihrer jeweiligen Umkehrwirkung ein gewisses Pendant zu dem Grundfreiheitsrecht des Art. 2 entwickeln: ein generelles Grundrecht aller Bürger, in Ruhe gelassen zu werden, wobei ich im übrigen glaube, daß ein solches Grundrecht noch nicht einmal als das unwichtigste oder bedeutungsloseste bezeichnet werden sollte.
Zu der von den Behörden im Sinne des Versammlungsgesetzes zu wahrenden öffentlichen Ordnung gehört danach auch das Recht der Nichtdemonstrierenden, von den Demonstranten unbehelligt gelassen zu werden. Die Unbeteiligten brauchen es sich nicht gefallen zu lassen, Objekt gezielter Einwirkung seitens anderer zu werden, und sie können von den Organen der Staatsgewalt Schutz hiergegen beanspruchen. Nun darf dieser Gesichtspunkt allerdings nicht dahin mißverstanden werden — und das ist sicher wichtig zu betonen —, daß die Konfrontation mit der Meinung Andersdenkender als Störung in diesem Sinne zu verstehen sei, obwohl sicher ein nicht geringer Teil der deutschen Bevölkerung so fühlen wird. Im psychologischen Sinn mag es zwar als unlusterregend und deshalb als Störung empfunden werden, wenn durch die Berührung mit der Meinung Andersdenkender vielleicht schmerzhafte Prozesse des Nachdenkens ausgelöst werden oder wenn lästige Zweifel an der Berechtigung des eigenen, bisher vielleicht ziemlich unartikuliert vertretenen Standpunktes auftreten sollten. Ganz lästig und deshalb im höchsten Grade unbequem wäre sicher eine dadurch etwa ausgelöste Erkenntnis der eigenen Meinungslosigkeit. Solche seelischen Zustände oder Bewußtseinslagen im Publikum oder einem Teil desselben wären gewiß keine Störungen im Rechtssinne. Das Grundgesetz verlangt von allen aktive Toleranz. Das Gebrauchmachen von der Meinungs-und Versammlungsfreiheit durch die jeweils Anders-denkenden muß von jedermann ertragen werden, allerdings aber auch nicht mehr, nämlich nicht darüber hinaus die persönliche Störung, die weiter geht als im Rahmen des Gemein-verträglichen unvermeidbar mit der Darstellung des eigenen Standpunktes verbunden ist.
Wir kommen also auch hier wieder auf den Grundsatz der Gemeinverträglichkeit unter grundsätzlich gleicher Wahrung der Rechte aller, sowohl derjenigen, die aktiv handeln, als auch derjenigen, die passiv unbehelligt bleiben wollen. Welche materiellen Kriterien können hier nun helfen, die Grenze zu finden?
Ich glaube, man wird sie finden können, indem man sich auf den eigentlichen Zweck und das Wesen der Demonstration besinnt. Sie ist — oder jedenfalls soll sein — ein Element des Meinungskampfes. Sie dient der besonders nachdrücklichen Selbstdarstellung der Demonstranten und der besonders wirksamen Verkündung der eigenen Meinung. Sie trägt damit ein positives, gewissermaßen affirmatives Element in sich: „Seht alle her, das sind wir, und das denken und wollen wir." Dieser Meinungsinhalt, dessen Propagierung die Demonstration dient, kann natürlich auch in der Ablehnung irgendeines anderen Standpunktes oder in dem Protest gegen ein Ereignis oder Geschehen bestehen. Immer aber ist es die Bekundung einer eigenen Überzeugung, die der Veranstaltung das Gepräge gibt und damit auch die Elemente ihres rechtlichen Charakters bestimmt. Dieses wesensbestimmende Merkmal der Demonstration ist danach dann nicht erfüllt, und in solchen Fällen kommt es damit zu einem Mißbrauch des Instruments „Demonstration", wenn nicht die Verbreitung und Propagierung der eigenen Meinung mit dem Ziel der geistigen Wirkung auf die Mitbürger das Ziel ist, sondern der Versuch, mit dem Mittel der Demonstration das zu verhindern, was andere ihrerseits rechtmäßig tun wollen. Wer also eine Demonstration veranstaltet oder an ihr teilnimmt, um rechtmäßig stattfindende Veranstaltungen zu stören oder völlig zu verhindern, um andere Personen an der freien Fortbewegung — auch im Straßenverkehr — zu hindern oder gar öffentliche Verkehrsmittel überhaupt lahmzulegen, handelt mit einer Zielrichtung, die vom verfassungsmäßigen Demonstrationsrecht nicht mehr als gedeckt angesehen werden kann.
