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Schüler und Studenten in der Sowjetunion | APuZ 7/1969 | bpb.de

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APuZ 7/1969 Die sowjetische Gesellschaft -ideologische Grundlagen und reale Struktur Der sowjetische Staat und die Kirche Die Lage der Russisch-Orthodoxen Kirche seit dem Ende der fünfziger Jahre Schüler und Studenten in der Sowjetunion

Schüler und Studenten in der Sowjetunion

Borys Lewytzkyj

„Die Sowjetgesellschaft ist eine junge Gesellschaft" — diesen Satz wiederholen die sowjetischen Zeitungen und Zeitschriften ohne Unterlaß, und was die Alterspyramide angeht, ist das auch richtig, denn über die Hälfte der Bevölkerung ist noch keine 26 Jahre alt, 40 0/0 der Erwerbstätigen haben das 30. Lebensjahr noch nicht erreicht; das gilt auch für die auf wissenschaftlichem Gebiet Tätigen

Unter den Jugendlichen selbst nehmen wiederum Schüler und Studenten einen besonderen Platz ein, da sie, wie in jeder anderen Gesellschaft, die zukünftigen wissenschaftlichen, technischen und politischen Kader stellen werden. Diesen Nachwuchs versucht die KPdSU mit harter Hand zu formen, und sie rechtfertigt das mit ihrem alles umfassenden Steuerungsund Führungsanspruch. Nur so meint sie ihr fest umrissenes gesellschaftliches Zukunftsmodell, in der Sprache der Partei als „kommunistische Gesellschaft" bezeichnet, erreichen zu können. Zwei Aspekte sind dabei ausschlaggebend: Zum einen die Ausbildung von technischen und wissenschaftlichen Kadern und einer Armee von Facharbeitern, die den wachsenden und wechselnden Erfordernissen der wirtschaftlichen Entwicklung genügen sollen; zum anderen soll die Kontinuität der politischen Entwicklung gewährleistet werden. Wie in den zwanziger und dreißiger Jahren formulieren auch heute die Führungsgremien ihre Wünsche an Studenten und Schüler in ähnlicher Weise: „In unserem Lande wird der Jugend viel gegeben. Aber unser Vaterland erwartet auch viel von der jungen Generation. Und in erster Linie die Erfüllung des Leninschen Grundvermächtnisses: den Kommunismus zu erlernen. Das bedeutet, daß sie sich in eine wirkliche Massenbewegung eingliedern muß, um die höchsten Höhen von Wissenschaft und Technik beherrschen zu lernen, die gewonnenen Kenntnisse fruchtbringend auf die Lösung der praktischen Aufgaben des kommunistischen Aufbaus anzuwenden, sich eine marxistisch-leninistische Weltanschauung, eine große ideelle Überzeugung, eine klassentreue Einstellung zu den Erscheinungen des Lebens zu er-arbeiten und immer und überall ein standhafter, ideenreicher und opferbereiter Kämpfer für den Kommunismus zu sein."

Wie ist nun die Lage wirklich?

Alljährlich treten Scharen von jungen Menschen ins wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Leben ein. Wir haben es hier mit dem normalen biologischen Reproduktionsund Ablösungsprozeß zu tun. Doch unter den Bedingungen des sowjetischen Systems hat dieser natürliche Vorgang zur Folge, daß daraus ein Knäuel von komplizierten sozialen und psychologischen Problemen entsteht. Viele der ideologischen Wortführer der Partei glauben, diese Probleme mit althergebrachten Methoden lösen zu können. Aber sie können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung nach Stalins Tod eingeschult wurde und nicht nur eine bessere Ausbildung als ihre Eltern erhielt, sondern auch ihre Mentalität sich in einer Zeit entfalten konnte, in der viele Tabus der Vergangenheit zerstört, die Auswüchse des Terrors erheblich reduziert, die Kommunikationsmöglichkeiten erweitert waren und die wissenschaftlich-technische Revolution den Alltag des Menschen immer deutlicher und tiefgreifender zu prägen begann. Auf diesem objektiven Hintergrund entstand auch dort ein Generationskonflikt zwischen Eltern und Kindern. Wie früher Chruschtschow, versucht auch der heutige Parteiideologe P. Demitschew zu beweisen, daß dies ernste politische Phänomen nichts anderes als „imperialistisches Wunschdenken", ja mehr noch, ein Versuch sei, die Spannungen künstlich anzuheizen. „Kein Zweifel" schreibt er, „die bürgerlichen Propagandisten und ihre Herren werden in ihren Erwartungen notgedrungen tief enttäuscht. In der sozialistischen Gesellschaft vereinigen die großen Ideale . Väter und Kinder'. Entfremdung und Feindseligkeit zwischen den Generationen haben hier keine soziale Basis." Dagegen sprechen jedoch die jüngsten Spannungen in der sowjetischen Gesellschaft, die die Parteibürokratie veranlassen, ihre Manipulierungsversuche zu vervielfachen und sich der Jugend krampfhaft anzubiedern.

Nicht minder allergisch reagieren die Partei-väter auf den weltweiten Gärungsprozeß in der Jugend, der von keinem Vorhang aufgehalten werden kann. Wir wollen uns hier weder in Einzelheiten verlieren noch Wertungen setzen. Doch sind antiautoritäres Bewußtsein und Mißtrauen gegenüber dem sogenannten Establishment Grundmerkmale dieses Verhaltens. Lassen wir die anarchistischen und uto-pistischen Marginalströmungen beiseite, dann bleiben die konkreten Kernfragen von Berufsausbildung und -ausübung, Studium, persönlichen und politischen Entfaltungsund Aufstiegsmöglichkeiten als gemeinsame Anliegen. Hier nun hat die sowjetische Führung mehrfach offiziell bekannt, daß die Situation an den Hochschulen, was die Ausbildungsqualität anbelangt, keineswegs befriedigend sei, und seit Jahren laboriert man mit verschiedenen „Maßnahmen zur Vervollkommnung" des gesamten Ausbildungswesens. Hinzu kommt, daß nicht jeder Begabte und Studienwillige einen Platz an einer der Hochschulen bekommen kann und daß der Student nicht weiß, ob er später auch einen Platz einnehmen wird, der seinen Vorstellungen und Wünschen entspricht.

Dieser Hinweis mag vorläufig genügen, um zu zeigen, daß für Unruhe und Unzufriedenheit unter der Jugend sachliche Gründe in ausreichender Zahl vorhanden sind. Für die Partei-bürokratie kommt als weiteres Problem hinzu, wie man die eigene Jugend von der weltweiten Auflehnungsbewegung und ihren vielfältigen Ansteckungsgefahren abschirmen kann. Die Parteiführung ist bei ihrer Suche nach einem Ausweg aus der kniffligen Situation ganz auf sich und auf die Erfahrungen älterer Leute gestellt, denn die betroffene Jugend hat in der Partei fast keine Stimme. So sind nach dem Stand der Mitgliedschaft vom 1. Januar 1966 nur 6, 2 °/o unter 25 Jahren alt; und was die personelle Zusammensetzung der Apparate angeht, so ist dort der Nachwuchs noch geringer vertreten. An den Schalthebeln der Macht sitzt fest und unerschütterlich die Generation, die Ausbildung und Aufstieg in der Stalinära erlebte. Ihre Vorstellungen vom Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung und vom Aussehen der „kommunistischen Gesellschaft", ihr Verständnis des „Marxismus-Leninismus" und ihre Steuerungs-, Kontrollund Herrschaftsinstrumente entstammen der Rüstkammer der Stalinschen Despotie — einer Etappe, in der gesellschaftlicher Wandel kaum vorstellbar und noch schwerer zu verwirklichen erschien. Ihre Verhaltensmuster wurden geprägt und institutionalisiert in einer Zeit, wo sie sowohl gegen die kapitalistische Einkreisung als auch gegen die feindselige Haltung der eigenen Bevölkerung mit drakonischen und repressiven Methoden vorgingen. Das steife Beharren, die aggressive Selbstverteidigung und die ängstliche Intolerenz wurden nur in der Tauwetter-periode um den XX. Parteitag (1956) etwas abgebaut. Doch kurz darauf erwies sich die „sozialistische Einkreisung" als ein Danaergeschenk: der polnische Frühling und der Budapester Aufstand sind nur Episoden verglichen mit dem Auseinanderbrechen der kommunistischen Weltbewegung, wie es sich im Bruch mit der KP Chinas dokumentiert und wie es sich heute wieder an der anti-dogmatischen, freiheitlich-humanistischen Reformbewegung in der tschechoslowakischen Bruderpartei zeigt. Und man denke nur an die neuen unkontrollierbaren und nicht mehr einzudämmenden Strömungen, die unter den marxistischen Theoretikern der anderen sozialistischen Länder und des Westens aufkamen. Im gleichen Maße, wie die Elite der sowjetischen Jugend Dialog und Aussprache mit den internationalen Erneuerungsbewegungen sucht, zieht sich die Führung auf die Bastionen der Vergangenheit zurück, igelt sich ein und verhärtet die dogmatischen Fronten.

Soviel an allgemeinen Problemen zum besseren Verständnis unserer Untersuchung. Unsere Absicht ist es vor allem, die Steuerungsund Kontrollinstrumente der Partei in Schulen und Hochschulen zu analysieren. Dabei soll auch die Frage aufgeworfen werden, inwieweit sie noch angemessen Und wirksam oder aber überholt sind. Wir wollen gleichzeitig versuchen, Schüler und Studenten als geschlossene soziale Gruppen etwas näher zu betrachten und unter Auswertung sowjetischer Sozialforschungsergebnisse und anderen wissenschaftlichen Materials Tendenzen und Verhaltensweisen, Erwartungen und Reaktionen zu charakterisieren.

