Die Wahlen zur Nationalversammlung Am 21. Januar 1919 veröffentlichte die Reichs-regierung Ebert folgende Verordnung über die „Berufung der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung" im Reichsgesetzblatt: „Die am 19. Januar 1919 gewählte verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung wird berufen, am 6. Februar 1919 in Weimar zusammenzutreten. Der Staatssekretär des Innern wird mit den zu diesem Zweck nötigen Vorbereitungen beauftragt."
In welchem Ausmaße potentielle KPD-Wähler der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und besonders der noch stärker links orientierten USPD ihre Stimme gaben oder sich überhaupt der Wahl enthielten, kann heute nicht mehr festgestellt werden. Nach Angaben der „Vierteljahrshefte für Statistik des Deutschen Reiches" betrug die Wahlbeteiligung in 33 Wahlkreisen rund 83 Prozent 2), das machte genau 30 524 848 abgegebene Stimmen aus. Von diesen durften die sozialistisch ausgerichteten Parteien (SPD und USPD) rund 13, 8 Millionen (= 45, 5%) für sich verbuchen. Die Mehrheit des deutschen Wahlvolkes entschied sich also für bürgerliche bzw. konservative Parteien. Diese waren aber in ihren stärksten Gruppierungen wie der Christlichen Volkspartei (späteres Zentrum und Bayerische Volkspartei) und der Deutschen Demokratischen Partei demokratisch eingestellt und traten für eine parlamentarische Staats-und Regierungsform ein. Wenn diese auch nicht unbedingt, wie Arthur Rosenberg in seinem Buche „Geschichte der Weimarer Republik" 3) meint, die Tatsache der Revolution gebilligt haben mochten, so waren sie doch gewillt, an einer staatlichen Neuordnung Deutschlands mitzuwirken.
Insgesamt konnten die Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung in ihrem Ergebnis als ein Ja des deutschen Volkes zum parlamentarischen System gewertet werden. Das Wahlgesetz Gewählt wurde nach den Bestimmungen des „Reichswahlgesetzes vom 30. November 1918". In dessen ersten Paragraphen wurde über den Wahlmodus ausgesagt: „Die Mitglieder der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung werden in allgemeinen, unmittelbaren und geheimen Wahlen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt."
Der „Rat der Volksbeauftragten", in dessen Namen der Staatssekretär des Innern, Professor Dr. Hugo Preuß, die Wahlverordnung erließ, hatte sich also für das reine Verhältnis-wahlrecht entschieden. Damit sollte allen politischen Gruppen im Reich Rechnung getragen und ihre Mitwirkung beim Neuaufbau des deutschen Staatswesens erreicht werden. Man sah im Verhältniswahlsystem die gerechteste Methode für die politische Mitbestimmung des Volkes, weil in ihm jede Majorisierung einer kleinen Minderheit bzw.deren Ausschluß von der parlamentarischen Arbeit vermieden würde. Das bedeutete: Wer zwischen Freiburg und Königsberg, zwischen Breslau und Aachen rund 80 000 Stimmen auf sich vereinigte, war in der Weimarer Nationalversammlung vertreten. Es mögen bei der Festlegung des Wahl-modus auch die von der Sozialdemokratischen Partei im Kaiserreich gemachten bitteren Erfahrungen mit dem Dreiklassenwahlrecht und den Wahlmanipulationen zugunsten gewisser Parteien eine Rolle gespielt und dadurch bedingt zu der Absicht geführt haben, an der Neugestaltung des deutschen Staates alle politischen Strömungen zu beteiligen. Das Bestreben nach möglichst umfassender Beteiligung des ganzen Volkes am Aufbau des neuen Staatswesens darf auch aus der Einführung des Frauenwahlrechts gefolgert werden. Der einschlägige Paragraph des Wahlgesetzes vom 30. November 1918 gesteht jedoch nicht nur den Frauen erstmals in Deutschland das Wahlrecht zu, sondern setzt auch das Wahlalter von bisher 25 auf 20 Jahre herab
Diese Herabsetzung des Wahlalters unterstreicht die festgestellte Tendenz, eine möglichst breite Erfassung des Volkes für die politische Aufgabe zu erreichen. Angesichts der gegenwärtigen Überlegungen in der Bundesrepublik, das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre herabzusetzen, wirkt diese Regelung von 1918 geradezu fortschrittlich.
Die Vorverlegung der Wahl Der im Paragraph 24 festgelegte Wahltermin, der den 16. Februar 1919 vorsah
Wörtlich führt Brockdorff-Rantzau in seinem Promemoria aus: „Dafür (für die Stützung der Autorität der Reichsregierung) ist die beschleunigte Einberufung der Nationalversammlung die unerläßliche Voraussetzung. Ich möchte verlangen, daß diese noch vor dem 16. Februar 1919 stattfindet. Es gibt technische Probleme, die unendlich schwieriger sind als die Berufung dieser Konstituante binnen kürzester Frist, und die auch gelöst wurden."
Ganz im Sinne seines politischen Freundes Friedrich Ebert, der durch die Vorgänge des 6. Dezember 1918 bei den Spartakisten und einigen radikalen Sozialisten ungerechtfertigterweise in ein Zwielicht geraten war, beschwor er die 450 Delegierten: „. . . Im Interesse unseres Landes, das jetzt unser Land geworden ist, das wir aus tiefster Seele lieben, dem wir in seiner höchsten und größten Not nur um so fester die Treue halten wollen, im Interesse des deutschen Volkes und besonders der Arbeiterschaft und im Interesse auch der neu aufzubauenden Menschheitsorganisation vom Standpunkt der Demokratie und des Sozialismus aus brauchen wir die Nationalversammlung, die den Willen des deutschen Volkes feststellt. Deshalb bitte ich Sie, weil die Gefahr so nahe und so groß ist, in Ihrer großen Mehrheit für meinen Antrag zu stimmen und zu verlangen, daß die Wahlen für die deutsche Nationalversammlung am 19. Januar stattfinden. ..."
Obwohl Ernst Däumig, Vorstandsmitglied der USPD und Obmann der Freien Gewerkschaften, am gleichen Tage leidenschaftlich für das Rätesystem sprach, eine sklavische Nachahmung des russischen Beispiels allerdings entschieden ablehnte, fand sich eine überzeugende Mehrheit der Delegierten für die Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung und die hierfür notwendigen Reichswahlen am 19. Januar 1919.
Die einseitige Deutung der sowjetzonalen Historiographie Die sowjetzonale Geschichtsschreibung, für die Staatspolitik ausschließlich Politik im Interesse einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse ist, übernimmt nur einen Punkt aus der Argumentation Däumigs für die Einführung des Rätesystems. In die historische Betrachtung Pankows passen nur die folgenden Sätze des späteren Mitvorsitzenden der Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands (VKPD)
Karl Polak, ein namhafter Vertreter der mitteldeutschen Historiographie, resümiert aus diesen zum Ausdruck gebrachten Befürchtungen Däumigs die lapidare Feststellung: „Die alten Mächte blieben"
Ein Monat der Unruhen Die Zeit zwischen dem 19. Dezember 1918 und dem 19. Januar 1919, dem Tag der Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung, war von mannigfaltigen Ereignissen angefüllt. Zu den für die junge deutsche Republik folgen-reichsten Geschehnissen gehörte zweifellos der Austritt der USPD-Vertreter aus dem Rat der Volksbeauftragten am 27. Dezember 1918. Vier Tage später, am 31. Dezember, wurde die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) gegründet ünd auf ihrem Gründungsparteitag gegen den Rat Rosa Luxemburgs eine Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung abgelehnt.
Den Vorstellungen der Parteitagsmehrheit gemäß inszenierte die neue kommunistische Partei den Januar-Aufstand in Berlin, proklamierte am 6. Januar 1919 einen Revolutionsausschuß und versuchte auf diese Weise, sich in den Besitz der vollziehenden Gewalt zu setzen. Nach dem Scheitern dieser umstürzlerischen Bestrebungen, die als „Spartakuswoche"
in die deutsche Geschichte eingegangen sind, trifft die deutsche kommunistische Partei durch die Ermordung ihrer führenden Köpfe Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ein Schlag von unabsehbaren Folgen. Mit ihrem Tod waren nicht nur die mitreißendsten Gestalten der kommunistischen Bewegung in Deutschland dahingegangen, sondern gleichzeitig auch der Selbstbehauptungswille der deutschen kommunistischen Partei gegenüber dem Führungsanspruch der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) gebrochen.
Warum man nach Weimar ging Am 6. Februar 1919 traten dann die 423 gewählten Abgeordneten zu ihrer konstituierenden Sitzung im Weimarer Nationaltheater zusammen.
Ausschlaggebend für die Wahl Weimars als Tagungsort war der erklärte Wille der neuen politischen Führung des Reiches, sich von der militaristischen Tradition Potsdams abzuwenden und an das geistige Erbe Goethes und Schillers anzuknüpfen. Der Welt und den in Versailles über den Friedensvertrag mit Deutschlands beratenden Siegermächten sollte ins Bewußtsein gerufen werden, daß es neben dem eben zu Boden gerungenen militanten kaiserlichen Deutschen Reich noch das Land der Dichter und Denker gab, dessen kulturelle Leistung das ganze Abendland bereichert hat.
Außer dieser Symbolkraft bot die thüringische Kleinstadt der Versammlung eine relative Sicherheit gegen jeden Druck der Straße. Warum man nicht in Berlin tagte, begründet Helmut Heiber zutreffend: „. . . die Regierung der Volksbeauftragten wollte nach den Erfahrungen mit dem Rätekongreß die Nationalversammlung dadurch dem Druck der Straße, den Aktionen und Pressionen der in der Reichshauptstadt ja relativ starken feindlichen sozialistischen Brüder von USPD bis Spartakus entziehen. Denn es war noch nicht klar erkennbar, daß die Januarkämpfe . . .den revolutionären Impetus jedenfalls Berlins weitgehend erschöpft hatten . .