Ich wiederhole: Die Demonstration ist das Instrument der Selbstdarstellung, nicht aber der Behinderung anderer oder gar der Ausübung gesellschaftlichen Zwanges. Ist ihr Sinn vorwiegend oder gar ausschließlich die Erzeugung eines Störeffektes gegenüber anderen, wobei, wie auch sonst im Recht, die subjektive Absicht aus den objektiv feststellbaren Tatbestandsmerkmalen erschlossen werden muß, ist ihr Zweck die Erzielung einer Obstruktionswirkung gegen rechtmäßiges Handeln anderer Bürger, so wird eine derart verstandene Demonstration zu einem Machtmittel, mit dem die verfassungsmäßigen Rechte auf eigene Handlungsfreiheit und Freiheit von illegalem Zwang bei den anderen verletzt werden. Dadurch werden nicht nur diese Rechte der anderen, sondern zugleich die öffentliche Ordnung gestört.
Dieser Abgrenzungsmaßstab zwischen rechtmäßiger und rechtswidriger Demonstration ist im übrigen bereits im Text des Grundgesetzes angelegt, wenn es dort in Art. 8 Abs. 1 heißt, daß die Versammlungsfreiheit für „friedliche" Versammlungen gilt. Die gezielte Störung des rechtmäßigen Verhaltens anderer und damit die Ausübung von direktem oder indirektem Zwang — und wenn diese anderen auch nichts weiter tun wollen, als mit der Straßenbahn nach Hause zu fahren — kann nicht als friedlich angesehen werden.
Andererseits läßt sich auch nicht übersehen, daß die Behörden gelegentlich dazu neigen, ihre Aufgabe zu verkennen, daß im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips und unter angemessener Berücksichtigung der Rechte anderer von ihnen Gelegenheit und Raum zur legalen Demonstration zur Verfügung gestellt werden muß, auch wenn damit gewisse Unbequemlichkeiten und Reibungen im glatten Ablauf des täglichen Lebens verbunden sein sollten.
Der demokratische Prozeß
Vertreter der APO werden einen großen Teil der von mir gebrachten Argumente ganz grundsätzlich nicht anerkennen, sondern mir vorwerfen, ich hätte in steriler Weise mit dem verstaubten Begriffsarsenal des Establishments operiert. Ich will diesen Vorwurf antizipieren und mich gleich mit ihm auseinandersetzen. Das Auffallende an der APO ist, daß es so schwerfällt, dort eine eigene Sachauffassung zu entdecken, die als ein Beitrag zum Konzert der materiellen Meinungen gelten könnte. Dutschke hat sich einmal zu dem leitsatzartigen Bekenntnis verlocken lassen, daß es keine Herrschaft von Menschen über Menschen geben soll. Mir scheint auch das kein Sachbeitrag zu sein, sondern eine Bekundung über die von ihm für wünschenswert gehaltene Form staatlicher Herrschaft, also letztlich doch nur eine prozedurale Aussage. Dabei ist sie in ihrer Tendenz durchaus undemokratisch, denn na-türlich ist auch die Demokratie eine Form der Ausübung staatlicher Herrschaft und Macht, nur ist eben der demokratische Rechtsstaat der bisher jedenfalls doch wohl am besten gelungene Versuch, diesen Zustand für den Menschen erträglich zu machen. Hinzu kommt, daß diese Vorstellung elementare Wesensgesetzlichkeiten der menschlichen Natur leugnet, die mit biologischer Notwendigkeit zur Bildung hierarchischer Strukturen führt, wie ja auch die moderne Verhaltensforschung gelehrt hat, daß sich selbst im Hühnerhof eine Hackordnung bildet. An diesem Naturgesetz wird auch Dutschke nichts ändern können, genauso-wenig wie an den Lebenstatsachen um Essen und Trinken, Wachen und Schlaf, Fortpflanzung und Tod.