1. Die Studenten

Inhalt 1. Die Studenten 2. Die Schüler 3. Der Komsomol 4. Verstärkung der Parteikontrolle, Militarisierung des Lebens der Jugend Anhang

An den Universitäten und Hochschulen der UdSSR gab es im Schuljahr 1966/67 mehr als 1 Mio Studenten, davon 45 °/o Frauen. Wir wollen nicht auf die didaktisch-erzieherischen Probleme im einzelnen eingehen, doch sei zur Frage der Methodik ein Zitat des Atomphysikers und Mitglieds der Akademie der Wissenschaften Andrej D. Sacharow gestattet, das seinem kritisch-analytischen „Memorandum über Möglichkeiten und Gefahren des sowjetischen Entwicklungsweges" entnommen ist:

„Ein Bildungssystem unter staatlicher Kontrolle, Trennung von Schule und Kirche, allgemeine freie Erziehung — all dies sind große Errungenschaften sozialen Fortschritts. Aber alles hat auch seine Kehrseiten. So etwa die übertriebene Standardisierung des Lehrvorgangs, besonders in Literatur, Geschichte, Bürgerkunde, Geographie, Pochen auf Autorität und Beschneidung von Diskussionen kann für Menschen in einem Alter, in dem sich persönliche Überzeugungen zu formen beginnen, nur eine Gefahr sein. Im alten China führte das System der Prüfungen für staatliche Posten zu geistiger Stagnation und zur Kanonisierung der reaktionären Züge des Konfuzianismus." 4)

Sacharows Vergleich mit den Traditionen der chinesischen Bürokratie ist tatsächlich nicht an den Haaren herbeigezogen. Den Studenten ist es wohl innerhalb von noch zu besprechenden Zusammenkünften gestattet, an einzelnen Professoren Kritik zu üben, doch der Aufbau des Lehrgebäudes und seine unelastischen Funktionsweisen dürfen nicht kritisiert werden — und sei die Kritik auch noch so legitim.

Im Schema des Parteiaufbaus sind eigene Organisationen und Apparate für die Kontrolle und Steuerung der Hochschulen zuständig.

Wegen der ständigen Konflikte zwischen Akademikern und Parteibürokratie wurde im Oktober 1965 beim ZK der KPdSU eine neue Abteilung für Wissenschaft und Lehranstalten gebildet, die die genannten Apparate reorganisieren sollte. Zum Leiter dieser neu gegründeten Abteilung wurde Sergej Pawlowitsch Tra-

pesnikow bestellt, einer der einflußreichsten Ideologen des Neostalinismus Trapesni4) kow (1912 geboren) ist seit 1931 Parteimitglied, absolvierte das Moskauer pädagogische Institut, die Parteihochschule beim ZK der KPdSU und die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU; er ist Doktor der historischen Wissenschaften und war von 1960 bis 1965 Stellvertretender Rektor der Parteihochschule beim ZK der KPdSU. Daß die Parteibürokratie diesen Prototyp eines stalinistischen Funktionärs auf einen solchen heiklen Posten setzte, zeigt, mit wie wenig Instinkt sie unter gegebenen Umständen bei hartem Durchgreifen und administrativ-bürokratischen Maßnahmen Zuflucht sucht. In den 14 Unionsrepubliken bestehen ebenfalls bei allen ZKs solche Abteilungen, die in ihrer Gesamtheit einen mächtigen und weitverzweigten Herrschaftsapparat bilden. (Die Russische Föderation hat keine eigene Partei. Für sie ist die entsprechende Abteilung beim ZK der KPdSU zuständig.) Ihnen unterstehen die Parteiorganisationen an allen wissenschaftlichen Instituten und Hochschulen.

An allen Hochschulen ist das Parteikomitee die höchste Instanz; es wird auf einer Versammlung der Kommunisten gewählt, die der Hochschule angehören. An jeder Fakultät gibt es Parteikomitees (bzw. Parteibüros), die sich auf Parteigruppen an den einzelnen Lehrstühlen stützen. In den Parteigruppen soll die eigentliche Parteiarbeit geleistet werden. Die Parteiführung geht von der Vorstellung aus, daß die Parteigruppen für das gesamte Hochschulleben verantwortlich sind, besonders für die Bereiche Erziehung und Ausbildung der Studenten, Kaderpolitik, Kontrolle von Professoren und Studenten, Bemühungen um Qualitätssteigerung des Lehrbetriebs und seine Ausrichtung im Geiste der Parteilichkeit (partijnost"). Sie sind auch dafür zuständig, die Stimmung unter den Studenten zu beobachten und zu beeinflussen; weiter ist es ihre Aufgabe, sich mit den Alltagsproblemen der Studenten zu befassen und auf ihre Freizeitgestaltung einzuwirken.

Um Konflikte zwischen Studenten und Professoren auszuschalten, gehören diese gleichberechtigt den Parteigruppen an. Die Studenten-Kommunisten sind berechtigt, auf den geschlos-senen Parteiversammlungen ihre Professoren zu kritisieren und die Wünsche der Studentenschaft vorzutragen, was gleichzeitig der Information der Professoren über die Anliegen der Studenten und deren Stimmung dienen soll. Auf diese Weise sollen frühzeitig Spannungsund Konfliktquellen erkannt und ausgeschaltet werden

In der Praxis erweist sich diese bürokratisch geplante „Entspannungsinstanz" als unzureichend, weil die meisten Studenten im Komsomol, also noch nicht in der KPdSU, organisiert sind und somit innerhalb der Parteigruppen dem Lehrpersonal gegenüber eine Minderheit darstellen. Hinzu kommt, daß die Parteigruppe der Professoren elitären Charakter hat. Allein aus diesem Grund ergeben sich zahlreiche Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Studenten und Professoren und Dozenten. In jüngster Zeit wurden verschiedentlich neue Formen der Beziehungen zwischen beiden Gruppen gefordert, wobei im Gegensatz zu den bisherigen Praktiken der Parteigruppen für die Studenten größeres Mitspracherecht gefordert wird. Auch wird an allen Hochschulen über die Untauglichkeit oder gar Unfähigkeit mancher Professoren ganz offen gesprochen. Nachdem sich die Parteiorganisationen als nicht ausreichend erwiesen und häufig ganz einfach versagt haben, schlägt man neue Formen zur Wiederherstellung einer „gesunden psychologischen Atmosphäre in den Beziehungen zwischen Professoren und Studenten" vor Man will eine Art „rating" -System einführen, d. h. eine systematische Bewertung der Professoren durch die Studenten als Parallele zur Bewertung der Studenten durch die Professoren. Anonym ausgefüllte Fragebogen sollen die Dekanate in die Lage versetzen, Konfliktstoffe in den Beziehungen zwischen Studenten und Professoren rechtzeitig auszuräumen. Die Universitäts-und Hochschulleitungen werden augenblicklich mit Beschwerden von Studenten über ihre Professoren überschwemmt. Von der Verstärkung eines Einflusses der Studenten auf das Hochschulleben verspricht man sich, daß die Beschwerden nachlassen Jeder redet heute davon, daß wieder ein „gesundes psychologisches Klima" geschaffen werden müsse und findet dabei allerorts willige Hörer.

Woher kommt diese Unruhe, die die Studenten erfaßt hat und die die Partei bekämpfen will? Die Studenten bekommen zunehmend ein Gespür dafür, mit welchen Schwierigkeiten sie nach dem Studium im gesellschaftlichen Leben zu rechnen haben. Sie hören von den Berufs-enttäuschungen früherer Kommilitonen und haben gelernt, zwischen den Zeilen der zahlreichen Zeitungsberichte über Betriebe oder die Aussichten in einzelnen Berufszweigen zu lesen.

Die von der Partei und auch von einzelnen Pädagogen verbreitete Meinung, das sozialistische System biete die beste aller Möglichkeiten, hat sich als Illusion oder schlimmeres erwiesen. Die jungen Spezialisten stoßen im Berufsleben und auch schon bei der Berufswahl auf viele Hindernisse. Soziologische Untersuchungen haben gezeigt, daß jeder dritte junge Spezialist mit Hochschulbildung Arbeiten verrichten muß, die mit seinem Fach nichts zu tun haben und oft überhaupt keine wissenschaftliche Qualifikation voraussetzen Nach Abschluß des Hochschulstudiums werden sie in vielen Fällen als Meister eingesetzt, bekleiden also Posten, für die Grundschule und praktische Anlernkurse völlig ausreichen. Entsprechend ist auch die Entlohnung. Nur wenige Hochschulabsolventen —-einschließlich der vielgerühmten Ingenieure — erhalten einen Stelle, die ihrer Ausbildung entspricht — und das nicht etwa, weil es nicht genug geeignete Stellen gibt. Im Gegenteil: Ein Drittel aller Stellen mit einer gewissen Verantwortung wird noch immer von sogenannten Praktiki ohne Fachqualifikation bekleidet. Die Ursache liegt vielmehr darin, daß trotz Wirtschaftsreform die Betriebe nach wie vor starr an ihrer alten Verfassung festhalten. Nicht ohne Grund stellen sich also die Studenten der höheren Semester die Frage, ob es denn überhaupt einen Sinn habe, so viel zu investieren, wenn sie später auf dem zugewiesenen Posten genauso gut ohne Ausbildung auskommen könnten und ebenso viel oder sogar weniger verdienen als jemand, der gleich nach Abschluß der Volksschule ins Erwerbsleben trat.

Daß ihnen die Jugend an Bildung überlegen ist, ist in der heutigen Entwicklungsphase für die Verantwortlichen in Betrieben und Instituten ein Grund mehr, ihr zu mißtrauen und sie ungerechterweise zurückzusetzen. Es ist merkwürdig, daß gerade auf dem Land dieses Problem besonders krasse Formen angenommen hat. Wenn wir lesen, daß die dringend gebrauchten Absolventen landwirtschaftlicher Hochschulen von den Kolchosvorsitzenden und Sowchosdirektoren verächtlich behandelt und schikaniert werden, daß sie keine menschenwürdigen Wohnungen bekommen, mit Arbeiten beschäftigt werden, die in keiner Weise ihrer Ausbildung entsprechen, daß sie ausgelacht werden, wenn sie sich sachlich-fachlich zu einer Sache äußern und zu selbständiger und verantwortlicher Tätigkeit keine Gelegenheit bekommen, dann sind das bestimmt nicht nur Einzelfälle

Eine weitere Quelle für Unstimmigkeiten ist die inkompetente und überhaupt schlecht funktionierende Berufsberatung. Der junge Mensch wird weder auf Neigungen, Fähigkeiten und Eignungen hin getestet noch erfährt er Genaueres über die tatsächlichen Anforderungen des ihm vorschwebenden Berufes. Selbst die Studenten, die von den Betrieben auf die Fach-und Hochschule geschickt und mit Stipendien ausgestattet werden, werden in vielen Fällen nicht ausreichend über ihre künftige Arbeit im eigenen Betrieb informiert. Die Klagen darüber häufen sich. „Es gibt viele bedauerliche Beispiele dafür", so lesen wir in einer Tageszeitung, „daß ein Diplomierter, der fünf oder mehr Jahre studiert und ein Examen abgelegt hat, seinen gewählten Beruf aufgibt und plötzlich auf einem anderen Gebiet von vorne anfängt. Tausende von staatlichen Rubeln werden so zum Fenster hinausgeworfen."