Obwohl es bislang in Weimar politisch ruhig geblieben war, hielt es die Reichsregierung doch für notwendig, die Umgebung der Stadt Weimar von zuverlässigen Truppeneinheiten absperren zu lassen. Man wollte auf alle Fälle einen ungestörten Verlauf der Beratungen gewährleisten. In einem Korrespondentenbericht mit der Überschrift „Der Ring um Weimar" heißt es: „. . . Um die Weimarer Sperrzone, die außer der Stadt noch 32 Ortschaften umfaßt, ist ein dichter Truppenkordon gelegt, der den Verkehr nach Weimar entsprechend den Vorschriften über den Paßzwang durchführt. Die Truppen sind derartig ausgerüstet, daß sie jeden Handstreich ohne weiteres zurückzuweisen in der Lage sind. Ein ernsthafter Versuch, nach Weimar zu gelangen, ist bis jetzt nicht gemacht worden . .."
Friedrich Ebert eröffnet die Versammlung Im Schutze dieser Sicherheitsmaßnahmen konnte Friedrich Ebert die Nationalversammlung am 6. Februar 1919 mit einer richtungweisenden Rede eröffnen. Darin stellte er die Hauptaufgaben der Versammlung heraus und rief alle Teile des Volkes auf, das ihrige zur Meisterung der Zukunft beizutragen
Die erste Aufgabe der Versammlung: Verabschiedung des Gesetzes über „die vorläufige Reichsgewalt"
Nach der Wahl des Präsidenten der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, die mit Mehrheit auf den sozialdemokratischen Abgeordneten Dr. Eduard David fiel, ging das Plenum sofort an die Erledigung der vordringlichsten Aufgaben. Zu ihnen gehörte ein Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt. Dieses wurde bereits von einer Kommission von Vertretern der einzelnen deutschen Länder am 26. Januar 1919 vorberaten und beschlossen, als sich in einigen deutschen Einzelstaaten starke Widerstände gegen den Verfassungsentwurf von Hugo Preuß erhoben hatten. Die Weimarer Nationalversammlung billigte es am 10. Februar 1919. Der erste Paragraph legte die wichtigsten Aufgaben der verfassunggebenden Nationalversammlung fest. Er lautete: „Die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung hat die Aufgabe, die künftige Reichsverfassung sowie auch sonstige dringende Reichsgesetze zu schaffen."
War die erste Aufgabe bereits in der Bezeichnung des Gremiums als „verfassunggebende Nationalversammlung" angedeutet, so verbarg sich hinter der anspruchslosen Formulierung „sowie auch sonstige dringende Reichsgesetze zu schaffen" unter anderem auch die Pflicht, über Annahme oder Ablehnung des Versailler Friedensvertrages zu entscheiden. Diese Entscheidung sollte die schwerste und bitterste werden, welche die 37 Frauen und 386 Männer der Deutschen Nationalversammlung zu fällen hatten.
Die folgenden neun Paragraphen des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt regelten die Beteiligung der deutschen Länder an der Reichsverwaltung sowie ihre Mitwirkung bei den Beratungen der Nationalversammlung, die Wahl eines vorläufigen Reichspräsidenten, die Einsetzung einer Reichsregierung und die Zuständigkeiten der einzelnen Reichsorgane
Der nächste Paragraph verbrieft den Einzelstaaten das Recht, bei einer etwaigen Veränderung ihres Gebietsbestandes um Zustimmung gebeten werden zu müssen. „Im übrigen", so heißt es im § 3 weiter, „kommen Reichsgesetze durch Übereinstimmung zwischen der Nationalversammlung und dem Staatenausschuß zustande." Danach hatten die deutschen Freistaaten jener Zeit ein größeres Mitspracherecht bei der Gesetzgebung der Nationalversammlung, als der heutige Bundesrat nach dem Bonner Grundgesetz wahrnehmen kann. Allerdings handelte es sich im vorliegenden Falle nur um ein „Gesetz über die vorläufige Reichs-gewalt."
Der erste Reichspräsident: Friedrich Ebert Dem Paragraphen 7 des Gesetzes wurde sogleich am folgenden Tage, dem 11. Februar 1919, entsprochen: Der bisherige Vorsitzende des Rates der Volksbeauftragten, Friedrich Ebert, wurde von der verfassunggebenden Nationalversammlung in Weimar zum Reichs-präsidenten gewählt.
Mit dieser Wahl fand ein Politiker und Staatsmann die gebührende Anerkennung für die mannigfaltigen Verdienste um Volk und Staat, die er sich besonders seit dem Zusammenbruch der Monarchie erworben hatte. Eberts Leistungen sind um so höher zu veranschlagen, als sie in einem harten und entbehrungsreichen Leben erst errungen werden mußten und nicht durch Herkunft oder Stand erleichtert wurden. Als viertes von sechs Kindern eines Heidelberger Schneidermeisters mußte er seinen Wunsch zu studieren wegen der Mittellosigkeit des Elternhauses aufgeben. 1889 trat er als achtzehnjähriger Sattlergeselle der Sozialdemokratischen Partei in Mannheim bei und machte sich in den folgenden Jahren mit den Schriften Karl Marx'und Friedrich Engels'vertraut. Weit mehr als die Theorie des Sozialismus interessierte ihn jedoch die praktische Frage, wie man die Lebensbedingungen des Arbeiters verbessern könnte. Nach wiederholtem Ortswechsel kam Friedrich Ebert schließlich nach Bremen, wurde dort Vorsitzender des Gewerkschaftskartells, 1893 Lokal-redakteur bei der „Bremer Bürgerzeitung" und zog 1900 in die Bremer Bürgerschaft als Abgeordneter ein. Als er im Jahre 1905 zum Sekretär des sozialdemokratischen Parteivorstands gewählt worden war, nahm er seinen Wohnsitz in Berlin. Als Vermittler zwischen Partei und Gewerkschaft, zwischen dem rechten und dem linken Flügel der Sozialdemokratie, spielte er eine große Rolle, die noch an Bedeutung gewann, als er 1912 in den Reichstag, 1913 auf dem Jenaer Parteitag mit 433 von 473 Stimmen als Nachfolger August Bebels zum Parteivorsitzenden und im Januar 1916 neben Philipp Scheidemann zum Sprecher der SPD-Fraktion im Deutschen Reichstag gewählt wurde.
Während des Ersten Weltkriegs blieb Ebert weiterhin stets um einen Ausgleich innerhalb der Partei bemüht, hob jedoch infolge der Kriegskreditverweigerung durch die Unabhängigen im März 1916 die Fraktionsgemeinschaft zwischen Mehrheitssozialisten und Minderheit auf und verband sich anschließend mit dem Zentrum und der Fortschrittspartei. Friedrich Ebert war Gegner einer Annexionspolitik, bejahte aber die Pflicht zur Landesverteidigung und bemühte sich energisch um eine Beilegung des Berliner Munitionsstreiks im Januar 1918, in den er gegen seinen Willen hineingezogen worden war. Die Ausrufung der Republik durch seinen Parteifreund Philipp Scheidemann am 9. November 1918 entsprach nicht seinem politischen Programm, vielmehr wünschte er die Monarchie als Staatsform beizubehalten. Sein Hauptanliegen, die Ordnung im Reich zu erhalten, veranlaßte ihn, das ihm am gleichen Tage durch den letzten kaiserlichen Regierungschef Prinz Max von Baden unter Zustimmung sämtlicher Staatssekretäre angetragene Reichskanzleramt zu übernehmen.
Prinz Max von Baden stellt in seinen „Erinnerungen" fest, daß Ebert immer bemüht war, den organischen Zusammenhang mit der Vergangenheit nicht zu lösen
Für Friedrich Ebert hatten Volk und Staat unbedingten Vorrang von Gruppenegoismus und starrer Parteidoktrin. Seine Wahl zum vorläufigen Reichspräsidenten durch die verfassunggebende Nationalversammlung war aber nicht nur als Zeichen dankbarer Anerkennung seitens der Abgeordneten gedacht, sondern auch als Vertrauensbeweis in die staatsmännischen Fähigkeiten Friedrich Eberts zu werten. Die schwierige politische Lage und die mit dem Amt des Reichspräsidenten verbundenen großen Aufgaben erforderten Kraft, politisches Talent und staatsmännisches Können. Die Wahl der Regierung Philipp Scheidemann Die nächste Aufgabe war dem neugewählten Reichspräsidenten Ebert schon im Paragraphen 8 des Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt gestellt: die Berufung einer neuen Reichsregierung. Er erfüllte sie bereits am folgenden Tage und berief Philipp Scheide-mann zum „Rerchsministerpräsident", wie der Regierungschef vorläufig hieß. Der Regierung gehörten vierzehn Minister an: sieben SPD-Mitglieder (Mehrheitssozialisten), drei Zentrumsvertreter (u. a. Erzberger), drei Mitglieder der Deutschen Demokratischen Partei, darunter Prof. Dr. Hugo Preuß als Reichsinnenminister, und Graf Brockdorff-Rantzau, ein Parteiloser, als Reichsminister des Auswärtigen. Mit dem Eintritt Dr. Davids in die Regierung Scheidemanns hatte die verfassung-gebende Nationalversammlung ihren Präsidenten verloren und mußte einen neuen wählen. Die Abgeordneten übertrugen dem 67jährigen Rechtsanwalt und Zentrumspolitiker Constantin Fehrenbach das Präsidentenamt.
Am 13. Februar 1919 trug Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann das Programm der Reichsregierung vor. Einleitend stellte er fest: „Die Verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung ist der alleinige Träger der Reichsgewalt."
Nachdem im „Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt" schon niedergelegt worden war, daß die Reichsminister für die Führung ihrer Geschäfte der Nationalversammlung verantwortlich sind
Eine richtungweisende Rede des Abg. Friedrich Naumann Diese Doppelfunktion der Nationalversammlung kam bereits in der Tagesordnung des 13. Februar 1919 zum Ausdruck. Auf ihr stand nicht nur die Entgegennahme der Regierungserklärung Philipp Scheidemanns, sondern auch eine sehr bemerkenswerte Rede Friedrich Naumanns, des Vorsitzenden der Deutschen Demokratischen Partei. In ihr führte der sozialliberale Politiker und politische Lehrmeister Theodor Heuss'u. a. aus: „Zusammengekommen sind wir, um die deutsche Republik nicht nur auszudenken, sondern in Betrieb zu setzen. Wir suchen eine Republik, die nicht nur auf dem Papiere steht, sondern die wirklich funktioniert, die nicht nur das Ideenwerk einer 25 legislativen Versammlung ist, in der man Resolutionen faßt, sondern die auch eine Exekutive, eine ausführende Verwaltung, besitzt, in der sich der deutsche Geist und der deutsche Wille tatsächlich verwirklichen. Wir sehen schon aus den verhältnismäßig wenigen Worten, die bisher in diesem Hause gewechselt worden sind: . . . hier liegen vor uns ganz große Schwierigkeiten, hier liegen die alten Schwierigkeiten von vor 70 Jahren noch genau so vor wie damals: Dezentralisation und Zentralisation, vorhandene Bundesstaaten und werdende Reichsgewalt; hier zeigen sich noch heute die geographischen Zwiespältigkeiten zwischen Nord und Süd; wir sind kein einheitlich, schematisch gefügtes Volk, sondern voll von Verschiedenheiten, voll innerer Wirrnisse und Dunkelheiten infolge unserer Vergangenheit."