Während die APO uns also eine verständliche Sachaussage über ihr Staatsbild und die als richtig vorgestellten Ziele der Staatstätigkeit schuldig bleibt, ist ihre Kritik an der Funktionsfähigkeit des demokratischen Prozesses um so deutlicher artikuliert. Sie bestreitet das Vorliegen einer wirklich freien Meinungsbildung des Volkes, also des konstituierenden Elementes der Staatswillensbildung nach dem demokratischen Prinzip, da sie durch Manipulation und Repression denaturiert wäre. Sie meint, diese Manipulation brechen zu müssen, zu welchem Zweck sie sich auch zu Verhaltensweisen berechtigt glaubt, wie sie normalerweise als nicht mehr im Rahmen des rechtlich Zulässigen liegend angesehen werden. Sie hält sich in gewissen Grenzen auch zur Ausübung von Zwang gegenüber anderen für berechtigt, weil sonst nicht die für die Erreichung ihrer Ziele erforderliche Publizität zu gewinnen sei, und beruft sich im übrigen auf ein — verfassungsrechtlich verankertes oder über-gesetzliches — Widerstandsrecht.
Wie ist diese Vorstellungswelt, die uns dort entgegentritt, nun rechtlich zu werten? Ich räume ein, daß die Ausgangsdiagnose der APO, wenn auch in vielerlei Beziehung grob übertrieben, doch in Teilaspekten durchaus an-hörbar ist. Die Behauptung von der Manipulation gesellschaftlicher und politischer Entscheidungsprozesse, vom Bestehen repressiver Tendenzen in Staat und Gesellschaft ist nicht durchgängig falsch. Das Bild des Grundgesetzes von bürgerlicher und menschlicher Freiheit ist keineswegs überall erfüllt. Rechtfertigt sich aber daraus die Behauptung von der völligen Funktionsunfähigkeit des demokratischen Prozesses und, vor allem, ergibt sich daraus die Legitimation zu dem Versuch, die anderen mit mehr oder weniger sanfter Gewalt aufzuklären, ihnen zwangsweise die Augen zu öffnen und sie, wie es so schön heißt, „umzufunktionieren"?
Geistige Grundlage einer solchen Position kann doch nur der Anspruch sein, selbst in höherem Maße als die anderen der Wahrheit teilhaftig und deshalb berechtigt zu sein, diese anderen ebenfalls — und zwar notfalls mit Zwang — zur Wahrheit zu führen. Das ist eine ganz und gar undemokratische, nämlich militant missionarische Haltung, die uns allerdings von seifen der APO als das wahre Verständnis der Demokratie angeboten wird. Ich weigere mich, diese Ausgangsposition zu akzeptieren. In Wahrheit zeigt sich hier eine elitäre Ideologie mit totalitärem Machtstreben einer kleinen Gruppe gegenüber der großen Mehrheit, die man in ihrer Tendenz durchaus als faschistisch bezeichnen kann. Ich frage mich, aus welcher Erkenntnisquelle eigentlich die APO die innere Sicherheit gewinnt, nun nicht ihrerseits manipuliert zu sein.
Das Wesen der Demokratie besteht ja gerade in der — gewiß resignierenden — Erkenntnis, daß in den politischen Fragen niemand im sicheren Besitz absoluter Wahrheit ist. Da folglich niemand genau wissen kann, was im Sinne des allgemeinen Wohles richtig und was falsch ist, enthält sich das demokratische Prinzip einer verbindlichen Sachaussage über den richtigen Inhalt der Staatszielbestimmung und Staatswillensbildung. Diese Relativierung gilt für die Staatsordnung unter dem Grundgesetz allerdings nicht für einen Kernbestand von Prinzipien, der unter dem Begrif der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zusammengefaßt und vom Bundesverfassungsgericht wie folgt definiert worden ist:
„So läßt sich die freiheitliche demokratische Grundordnung als eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt-und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition" (BVerfGE 2, 12/13).
Zugleich sind dies im wesentlichen die Verfassungsgrundsätze, die durch die Staatsschutzbestimmungen des Strafgesetzes auch strafrechtlich gesichert sind.