Es fällt auf, daß die Kritik der Sowjetjugend sich sehr viel stärker auf das Alltägliche richtet, als das bei unseren Studenten der Fall ist. Der Zwiespalt zwischen den hochgeschraubten und pausenlos eingetrichterten Idealen und der oft von mächtigen, aber unqualifizierten Funktionären fehlgesteuerten Wirklichkeit macht sich gewiß schmerzlicher spürbar als die vage Auflehnung gegen die Autorität; zudem ist er für den ganz persönlichen Lebenszuschnitt des einzelnen sehr viel tiefgreifender.

Der Widerspruch zwischen den verkündeten Idealen und der Wirklichkeit löst bei den Studenten unterschiedliche Reaktionen aus. Die einen nehmen eine zynisch-opportunistische Haltung ein und sehen im Studium nur die Vorbereitung auf ein Amt. Das ist der vom System schon heute „korrumpierte" Teil der Jugend, in dem man einen „würdigen" Nachwuchs für die noch herrschende Bürokratie sehen kann. Ein großer Teil der Studentenschaft empfindet sich jedoch als potentielle Reform-kraft. Voller Begeisterung und ohne Rücksicht auf ihre künftigen Chancen gehen diese jungen Leute ihrem Studium nach. Für sie ist es kein Selbstzweck, sie koppeln es mit gesellschaftspolitischer Aktivität. Soziologische Untersuchungen haben gezeigt, daß vor allem Studenten aus der Stadt, insbesondere die Kinder intellektueller Eltern, weit mehr hierzu neigen als die Jugend vom Lande, die zwar ihr Studium sehr ernst nimmt, sich aber auf keinerlei politisch zweifelhafte Situationen einlassen will und das Studium in erster Linie als Mittel zum gesellschaftlichen Aufstieg ansieht. Kein Wunder also, daß von den Parteizeitungen immer öfter die Forderung zu hören ist, die „soziale Zusammensetzung der Studentenschaft" solle zugunsten der vermutlich strebsameren Arbeiter-und Bauernkinder geändert werden.

Beobachter des studentischen Lebens, darunter auch einige aus dem Westen, die lange an sowjetischen Universitäten studiert haben, charakterisieren das politische Gesicht der interessierten Studenten etwa folgendermaßen: ein direkt krankhafter Hang zu Diskussionen, scharfe Ablehnung der Primitivität und Heuchelei gewisser Funktionäre und „angepaßter“ Professoren; ganz allgemein fordern sie mehr „Selbstbestimmung" und sind auch bereit, kleinere extreme Gruppen zu unterstützen, etwa solche, die illegale Zeitschriften herausgeben, auch wenn sie dabei ein persönliches Risiko eingehen. Es sind vor allem Studenten, die Romane, Gedichte und überhaupt Schriften, die der Zensur mißliebig sind, weiterverbreiten. Hierbei tun sich vor allem Moskauer und Leningrader Studenten hervor In den nichtrussischen Republiken steht die studentische Jugend im Kampf gegen großrussischen Chauvinismus und Russifizierung mit in der ersten Reihe. Dem Kiewer Literaturkritiker Iwan Dzyuba ist es zu verdanken, daß interne Vorgänge an der Kiewer Universität in der Öffentlichkeit bekannt wurden 12a). Die Studenten hatten dort einen „Klub der schöpferischen Jugend" gegründet, der öffentliche Diskussionen über die sowjetische Kulturpolitik veranstalte-te. Der Tätigkeit dieses Klubs wurde vom Komitee für Staatssicherheit ein Ende bereitet. Von den vielen Zwischenfällen an der Kiewer Universität sei nur einer registriert: Im Frühjahr 1965 wurde der beliebte Dozent M. Schestopal entlassen. Die Studenten der journalistischen Fakultät organisierten ein sit-in, um dagegen zu protestieren.

Angesichts dieser Situation ist es verständlich, warum die Parteiideologen so über die westlichen Studenten herfielen und sie als „Anarchisten, Extremisten, Abenteurer, Diversanten, kleine Minderheiten, die die Jugend von der Gesellschaft isolieren wollen", beschimpften In der „Komsomolskaja Prawda", dem Organ des Jugendverbandes, hieß es unverblümt, daß „auch einige Gruppen von Jugendlichen, die in der sozialistischen Welt leben", auf linke Phrasen hereingefallen seien Man dürfe aber keine direkten Parallelen zwischen sowjetischen und westlichen Studenten ziehen, da die gesellschaftliche und — nicht zu vergessen — auch die materielle Lage völlig verschieden ist. Die hervorstechendsten Gemeinsamkeiten — Antidogmatismus und antiautoritäre Haltung — bedürfen einer sorgfältigen Abwägung.

2. Die Schüler

Einleitend soll hier kurz eine vielfach bestätigte Beobachtung behandelt werden, die zum Verständnis des Komplexes Jugend, Engagement und Bewältigung der Zukunft beiträgt. Die noch zu Stalins Lebzeiten geborenen jungen Menschen wurden ganz von Eltern und Erziehern geprägt, die von den Schrecken der Despotie gezeichnet waren — einer Zeit, die noch lange nachwirkte und nicht von heute auf morgen vergessen werden konnte. Die jungen Menschen dieser Jahrgänge sind naturgemäß in ihrem Verhalten, in ihren Ansprüchen an die Umwelt, in ihrer Selbsteinschätzung und Selbstsicherheit weit unsicherer als die folgenden Jahrgänge. Deshalb läßt sich ein deutlicher Bruch in den Verhaltensweisen von Studenten und Schülern feststellen. Die Schüler sind ein viel undankbareres Manipulationsobjekt, und ihre Tendenz, sich im Schutz einer eigenen Subkultur abzukapseln und einzuigeln, bietet keine Vergleichsbasis mehr zum Verhalten der Studenten.

Die Berufsausbil -vordringliche Bedeutung der dung und Berufseinmündung für die Studenten wurde in ihrer ungelösten Problematik und ihrem zum Teil demoralisierenden, zum Zynismus verleitenden Effekt bereits geschildert. Für die Schüler bietet sich das Problem in einem sehr viel weiter gespannten Rahmen und hat zugleich mehr grundsätzlichen Charakter. In den letzten Jahren wurden Dutzende von soziologischen Untersuchungen angestellt, die die verschiedensten Regionen beleuchten und doch ein homogenes Bild liefern. Sie zeigen, daß mehr als 90 0/0 der Schüler der Oberstufe (9. und 10. Klasse) studieren möchten. Dieser großen Bildungsbereitschaft stehen die konsequent verfolgten Interessen des Sowjet-staatesgegenüber, dessen Pläne vorsehen, daß von den Abiturienten eine sehr hohe Quote unmittelbar ins Erwerbsleben eintreten soll.

1970 sollen nur noch 18 % der Absolventen der 10-Jahresschule in Hochschulen und Universitäten ausgenommen werden. 22 °/o sollen in technischen Instituten (Technika) eine mittlere Fachausbildung erhalten, die restlichen 60 °/o werden zur Arbeit in Betriebe, Behörden oder Wirtschaftsunternehmen geschickt, wo sie an Ort und Stelle für eine bestimmte Tätigkeit angelernt werden. Zu dieser betriebsinternen Ausbildung ist zu sagen, daß sie ein Minimum an Kenntnissen und Fertigkeiten vermittelt, die niedrigste Qualifikationsstufe darstellt und als Ausbildungsform einem modernen Industriestaat völlig unangemessen ist. Nicht umsonst steht sie seit Jahren im Kreuzfeuer der sowjetischen Fachkritik. Zur Vermittlung einer guten, auch theoretisch untermauerten Fachausbildung reicht das System der „berufstechnischen Lehranstalten", die ungefähr unseren Fachschulen entsprechen, auch rein quantitativ in keiner Weise aus. Dies sind also die unmittelbaren Zukunftsaussichten des heutigen sowjetischen Schülers. 1970 werden ungefähr 60 °/o der Absolventen der 10-Klassenschule und etwa 200/0 der 8-Klassenschule die „Reihen der Arbeiterklasse auffüllen", wie es in der Fachliteratur euphemistisch heißt. Wir sahen aber, daß 90 0/0 von ihnen studieren wollen Ein besonders krasses Gefälle ergibt sich zwi-nsehen dem volkswirtschaftlichen Bedarf an Fachkräften für die Landwirtschaft und der Bereitschaft der Schüler, solche Berufe zu erlernen und zu ergreifen. Soziologische Untersuchungen dieses Problems zeigten, daß sogar die Landjugend und selbst junge Menschen, die bereits eine Landwirtschaftsfachschule besuchen, um die mittlere Qualifikationsstufe zu erwerben, die allgemeine Abneigung gegen die Berufe in der Landwirtschaft teilen. Aus LUntersuchungsergebnissen geht hervor, daß esich diese Abneigung auf die meisten Absolventen der 8-Klassen-und der 10-Klassenschulen erstreckt und daß kein Gebiet und keine Republik der UdSSR davon ausgenommen ist Die „Berufsaussichten" sind dagegen 3 so gut, daß selbst dann, wenn alle Absolventen der ländlichen 8-und 10-Klassenschulen E eine landwirtschaftliche Fachqualifikation erwerben wollten, der Bedarf noch nicht gedeckt wäre. In Wirklichkeit fanden sich jedoch kaum 5 bis 10 % dazu bereit.

Nirgends in der westlichen Welt ist das Wider-i streben der Schüler, einen landwirtschaftlichen I Beruf zu ergreifen, so groß wie im Herrschaftsbereich Moskaus. Diese Erscheinung zeigt sich abgeschwächt auch im Bereich der materiellen Produktion. Die Ursache dieser sich tendenziell verstärkenden Unwilligkeit ist nicht nur in der Unzulänglichkeit des gesamten berufstechnischen Ausbildungssystems zu suchen. Noch heute sind die Lebens-und Arbeitsbedingungen auf dem Lande so miserabel und werden von Partei und Behörden so sträflich vernachlässigt, daß ein junger Mensch nur mit Schrek-

ken daran denkt, unter solchen Bedingungen arbeiten und leben zu müssen, besonders wenn er überlegt, daß er so schnell keine Möglichkeit finden wird, später mal einen anderen Beruf zu ergreifen.