Hugo Preuß, der Vater der Weimarer Verfassung Dieser Aufgabe fühlte sich auch Naumanns Parteifreund Professor Dr. Hugo Preuß verpflichtet, als er an die Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs ging. Bereits am 15. November vom damaligen Volksbeauftragten Friedrich Ebert in die Reichsleitung des Amtes für Inneres berufen, beschäftigte sich der bisherige Professor an der Handelshochschule Berlin und Staatsrechtslehrer Preuß mit den Prinzipien einer zukünftigen demokratischen Verfassung. Nach einem Artikel von ihm im „Berliner Tageblatt" war er sich durchaus darüber im klaren, daß der überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes das parlamentarische System noch ziemlich wesensfremd war
Hugo Preuß'Vorstellungen von einem künftigen deutschen Staat Trotz der vor ihm liegenden Schwierigkeiten ging Hugo Preuß unmittelbar nach seiner Berufung in die Regierung mit einem großen Stab von Fachleuten aus Theorie und Praxis, aus Wissenschaft und Verwaltung, darunter der Staatssekretär Gerhard Anschütz, der Soziologe Max Weber und der ehemalige Vizekanzler Friedrich von Payer, an die Aufgabe, Vorschläge für eine staatliche Neuordnung Deutschlands auszuarbeiten. Es schwebte ihm ein Einheitsstaat vor, in welchem die alte preußische Hegemonialstellung allerdings zerschlagen ist und auch die Befugnisse der Einzelstaaten, die er als Zufallsgebilde dynastischer Hausmachtspolitik betrachtete, stark eingeschränkt sind. Einen ersten Verfassungsentwurf, der diese Vorstellungen in die Tat umsetzen will, legte Hugo Preuß am 3. Januar 1919 den Volksbeauftragten und einzelnen Ressorts zur ersten Begutachtung vor. Der Entwurf umfaßte nur 68 Paragraphen und versuchte, bei Wahrung der kulturellen Mannigfaltigkeit der bisherigen Einzelstaaten einen einheitlichen deutschen Volksstaat zu errichten. In einer Denkschrift zum Verfassungsentwurf vom 3. Januar 1919 erläuterte Preuß seine Absicht: „Nicht das Dasein dieser Einzelstaaten, weder in ihrer monarchischen noch in ihrer freistaatlichen Form, ist das Erste und Entscheidende für die politische Lebensform des deutschen Volkes; vielmehr das Dasein dieses deutschen Volkes selbst als eine geschichtlich gegebene politische Einheit. Es gibt so wenig eine preußische oder bayerische, wie eine lippische oder reußische Nation; es gibt nur eine deutsche Nation, die sich in der deutschen demokratischen Republik ihre politische Lebensform gestalten soll ..."
Diesen Vorstellungen entsprechend wollte Hugo Preuß mit seinem Verfassungsentwurf einen dezentralisierten Einheitsstaat schaffen.
Die Exekutive sollte in den Händen eines vom Volke direkt gewählten Reichspräsidenten liegen, der aber von seinen Ministern abhängig war; der Reichstag sollte sich aus einem so-genannten Volkshaus und einem Staatenhaus zusammensetzen. Im Unterschied zum Bundesrat des Kaiserreiches (und zum jetzigen Bundesrat) sollte das Staatenhaus nicht von Vertretern der Länderregierungen gebildet werden, sondern aus Abgeordneten bestehen, die von den Volksvertretungen der einzelnen Staaten bestimmt wurden. Um die Länder weiter zu schwächen, sollten nach dem Verfassungsentwurf die Vertreter des Volkshauses ermächtigt sein, ohne Rücksicht auf bisher bestehende Landesgrenzen neue Freistaaten innerhalb des Reiches zu errichten.
Diese Vorschläge des überzeugten Unitariers Hugo Preuß stießen auf starken Widerspruch von Seiten der Länder. Eine Konferenz der Ländervertreter trat im Januar 1919 in Berlin zusammen und lehnte den Preuß’schen Entwurf in dieser Form ab. Die Abgesandten der Länder setzten die Forderung durch, daß neben der bestehenden provisorischen Regierung ein Staatenausschuß gebildet wurde, um die Ansprüche der Reichsländer zugunsten ihrer Reservatrechte zu vertreten. Als Gegenstück zum Preuß’schen Verfassungsentwurf beschloß man das „Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt", in welchem die Zuständigkeiten der Länder zu Lasten einer zentralen Reichsgewalt erheblich ausgeweitet wurden
Hugo Preuß'zweiter Verfassungsentwurf Flugo Preuß sah sich angesichts dieser starken Opposition der Länder gezwungen, einen neuen Entwurf für eine Reichsverfassung auszuarbeiten. Das Ergebnis dieser erneuten Beratung legte er am 20 Januar 1919 als „Ent-wiirf des allgemeinen Teils der künftigen Reichsverfassung''den Länderregierungen und dem Reichskabinett zur Stellungnahme vor. Dieser Entwurf umfaßte bereits 73 Paragraphen.
Sin erster Paragraph lautete: „Das Deutsche Reich besteht aus seinen bisherigen Gliedstaaten sowie aus den Gebieten, deren Bevölkerung kraft des Selbstbestimmungsrechts Aufnahme in das Reich begehrt und durch ein Reichsgesetz ausgenommen wird."
Dieser Entwurf wurde vom Reichskabinett und den Ländervertretern beraten und auf 109 Artikel erweitert. Die hinzugefügten Ergänzungen betrafen vor allem den Handel, die Finanzen, die Rechtspflege und das Verkehrswesen. Diese neue Fassung wurde vom Reichsministerium des Innern dem inzwischen gebildeten Staatenausschuß zur Begutachtung zugeleitet. Dieser erweiterte den Entwurf um weitere neun Artikel. Am 21. Februar 1919 ging dieser auf 118 Artikel angewachsene Entwurf für eine Reichsverfassung der Nationalversammlung zu.
Hugo Preuß'Begründung seines Verfassungsentwurfs Der nach der Regierungsbildung vom 12. Februar 1919 zum Reichsminister des Innern avancierte Hugo Preuß hielt bei der offiziellen Vorlage des Entwurfs der Reichsverfassung am 24. Februar 1919 vor der Nationalversammlung eine bedeutsame Rede. In ihr erläutert er seinen überarbeiteten Entwurf und setzt sich mit den vorgebrachten Einwänden kritisch auseinander. Er weist auf die Präambel hin, die den Wortlaut hat:
„Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich auf der Grundlage der Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, den inneren und äußeren Frieden zu sichern und den sozialen Fortschritt zu fördern, hat sich diese freistaatliche Verfassung gegeben."
Mit dieser Formulierung wollte Hugo Preuß zum Ausdruck bringen, daß der künftige deut-33) sehe Staat nicht ein Bund von Gliedstaaten sein soll, sondern in der Selbstorganisation seiner Bürger eine Einheit darstelle.
Der im Verfassungsentwurf beibehaltene Ausdruck „Reich" für die deutsche Republik wird von Preuß eigens begründet und als ein wichtiger Gefühlswert hingestellt, in welchem sich die Sehnsucht des deutschen Volkes nach nationaler Einigung offenbare. Mit dieser Begründung ist auch erklärt, warum sich das republikanische Deutschland noch mit einer amtlichen Bezeichnung versah, welche im Wort „Reich" zunächst an ein monarchisches Staatswesen denken läßt und im westlichen Ausland als „Empire" auch oft mißverstanden worden ist
Sozusagen als Ausgleich für diesen monarchistisch anmutenden Passus schlägt Preuß in seinem Entwurf (Artikel 1) vor, dem neuen Reiche neue Staatsfarben zu geben. Die in Vorschlag gebrachten Farben waren allerdings nicht mehr so neu, sondern bereits achtzig Jahre alt. Es waren die beim Hambacher Fest erstmals gezeigten und dann von der Paulskirchen-Versammlung 1848 zur Reichs-flagge erklärten Farben Schwarz-Rot-Gold. Mit der Wahl dieser Farben wollte Preuß an die politische Zielsetzung der deutschen Freiheitsund Einigungsbewegung des vergangenen Jahrhunderts anknüpfen. Er suchte nicht das Historische an ihnen, sondern sozusagen das Prinzip Schwarz-Rot-Gold. Es war in seiner Vorstellung zugleich der Gedanke politischer Freiheit verbunden mit dem der nationalen Einigung, und zwar der großdeutschen nationalen Einigung, der dann noch lange, als über dem kleindeutschen Reiche Bismarcks schon die schwarzweißrote Fahne wehte, in Deutsch-Osterreich das Schwarz-Rot-Gold in Ehren hielt. Preuß dachte also bei der Flaggenwahl auch an die Eingliederung Deutsch-Osterreichs in das Deutsche Reich. Er folgte damit Gedankengängen, die der politische Schriftsteller Constantin Frantz (1817— 1891) schon vertreten hatte, als er von der Nowendigkeit sprach, ein deutsches Deutschland zu schaffen. „Und dieses deutsche Deutschland", sagt Hugo Preuß in seiner Rede vom 24. Februar 1919, „frei von österreichischer wie von preußischer Hegemonie, mit einer selbständigen Zentral-gewalt über allen Gliedstaaten zu organisieren, das ist die Aufgabe der Verfassung . .
Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.
Artikel 2:
Das Reichgebiet besteht aus den Gebieten der deutschen Länder. Andere Gebiete können durch Reichsgesetz in das Reich ausgenommen werden, wenn es ihre Bevölkerung kraft des Selbstbestimmungsrechts begehrt.
Artikel 3:
Die Reichsfarben sind Schwarz-Rot-Gold. Die Handelsflagge ist Schwarz-Weiß-Rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke."
