Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die besondere Bedeutung der historischen Wissenschaften für den Menschen unserer Zeit | APuZ 50/1968 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 50/1968 Politik in der Kirche? Die besondere Bedeutung der historischen Wissenschaften für den Menschen unserer Zeit

Die besondere Bedeutung der historischen Wissenschaften für den Menschen unserer Zeit

Hugo Staudinger

Historie als Widersacherin verbindlicher Tradition

Man hat den historischen Wissenschaften im Laufe ihrer Geschichte sehr verschiedene Rollen zugewiesen. Lange Zeit sah man es als eine der wichtigsten Aufgaben der Geschichtsschreibung an, Traditionen weiterzugeben und zu pflegen und so zu einer Stabilisierung der menschlichen Ordnungen und einer Kontinuiät der politischen Enwicklung beizutragen.

In jüngster Zeit hat sich jedoch eine radikale Wende vollzogen. Wir leben in einer Zeit, in welcher der Mensch ohne Rücksicht auf übercommene „Tabus" die Welt nach seinem planenden Willen gestaltet. Dabei erheben die Naturwissenschaften und die sozialen Handungswissenschaften einen kaum überhörbaren Führungsanspruch und weisen den historischen Wissenschaften vor allem die Aufgabe zu, die überkommenen Auffassungen und Wertvorstellungen durch wissenschaftliche Verobjektivierung aufzulösen, um freie Bahn ür eine voraussetzungslose und rein rationale Ordnung der Welt zu schaffen. In diesem Sinne schreibt etwa Helmut Schelsky, die Auf-jabe der historischen Wissenschaften bestehe darin, „daß sie den Menschen von der Vergangenheit als Tradition und d. h. als unmittelbare Existenz-und Erfahrungsverpflichtung entlastet ein durch objektive wissenschaftliche

Erkenntnis vermitteltes Verhältnis zur Ver-

gangenhet geschaffen hat. . . . Die , Ge-

schichtslosigkeit’ der modernen Gesellschaften, die in den Natur-und Sozialtechniken zum Zuge kommt, wird also durch die Verwissenschaftlichung der Vergangenheit erst geschaf-

en"

Das bedeutet pointiert ausgedrückt: Nach der Auffassung Schelskys und zahlreicher anderer moderner Wissenschaftstheoretiker haben die historischen Wissenschaften die Aufgabe, durch Verobjektivierung der Vergangenheit eine geschichtslose Gesellschaft zu schaffen; die den Führungskräften der sozialen Handlungswissenschaften als Rohmaterial ihrer Planungen ebenso zur Verfügung steht wie die materielle Welt der naturwissenschaftlichen Technik.

In dieser Lage ist es naheliegend, daß auch der Historiker selbst die Frage nach der Bedeutung der historischen Wissenschaften für den Menschen und nach ihrer legitimen Aufgabe innerhalb der modernen Gesellschaft stellt, um zu entscheiden, ob er von seinem Selbstverständnis her die von den anderen Wissenschaften an ihn gestellte Forderung erfüllen kann.

Diese kurzen Vorüberlegungen zeigen bereits, daß es bei der Frage nach der besonderen Bedeutung der historischen Wissenschaften für den Menschen unserer Zeit nicht zuletzt um die Frage des Verhältnisses der historischen Wissenschaften zu den Naturwissenschaften und sozialen Handlungswissenschaften geht. Selbstverständlich könnte man diese Frage direkt aus der gegenwärtigen Situation heraus zu beantworten versuchen. Aber ein solcher Versuch würde die Hintergründe der heutigen Situation im Dunkeln lassen. Daher sollen den Überlegungen zunächst eine Reihe anthropologischer Feststellungen vorausgeschickt werden; darauf folgen einige Hinweise auf die Geschichte der europäischen Wissenschaften, und erst am Schluß steht eine kritische Analyse der gegenwärtigen Situation.

Die Eigenart menschlicher Welterkenntnis

Abstraktion bei Tier und Mensch Man hat häufig das Abstraktionsvermögen des Menschen als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung der Wissenschaften bezeichnet, ohne näher über die Besondereit des menschlichen Abstraktionsvermögens nachzudenken. Stellt man jedoch die Frage, ob nur der Mensch oder auch das Tier abstrahiert, so kommt man zu der für den ersten Augenblick überraschenden Feststellung, daß die Abstraktionsleistung des Tieres die des Menschen in vieler Hinsicht übertrifft. Die Verhaltens-und Umweltforschung der letzten Jahrzehnte hat eindrucksvoll erwiesen, daß das Tier von der Fülle der es umgebenden Wirklichkeit nahezu alles abstrahiert, was in keinem Bezug zu seinen unmittelbaren Lebensbedürfnissen steht, und zwar auch dann, wenn es sich um Dinge handelt, die es dem physiologischen Befund seiner Wahrnehmungsorgane nach „eigentlich" zur Kenntnis nehmen müßte. Darüber hinaus wird bereits mit der Wahrnehmung selbst alles Wahrgenommene unter Absehung individueller Besonderheiten sofort in ein „abstraktes" Schema eingeordnet, das durch Begriffe wie „Schutz", „Feind", „Beute", „Kumpan" gekennzeichnet werden kann. Die Einordnung in das durch solche Begriffe gekennzeichnete Schema bedeutet zugleich eine Einbeziehung in einen bestimmten Funktionskreis bzw. einen Aktions-und Reaktionsmechanismus. Was als „Beute" erkannt wird, wird auch nach einem entsprechenden Verhaltensmuster als Beute behandelt. Was als Feind „erkannt" wird, wird als Feind behandelt usw. Erkennen ist geradezu gleichbedeutend mit entsprechendem Verhalten. Das Tier erkennt die Welt, indem es die jeweilige Situation agierend und reagierend auf sich selbst bezieht. Wie bereits dargelegt wurde, setzt eine solche Weltbewältigung ein hohes Maß an Abstraktion voraus, die freilich nicht vom einzelnen Exemplar als individuelle Eigenleistung vollbracht wird, die vielmehr als eine überindividuelle Leistung der jeweiligen Art betrachtet werden muß.