Hi Diese Fakten sind den heutigen Schülern voll bewußt. Ihre unmittelbare Evidenz spricht der J Propaganda Hohn, die nach wie vor von den unbegrenzten Aufstiegsmöglichkeiten eines jeden Jugendlichen redet. Dieser offensichtliche Widerspruch zwischen illusionärer Vorstellung r und Wirklichkeit hatte für das Erziehungssy-stem und für die Jugendlichen selbst fatale Folgen. Zum erstenmal wurden diese Zusammenhänge von Soziologen aufgedeckt, die sich mit der Untersuchung der Jugendkriminalität beschäftigten. Sie machten auf die Kettenreaktion aufmerksam, daß der Zerfall dieser Illusionen den Zusammenbruch der Lebensideale nach sich zieht. Dazu sagte ein Soziologe: „Daraus entstehen ungesunder Skeptizismus, Nihilismus, Verachtung der allgemein anerkannten Verhaltensnormen und die Unwilligkeit, an das zu glauben, was die ältere Generation lehrt. .."

Das mittlerweile in der UdSSR veröffentlichte Material über die Welt der Schüler — womit wir nicht die Tausende in fürchterlichem Parteichinesisch geschriebenen, doch in rosigen Zukunftsvisionen schwelgenden Artikel meinen, sondern die Stimmen von Pädagogen, Psychologen und Soziologen — ermöglicht es, sich eine ziemlich genaue Vorstellung von der heranwachsenden Generation zu machen. Dabei stellten vor allem die Soziologen fest, daß die Tendenz zum unverbindlichen Nach-beten offizieller Phrasen bei den älteren Schülern weiterverbreitet ist als bei den Studenten. Diese Wissenschaftler, die das Berufsideal der Jugendlichen erforschen sollten, hatten mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Sie konnten gar nicht so leicht zum Kern des Problems und zur tatsächlichen Einstellung der Jugendlichen vorstoßen, weil sie von diesen mit einer Flut programmierter Phrasen überschüttet und auf Distanz gehalten wurden. Die ständige „ideologische" Bearbeitung der Jugendlichen hatte zur Folge, daß diese aus taktischen Gründen sich an die offizielle Sprachregelung hielten, sie formalisierten und zu Parade-und Abschirmungszwecken benutzten.

Die antiautoritäre Einstellung der Schüler zeichnet sich am deutlichsten an ihren Konflikten mit den Lehrern ab. Wir ziehen diese Frage bereits an dieser Stelle vor, obwohl sie aufs engste mit dem nächsten Kapitel über den Komsomol verknüpft ist. An jeder sowjetischen Schule gibt es eine Komsomolorganisation und eine Pionierorganisation für die Kinder. Unter den Komsomolzen beträgt der Anteil der Schüler 45 °/o, gleichzeitig gehören noch etwa 25 °/o der Lehrerschaft dem Komsomol an. Die Sache wird noch dadurch problematischer, daß der größte Teil davon Frauen sind. Nach dem XXIII. Parteitag (1966), als sich die Partei dazu entschloß, den Komsomol straffer an die Zügel zu nehmen, bot sich als naheliegendes Instrument an, die Lehrer auch zu Leitern der Komsomolorganisationen zu machen. Die Partei wollte den an Hochschulen praktizierten Mechanismus auf die Schulen übertragen; er sollte wie dort auch hier die Spannungen abbauen. Der Versuch schlug fehl. Die Schüler wählten nämlich auf ihren Versammlungen statutengemäß Vertreter aus den eigenen Reihen. Das ging in einigen Fällen so weit, daß sich die Lehrer regelrecht aus den Komsomolorganisationen verdrängt fühlen und anfingen, eigene „Komsomolorganisationen der Lehrer" zu gründen. Da es jedoch an den 8-und 10-Klassen-schulen meistens viel zu wenig noch dem Komsomol angehörende Lehrer gab, versuchten die verjagten Komsomollehrer, sogenannte interschulische Lehrerkomsomolorganisationen zu gründen. Hier mußten nun die Spitzen des Komsomol eingreifen, weil derartige Gebilde nach den Statuten nicht zugelassen werden können. An einer Schule oder in einem Betrieb darf jeweils nur eine Komsomolorganisation bestehen, die sich mit ganz konkreten Aufgaben zu beschäftigen hat Der Kampf im Inneren der einzelnen Komsomolorganisationen ist einer der eindrucksvollsten Hinweise auf die antiautoritären Bestrebungen unter den sowjetischen Schülern.

Die Barrieren zwischen Lehrern und Schülern sind mittlerweile noch höher geworden. Es wurden Fälle bekannt, daß Schüler in Komsomolorganisationen volles Mitspracherecht in schulischen Fragen forderten. Dieses Problem wird vor allem unter Pädagogen heftig diskutiert, weil im Gegensatz zu den Partei-und Komsomolorganisationen an den Hochschulen die Schüler in den Komsomolorganisationen kein Recht zur Kritik an den Lehrern haben. Während sich ein kleiner Teil der Lehrer gegen Mitbestimmung und institutionalisierte Kritik sträubt, sind die meisten doch der Ansicht, daß auf diese Weise die Spannungen gemildert werden könnten. So heißt es dazu in einer pädagogischen Fachzeitschrift, daß die Schüler untereinander sowieso über die Lehrer sprechen und sie kritisieren, ja möglicherweise sogar „Aktionen" planen würden.

Ganz allgemein läßt sich bei den Komsomolorganisationen der Schüler eine Emanzipationstendenz feststellen, was auf den jüngsten Tagungen der Lehrer in den Unionsrepubliken deutlich zum Ausdruck kam. Als Beispiel nur ein Hinweis auf die Tagung in der Moldauischen SSR, wo der Erste Sekretär des ZK des Komsomol Moldau, P. K. Lutschinskij, die Schuldirektoren und Lehrer daran erinnerte, daß die Komsomolorganisationen eigenständig und statutengemäß selbstverantwortlich sind Auffallend ist, daß parallel zu dieser Belebung im Komsomol andere politische Organisationen und Klubs des Komsomol zerfallen — eine gegenläufige Entwicklung, die weiter unten noch behandelt wird.

Das mangelnde Interesse der Jugendlichen an rein politischen Problemen ist eine Folge des schon angedeuteten Zerfalls der „Lebensideale". Das kam in Untersuchungen über Berufswünsche und Berufsbilder der Jugendlichen klar zum Ausdruck. Resigniert vermerkten die Forscher: „Ein beträchtlicher Teil der von uns befragten Abgänger (der 10-Klassenschule, B. L.) vermochte auf die Frage , Wem möchtest du im Leben nacheifern? Welches sind deine Ideale?'keine Antwort zu geben. Und dabei handelt es sich wahrscheinlich nicht darum, daß sie keine Ideale nennen wollten, sie hatten allem Anschein nach einfach und noch nie darüber nachgedacht."

Diese Abstinenz in Fragen des Idealismus bedeutet nun aber keinesfalls, daß die Jugend an allem desinteressiert sei. Im Gegenteil: In Dingen, die sie persönlich oder die ihre Organisationen angehen, entfalten sie ein erstaunliches Maß an Engagement und Aktivität.

Die unterrichtsfreie Zeit ist ein wichtiges Sonderproblem. Die Verantwortlichen befinden sich hier in einer viel stärkeren Zwangslage als ihre westlichen Kollegen, da ihr Anspruch auf eine totale Betreuung des Jugendlichen viel weiter reicht und viel weniger „arbeitsteilig" aufgefächert ist. Zur Zeit wird zwischen Eltern, Pädagogen und der Miliz lebhaft darüber diskutiert, ob die Schüler zuviel oder zu-wenig Freizeit haben. Verantwortliche Pädagogen drängen auf eine Reduzierung der unterrichtsfreien Zeit und auf eine straffere Organisation des Lehrbetriebs und gleichzeitig auf eine bessere personelle und räumliche Ausstattung der Schulen. Allerdings darf auch nicht übersehen werden, daß ein Großteil der Lehrer nichts dagegen einzuwenden hat, daß die Schüler viel Freizeit haben. Die Miliz — in diesem Zusammenhang ein recht unerwarteter Diskussionspartner — setzt sich dafür ein, die Freiheit der Halbwüchsigen drastisch einzuschränken Die Elternschaft ist gespal-ten: Die einen sind der Meinung, daß die Kinder zu wenig Freizeit haben, die anderen glauben, diese sei zu großzügig bemessen. Theoretisch heißt es, Sport und Gruppenspiele seien die beste Freizeitgestaltung. Doch reichen die vorhandenen Sport-und Spielplätze nicht aus. Was bleibt, ist die Straße mit all ihren Gefahren und negativen Einflüssen. Jugendkriminalität und Bandenwesen nehmen überhand. In Leningrad mußte eine Gruppe von Soziologen feststellen, daß fast jeder zweite Verstoß gegen die Gesetze von Gruppen von Minderjährigen begangen wurde, davon 69% Eigentumsdelikte und 21 % Rowdytum

Daneben wird von Komsomolorganen und in anderen Publikationen über den zunehmenden Alkoholismus unter den Minderjährigen geklagt. In der genannten Untersuchung über Jugendkriminalität wurde betont, daß der „normale Gange der Dinge" — gestohlen, verkauft und gewonnen — bei einem Diebstahl von den Halbwüchsigen nicht eingehalten werde. Von Jugendlichen werden für Diebstähle mit Vorliebe Gaststätten und Geschäfte ausgewählt, um leicht an Alkohol zu kommen. Auch gestohlene Luxusgegenstände, die weiterverkauft werden, dienen nicht dem „Gewinn", vielmehr wird der Erlös in Alkohol umgesetzt. Aus einem Artikel über die Kriminalität der Arbeiterjugend des Generalstaatsanwalts der UdSSR, M. P. Malarow, geht hervor, daß 70 % einer Gruppe von abgeurteilten Minderjährigen ihre negative Einstellung zur Familie offen zugegeben haben, 66 % sich verächtlich über das Gemeinschaftsleben an ihrem Wohnort äußerten und 48 % mit ihrem Arbeitsplatz unzufrieden waren. 63 % der Gesetzesverstöße wurden auf Straßen und in öffentlichen Gaststätten begangen, nur 27 % in Wohnungen.