Die Verhandlungen im Verfassungsausschuß Um den Verfassungsentwurf ausführlich behandeln zu können und nicht immer wieder durch die laufend von der Reichsregierung eingebrachten Gesetzentwürfe zu aktuellen politischen Fragen
Es kam dennoch zu zahlreichen Ergänzungen des Entwurfs im Verfassungsausschuß. Sie betrafen Fragen des Gemeinschaftslebens, der Grundrechte und Grundpflichten der Bürger sowie des kulturellen und des wirtschaftlichen Lebens.
Die Stellungnahme der Deutschnationalen Bedeutungsvoller waren die politischen Meinungsverschiedenheiten über die Wesenszüge der Verfassung. So nahmen die deutsch-nationalen Abgeordneten Anstoß schon am Artikel 1 des Verfassungsentwurfs. Die beiden Sätze „Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“ bedeuteten in ihren Augen eine Umwälzung der bisherigen Verhältnisse von Grund auf. Der Abgeordnete Clemens von Delbrück von der Deutschnationalen Volkspartei brachte in einer Rede am 2. Juli 1919 seine und seiner Parteifreunde Bedenken gegen die Feststellung „Das Deutsche Reich ist eine Republik" mit den folgenden Worten zum Ausdruck: „Die beiden Sätze . .. bedeuten für uns den Abschied von einer großen Vergangenheit, den Abschied von Einrichtungen, die Deutschland auf ein hohes Maß von Macht, Kultur und Ansehen geführt haben . .
In richtiger Beurteilung der politischen Absichten Hugo Preuß'haben die deutschnationalen Kräfte erkannt, daß der Artikel 1 der Reichsverfassung den Übergang zum parlamentarisch regierten Volksstaat bedeutete.
Als Anhänger der Monarchie mußten sie die Republik ablehnen. Ihnen schwebte nach den Worten Delbrücks eine sogenannte demokratische Monarchie vor, wie sie sich im Oktober 1918 zu entwickeln begann. Sie waren der Meinung, daß, wenn schon ein Wechsel in der Staatsform eintreten müßte, eine parlamentarische Monarchie für die deutschen Verhältnisse eine viel zweckmäßigere und nützlichere Einrichtung gewesen wäre als die reine Republik.
In der Sicht der konservativen, monarchistisch eingestellten Deutschnationalen war der von Hugo Preuß vorgelegte Verfassungsentwurf nicht die Arbeit eines freien und seiner Kraft bewußten, sondern eines zerschlagenen, am Boden liegenden Volkes, welches seine Verhältnisse denen des Auslandes, besonders der Siegermächte, anzupassen habe. Bedenkt man die Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags, besonders die Artikel 80 (Österreich betreffend), 159 bis 213 (das deutsche Landheer, die Seemacht und die Luftfahrt betreffend) und ihre Eingriffe in die deutsche Souveränität, dann muß man tatsächlich einräumen, daß sich das neue Deutschland nach den Wünschen und Vorstellungen der Siegermächte zu richten hatte. Es war dies aber nicht die freiwillig gewählte Politik der deutschen Demokraten, sondern ein Erbe der vergangenen kaiserlichen und deutschnationalen Außenpolitik.
Friedrich Ebert stellte diese Tatsache bereits in seiner Eröffnungsrede am 6. Februar 1919 fest, wenn er sagte: „Wir haben den Krieg verloren. Diese Tatsache ist keine Folge der Revolution . . ., es war die Kaiserliche Regierung des Prinzen Max von Baden, die den Waffenstillstand einleitete, der uns wehrlos machte. Nach dem Zusammenbruch unserer Verbündeten und angesichts der militärischen und wirtschaftlichen Lage konnte sie nicht anders handeln. Die Revolution lehnt die Verantwortung ab für das Elend, in das die verfehlte Politik der alten Gewalten und der leichtfertige Übermut der Militaristen das deutsche Volk gestürzt haben . . ."
So sehr diese Erklärung Eberts auf unwiderlegbaren Tatsachen beruhte und allen Zeitgenossen hätte einleuchten müssen, so wenig fand sie bei bestimmten rechtsgerichteten Kreisen Gehör. Die Ausführungen des Abgeordneten von Delbrück knapp fünf Monate nach den grundsätzlichen Feststellungen Eberts beweisen, wie illusionär die Erwartung gewesen war, daß alle Deutsche zwischen Urhebern des deutschen Zusammenbruchs und ihren Erben zu unterscheiden wüßten.
Die Forderung Eberts, mit der er die Nationalversammlung am 6. Februar 1919 eröffnete: „Wir müssen hier in Weimar die Wandlung vollziehen vom Imperialismus zum Idealismus, von der Weltmacht zur geistigen Größe", wurde nicht von allen Deutschen angenommen und verfiel schließlich dem Schicksal, aus einem gesteckten Ziel zu einer Illusion zu werden. Der schrecklichste Interpret der deutsch-nationalen Bedenken gegen den Staat von Weimar und seiner Verfassung wurde schließlich Adolf Hitler. Er verwechselte bewußt die Väter der neuen Staatsordnung mit den Urhebern der deutschen Niederlage und führte auf dem Boden dieser Verdrehung seinen fanatischen Kampf gegen die junge deutsche Demokratie, bis er sie im Jahre 1933 zerschlagen konnte.
Die Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold Die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) nahm jedoch nicht nur Anstoß an der neuen deutschen Staatsform, sie erklärte sich auch nicht mit den neuen Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold einverstanden. Sie beantragte, daß die künftige Reichsfahne Schwarz-Weiß-Rot sein solle. Unterstützung fand die politische Rechte mit dieser Forderung bei den deutschen Handelskreisen, welche sich mit Hinweis, daß sich diese Farben im internationalen Verkehr bestens eingeführt hätten, ebenfalls für die Beibehaltung der alten Flagge aussprachen. Dieser Flaggenstreit wurde schließlich durch einen Kompromiß beigelegt. Der sozialdemokratische Reichsminister Dr. Eduard David erklärte dazu in einer Rede vom 2. Juli 1919: „Nun ist ein Antrag .. . eingegangen, der lautet, den Artikel 3 wie folgt zu fassen: Die Reichsfarben sind Schwarz-Rot-Gold. Die Handelsflagge ist Schwarz-Weiß-Rot mit einer Gösch in Schwarz-Rot-Gold in der oberen inneren Ecke.'Die Regierung würde sich mit dieser Regelung einverstanden erklären und glaubt, daß damit alle die Bedenken beseitigt sind, die angeführt worden sind hinsichtlich der Führung eines weithin sichtbaren Wimpels auf unseren Schiffen draußen in der Welt ..."
Außer den Rechtsparteien hatte auch die politische Linke einen Antrag zur Frage der Reichsfarben eingebracht. Die sozialistische Gruppe beantragte, daß die Reichsflagge Rot sein solle. Reichsminister David wies in seiner Ablehnung dieses Antrags darauf hin, daß Rot die Farbe der sozialistischen Internationale sei, es sich aber bei der Reichsflagge um eine nationale Farbe handle. Er machte die sozialistischen Antragsteller darauf aufmerksam, daß innerhalb der sozialistischen Internationale auch die einzelnen ihr zugehörigen nationalen Gruppen bis jetzt ihre nationalen Farben gehabt hätten. Schließlich sei — ähnlich wie die Farben Schwarz-Weiß-Rot — die rote Fahne innerhalb des Reiches eine Partei-fahne und somit ihre Übernahme für ein überparteiliches Gebilde nicht empfehlenswert. Wörtlich sagte der Minister: „Wir müssen es doch erreichen, ein Symbol zu haben, zu dem sich mit Freuden das ganze Volk bekennt."
Dieser Wunsch blieb unerfüllt. Die Kommunisten scharten sich unter der roten Fahne zusammen und die Nationalsozialisten wählten für ihre Hakenkreuzfahne mit Bedacht die Farben Schwarz (Hakenkreuz) — Weiß (Kreis) — Rot. Statt daß sich das ganze Volk zur Flagge Schwarz-Rot-Gold bekannte, wie es die Väter der Weimarer Verfassung erhofften, ging die von ihnen geschaffene Republik unter der roten Fahne und der Hakenkreuzfahne nach vierzehn Jahren unter.
Wieder wurde ein Ziel Illusion.
Das Völkerrecht als Bestandteil des Reichsrechts — eine Illusion In der Absicht, einen geeinten freien, nationalen Staat zu organisieren, ihn aber nicht in nationalistischer Abschließung zu halten, ließ Hugo Preuß in seinen Verfassungsentwurf den Satz aufnehmen: „Das Reich erkennt das geltende Völkerrecht als bindenden Bestandteil seines eigenen Rechtes an."
Bei der Begründung seiner Verfassungsvorlage führte Hugo Preuß aus, Deutschland folge mit dieser vorgeschlagenen Verfassungsbestimmung dem Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika, die beim Eintritt in den Kreis der unabhängigen Staaten das Bekenntnis abgelegt hätten, das internationale Recht als verbindliches Recht des eigenen Staates anzuerkennen
Dieses Bestreben, nationales und internationales Recht sich immer mehr angleichen zu lassen, kommt auch im Artikel 63 der Verfassungsvorlage zum Ausdruck. Der letzte Absatz dieses Artikels lautet: „Sobald ein Völkerbund mit dem Ziele des Ausschlusses aller Geheimverträge geschlossen ist, bedürfen alle Verträge mit den im Völkerbünde vereinigten Staaten der Zustimmung des Reichstags."
Dieses Ziel deutscher Verfassungspolitik scheiterte diesmal am Widerstand der Alliierten. Sie gestatteten es dem Deutschen Reiche nicht, sofort in den Völkerbund einzutreten. Somit entfiel auch dieser Passus in der Reichsverfassung bzw. er wurde wie folgt abgeändert: „Bündnisse und Verträge mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung des Reichstags."
Die Eingliederung Österreichs scheitert am Einspruch der Alliierten Von den gleichen Staaten der Kriegskoalition ist auch die Erwartung der Nationalversammlung, daß sich Deutsch-Osterreich dem Deutschen Reich anschließen werde, ins Reich der Illusionen verwiesen worden. Wie bereits in dieser Untersuchung festgestellt wurde
Die Entscheidung für das Verhältniswahlrecht Die Väter der Weimarer Verfassung, selbst nach den Grundsätzen der Verhältniswahl an die Nationalversammlung delegiert, hielten es für praktisch und gerecht, das Prinzip der Verhältniswahl auch für die Zukunft beizubehalten. Sie legten ihren Willen im Artikel 22 der Reichsverfassung wie folgt nieder: „Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von den über zwanzig Jahre alten Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt."