Abgesehen von diesem harten Kern wird das demokratisch-rechtsstaatliche Verfassungsprinzip ausschließlich durch das Verfahren gekennzeichnet, in dem der Staatswille gebildet wird. Da eben niemand im gesicherten Besitz der Wahrheit ist, hat man sich geeinigt, den Willen der Mehrheit dafür gelten zu lassen. Wer glaubt, sich im besseren Besitz der Wahrheit zu befinden und diese Erkenntnis seinen Mitbürgern aufzwingen zu können, greift das demokratische Prinzip in seiner Wurzel und damit auch die verfassungsmäßige Grundordnung an. Er verletzt damit die Rechte aller irger auf gleiche Teilhabe an der Staatsgealt und maßt sich unter Verletzung des eichheitssatzes eine bevorzugte Sonderstelng an. Genau das ist die politische Position r APO. wiß ist es richtig, daß in der Bevölkerung seres Landes im Hinblick auf die öffentlien Angelegenheiten vielfach Lethargie und teresselosigkeit herrschen; stumpfsinnige d banale Unterhaltung überwiegt in der teressenrichtung der Masse des Wahlvolkes, r Liebeskummer von Soraya und die Spiele r Bundesliga im Fußball finden erheblich hr Aufmerksamkeit als die Reform der ATO oder die Finanzierung des Rentenbers. Aber die Grundannahme des demokratien Prinzips ist nun einmal, daß das Wahllk aus denkenden und zu politischer Enteidung fähigen Menschen besteht. Auch enn man diese Annahme als Lebenslüge des stems ansehen will, was ich für zu weitgend halten würde, ist unsere Verfassungsordng in diesem Punkt nicht kompromißfähig. 3 kann es nicht sein, da es sich um den zentralen Nerv des Systems handelt, und sie braucht es auch nicht zu sein, da die staatliche Ordnung in sich genügende Spielräume der Aktivität bietet, in denen systemkonform an der Besserung dieses Zustandes gearbeitet werden kann. Die Studenten etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, die sich mit Bildungswerbung und Hilfe bei den Hausaufgaben für Oberschüler aktiv in die Bildungspolitik eingeschaltet haben, zeigen, wie solche Bemühungen aussehen können.
Wer sich dagegen aktiv handelnd gegen das demokratische Prinzip der Staatswillensbildung wendet, das von der gleichen politischen Freiheit aller Bürger zur Beteiligung hieran und ihrer gleichen geistigen Möglichkeit hierzu ausgeht, ist kein demokratischer Reformer, sondern Revolutionär mit allen sich daraus eventuell ergebenden Konsequenzen. Er versucht, sich seinen Mitbürgern überzuordnen, indem er sich — aus welcher Position heraus eigentlich als der seines eigenen Hochmuts? — das Recht herausnimmt, ihnen hinsichtlich ihres Intelligenz-und Informiertheitsgrades Zensuren zu erteilen.
Widerstandsrecht und Revolution
e Berufung auf das jetzt in der Verfassung rankerte Widerstandsrecht verfängt demgenüber nicht. Diese neue Bestimmung des undgesetzes ist, wie in den parlamentariien Beratungen klargestellt wurde, orienrt an der Erläuterung dieses Rechts, die das ndesverfassungsgericht schon vor 12 Jahren, mlich in dem Verbotsurteil gegen die KPD, geben hat. Die entscheidenden Sätze lauten: ‘or allem ist ein Widerstandsrecht gegen ein identes Unrechtsregime der neueren Rechtsffassung nicht mehr fremd. Daß gegen ein gime solcher Art normale Rechtsbehelfe ht wirksam sind, hat die Erfahrung gezeigt, doch bedarf es einer näheren Untersuchung rüber nicht. Die KPD will zwar gegen das n ihr aus fundamentaler Gegnerschaft bempfte Regime in der Bundesrepublik angen; aber davon, daß die Bundesrepublik ute einem Unrechtsregime der hier voraussetzten Art überantwortet ist, kann nicht die de sein. Die KPD selbst hat das nicht bejan mögen und ist auf diese Frage deshalb ch im Verfahren nicht wieder zurückgekomm." in Widerstandsrecht gegen einzelne Rechtsdrigkeiten kann es nur im konservierenden Sinne geben, d. h. als Notrecht zur Bewahrung oder Wiederherstellung der Rechtsordnung. Ferner muß das mit dem Widerstande bekämpfte Unrecht offenkundig sein und müssen alle von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Rechtsbehelfe so wenig Aussicht auf wirksame Abhilfe bieten, daß die Ausübung des Widerstandes das letzte verbleibende Mittel zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Rechtes ist."