Noch ein paar Worte zur wenig beneidenswerten Situation des Lehrers. Er ist mit der Abwicklung des reinen Unterrichtsprogramms derart überlastet, daß man von ihm unmöglich verlangen kann, die Kinder auch noch außerhalb der Schule zu betreuen. Eine Klasse hat bis zu 50 Schülern, so daß auf den einzelnen in den seltensten Fällen eingegangen werden kann. In vielen Schulen wird der Unterricht noch in zwei Schichten abgehalten. Besonders schwierig ist die Situtation bei Grundschulen und 8-Klassenschulen. In der Sowjetunion gibt es 83 000 Grundschulen mit einer Durchschnittszahl von 34 Schülern und 47 000 8-Klassenschulen mit einer Durchschnittszahl von 118 Schülern. Als Lehrer an einer solchen meist nur wenig gegliederten Schule oder sogar an einer „Zwergschule" zu wirken, ist gewiß nicht leicht. Diese Art Zwergschulen machen mehr als die Hallte aller sowjetischen Schulen aus. Sie liegen natürlich meist auf dem Lande. Allein die organisatorischen Schwierigkeiten sind so groß, daß sie für die an einer solchen Schule unterrichteten Kinder viele didaktische und erzieherische Nachteile mit sich bringen

In der fünfzigjährigen Geschichte der Sowjetunion hat man keine Lösung gefunden, die den Problemen der Schüler gerecht wurde. Die nach der Zeit des Stalinschen Drills und Terrors geborene und erzogene Jugend ist von einem großen Wissens-und Informationsbedürfnis beseelt. Die genormten Vorstellungen über das Leben in der eigenen Heimat, über das Zusammenleben mit den anderen Sowjetvölkern, deren Vertreter ihr täglich auf den Straßen der Städte oder in den Schulen begegnen, genügen ihr nicht mehr; diese Jugend von heute ist auch brennend an dem Leben ihrer Altersgenossen im westlichen Ausland interessiert. Lange wird sich diese Jugend nicht mehr von Mitbestimmung und Mitspracherecht zurückdrängen lassen.

3. Der Komsomol

Am Beispiel der Komsomolorganisationen an Hoch-und Mittelschulen wurde bereits ersichtlich, daß ihre Funktionen durchaus nicht identisch sind. Nach den jüngsten Angaben werden von 780 Hochschulkomsomolorganisationen mehr als 1, 5 Millionen Studenten erfaßt. Der Komsomol versteht sich als eine militante politisch-erzieherische Organisation. Mit dieser Selbstdefinition stößt er im Hochschulbetrieb auf nicht geringe Schwierigkeiten. Einerseits muß er auf eine Erweiterung der politisch-erzieherischen Sphäre drängen, andererseits liegt der Schwerpunkt des studentischen Interesses und „time-budgets" natürlicherweise beim Studium. In jüngster Zeit versuchte die Komsomolfüh-rung selbst, die Studienbelange in den Vordergrund zu rücken; die positive Einstellung der Studenten zum Studium wurde zum wichtigsten Ziel der politisch-erzieherischen Arbeit des Komsomol erklärt. Der Jugendverband trägt eine gewisse Mitverantwortung für die Ausbildungsqualität, und auch im Forschungssektor sollen möglichst viele Komsomolzen eingesetzt werden Allgemein kann man feststellen, daß die Partei gegenüber den studentischen Komsomolorganisationen eine ziemlich elastische Taktik verfolgt. Man ist sich durchaus der fatalen Folgen bewußt, die eine Fehlhaltung bei einer zahlenmäßig so starken Organisation auslösen könnte. Auf dem Dezemberplenum des ZK des Komsomol der UdSSR 1967 betonte der seinerzeitige Erste Sekretär Palow: „Die heutige Generation der Studentenschaft besteht überwiegend aus jungen Leuten, die 1945 und später geboren wurden. Die Formung ihrer sozialen Reife fällt mit der Periode des unaufhaltsamen Aufstiegs der sowjetischen Wirtschaft, der Kultur und des Wohlstandes der Werktätigen zusammen. Unsere Studenten zeichnet vor allem ein größerer Hang zu Neuem, mehr Energie, ein Drang zu aktiver sozialer Betätigung aus."

Die Forderung nach politischer Schulung der Studenten wurde nicht nur wegen des Vorrangs des Studiums gemildert, sondern auch aus einem anderen scheinbar banalen Grund: Die Gesellschaftswissenschaften an den Hochschulen aus vielerlei Gründen ein stellen qualitativ und quantitativ unterentwickeltes Gebiet dar. Das gilt ganz besonders für die Fächer Geschichte der KPdSU und wissenschaftlicher Kommunismus, die in der Zwangsjacke des Dogmatismus stecken und für die zu wenig qualifizierte und initiativreiche Professoren zur Verfügung stehen. Das hatte zur Folge, daß die Studenten das Interesse an diesen Themen restlos verloren. Diese Mißstände mußten offen zugegeben werden, und erst in letzter Zeit werden fieberhafte Anstrengungen gemacht, um das Niveau dieser Fächer zu heben

Als Ersatz-und Ausgleichsmechanismen müssen andere Institutionen und Programme einspringen, so die noch zu behandelnde militär-patriotische Erziehung, der Einsatz in der Produktion während der Ferien und andere integrierende — und dabei natürlich gleichzeitig auch nutzbringende — Gruppenaktivitäten.

Eine Studentin an der Staatsuniversität Tartu erklärte auf einer Wahlrechenschaftsversammlung der Komsomolorganisation: „Ich studiere an der Universität schon im sechsten Semester.

In einem Fach wie wissenschaftlicher Kommunismus habe ich immer sehr gute Noten gehabt. Wenn Sie mich fragen, was ich in diesem Fach weiß, dann wird die Antwort negativ ausfallen."

Die Komsomolorganisationen an Schulen und Hochschulen weisen viele gemeinsame Züge auf. Die Jugend will unbedingt etwas „interessantes" erleben und setzt sich deshalb nur für solche Aktionen ein, die ihr in dieser Hinsicht etwas zu versprechen scheinen. Wenn die Offiziellen von „sozialistischer Romantik" reden, handelt es sich dabei meist um eine euphemistische Verklärung schwerer Arbeitseinsätze; die Jungen verstehen darunter sehenswerte Filme, objektive Information über das Ausland, Kontaktmöglichkeiten zur großen weiten Welt, sie wollen zwar sachliche, aber leidenschaftliche Diskussionen, möchten sich über alles, was neu ist, ein eigenes Urteil bilden, sei es in Technik und Wissenschaft, sei es in Kunst und Literatur. Und nicht zuletzt -wol len sie nicht auf Dinge verzichten, die ihr Leben erleichtern und verschönen: Mode, Beat oder einfach ein „zweckloser" Ausflug. Solcher Dinge wegen kommt es oft zu Auseinandersetzungen mit der Parteibürokratie. Nur wenige „aufgeklärte" Karrieristen vermeiden das geflissentlich.

Selbstverständlich beteuert die Partei ihre Bereitschaft, auf die Wünsche der Jugendlichen einzugehen. Aber bevor irgend etwas Neues schließlich bis zur Jugend gelangt, hat es die vielfältigen Auslese-, Bewertungsund Manipulationsmühlen des Parteiapparates zu durchlaufen. Man macht sich kein klares Bild von der heutigen innenpolitischen Situation in der UdSSR, wenn man nicht berücksichtigt, daß gerade hier die Partei viele, viele Schlappen hinnehmen mußte. Die Skala der Niederlagen erstreckt sich über weite Bereiche — vom Jazz zu blue jeans und Minirock, vom verfemten und der Jugend doch so vertrauten Sartre bis zum heiligen Thomas von Aquin, über dessen „Leben und Werk" im vergangenen Jahr in Moskau ein aus dem Polnischen übersetztes Büchlein erschienen ist, das sofort vergriffen war und meist von Studenten gekauft wurde. Halb ironisch, halb zynisch berichteten die Reporter der „Literaturnaja Gazeta", daß es sich um eine „Mode" unter der Jugend handele — früher mußte man, um seiner „Angebeteten" zu imponieren, Gedichte rezitieren, heute müssen es Zitate vom Heiligen Thomas sein. Dennoch muß sich jeder dessen bewußt sein, daß solchem Verhalten etwas viel Ernsteres zugrunde liegt. Es ist die Absage der Jugend an die Kunst-und Geistkonserven. Ihr Interesse gilt auch den marxistischen Denkern des Westens — Bloch, Garaudy, Fischer — und der sozialistischen Länder — Havemann, Lukacz — und natürlich auch den Nichtmarxisten. Was die Partei dagegen mit großem Nachdruck anzubringen versucht, wird rein formal akzeptiert und geschluckt, schlägt aber keine Wurzeln. Die „Komsomolskaja Prawda" hat z. B. öfters Klage darüber geführt, daß einige politische Jugendklubs bei der Erläuterung so „interessanter" Wörter wie „Globus", „Erudit" und „Horizont" politische Probleme völlig beiseite lassen Das aserbeidschanische Parteiorgan „Baskinskij Rabotschij" schrieb kürzlich: „. .. eine Überprüfung der Tätigkeit des Ausbildungsnetzes des Komsomol in einigen Städten und Rayons zeigte, daß viele Komsomolgruppen in Schulen und Klubs im ganzen Jahr ein bis zwei Sitzungen abhielten und sich dann auflösten."

Gemeinsam ist den Komsomolgruppen von Schülern und Studenten auch die Tendenz, in ihrem Eigenleben demokratische Strukturen und Spielregeln einzuführen. So berichtete ein Leningrader Komsomolfunktionär entrüstet darüber, daß viele Aufgaben, die eigentlich den Komsomolorganisationen oblägen, von anderen Organisationen an sich gezogen würden, nämlich von der Partei, den Gewerkschaften und gelegentlich sogar von Privatpersonen. Das mißfällt den Komsomolzen und sie wollen sich nicht damit abfinden, daß ihre eigene Tätigkeit nur nach Direktiven und Instruktionen abzulaufen habe, was das Leben im Komsomol steril und eintönig macht. Jede Eigeninitiative der Komsomolmitglieder und -gruppen rufe das Mißtrauen von Dogmatikern und Parteifunktionären hervor: „. . . es fanden sich Menschen, denen unser selbständiges Handeln mißfiel, sie hatten Angst, die Jugend könnte zu aktiv werden. Wie gut hatten sie es doch mit den Komsomolorganisationen in ihrer traditionellen Form, da hatten sie mehr Ruhe. . . Ja es war leichter: alles hatten sie in der Hand, alles war schriftlich fixiert."

Wesentlichen Einfluß auf die psychische Einstellung hat natürlich auch das Alter, wodurch der Unterschied zwischen Schüler-und Studentenorganisationen zu erklären ist. Während der Student meist nur noch zwei bis drei Jahre Mitglied sein wird und sich in allem auf seine Zukunft hin orientiert, hat der Schüler noch acht bis zehn Jahre der Zeit seines Lebens im Komsomol vor sich, in der er am aufgeschlossensten für Umwelteinflüsse ist und weitgehend das akzeptieren muß, was ihm der Komsomol anbietet. In der Auseinandersetzung damit engagiert er sich viel stärker und rebelliert viel eher als der Student.