Bei der Entscheidung für die Verhältniswahl ließen sich die Abgeordneten der Nationalversammlung von der Überzeugung leiten, daß jeder sich regende politische Wille im Volke in einer wahrhaften Demokratie auch berücksichtigt werden müsse. Eine solche Berücksichtigung schien ihnen am ehesten im Verhältniswahlrecht gewährleistet. Von den Führern der staatstragenden Parteien SPD, Zentrum und DDP, welche man später die „Weimarer Koalition" nannte, warnte nur Friedrich Naumann vor den möglichen negativen Auswirkungen eines reinen Verhältniswahlrechtes. Der liberale Politiker trat für das Mehrheitswahlsystem ein, weil er in ihm das demokratische Prinzip am meisten verwirklicht sah. Die Mehrheit der verfassunggebenden Nationalversammlung hielt jedoch an dem im Verfassungsentwurf vorgeschlagenen Verhältnis-wahlrecht fest. Ihr Ziel war und blieb, mittels der Verhältniswahl eine größtmögliche politische Beteiligung des Volkes an der Regelung seiner Angelegenheiten zu erreichen. Um dieses Zieles willen hatten die Befürworter des Preuß'schen Entwurfes auch den alten Weg der in Großbritannien und in denVereinigten Staaten von Amerika praktizierten Stichwahl im einzelnen Wahlkreis nicht eingeschlagen. Sie verließen ihn zugunsten des seinerzeit auf dem europäischen Kontinent weithin als Forderung streng gerechter Demokratie siegreichen Verhältniswahlrechtes. Die bedenklichen Folgen dieses Wahlsystems, wie Entfremdung von Wählern und Gewählten zugunsten des Parteiapparates bei der Listenwahl und Begünstigung von Splitterparteien, die sich dann in den zwanziger Jahren mit ganzer Schwere auswirkten und unter anderem auch die NSDAP frühzeitig in den Reichstag brachten, waren den Weimarer Abgeordneten nicht deutlich genug zum Bewußtsein gekommen. Sie gingen zunächst von ihren idealen Vorstellungen von der vollkommenen Demokratie aus und ordneten die Verfassungsbestimmungen auf dieses Ziel hin an. Dabei unterstellten sie offenbar, daß bei späteren Wahlen nach dem Verhältniswahlsystem die drei führenden Parteien (SPD, Zentrum, DDP) immer die regierungsbildende Mehrheit behalten würden und die Splitterparteien keinen entscheidenden Einfluß auf die deutsche Politik nehmen könnten. Sie fühlten sich in ihrer Annahme noch durch die Tatsache bestärkt, daß in der durch Verhältniswahl zustande gekommenen Nationalversammlung auch nur fünf Splitterparteien vertreten waren
Spätestens seit der Reichstagswahl vom 14. September 1930 konnte die sogenannte Weimarer Koalition (SPD, Zentrum, DDP) aber nicht mehr allein regieren und benötigte Splitterparteien als Koalitionspartner. Das Verhältniswahlsystem hat eine klare regierungsfähige Mehrheit im Reichstag verhindert.
Die Wahl vom 31. Juli 1932 brachte den erklärten Feinden der Weimarer Demokratie, nämlich den Nationalsozialisten und den Kommunisten, schließlich die absolute Mehrheit. Damit war das parlamentarische Regierungssystem vollends lahmgelegt.
Wenn von 1930 bis zur „Machtergreifung" Hitlers noch über zwei Jahre ins Land gingen, der formale Untergang der Weimarer Republik sich also noch verzögerte, dann ist dieser Aufschub auf das Eingreifen des Reichspräsidenten zurückzuführen.
Die zentrale Stellung des Reichspräsidenten Das Staatsoberhaupt stützte sich dabei auf den Artikel 48 der Reichsverfassung. Er lautet in der von der Nationalversammlung gebilligten Endfassung: „Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichs-gesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten. Der Reichs-präsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte
Obwohl das angekündigte Reichsgesetz nie verabschiedet worden ist, wurde das Reich in den Jahren 1931 und 1932 hauptsächlich durch Notverordnungen des Reichspräsidenten nach Artikel 48 regiert. Eine solche Anwendung des Artikels 48 hatten aber die Väter der Weimarer Verfassung nicht im Auge. Wie die Formulierung des Verfassungsentwurfes klar erkennen läßt, dachten sie bei dieser Regelung in erster Linie an die Möglichkeit, daß ein Land des Reiches sich absichtlich oder durch innere Unruhen gezwungen außerhalb der Gesetzlichkeit und Einheit des deutschen Staates stellt.
Die Vorgänge in Bayern und an Rhein und Ruhr mit ihren separatistischen bzw. bolschewistischen Tendenzen gaben den Abgeordneten Grund genug, sich um eine solche verfassungsrechtliche Handhabe des Reichspräsidenten zu bemühen. Im Text des Verfassungsentwurfs ist daher nur die Rede von der Gefährdung der Sicherheit und Ordnung in einem deutschen Freistaat. Das Ziel der verfassung-gebenden Nationalversammlung war demnach, mit dem Artikel 48 Ruhe und Ordnung in den deutschen Ländern zu garantieren bzw. im Notfälle wiederherzustellen. In diesem Sinne hat auch Reichspräsident Ebert in den folgenden Jahren diesen Artikel zur Anwendung gebracht.
Die Voikswahl des Reichspräsidenten Die Abgeordneten der Nationalversammlung wandten ihr Hauptinteresse grundsätzlichen Fragen nach Wahl und Stellung des Staatsoberhauptes zu. Zu ihnen gehörte die Überlegung, ob man den Präsidenten aus der Wahl des Parlamentes hervorgehen oder vom Volke direkt wählen lassen sollte. Hugo Preuß schlug in seinem Entwurf vom 20. Januar 1919 im Artikel 58 vor: „Der Reichspräsident wird vom ganzen deutschen Volk gewählt. Wählbar ist, wer das 35. Lebensjahr vollendet hat und seit mindestens 10 Jahren Deutscher ist. Gewählt ist, wer die Mehrheit von allen im Deutschen Reiche abgegebenen Stimmen erhalten hat. Stellt sich eine solche Mehrheit nicht heraus, so muß eine engere Wahl zwischen den beiden Bewerbern stattfinden, die die meisten Stimmen erhalten haben. Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los."
Er wollte damit neben das aus unmittelbaren, rein demokratischen Volkswahlen hervorgehende Parlament eine durch dieselbe demokratische Grundlage starke Präsidentengewalt stellen. Preuß war der Meinung, daß das parlamentarische System ein solches Gleichgewicht der Gewalten verlangt und voraussetzt.
Peter Haungs deutet zutreffend, wenn er in seiner Dissertation „Reichspräsident und parlamentarische Kabinettsregierung" feststellt: „Durch die Volkswahl . . . sollte der Präsident dem Parlament ebenbürtig werden."
Man darf auch annehmen, daß Hugo Preuß in seiner Verfassungs-Konzeption vom Soziologen Max Weber und von Robert Redslob beeinflußt bzw. bestärkt worden ist. Max Weber befürwortete die plebiszitäre Wahl des Reichs-präsidenten mit einer Parlament und Regierung überdauernden Amtszeit. Man glaubte damit, die Kraft der verantwortungsbewußten Einzelpersönlichkeit als Gegengewicht gegen die Anonymität des Verhältniswahlrechts einzusetzen. Obwohl die Nationalversammlung den Vorschlag Hugo Preuß'nach langen Debatten fast unverändert annahm — der entsprechende Artikel in der Reichsverfassung lautete nunmehr:
„Der Reichspräsident wird vom ganzen deutschen Volke gewählt. Wählbar ist jeder Deutsche, der das fünfunddreißigste Lebensjahr vollendet hat" —, handelten sie und ihr parlamentarischer Nachfolger, der Reichstag, doch nicht im Sinne dieses Artikels 41 der Verfassung. Vielmehr hatte sie selbst am 11. Februar 1919 Friedrich Ebert zum vorläufigen Reichspräsidenten gewählt — und nicht im Anschluß an die Verabschiedung der Verfassung das Volk unmittelbar wählen lassen. Im Oktober 1922 verlängerte der Reichstag die Amtszeit Eberts mit verfassungändernder Mehrheit bis zum 30. Juni 1925, um einen aufwühlenden Wahlkampf in jener kritischen Zeit zu vermeiden. Mit diesem Umgehen einer selbst gesetzten Verfassungsbestimmung drohte wieder ein Ziel der Nationalversammlung illusorisch zu werden.
Die Frage des Präsidialsystems Eine weitere Frage zur Stellung des Reichs-präsidenten warf Friedrich Meinecke mit dem Vorschlag auf, das nordamerikanische Präsidialsystem zu übernehmen. Hugo Preuß ging in seiner Rede vom 24. Februar 1919 auf diesen Vorschlag ein und meinte dazu: „Ich weiß, daß von einer . . . Seite . . . gewünscht wird, die Stellung des Präsidenten noch mehr zu stärken, indem man den vom Volk gewählten Präsidenten nach amerikanischem Muster zum alleinigen Führer der Politik, der Verwaltung macht, also nicht das parlamentarische System für die Reichsminister einführen will, sondern sie lediglich als Gehilfen des vom Volk gewählten Präsidenten hinstellen will. . . . Ich glaube nicht, daß für unsere Verhältnisse dieses dualistische System empfehlenswert ist, zum Teil schon aus den . . . angeführten Gründen . .
Die mit dem Präsidialsystem verbundene Position eines Vizepräsidenten wurde ebenfalls in Vorschlag gebracht. Preuß hielt es für bedenklich, in dem Amt eines Vizepräsidenten sozusagen einen „republikanischen Kronprinzen" zu schaffen.