„Schon aus diesen Gründen kann die KPD ein Widerstandsrecht zu ihrer Rechtfertigung nicht in Anspruch nehmen. Vor allem fehlt ihr aber diese Berechtigung auch deshalb, weil ihr Widerstand nicht auf die Erhaltung der bestehenden Ordnung gerichtet ist. Was die KPD mit ihrem , Widerstände'erreichen will, ist eine andere, eine nach ihrer Ansicht bessere Ordnung. Hierzu aber dürfte das Widerstandsrecht nur dann benutzt werden, wenn die bestehende Ordnung ein offenbares und fundamentales Unrechtsregime wäre. Das hat die KPD selbst nicht in Anspruch nehmen wollen. Die Ordnung in der Bundesrepublik ist legitim. Sie ist es nicht nur deshalb, weil sie auf demokratische Weise zustande gekommen und seit ihrem Bestehen immer wieder in freien Wahlen vom Volke bestätigt worden ist. Sie ist es vor allem, weil sie — nicht notwendig in allen Einzelheiten, aber dem Grundsätze nach — Ausdruck der sozialen und politischen Gedankenwelt ist, die dem gegenwärtig erreichten kulturellen Zustand des deutschen Volkes entspricht. Sie beruht auf einer ungebrochenen Tradition, die — aus älteren Quellen gespeist — von den großen Staatsphilosophen der Aufklärung über die bürgerliche Revolution zu der liberal-rechtsstaatlichen Entwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts geführt und der sie selbst das Prinzip des Sozialstaates, d. h. das Prinzip der sozialen Verpflichtung hinzugefügt hat. Die sich hieraus ergebenden Wertsetzungen werden von der übergroßen Mehrheit des deutschen Volkes aus voller Überzeugung bejaht. Hieraus erwächst dieser Ordnung die innere Verbindlichkeit, die das Wesen der Legitimität ausmacht. Nur wer seinen Widerstand gegen eine Störung dieser Ordnung richtet, um sie selbst zu verteidigen oder wiederherzustellen, dürfte für diesen Widerstand selbst Legitimität in Anspruch neh nen.
Die KPD iber will mit ihrem Widerstand dazu diese und Ord beitragen, bestehende legitime -nung selbst zu untergraben. Sie darf sich deshalb auf ein Widerstandsrecht, das diese Ordnung nur zu ihrem eigenen Schutz gewähren kann, nicht berufen" (BVerfGE 5, 376— 79).
Daraus folgt, daß unter Berufung auf das Widerstandsrecht eine normale Meinungsverschiedenheit über den sachlichen Inhalt der Staatswillensbildung nicht ausgetragen werden kann. Denn das würde bedeuten, daß in gleichheitsverletzender Weise eine Minderheit der Mehrheit ihre Meinung aufzwingen dürfte. Das Widerstandsrecht, wobei hier vom Fall eines sogenannten „evidenten Unrechtsregimes" abgesehen werden kann, hat deshalb seine Funktion nur zum Schutz und zur Konservierung der prozeduralen Elemente des demokratischen Prinzips, die hierdurch gegen Veränderungen geschützt werden sollen. Gerade eine solche Veränderung strebt aber die APO an. Wenn also das Widerstandsrecht überhaupt als praktische Möglichkeit erörtert werden soll, dann allenfalls in der heutigen Situation zur Abwehr von solchen Bestrebungen, wie sie von der APO vertreten werden.
Die APO verlangt, soweit man ihren Äußerungen verstehbare Ziele entnehmen kann, eine Änderung der vorhandenen Staats-und Rechtsordnung. Hierzu kann das verfassungsmäßige Widerstandsrecht keine Legitimitätsbasis bieten. In Wahrheit sucht die APO mit dieser Begründung nur nach einer Möglichkeit, um auf legale Weise Revolution machen zu dürfen. Diese Suche ist jedoch vergeblich, denn das Institut einer „Revolution mit Rechtsschutzversicherung" ist in unserer Rechtsordnung nicht vorgesehen. Das Prinzip der militanten Demokratie, wie es im Grundgesetz enthalten ist, will ja gerade unmöglich machen, daß die bestehende Rechtsordnung beseitigt wird und eben hierzu der Schutz gerade dieser angegriffenen Rechtsordnung in Anspruch genommen werden kann.