Angesichts der Reibereien im Komsomol selbst und der Konflikte in dessen Beziehungen zur Partei wird es verständlich, daß das harmonische und zukunftsweisende Porträt, das oft von dieser Vorhut der Jugend gezeichnet wird, in vielem nicht mit der Realität übereinstimmt und daß der Komsomol — wie andere Organisationen auf der Welt auch — Mängel und negative Züge aufweist und von Wandlungs-und Entwicklungsprozessen erfaßt wird.

Ein Beispiel aus einer soziologischen Untersuchung mag diese Diskrepanz zwischen dem schönfärberischen Bild idealistischer Jungkommunisten und schnöder Wirklichkeit zeigen: Bei einer Analyse jugendlicher Krimineller zeigte sich, daß ein Fünftel davon Komsomolmitglieder waren. Kommentar der Soziologen: Das beweist, daß mit der Erziehungsarbeit des Komsomol „nicht alles in Ordnung ist"

Es würde über unser Thema hinausgehen, die Stellung und die Möglichkeiten des Komsomol im gesellschaftlichen Gefüge der UdSSR zu analysieren. Es sei jedoch kurz darauf hingewiesen, daß die Komsomolzen in ihren Zeitungen und Zeitschriften, vor allem in der „Komsomolskaja Prawda", in den letzten Jahren oft mit aufsehenerregenden und weitreichenden Reformvorschlägen an die Öffentlichkeit traten. Dabei ging es von der „Parzellierung" der Kolchosen bis zur Unterstützung von Journalisten und Schriftstellern im Kampf gegen die Zensur. Die Parteiführung tadelte diese Äußerungen verschiedentlich und hat immer wieder „Säuberungen" angeordnet. Die dem Komsomol nahestehende Literaturzeitschrift „Junostj" schlug sich häufig auf die Seite der antidogmatischen Kräfte in der sowjetischen Gesellschaft. Das sind natürlich nur Symptome für gärende und keimende Bestrebungen im Komsomol, während seine offiziellen Schritte und Äußerungen von außen bestimmt und sorgfältig eingeplant sind.

4. Verstärkung der Parteikontrolle — Militarisierung des Lebens der Jugend

Die Partei ist sich des Gärungsprozesses innerhalb der Jugend voll bewußt und verfolgt aufmerksam die Entwicklung bei Studenten, Schülern und im Komsomol. Sie weiß auch, daß die Prinzipien ihrer eigenen Jugendpolitik nicht nur denen des Westens, sondern auch denen anderer sozialistischer Länder zuwiderlaufen. Gerade die in den letzten Monaten getroffenen Maßnahmen finden nicht ihresgleichen in der 50jährigen Geschichte der Sowjetunion. Zwei Hauptmerkmale treten dabei hervor. Zum einen läßt die Partei ihrem Mißtrauen gegenüber dem Komsomolzenapparat — der sich aus Komsomolzen selbst rekrutiert — freie Bahn. Schon seit dem XXIII. Parteitag (1966) wird unter der Devise „Den Parteikern im Komsomol verstärken" eine Kampagne geführt. Zum anderen verlagerten sich innerhalb der gesamten politisch-erzieherischen Arbeit die Akzente ganz grundlegend: Es wurde eine sogenannte militärisch-patriotische Erziehung eingeführt als das beste Mittel zur „Disziplinierung", zur moralischen Aufrüstung und zur Hervorrufung weiterer „kommunistischer Tugenden".

Was die Kampagne zur „Stärkung des Partei-kerns im Komsomol" in Wirklichkeit bedeutet, sei am Beispiel zweier Republiken gezeigt: Allein im kleinen Litauen wurden vom Frühjahr 1966 bis Ende 1967 4000 Parteimitglieder zur Arbeit in den Komsomol abgeordnet. Der Anteil der Parteimitglieder an der Komsomolmitgliedschaft insgesamt beträgt 22 °/o, bei den Komsomolorganisationen der Betriebe und der Landwirtschaft liegt er selbstverständlich noch höher, dort beträgt er 28 0/0 In Kasachstan liegen die Dinge ganz ähnlich: Mehr als die Hälfte der ZK-Mitglieder von Gebietskomitees des Komsomol sind dort Parteimitglieder bzw. -kandidaten der Komsomol hat inzwischen 13 600 Parteimitglieder in seinen Reihen Das alles führt zu einem merkwürdigen Paradox:

Statutengemäß sieht die Partei im Komsomol eine Nachwuchs-und Reserveorganisation für Parteikader-, sie hat jedoch nun die Abläufe auf den Kopf gestellt, indem sie sich selbst in die Rolle der Reservequelle für Komsomolkader drängt.

Gegenüber der Politik Chruschtschows stellt dies einen ganz gewaltigen Rückschritt dar, denn dieser förderte einerseits die übrigens vom XXIII. Parteitag gleichfalls wieder aufgehobene erleichterte Rekrutierung von Komsomolzen in die Partei, zum anderen überließ er den Komsomolzen weitgehend die Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten und wollte überwiegend Nur-Komsomolzen („die vielen Schnauzbärte stören mich") auf Führungsposten sehen. Vom Standpunkt des am Schreibtisch planenden Bürokraten mag die jetzt getroffene Maßnahme sinnvoll sein, für die Alltagswirklichkeit bringt sie jedoch eine Fülle von Reibungsflächen und von Problemen mit sich, als wichtigstes die Unterschiede psychologischer Natur. Das Wissen um sie gehört seit Jahren zum kleinen Einmaleins jedes Pädagogen. Eine erste Folge der eskalierenden Partei-maßnahmen im Komsomol war eine weitere Entfremdung der Jugend gegenüber ihren Führungsgremien, die ihrerseits die Kader soweit demoralisierte, daß unter ihnen die Fluktuationsrate sprunghaft anstieg

Am 1. Januar 1968 trat das Gesetz „über die allgemeine Militärpflicht" in Kraft. Die militärische Ausbildung von Schülern zwischen 14 und 16 Jahren und der bereits im Beruf stehenden Jugendlichen wurde damit grundlegend reformiert. Während Militärkreise dabei vor allem die „Stärkung der Verteidigungsbereitschaft" und eine Vervollkommnung der späteren Ausbildung auf der Basis dieser Grund-Vorbereitung im Auge haben, ist sie — wie schon angedeutet — für die Parteiführung ein wichtiges Erziehungsund Kontrollinstrument. Der augenblicklich angeheizte ideologische Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus verleiht, wie kürzlich ein theoretisches Parteiorgan schrieb, der politischen Erziehungsarbeit unter den Massen noch größeres Gewicht: „Es ist doch bekannt, daß unsere junge Generation diese harte Schule des revolutionären Kampfes und der Stählung der älteren Genossen nicht durchlaufen hat. Wir sind verpflichtet, eine neue Geheration von sowjetischen Patrioten zu erziehen, die bereit ist zur Arbeit und zu militärischen Taten."

Man liest nun immer seltener, daß auch der „Marxismus-Leninismus" diese Funktion übernehmen könnte; viel häufiger erscheinen jetzt Philippiken, die besagen, daß gerade der Marxismus-Leninismus eine militärisch-patriotische Erziehung verlange. Die eingelegten Maßnahmen verlaufen zweigleisig. Die Oberstufe der Schulen wird militarisiert und gleichzeitig werden alle Lehranstalten, auch Universitäten und Hochschulen, in einer Reihe militärisch-erzieherischer und militärisch-patriotischer Projekte einbezogen und in vielerlei Aktionen eingespannt.

Die militärische Grundausbildung der Jugend soll ohne eine Unterbrechung des Schulbesuchs vor sich gehen. Dazu sind an jeder Schule militärische Ausbilder (wojennyj rukowoditelj) anzustellen, denen die fachliche Seite der Ausbildung obliegt. Für das gesamte Ausbildungsprogramm sind 140 Unterrichtsstunden vorgesehen. Die wichtigste Aufgabe der militärischen Grundausbildung ist die Vermittlung von Einsichten über den Aufbau der sowjetischen Streitkräfte, über die Bedeutung der militärischen Eidesformel, die Entwicklung moralischer und kämpferischer Charakterzüge, Beherrschung bestimmter Kampfmethoden wie Schießen mit Gewehr, Pistole, Maschinengewehr und -pistole, Gebrauch von Nahkampf-waffen u. a. Die Jugend soll mit dem zivilen Bevölkerungsschutz vertraut gemacht werden, außerdem ist als Ziel der militärischen Grundausbildung noch vorgesehen, daß bestimmte Fertigkeiten gelernt werden, z. B. das Fahren von Kraftwagen und Motorrädern, das Bedienen von Funkortungsund Radiotelefongeräten, das Steuern von Booten und anderes mehr

Die Erhöhung der Ausbildungsgualität und der Verteidigungsbereitschaft sind dabei mehr nachgeordnete Ziele. Die Parteifunktionäre sind nicht allein mit der Ummodlung der ideologischen Erziehung beschäftigt, sondern werden erstaunlicherweise darin sogar noch von den Militärs unterstützt. Erziehung „im Geiste der kommunistischen Moral" und militärisch-patriotische Erziehung werden absolut gleichgesetzt. Dieser neue Erziehungstrend soll die Jugend „zur Ergebenheit gegenüber Vaterland und Kommunistische Partei, zum Haß gegen die Feinde des Vaterlandes, zur Erziehung im Geiste des proletarischen Internationalismus und der Freundschaft der Völker" führen

Diese geplante Militarisierung der Schule wirft eine Reihe gefährlicher Probleme auf. Sowjetische Pädagogen hatten vorher versucht, zwischen Schule und Produktionsbereich eine Annäherung zu schaffen. Diese Bemühungen waren zwar selten von Erfolg gekrönt, pädagogisch aber nicht immer von der Hand zu weisen. In ihrer unterrichtsfreien Zeit besichtigten die Schüler z. B. Betriebe und besuchten Kolchosen. Nun sollen Kasernenbesuche in den Vordergrund des Schülerinteresses treten. Zwischen Schulen und nahegelegenen Kasernen soll eine rege Verbindung ausgenommen werden, die Schüler sollen sich mit dem Alltag und dem Leben der Soldaten vertraut machen. In der Freizeit sollen Schlachtfelder und Heldenfriedhöfe besucht werden. Waren früher die Helden der sozialistischen Arbeit, Wissenschaftler und Astronauten beliebte Besucher, so sollen nun Veteranen des Zweiten Weltkrieges, Offiziere, vor allem Generale örtlicher Garnisonen und andere militärische Persönlichkeiten bevorzugt eingeladen werden. An einigen Schulen werden „Junggardisten (junyje gwardejzy) als Elitetruppen zusammengefaßt, in die nur ausgenommen wird, wer gut lernt und sich überhaupt gut führt. An der Kiewer Oberschule Nr. 71 besteht diese Gruppe der „Junggardisten" aus 160 Kindern, über die Schüler und Professoren der Suworow-Militär-Lehranstalt die Patenschaft übernahmen