Die Stellvertretung des Staatsoberhauptes hatte nach Preuß'überarbeiteten Entwurf der Reichskanzler zu übernehmen. Im Verfassungsentwurf vom 20. Januar 1919 glaubte Preuß noch entgegen seiner unitarisch ausgerichteten Konzeption mehr Rücksicht auf die Länder nehmen zu müssen und ließ den Reichs-präsidenten im Falle der Verhinderung durch den Präsidenten des Staatenhauses vertreten — ähnlich wie heute in der Bundesrepublik der Bundesratspräsident den Bundespräsidenten amtlich vertritt. Die Abgeordneten der Nationalversammlung billigten mit Mehrheit diese Aufwertung des Kanzlers.
Die Befugnisse des Reichspräsidenten gegenüber Parlament und Regierung Im grundsätzlichen Meinungskampf zwischen den links orientierten Parteien und den Rechts-Konservativen, der sich bei der Frage, ob es eine starke oder eine möglichst eingedämmte Staatsgewalt im Reich geben sollte, immer wieder entzündete, spielte bei den Beratungen in der Nationalversammlung die Kompetenz des Reichspräsidenten, den Reichstag auflösen zu dürfen, eine gewisse Rolle. In ihrem Bestreben, die staatliche Gewalt nur auf das Notwendigste zu beschränken und die Bedeutung der Volksvertretung zu erhöhen, hatten die Abgeordneten der SPD gegen Artikel 40 des Preuß'schen Verfassungsentwurfs schwere Bedenken zum Ausdruck gebracht.
Der Artikel lautete: „Die Berufung, Vertagung, Schließung und Auflösung des Reichstags steht dem Reichspräsidenten zu. Eine wiederholte Auflösung aus dem gleichen Anlaß ist unzulässig."
Axel Brusewitz vermutet in seiner Untersuchung „Typologische Verfassungsstudien" sicher mit Recht, daß Preuß die Bestimmung über die Absetzbarkeit des Reichspräsidenten durch das Parlament vornehmlich in der Absicht in seinen Entwurf ausgenommen hat, den Sozialdemokraten die Annahme des präsidentiellen Rechtes der Reichtagsauflösung zu erleichtern
So fanden sich dann in der endgültigen Fassung der Reichsverfassung die Artikel 25 und 43, welche das Auflösungsrecht des Präsidenten und die Absetzbarkeit des Staatsoberhauptes durch das Parlament festlegten, in einem gewissen Ausgleich zueinander. Das Ziel, eine starke Zentralgewalt geschaffen und dennoch keinen Diktator aufgebaut zu haben, schien mit dieser Lösung erreicht. Daß ein Reichspräsident — wie später Paul von Hindenburg — auf Grund des Artikels 25 (Recht des Präsidenten, den Reichstag aufzulösen) in Verbindung mit Artikel 53 (Ernennung des Reichskanzlers durch den Reichspräsidenten) Präsidialkabinette berufen würde, stand außerhalb der Berechnung der Abgeordneten der Nationalversammlung.
Die Grundrechte und die Frage der Sozialisierung Die Weimarer Nationalversammlung gestaltete aber nicht nur den von Hugo Preuß am 21. Februar 1919 vorgelegten Entwurf zugunsten einer stärkeren Betonung der Reichseinheit um, sondern vermehrte auch das Verzeichnis der Grundrechte erheblich.
Während der ursprüngliche Verfassungsentwurf vom 20. Januar 1919 die Grundrechte der Bürger in nur 12 Artikeln feststellte, verabschiedete die Nationalversammlung dazu über 30 Artikel.
Einen späten Ausfluß der Rätebewegung stellten die Artikel 156 und 165 der von der Nationalversammlung beschlossenen Verfassung dar.
Auf Initiative der sozialistischen Parteien hieß es im Artikel 156: „Das Reich kann durch Gesetz, unbeschadet der Entschädigung, in sinngemäßer Anwendung der für Enteignung geltenden Bestimmungen, für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen in Gemeineigentum überführen. Es kann sich selbst, die Länder oder die Gemeinden an der Verwaltung wirtschaftlicher Unternehmungen und Verbände beteiligen oder sich daran in anderer Weise einen bestimmenden Einfluß sichern. Das Reich kann ferner im Falle dringenden Bedürfnisses zum Zwecke der Gemeinwirtschaft durch Gesetz wirtschaftliche Unternehmungen und Verbände auf der Grundlage der Selbstverwaltung zusammenschließen mit dem Ziele, die Mitwirkung aller schaffenden Volksteile zu sichern, Arbeitgeber und Arbeitnehmer an der Verwaltung zu beteiligen und Erzeugung, Herstellung, Verteilung, Verwendung, Preisgestaltung sowie Ein-und Ausfuhr der Wirtschaftsgüter nach gemeinschaftlichen Grundsätzen zu regeln ..."
Die Reichsregierung erhielt dadurch mit Zustimmung des Reichstages das Recht auf eine gewisse Sozialisierung. Gleichzeitig wurde aber das Reich auch durch einen Verfassungsartikel (164) verpflichtet, den selbständigen Mittelstand in Landwirtschaft, Gewerbe und Handel durch entsprechende Gesetze zu fördern und gegen eine überlast und Aufsaugung zu schützen.
Dieser auf Betreiben der bürgerlichen Parteien in die Verfassung aufgenommene Artikel mußte allerdings angesichts der in den frühen zwanziger Jahren erfolgten Inflation und späteren Deflation ein Wunschtraum bleiben. Dem gleichen Schicksal verfiel schließlich auch der von der SPD und USPD beantragte Artikel 165. Er unterstrich mit Nachdruck die Gleichberechtigung und aktive Mitwirkung der Arbeiter und Angestellten mit den Unternehmern, welche ihren Ausdruck in Betriebsarbeitsräten, einem Reichsarbeitsamt und einem alle wichtigen Berufsgruppen ausnehmenden Reichswirtschaftsrat finden sollten. Diesen zum großen Teil später nicht ausgeführten Bestimmungen entsprach der damalige Stand der Entwicklung in der Sozialpolitik. Hans Herzfeld deutet zutreffend ihre Vorgeschichte: „Sie (die Bestimmungen des Artikels 165) waren in der Stunde der Not vorbereitet worden durch die am 15. November 1918 errichtete Zentralarbeitsgemeinschaft von Gewerkschaften und Unternehmern, die den Arbeitern den Anspruch auf kollektive Arbeitsverträge und das Zugeständnis des 8-Stunden-Tages gewährten, den Unternehmern aber einen ersten Schutz gegen weitgehende revolutionäre Enteignung nach sowjetischem Vorbild versprach und hat so weitgehend dazu beigetragen, den Ansprüchen der Arbeiter-und Soldatenräte Schranken zu ziehen."
Volksabstimmung und Reichseinheit Das Bemühen, eine möglichst große Beteiligung des Volkes an den entscheidenden Fragen des Staates zu erreichen, brachten die Abgeordneten der Nationalversammlung mit der Einführung des Referendums bzw.der Volksabstimmung zum Ausdruck. Ihr Ziel, die Demokratie auf diese Weise zu vervollständigen, blieb angesichts der mit größter Demagogie geführten Meinungskämpfe um die Entschädigung der abgedankten Fürsten und um den Youngplan weitgehend ein Wunschtraum. Die Erwartungen der Nationalversammlung enttäuschte zum Teil auch die Entwicklung in einzelnen Reichsländern. Wie sich in den Jahren bis 1923 herausstellte, waren die Reibungen zwischen Reich und Ländern keineswegs behoben. Der Satz der Präambel „Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen ..."
Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat Bei den Verfassungsberatungen der Nationalversammlung spielte auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Kirche und Staat vor allem auf dem Gebiet des Schul-und Erziehungswesens eine sehr wichtige Rolle. Den Vorstellungen der Sozialdemokraten und Liberalen von einer überkonfessionellen allgemeinen staatlichen Schule stand das Eintreten des Zentrums für die Ansprüche von Kirche und Elternhaus gegenüber. In ihren Leitsätzen vom 30. Dezember 1918 forderte die Deutsche Zentrumspartei: „Wahrung des Rechts der Eltern und der Religionsgesellschaften auf die Erzielung der Kinder. Erhaltung der konfessionellen Volksschule. Sicherung eines genügenden Religionsunterrichts an allen Schulen ..
Als Kompromiß dieser gegensätzlichen Auffassungen ergaben sich dann die Artikel 144 bis 149, in welchen sowohl die staatliche Schulaufsicht festgelegt als auch die Konfessionsschule zugelassen und Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach vorgeschrieben wurde.
Die Stellung der Streitkräfte im Staat im Streit der Meinungen Zu den kontroversen Themen der Nationalversammlung gehörte auch die Frage nach der Stellung der Streitkräfte. Für die ihnen nahe-stehenden politischen Parteien hatten die Arbeiter-und Soldatenräte auf ihrem Allgemeinen Kongreß im Dezember 1918 in Berlin den Beschluß gefaßt, daß die Volksbeauftragten unter der Kontrolle des Vollzugsrates die Kommandogewalt über Heer, Marine und Schutztruppen übernehmen. Als „Symbol der Zertrümmerung des Militarismus und der Abschaffung des Kadavergehorsams" wurden die Entfernung aller Rangabzeichen und das Verbot des außerdienstlichen Waffentragens angeordnet. Ebenso verlangten die Arbeiter-und Soldatenräte die Entfernung der bisherigen Schulterstücke, Unteroffizierstressen, Kokarden und Achselklappen. Schließlich wurde noch gefordert, daß die Soldaten ihre Führer selbst wählen
Zu diesen Beschlüssen äußerte sich der Feldmarschall und spätere Reichspräsident Paul von Hindenburg in einem vertraulichen Telegramm an das Oberkommando Ost am 18. Dezember 1918. Darin erklärte Hindenburg: „Ich erkenne die von dem Zentralrat der Arbeiter-und Soldatenräte am 18. 12. 1918 in Berlin gefaßte Resolution betreffend Vereinbarungen im Heerwesen, insbesondere in der Stellung von Offizier und Unteroffizier nicht an. Ich bin der Auffassung, daß eine solch tief in das Leben der Nation und des Heeres einschneidende Veränderung nicht von einer einseitigen Ständevertretung, sondern nur von der durch das ganz Volk berufenen Nationalversammlung getroffen werden kann."