Wer Staat und Gesellschaft unter Verletzung der hierfür vorgesehenen Formen verändern will, muß sich persönlich mit dem Schicksal abfinden, Revolutionär zu sein und im Ernstfall als solcher behandelt zu werden. Er begibt sich damit aus dem behaglich klimatisierten Raum des Rechtsstaates heraus in die eisige Zugluft der Geschichte. Er steht unter Erfolgs-zwang; denn nur der Erfolg kann die Revolution legitimieren. Das ist nicht unbedingt ein Unwerturteil, denn es hat genügend Revolutionen von höchster historischer Legimität gegeben. Manchen großen Schritt vorwärts hat die Menschheit Revolutionen zu verdanken, und zuweilen waren sie das einzige Mittel, um Zustände schreienden Unrechts zu verändern. Nur müssen sich die Beteiligten darüber klar sein, daß sie den rechtlich geregelten Bereich mit einem solchen Vorhaben verlassen haben, mit allen eventuellen persönlichen Konsequenzen. Ich zweifle, daß unsere jugendlichen Aspiranten für diese Aufgabe das erforderliche Uberlebenstraining schon mit Erfolg absolviert haben, das zum Ertragen der Kälte eines rechtlich nicht mehr abgesicherten historischen Geschehens erforderlich ist.
Hier will ich abschließend zu freundlicheren Tönen überleiten. Wir als Wahrer des Rechts sollten angesichts der Wirklichkeit dieser Tage nicht so sehr rechtliche Überlegungen bis zur düsteren Konsequenz ausmalen, sondern uns eher nach den Gründen des jugendlichen Aufbegehrens fragen und darüber nachdenken, ob nicht auch das Recht zu seinem Teil zu dieser Welle des Aufbegehrens und der Unzufriedenheit beigetragen hat. Ich fürchte, man wird die Frage bejahen müssen. Und damit stellt sich die Aufgabe, weiter um die Verwirklichung einer sozialgerechten und freien Lebensordnung bemüht zu sein, wie sie das Grundgesetz dem Volk der Bundesrepublik verspricht. Die in unserer Gesellschaft verbliebenen Reste feudaler Machtstrukturen, zum Beispiel im Sektor des Bildungswesens oder der Wirtschaft, sollten weiter zügig abgebaut werden. Die Rechtsprechung kann hierzu einen wesentlichen Beitrag leisten. Weiter sollten die noch im Strafrecht enthaltenen Reste einer unerträglichen obrigkeitlichen Bevormundung erwachsener Menschen unverzüglich beseitigt werden. Der Juristentag in Nürnberg hat hier ein Zeichen gesetzt, das sich die Juristenschaft Deutschlands unverzüglich zu eigen machen sollte. Auch zur Sicherung einer wirklich freien Meinungsbildung, zu kultureller Freiheit und ungehinderter allgemeiner Information kann auf dem Feld der Rechtsprechung noch viel getan werden.
Wenn hier die dritte Gewalt die Impulse zu größerer Freiheitlichkeit entschlossen aufnimmt, die sich immerhin aus Existenz und Aktivität der APO ergeben und die ja bereits auf dem engeren Bildungssektor erheblich gewirkt haben, hat die APO trotz aller rechtlichen Bedenken gegen die Formen ihrer Aktivität eine ausgezeichnete Funktion erfüllt. Letzten Endes würde dann die APO zur Gesundung und Kräftigung des von ihr so erbittert bekämpften Systems beigetragen haben. Auf lange Sicht hätte sie sich dann selbst überflüssig gemacht, und das schiene mir keine schlechte Lösung. Denn so etwas erreicht zu haben, wäre wohl das schönste Zeugnis, das man einer politischen Bewegung ausstellen kann. Es wäre nämlich der Beweis für den größtmöglichen sachlichen Erfolg, vielleicht nicht zugunsten der Funktionäre, jedenfalls aber zum Nutzen des Staatsganzen. Es ist zwar nicht möglich, eine ideale Welt zu schaffen, es ist aber möglich, die vorhandene Welt ständig besser zu machen.