Die Folgen dieser Anordnung lassen sich leicht absehen, denn die Wünsche der militärisch-patriotischen Erzieher sind aus verständlichen Gründen sehr viel leichter in „Einklang“ mit den Schülerinteressen zu bringen als die jahrelangen Versuche, den Kindern Probleme von Kolchosen und Fabriken näherzubringen. Welche Ziele die Militärs auch immer damit verfolgen mögen, für die Jungen ist es immer ein beliebtes Spiel, aber eben ein Spiel. Der Versuch, die militärisch-erzieherische Arbeit in der Schule zu forcieren, bringt bereits jetzt die Pervertierung einiger Unterrichtsfächer mit sich. So wird die Geschichte der Sowjetunion besonders im Lichte des aktuellen Bedarfs interpretiert. Die „Traditionen der besseren Menschen des russischen Reiches fortzusetzen" rückt als Anspruch auf einen ähnlich hohen Rang wie die Forschung, die Ideen Lenins und seiner Mitstreiter zu verwirklichen. Das Lehrfach Gymnastik wird mit neuem Inhalt angereichert: Handgranatenwerfen, Fechten, Judo und andere Formen des Kampfes ohne Waffen

An den Schulen werden Klubs bzw. Abteilungen „Junge Freunde der Sowjetarmee" gegründet. Die Schüler sollen sich mit der Geschichte der Streitkräfte vertraut machen, gleichzeitig aber die modernsten Waffentypen kennenlernen, Raketen-und Kriegsmarineeinheiten besuchen und die dabei erworbenen Kenntnisse in den Schülerklubs vertiefen. Gleichzeitig werden an den Schulen Museen eingerichtet, die Bezeichnungen wie etwa „Museum des Schlachtenruhms" haben. Die sowjetische Schule war das Experimentierfeld vieler pädagogischer und politischer Abenteurer. Manche von ihnen haben verheerende Wirkungen ausgelöst. Ob die derzeitigen Militarisierungsmaßnahmen wirklich ins Atomzeitalter passen oder wieweit sie ein letztes Rückzugsgefecht von politischen Führungsgruppen sind, die sich an allen Fronten als Verlierer'und Versager erwiesen, darüber wird die Geschichte urteilen.

An den Hochschulen werden bei den Partei-komitees „Räte für die militär-patriotische Erziehung" auf ehrenamtlicher Basis gebildet. Ihnen gehören meistens Professoren an, die Veteranen des letzten Krieges sind, und Studenten der höheren Semester, die ihren Militärdienst bereits geleistet haben. Aufgabe dieser Räte ist es, Vorträge und Konferenzen, Märsche unter militärischen Bedingungen, Treffen mit berühmten Persönlichkeiten des Zweiten Weltkriegs und den Besuch von Garnisonen zu organisieren. Darüber hinaus gibt es an einigen Universitäten Sektionen zur Propagierung militär-technischer Kenntnisse. Der Versuch, die Studenten und Schüler durch diese militärisch-patriotische Erziehung in den Griff zu bekommen, hat bereits weitverzwe umfassende Formen angenommen.

Ein weiterer Versuch der ideologische hung ist mit dem Arbeitseinsatz der S gekoppelt. Unter dem Stichwort „Di Semester — ein Arbeitssemester" ha tei-und Komsomolführung einen Pla arbeitet, um möglichst viele Studentei schiedenen Wirtschaftszweigen — vc im Bauwesen und in der Landwirtschal zusetzen und gleichzeitig ideologischrisch zu bearbeiten. Für die letztere I wurde ein minuziöses Programm für c zeit während des Einsatzes ausgearbe sieht z. B. ein Freizeitplan für Stude Bauwesen vor: In der ersten Woche ssich in den neu errichteten „Studenten:

(studentscheskie gorodki) einleben;

zweiten übernehmen sie im Zeiche „Woche der Freundschaft" die Patensch Pionierlager in der Umgebung, re Wandzeitungen, bauen Sportplätze, für die Organisation und Eröffnung v gendcafes"; in der folgenden Woche sie sich der „Pflege der revolutionäre;

tionen", die unter anderem darin Denkmäler zu reinigen, Kriegsgräber gen und Treffen mit Revolutions-um kriegsveteranen und Helden der Ar organisieren; dann folgt eine „Woc proletarischen Internationalismus"; c gende Woche ist der Wissenschaft, Kul Propaganda gewidmet; dann stehen und Dichtung auf dem Freizeitprograr beiden letzten Wochen stehen unter der „vordringliche Probleme" und schließlic der Devise „alles übergabebereit* Die Einsatzorte liegen in den traditi „Entwicklungsgebieten": in Sibirien 1 Fernen Osten, in Kasachstan und Mitt Auch hier wird an die schon überstraf Neulandromantik und den Pionierge Studenten appelliert. So heißt es in ein richt der Hochschulzeitung „Westnik w schkoly":,, Als im Zentralstab der studer Bauabteilungen beim ZK des Komsom die Geographie der Sommerarbeiten chen wurde, fielen die Namen Noril Siedlung Mirnyj in Jakutien, Tschukot Hafen Nachodka — allein diese Benem strömen einen Hauch von Romantik aus. Im Jahre 1968 wurde die Aktion „Art mester" besonders forciert; für die st sehen Bauabteilungen z. B. sollten me 250 000 Studenten eingesetzt werden, d. h. dreimal soviel wie im Vorjahr.

Parallel hierzu sollen sich die Studenten freiwillig beim Einsatz für die sogenannte „gesellschaftlich nützliche Arbeit" melden. Für die Sowjetukraine allein wurden 70 000 Studenten eingesetzt; die verrichteten Tätigkeiten erstrecken sich von Verschönerungsarbeiten an öffentlichen Anlagen bis zur Arbeit in den Fabriken, wo ihre Eltern beschäftigt sind Dieses Projekt verfolgt andere Ziele als die militärisch-patriotische Erziehung. Es ist ein ernst-gemeinter Versuch, zwischen Studium und Produktionsarbeit Brücken zu schlagen und die Studenten gleichzeitig als Erzieher in weit entfernten Gebieten zu nutzen. Auch hier geht es selbstverständlich oft dilettantisch zu; in der Presse wurde halb klagend, halb kritisch festgestellt, daß nicht einmal Studenten der höheren Semester von Bauhochschulen zum unmittelbaren Arbeitseinsatz fähig sind und oft mehr Schaden als Nutzen anrichten. Abgesehen von vielen negativen Einzelerscheinungen, muß doch insgesamt anerkannt werden, daß hinter diesen Maßnahmen durchaus rationale Überlegungen stehen. Wir haben aus einem besonderen Grund darüber berichtet: Es sollte gezeigt werden, daß trotz aller Bemühungen, den Erziehungsund Freizeitbereich mit militärisch-patriotischem Geist zu durchtränken, eine totale Erfassung nicht möglich ist, weil andere Strömungen dem entgegenwirken. Bei der Behandlung der militärisch-patriotischen Erziehungsmaßnahmen verdient ein weiteres Problem genauer beleuchtet zu werden. Nach dem XX. Parteitag (1956) stand bei der Partei die Erziehung zum sogenannten Proletarischen Internationalismus hoch im Kurs. Das sollte einerseits dem „bürgerlichen Nationalismus" vorbeugen — einem willkürlichen von der Parteibürokratie geprägten Terminus, unter dem alle Bestrebungen der verschiedenen Völker und Völkerschaften der Sowjetunion um nationale Eigenständigkeit bequem verketzert werden konnten. Ein weiteres Ziel dieser politischen Erziehung sollte es sein, durch Kontakt zwischen Schülern aus der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern die „brüderliche Zusammenarbeit" zwischen der Sowjetunion und diesen Ländern zu untermauern.

Eine erste Krise ergab sich bei diesem Vorhaben, als der Konflikt zwischen Moskau und Peking ausbrach. Alle Schulen und Schüler, die Brieffreundschaften mit chinesischen Partnern pflegten, mußten ihre Korrespondenz, die erst gerade nach dem XX. Parteitag besonders angeregt und ausgeweitet worden war, abbrechen. Man kann sich die Verwirrung der Kinder gut vorstellen, die plötzlich zu lernen hatten, daß ihre Freunde Erzfeinde seien. Weit komplizierter sind jedoch die Kontakte und Briefwechsel mit den europäischen Nachbar-staaten. Wir wollen hier einen Augenblick von den jüngsten „Vorkommnissen" in der CSSR absehen und zurückblenden auf die gar nicht so lange zurückliegende Zeit, wo die CSSR als zuverlässigster Verbündeter der Sowjetunion galt. Vor allem zwischen den unmittelbaren Nachbarn — Ukraine und CSSR — wurden sowohl Briefwechsel als Delegationsaustausch stark gefördert. An mehreren ukrainischen Schulen waren die „Klubs für internationale Freundschaft" fast ausschließlich den Kontakten zu tschechoslowakischen Partnern vorbehalten. In allen Museen des Landes, nicht nur in Großstädten wie Scharkow, Kiew und Lemberg, sondern auch in Kleinstädten, wurden „Ecken" für die CSSR, besonders für die tschechoslowakische Armee, eingerichtet. Auch zwischen den Pionierpalästen von Großstädten beider Staaten gab es ein lebhaftes Hin und Her. Im Juni 1961 besichtigte der heutige Präsident der CSSR, General Svoboda, solche Einrichtungen und äußerte sich darüber begeistert

Den jüngsten Ereignissen fiel der „proletarische Internationalismus" wieder einmal zum Opfer. Tausende von Kindern erhalten verlegene Antworten, wenn sie fragen, warum sie plötzlich ihren tschechoslowakischen Freunden nicht mehr schreiben dürfen, warum sie keine Briefe mehr bekommen und warum der Austausch von Büchern und „Erinnerungsgeschenken" abgebrochen wurde. Die Vorstellungswelt der Schüler wird durch die Ausflüchte ihrer Erzieher erschüttert und sie suchen nach Erklärungen. Aber auch die Beziehungen zu den anderen sozialistischen Nachbarländern sind immer gefährdet. Die Gefahren, die sich aus der „sozialistischen Einkreisung" ergeben, werden ihrerseits von dogmatischen und chauvinistischen Kräften als Argument für die Forcierung der militärisch-patriotischen Erziehung ausgenutzt. Schon läßt sich beobachten, wie die „Klubs der Vaterlandspatrioten" (patrioty rodiny) den „Klubs für internationale Freundschaft" den Rang ablaufen. Die pessimistischen Beobachtungen überwiegen in unserem Überblick. Die Manipulationsmechanismen, deren sich die Partei bedient, sind ein Beleg dafür, wie unelastisch und un-dialektisch die heutige Parteiführung die Dinge betrachtet, wie sehr sie, die den Weg in eine bessere Zukunft zeigen will, an eingefahrenen Denk-und Verhaltensmustern festhält und unfähig ist, die Forderungen der Stunde zu erkennen und ihnen mit angemessenen und wirksamen Maßnahmen zu begegnen. Es sei nur noch einmal an den schon erwähnten Artikel erinnert, in dem die Forderung nach militärisch-patriotischer Erziehung mit all ihrem Drill und ihren chauvinistischen Phrasen damit begründet wird, daß die heutige Generation die harte Schule der Älteren nicht durchlaufen habe. Wo steht geschrieben, daß die Opfer der Älteren für die bessere Zukunft ihrer Kinder und Kindeskinder noch einmal gebracht werden müssen?