In diesem Sinne äußerte sich auch Generalleutnant Wilhelm Groener in einer Denkschrift vom 20. Januar 1919. Darin betonte er, daß die Aufgaben einer bewaffneten Macht nicht mit Volkswehren von losem Gefüge, mit flüchtiger Ausbildung und mangelnder operativer Verwendungsfähigkeit bewältigt werden könnten. Er forderte ein festgefügtes, wohl-diszipliniertes, den technischen Anforderungen der Neuzeit entsprechend ausgebildetes Volks-heer, das sich auf dem Boden der allgemeinen Wehrpflicht aufbaut und die sittlichen Kräfte aller Bürger zu einheitlicher Wirkung nach dem Willen des Volkes zusammenfaßt
In den Verhandlungen der Nationalversammlung setzten sich besonders die Abgeordneten der Deutschnationalen Volkspartei für die Standesinteressen der ehemals kaiserlichen Offiziere ein. Max Baesecke, Gutsbesitzer und seit 1911 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, jetzt Sprecher der Deutschnationalen Volkspartei in Wehrfragen, hielt am 25. Februar 1919 eine leidenschaftliche Rede für die Ehrenrechte der alten Offiziere
Ihm antwortete mit gleicher Leidenschaftlichkeit der USPD-Abgeordnete Alfred Henke am selben Tage; er gab seiner Befürchtung Ausdruck, daß mit der Unterstellung der Streitkräfte unter den Oberbefehl des Reichspräsidenten wieder der „Weg zum alten Militarismus" beschritten werde. Henke argwöhnte, daß diese Offiziere aus ihrer Haut nicht heraus könnten, auch wenn sich einige von ihnen bemühten, sich den neuen Zuständen anzupassen. Wörtlich meinte er über die Haltung der Offiziere: „Wir erleben ja in dieser Beziehung sehr merkwürdige Dinge. Leutnants und Hauptleute sind auf einmal alle Sozialdemokraten geworden, sie sprechen von ihren Genossen, die sie doch früher geschurigelt haben. Was man davon zu halten hat, das wird sich bei der ersten besten Gelegenheit zeigen, wo diese Reichswehr stark genug sein wird, in den Händen einzelner zu ganz anderen Dingen gebraucht werden zu können, als wozu der Reichspräsident sie gebrauchen will."
Eine Mittelstellung zwischen diesen beiden Meinungen — Deutschnationale Volkspartei und Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands — nahm für die SPD ihr Reichs-wehrminister Gustav Noske ein. Er ergriff am gleichen 25. Februar 1919 ebenfalls das Wort und erklärte, daß es zwischen seiner sozialdemokratischen Vergangenheit und seinem erklärten Willen, Deutschland so rasch wie möglich wieder ein gewisses Maß von militärischer Wehrhaftigkeit zu verschaffen, keinen Widerspruch gebe. Auf die Frage des USPD-Abgeordneten Henke, wie stark die künftige Wehr des Reiches sein werde, antwortete der Reichswehrminister, daß diese ungefähr ein Drittel der alten Friedensstärke des Heeres betragen werde. Da die Friedens-stärke des Heeres 1914 rund 760 000 Mann betrug 70a), dachte Noske an eine Mannschaftsstärke von ungefähr 250 000 Soldaten und Offizieren. Er war der Meinung, daß bei einem solchen geringen Mannschaftsbestand das Ausland keinen Anlaß zu Mißtrauen gegen eine etwaige deutsche Aufrüstung haben könnte. Noske sprach sich dafür aus, daß Offiziere und Unteroffiziere in beträchtlicher Zahl in die Reichswehr eintreten. Er begründete seine Meinung mit den Feststellungen: „Es ist eine Selbstverständlichkeit, . . . daß diejenigen Leute, die eine lange militärische Erfahrung haben, beim späteren Wiederaufbau einer, ganz gleich wie immer gearteten, deutschen Wehrmacht mit in erster Linie zur Verwendung kommen müssen, weil es etwas ganz Törichtes wäre, den Versuch zu machen, eine Wehrmacht aufzustellen, ohne sich dabei der bewährten Kräfte zu bedienen, die langjährige Erfahrungen gesammelt haben . . ."
In diesem Sinne war auch das „Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr" konzipiert. In ihm wurde der Reichspräsident ermächtigt, das noch bestehende kaiserliche Heer aufzulösen und eine vorläufige Reichs-wehr zu bilden. Diese Reichswehr hatte die Aufgabe zu übernehmen, die Reichsgrenzen zu schützen, den Anordnungen der Reichs-regierung Geltung zu verschaffen und die Ruhe und Ordnung im Innern des Reiches aufrechtzuerhalten
Die Nationalversammlung billigte diese Gesetzesvorlage mit Mehrheit, so daß sie am 6. März 1919 als Gesetz vom Reichspräsidenten verkündet werden konnte. Am selben Tage trat noch eine 15 Paragraphen umfassende Ausführungsverordnung zum Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr in Kraft. In ihr wurde noch einmal eigens festgestellt, daß die Reichswehr unter dem Oberbefehl des Reichspräsidenten stehe. Was die verfassunggebende Nationalversammlung mit ihrer Zustimmung zu diesem Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr billigte, nahm sie schließlich auch dann in die Reichsverfassung auf. Ihr entsprechender Artikel 47 lautete: „Der Reichspräsident hat den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht des Reiches."
Die Bedenken der Unabhängigen Sozialdemokraten fanden also bei den mehrheitsbildenden Parteien der Nationalversammlung kein Echo. Dabei schienen sich die Worte des USPD-Abgeordneten Alfred Henke vom 25. Februar 1919 in den Jahren 1920 beim Kapp-Putsch und 1923 beim Hitler-Putsch in München zu bewahrheiten, als der Chef der Heeresleitung kraft der hinter ihm stehenden Reichswehr das Gesetz des Handelns bestimmte. Die Person General von Seeckts, der vom März 1920 bis zum Oktober 1926 als Chef der Heeresleitung die Reichswehr praktisch führte und sich in ihr als „Staat im Staate" eine respektable Hausmacht aufbaute, schien schließlich haargenau die Befürchtung Alfred Henkes zu bestätigen, daß eine stark gewordene Reichswehr in der Hand eines einzelnen Mannes zu ganz anderen Dingen gebraucht werden könnte, als der Reichspräsident sie gebrauchen soll. Der aus einem starken Selbstbewußtsein gegenüber Reichspräsident Ebert gesprochene Satz von Seeckts „Truppe schießt nicht auf Truppe" verdeutlichte, wie bedingt der Artikel 47 der Weimarer Reichsverfassung galt und wie sehr die Vorstellungen der Mehrheitsparteien von Weimar sich später von der praktischen Verfassungswirklichkeit unterschieden.
Helmut Heiber gibt eine Hintergrundanalyse dieser Entwicklung, wenn er schreibt: „Weil jedoch die Sozialdemokratie hin-und hergerissen wurde zwischen dem Bemühen, die nun einmal mit den rechts von ihr stehenden bürgerlichen Kräften abgeschlossene Koalition fortzuentwickeln, und der Furcht, dabei von links durch die Radikalen aufgerollt zu werden, war sie praktisch handlungsunfähig, in sich viel zu unsicher und zu schwach, um einem in seinem Selbstbewußtsein wieder so gefestigten Stand wie dem Offizierskorps gegenüber integrierend wirken zu können. Der — rückblickend betrachtet — als einziger wenigstens Möglichkeiten eröffnende Versuch war daher zum Scheitern verurteilt: weil Noske sich zu weit über den nach wie vor breiten Graben hinüberlehnen mußte, verlor er in der Sozialdemokratie den Boden unter den Füßen und glitt aus. Nicht Noske integrierte die Generäle in die Republik, sondern die Generäle integrierten Noske in die Reichswehr . .
Diese Entwicklung war jedoch im Februar 1919 noch nicht abzusehen, auch wenn Alfred Henke damals fast prophetische Worte sprach. Henkes Warnungen entsprangen jedoch mehr einem parteipolitisch und ideologisch bestimmten Mißtrauen gegenüber einem als ganz und gar unproletarisch geltenden Stand als einem festgefügten Staatskonzept. Trotzdem bleibt festzuhalten, daß die Ziele der Weimarer Nationalversammlung auf dem Gebiete des Wehrwesens durch die spätere Entwicklung nicht in greifbare Nähe gerückt wurden, sondern sich zum größten Teil als Illusionen erwiesen haben.
Fahnenkompromiß und Ordensverbot Ein ähnliches Schicksal erlitten die Bemühungen der Nationalversammlung, im deutschen Volk eine Tradition auf das Gedankengut der Paulskirchen-Versammlung von 1848 aufzubauen. Die Einführung der Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold kann als sichtbares Zeichen für den Versuch gelten, an die Überlieferung der Nationalversammlung in der Paulskirche zu Frankfurt anzuknüpfen; der dann endgültig verabschiedete Artikel 3 der Reichsverfassung: „Die Reichsfarben sind Schwarz-Rot-Gold. Die Handelsflagge ist Schwarz-Weiß-Rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke"
Zu diesen unrealistischen Hoffnungen gehörte auch die Annahme, die Deutschen würden den Artikel 109 vollauf verstehen und ihm gemäß handeln. Im letzten Absatz dieses Artikels hieß es: „Orden und Ehrenzeichen dürfen vom Staat nicht verliehen werden. Kein Deutscher darf von einer ausländischen Regierung Titel oder Orden annehmen."
Das durch den kaiserlichen Prunk der Wilhelminischen Epoche verwöhnte deutsche Volk sollte nun auf jede imposante Repräsentation seines Staates verzichten und sich mit der nüchternen Sachlichkeit der sogenannten „Zylinder-Demokratie“ abfinden. Daß die meisten Deutschen nach dem verlorenen Krieg nicht auch noch den lieb gewordenen äußeren Pomp in ihrer Selbstdarstellung aufgeben mochten, ließen die Abgeordneten von Weimar in ihrer Mehrzahl außer acht. Sie bauten zu sehr auf die politische Vernunft und die demokratische Sachlichkeit ihrer Bürger und hielten die emotionellen Bewegungen im Volke für’ weitgehend überwunden. Wie sehr sie sich in dieser idealen Annahme getäuscht hatten, zeigte sich, als aus einer winzigen Partei eine Bewegung aller möglichen irrationalen Kräfte erwuchs, die letztlich von der Bereitschaft des Deutschen lebte, mehr dem Wunsch als der Wirklichkeit zu vertrauen.
Das noch fehlende demokratische Staatsbewußtsein im Volk Der erstrebte liberale Staat mit sozialer Zielsetzung und religiöser Freiheit blieb ein un-wirkliches Ziel, weil man eine Demokratie schuf, ohne die sie tragenden Demokraten zu haben. Hinter den idealdemokratischen Absichten und Vorsätzen der meisten Abgeordneten verlor sich zum Teil der Blick für die Wirklichkeit; und umgekehrt geriet die ange-messene Würdigung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten und ihre entsprechende Placierung in der Verfassung infolge aktueller Sorgen folgenschwer an den Rand der Betrachtungen. So kam es, daß durch die separatistischen Bewegungen im Reiche der Frage nach der Staatseinheit, der Stellung der Länder und ihrer Rechte weit größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde als den Grund-und Menschenrechten. Dementsprechend ist auch der erste Hauptteil der Verfassung dem Aufbau und den Aufgaben des Reiches gewidmet. Erst nachdem die Stellung des Reichstags, die Rechte des Reichsrates, die Funktion des Reichspräsidenten, die Aufgaben der Reichs-regierung, die Regelung der Reichsgesetzgebung, der Zweck der Reichsverwaltung und die Rechtspflege festgelegt waren, wurden im zweiten Flauptteil ab Artikel 109 die Rechte der Einzelperson verankert. Daß die Menschenrechte und nicht so sehr die Reichseinheit später einmal in Gefahr geraten könnten, blieb weitgehend außerhalb der Vorausschau der Nationalversammlung. Den Abgeordneten deshalb einen Vorwurf zu machen, wäre ungerecht. Sie hatten schließlich nicht nur die Aufgabe, eine Reichsverfassung auszuarbeiten, sondern mußten dazu parallel auch noch die Funktionen eines Parlamentes wahrnehmen und den neuen Staat aufbauen helfen. Man bildete zwar einen eigenen Verfassungsausschuß, der unter Conrad Haußmann den von Hugo Preuß eingebrachten Entwurf zu beraten hatte und seine Arbeit im wesentlichen schon Ende Juli 1919 zu Ende bringen konnte, doch mußte sich das Plenum der Nationalversammlung auch mit den laufenden aktuellen politischen Problemen beschäftigten.
Die parlamentarischen Aufgaben der Nationalversammlung Zu den ersten und dringlichsten Aufgaben gehörte die Schaffung einer funktionierenden vorläufigen Reichsgewalt, um die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Reich zu gewährleisten. Die Nationalversammlung leistete dazu ihren Beitrag in der Verabschiedung des „Gesetzes über die vorläufige Reichsgewalt" vom 10. Februar 1919. Nicht zu Unrecht nennt Arthur Rosenberg dieses Gesetz eine „provisorische Notverfassung"
„Aus dem wirklichen alten Deutschtum ein volksstaatliches, republikanisches deutsches Volk zu machen, das ist die Aufgabe, um deretwillen wir hierher geschickt worden sind.
Wir suchen eine Republik, die . . . eine Exekutive, eine ausführende Verwaltung besitzt . . ."
Diese Exekutive legte in der Person des Reichsfinanzministers Schiffer den Abgeordneten am 15. Februar 1919 die finanzpolitische Lage dar und erwartete eine Stellungnahme. Am 4. März 1919 verabschiedete die Nationalversammlung das sogenannte Übergangsgesetz, in welchem festgestellt wurde, daß die bisherigen Gesetze und Verordnungen des Reiches bis auf weiteres in Kraft blieben, soweit ihnen das Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919 nicht entgegenstand
Am 11. November 1918 wurde im Walde von Compiegne zunächst nur Waffenstillstand geschlossen, also noch kein Frieden vereinbart. Da die Waffenruhe nur auf eine Dauer von 36 Tagen festgesetzt worden war, mußte sie immer wieder verlängert werden. Ihre dringend notwendige Verlängerung mußte von deutscher Seite aber stets mit zusätzlichen Konzessionen erkauft werden. Die Friedenskonferenz der 27 mit Deutschland und seinen Verbündeten im Kriegszustand befindlichen alliierten und assoziierten Mächte trat am 18. Januar 1919 im Pariser Außenministerium zusammen. Den Vorsitz übernahm der französische Ministerpräsident George Clemenceau. Die entscheidenden Verhandlungen wurden durch den Rat der vier Mächte USA, Großbritannien, Frankreich und Italien geführt. US-Präsident Wilson, der britische Premier Lloyd George, der französische Ministerpräsident Clemenceau und der italienische Ministerpräsident Orlando arbeiteten die Friedensbedingungen aus, die man dann später Deutschland übermittelte. Es war also nicht vorgesehen, deutsche Vertreter an den Vertragsverhandlungen zu beteiligen.
Am 7. Mai 1919 wurden die von den Alliierten formulierten Bedingungen den deutschen Delegierten, an deren Spitze der Reichsaußenminister Graf Brockdorff-Rantzau stand, überreicht. „Ein Schrei der Entrüstung und des Entsetzens ging durch das besiegte Land", schreibt Gerhart Binder
Die Stellungnahme der Fraktionen Die Fraktionen der Parteien gaben Erklärungen ab. Die Deutsch-Nationale Volkspartei und die Deutsche Volkspartei erklärten: „Um unserer toten Brüder und um der Zukunft unserer deutschen Jugend willen sind wir entschlossen, unser letztes Gut bis zum Äußersten zu wahren: Deutschlands reinen Namen vor der Welt. Darum lehnen wir diesen Friedensentwurf ab."
Die Fraktion der Deutschen Demokratischen Partei verlautbarte: „Die Fraktion hält den uns angebotenen Gewaltfrieden für das größte Unglück, das unser Vaterland treffen konnte."
Die sozialdemokratische Fraktion gab ihrer Überzeugung Ausdruck, „daß die Annahme des von der Entente angebotenen Gewaltfriedens dem Wohle des Reiches und der deutschen Arbeiterklasse sowie dem Weltfrieden schädlich ist."
Lediglich der Abgeordnete der USPD, Hugo Haase, riet in einer Rede vor der verfassung-gebenden Nationalversammlung am 22. Juni 1919: „Die Regierung . . . muß unterzeichnen."
Die Ratifizierung des Friedensvertrages Nach wiederholten Drohungen aus Paris sah sich die deutsche Reichsregierung schließlich doch gezwungen, das Friedensdiktat zu unterzeichnen. Die Hoffnungen der Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung, durch ihre entschiedenen Erklärungen Eindruck auf die Siegermächte zu machen und dadurch eine Milderung der Bedingungen zu erreichen, erwiesen sich als trügerisch. Mit 237 gegen 138 Stimmen bei 5 Enthaltungen wurde der Friedensvertrag von Versailles von der Nationalversammlung angenommen. Der Präsident der Nationalversammlung, Contantin Fehrenbach (Zentrum), hielt nach der Annahme des Vertrags eine denkwürdige Rede. Darin führte er aus: „Ich stelle mit Genugtuung fest, daß von verschiedenen Seiten des Hauses anerkannt wurde, daß alle Teile des Hauses, ob ja, ob nein, nur aus vaterländischen Gründen sich bei ihren Abstimmungen leiten lassen, getragen von großen Gewissensbedenken, von der ernstesten Auffassung über die Lage unseres Vaterlandes. Ich möchte wünschen, daß der Geist, der sich zum allergrößten Teil in dieser Nationalversammlung soeben kundgegeben hat, sich auch hinausträgt in unser Volk. Das wäre nun noch das allerschlimmste, wenn wir nach Vorgängen alter Jahrzehnte, die glücklich hinter uns liegen, in Schmähungen und Verdächtigungen gegen die vaterländische Gesinnung unserer Mitbürger uns ergehen wollten . .
Wie die spätere Entwicklung mit Hitlers Aufstieg und seiner Hetze gegen die sogenannten „Novemberverbrecher" bewies, blieb auch diese Hoffnung des Präsidenten der Weimarer Nationalversammlung unerfüllt.
So lag über fast allen entscheidenden Anliegen der Weimarer Nationalversammlung ein tragisches Scheitern ihrer vom besten demokratischen Willen erfüllten Pläne. Die Verantwortung für die Vergeblichkeit ihres Bemühens, in Deutschland eine dauerhafte funktionierende Demokratie aufzubauen, trifft jedoch nur zu einem kleinen Teil die Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung. Sie bewältigten in den fünfzehn Monaten ihrer Tagungsperiode — unterbrochen durch den Kapp-Putsch im März 1920 — ein respektables Arbeitspensum: die Ausarbeitung einer freiheitlichen demokratischen Verfassung, den Neuaufbau des Staatswesens, eine neue, die Lasten gerechter verteilende Finanzordnung für das Reich und eine arbeiterfreundliche Sozialgesetzgebung sowie den Abschluß eines Friedens mit den Alliierten.
Die Dolchstoßlegende entsteht Im Herbst 1919, nach ihrer Übersiedlung nad Berlin, versuchte die Nationalversammlung durch Einsetzung eines Untersuchungsausschus ses die Frage nach der Kriegsschuld und die Ur Sachen der Niederlage zu klären. Die Abgeord neten hofften, durch die Untersuchung aller Ge schehnisse vom Kriegsausbruch bis zum Was fenstillstand und durch die Einvernahme dei hauptbeteiligten Militärs und Politiker aufkom menden Gerüchten über die angebliche Schule der demokratischen Parteien an der Niederlage durch klare Beweise und wahrheitsgemäße Aussagen der befragten Personen wirksam entgegentreten zu können. Statt jedoch das Gerede von der angeblichen „Verschwörung" in dei Heimat als böswillige Propaganda republik-feindlicher Kräfte entlarven zu können, mußte sich der Untersuchungsausschuß am 18. November 1919 von Hindenburg eine schriftliche Erklärung anhören, in welcher wahrheitswidrig behauptet wurde: „Ein englischer General sagte mit Recht: Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden.'"
Damit war die berüchtigte Dolchstoßlegende geboren; sie diente dem Demagogen Hitler und den ihm nahestehenden rechtskonservativen Kreisen später als unlauteres Propagandamittel, die Republik von Weimar langsam von hinten zu erdolchen. Eine solche Folge ihrer entgegengesetzten Absicht konnten jedoch die Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung nicht ahnen.
AIs sie sich am 21. Mai 1920 zum letzten Mal versammelten und angesichts der am 6. Juni stattfindenden Reichstagswahl ihre Auflösung beschlossen, durften sie mit dem Gefühl auseinandergehen, ihre Pflicht getan zu haben.