Hat es denn nicht genügt, daß für den relativen Wohlstand von heute und für das großangelegte Bildungssystem zwei Generationen von Arbeitern und vor allem von Bauern den Preis einer jahrzehntelangen Ausbeutung bezahlten? Das Anliegen der vorliegenden Arbeit war es zu untersuchen, mit welchen Methoden die Partei die Jugend der Sowjetunion, die sie zu wenig kennt und der sie deshalb zutiefst mißtraut, erziehen will. Die zahlreichen Berufungen auf soziologische Untersuchungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Jugendsoziologie in der UdSSR noch ein relativ unerforschtes Gebiet ist. Die Partei selbst verfügt nur über Leitungsund Steuerungsmechanismen, die überwiegend aus dem Arsenal der Stalinschen Despotie stammen und seither zu den unantastbaren „Leninschen Normen“ gehören. Ihr Hauptziel ist es, die Jugend zu kontrollieren, jede nicht genehme Strömung im Vorfeld aufzufangen und jeden nicht von ihr selbst ausgehenden Wandel zu verhindern.

So ist auch zu verstehen, warum sie so allergisch und gereizt reagieren mußte, als sie beim tschechoslowakischen Nachbarn Zeuge eines Versuchs wurde, völlig neue Steuerungsmechanismen anzuwenden, wo die Initiative der Gewerkschaften, der Schriftsteller und überhaupt des ganzen Volkes, wo Mitspracherecht und Mitbestimmung, Gedankenaustausch und Diskussion die Direktiven ersetzen sollten, wo nicht die katechismusartige Berufung auf die Autoritäten des Marxismus-Leninismus zählte, sondern der gesunde Menschenverstand zu Wort kam.

Das so lange schon frustrierte Kooperationsund Zusammengehörigkeitsgefühl der sowjetischen Jugend kann man auf die Dauer nicht mit patriotischen Phrasen ersticken. Keine Führungsgruppe, die nicht riskieren will, ihr Gesicht zu verlieren, kann es im Zeitalter der Elektronik und der weltweiten Kommunikation wagen, der Jugend vorzuwerfen, daß sie besser lebe, als die Eltern gelebt haben. Und das in einem Staat, der eine bessere Zukunft der Menschheit auf seine Fahne geschrieben hat! Der Jugend bleibt vorerst kaum eine andere Reaktionsmöglichkeit als zu versuchen, eine eigene Welt mit eigenen Spielregeln zu schaffen. Hunderttausende von Studenten, die mit Ernst und Leidenschaft ihrer Sache nachgehen, werden sich vielleicht doch eines Tages zu Wort melden und mit entscheiden, wie eine gerechte und optimal funktionierende Gesellschaft in der Sowjetunion aussehen soll. In der bevorstehenden Übergangsperiode muß man mit vielen Möglichkeiten rechnen. Der italienische kommunistische Journalist Giuseppe Boffa warnte in seiner Analyse „Dopo Kriuscio" vor den gefährlichen Folgen, die das heuchlerische Verhalten der sowjetischen Führung für die Jugend haben kann. Es schafft einen günstigen Nährboden für Unzufriedenheit und Protestaktionen ebenso wie für die Bildung extrem reaktionärer Gruppen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. „Iswestija" vom 30. Juni 1968.

  2. Ebenda.

  3. „Kommunist" Nr. 10, Juli 1968, S. 34.

  4. Sonderdruck in „Die Zeit" vom 9. August 1968.

  5. Sacharow schreibt über Trapesnikow (a. a. O.): „Die Führer unseres Landes und unseres Volkes sollten wissen, daß die Ansichten dieses fraglos intelligenten, verschlagenen und höchst konsequenten Mannes grundsätzlich stalinistisch sind (nach unserer Ansicht reflektieren sie die Interessen der bürokratischen Elite). Seine Ansichten unterscheiden sich fundamental von den Träumen und Sehnsüchten der breiten Masse und der Intelligenz, die nach unserer Meinung die wahren Interessen unseres Volkes und der fortschrittlichen Menschheit widerspiegeln."

  6. Uber die Parteiarbeit an Hochschulen siehe „Partijnaja shisnj" Nr. 11/1968, S. 45.

  7. Im Organ der KP Armeniens, „Konmunist", vom 23. Juni 1968.

  8. Ebenda.

  9. „Molodeshj Estonii" vom 17. Februar 1968.

  10. Siehe z. B. „Radjanska Ukraina" vom 15. Mai 1968.

  11. „Sowjetskaja Estonija" vom 12. Juni 1968.

  12. Siehe dazu den Bericht einer Studentin, die an der Moskauer Staatsuniversität Gelegenheit zu detaillierten Beobachtungen hatte, in der „Neuen Zürcher Zeitung" vom 11. Oktober 1966.

  13. Artikel von Jurij Shukow in der „Prawda" vom 30. Mai 1968 und Artikel von L. Sedin in „Nowoje Wremja" vom 24. Mai 1968.

  14. „Komsomolskaja Prawda" vom 25. Juni 1968.

  15. W. W. Krewnewitsch, Ekonomitscheskije osno-wy professional’noj orientazii molodeshi (Die wirtschaftlichen Grundlagen der Berufsberatung der Jugend), in: Sowjetskaja Pedagogika Nr. 2/1968, S. 44 ff.

  16. Siehe dazu die Untersuchungsergebnisse in „Schkola i proiswodstwo" Nr. 3/1968, S. 27, ebenda Nr. 4/1968, S. 13, und in „Radjanska Schkola" Nr. 3/1967, S. 5. Der interessierte Leser findet Näheres zum Problem der Berufsorientierung und der BeI rufswünsche der Schüler in einem Artikel des Verfassers . Berufsberatung", der 1968 in der Oktober-nummer der Zeitschrift «Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe", Nürnberg, erschienen ist

  17. Soziologija na Ukraijni", Kiew 1968, S. 159.

  18. „Radjanska Schkola" Nr. 5/1968, S. 70.

  19. „Sowjetskaja Moldawija" vom 23. Mai 1968.

  20. „Sowjetskaja Pedagogika" (1967, S. 73).

  21. Ebenda, Nr. 5/1968, S. 55.

  22. W. S. Prochorow, O gruppowoj prestupnosti nesowerschennoletnich (Uber die Gruppenkriminali-tät von Mindeijährigen), in: Westnik Leningradskogo Universiteta Nr. 11/1967.

  23. „Sowjetskaja Pedagogika" Nr. 4/1968, S. 5.

  24. M. I. Shurawlewa, Organizator studentscheskoj molodeshi (Organisator der studentischen Jugend), in: Westnik Wysschej Schkoly Nr. 11/1967.

  25. »Komsomolskaja Prawda“ vom 27. 12. 1967.

  26. »Westnik wysschej schkoly'Nr. 4/1967 berichtet, daß man dagegen sehr energisch vorgehen wolle: Mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR würden neue Lehrprogramme ausgearbeitet und an den Universitäten von Leningrad, Rostow und Taschkent sowie an der Uraluniversität würden Institute für die Erhöhung der Qualifikation der Lehrer für Gesellschaftswissenschaften eingerichtet.

  27. „Molodesh Estonii" vom 25. Oktober 1967.

  28. „Komsomolskaja Prawda" vom 8. August 1968.

  29. „Bakinskij Rabotschij“ vom 26. Juni 1968.

  30. „Junostj" Nr. 11/1966, Alexander Tichonow, Spor eschtsche ne okontschen (Der Streit ist noch nicht beendet).

  31. „Soziologija na Ukrajini", Kiew 1968, S. 155-156.

  32. „Partijnaja Shisnj" Nr. 1/1968, S. 31 ff.

  33. „Partijnaja Shisnj Kasachstana" Nr. 7/1967, S. 49.

  34. Ebenda, Nr. 7/1968, S. 14.

  35. Um nur die beiden genannten Republiken hierzu anzuführen: in Litauen „erneuert" sich jährlich etwa die Hälfte der Sekretäre der Grundorganisationen des Komsomol, siehe „Partijnaja shisnj" Nr. 1/68; in Kasachstan sind es noch mehr.

  36. „Polititscheskoje samoobrasowanije“ Nr. 8/S. 102.

  37. „Krasnaja Swesda" vom 9. und 10. Juli 1968.

  38. Ebenda vom 9. Juli 1968, Verfasser dieses Artikels ist Generalleutnant A. Odinzow.

  39. „Radjanska schkola" Nr. 7/1968, S. 75.

  40. Ebenda, S. 73.

  41. „Westnik wysschej schkcly" Nr. 6/1968,

  42. Ebenda.

  43. „Molodj Ukrainy" vom 2. Juli 1968.

  44. „Radjanska Schkola" Nr. 5/1968, S. 72.

Weitere Inhalte

Borys Lewytzkyj, geb. 1915 in Wien, Magister der Philosophie der Universität Lemberg, Autor zahlreicher Artikel in Fachzeitschriften, ferner der Bücher: Die Rote Inguisition, Frankfurt/M. 1967; Die Sowjet-ukraine 1944— 1963, Köln 1964; Die Kommunistische Partei der Sowjetunion — Porträt eines Ordens, Stuttgart 1967.