Der entscheidende Unterschied zwischen tierischen Abstraktionsleistungen und dem Abstraktionsvermögen des Menschen liegt jedoch nicht darin, daß es sich einerseits um ein individuelles Vermögen, andererseits um eine überindividuelle Leistung handelt; entscheidend ist vielmehr, daß es allein der Mensch vermag, sich von sich selbst und seiner jeweiligen konkreten Situation zu abstrahieren. Damit wird die Bindung zwischen „Erkennen" und „sich Verhalten" gesprengt. Der Mensch gewinnt die Freiheit, die Dinge losgelöst von seinen unmittelbaren Lebensbedürfnissen zu erkennen und dabei auch solche Dinge zu „Objekten" seiner Erkenntnis zu machen, die mit seinen unmittelbaren Lebensbedürfnissen nichts zu tun haben.

Es wird dem Menschen damit möglich, Dinge aus reinem Erkenntnisinteresse zu erforschen und so einen höheren Grad an objektiver Erkenntnis zu erreichen. Allerdings bleibt — und dies muß in aller Klarheit betont werden — auch diese Erkenntnis eine an den Menschen gebundene Erkenntnis. Die Dinge werden nicht „als Dinge an sich" erfaßt, sondern sie sind dem Menschen nur zugänglich mit spezifischen Sinnesorganen, die das Ergebnis der menschlichen Erkenntnis wesentlich mitbestimmen, und in speziellen Begriffskategorien, in denen der Mensch die Dinge einordnet.

In zahlreichen Untersuchungen ist bereits seit langem darauf hingewiesen worden, daß der Mensch sinnenspezifisch wahrnimmt und daß er seine Wahrnehmungen in bestimmte Kategorien, wie vor allem Raum und Zeit, ordnet. Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt wurde ist das jedoch nur die halbe Wahrheit. Es muß ebenso nachdrücklich unterstrichen werden, daß sich die Sinnesorgane selbst im Laufe der Jahrtausende „weltspezifisch" gebildet haben und offensichtlich eine für den Menschen natürlicherweise optimale Möglichkeit der Welterfassung bedeuten. Es liegt hier also eine Wechselseitigkeit vor: die sinnen-spezifische Wahrnehmung der Welt geschieht durch die weltspezifische Wahrnehmung der Sinnesorgane. Anialog verhält es sich mit Kategorien wie Raum und Zeit. Selbstverständlich kann man sagen, der Mensch gehe mit diesen Kategorien an die Dinge heran. Aber umgekehrt gilt ebenso, daß sich diese Kategorien menschlichen Denkens erst im Laufe der Jahrtausende als optimale Kategorien menschlicher Welterkenntnis gebildet haben, daß sie also durch die Eigenart des Menschen und die Eigenart der Welt zugleich geprägt sind.

Das Problem der Zeit Eine der für das gesamte Weltverhältnis entscheidenden menschlichen Errungenschaften war die immer intensivere Ausbildung der Kategorie der Zeit. Wie Emerich Coreth schreibt, unterliegen wir als Menschen „nicht blind dem , hic et nunc'des Gegenwärtigen, wir gehen darin nicht auf, wie die Pflanze und das Tier im jeweiligen Gegenwärtigen aufgehen" Coreth betont weiter die Bedeutung dieses übergreifenden Zeitbewußtseins für die Entwicklung des Menschen als Träger der Geschichte indem er schreibt: „Beides, der Rückgriff auf Vergangenes und der Vorgriff auf Künftiges, das erkennende und wiedererkennende Sich-Beziehen auf zeitlich Zurückliegendes, sowie das planende, wollende, gestal-tende Sich-Beziehen auf zeitlich Vorausliegendes, ist in gleicher Weise wesentlich für den Menschen als Ursprung der Geschichte." Der Mensch vermag dank seines übergreifenden Zeitbewußtseins seine jeweilige Situation denkend zu transzendieren.

Das transzendierende Zeitbewußtsein gibt einerseits eine einzigartige Souveränität gegenüber dem jeweiligen Augenblick, jedoch andererseits zugleich eine tiefe Unsicherheit, indem es den Blick auf die schwierigen Fragen nach dem Anfang und Ende und nach dem ersten Grund und bleibenden Sinn des Ganzen öffnet. All diese Fragen stehen von Anfang an in einer vielleicht unaufhebbaren inneren Spannung, da sie sowohl die Frage nach dem Bleibenden wie auch die Frage nach dem Werden und Vergehen umspannen.

Philosophie und Historie in der Geistesgeschichte

Sein und Werden Als Exponenten dieser Spannung standen sich bereits in ältester Zeit das magische und das mythische Weltbild gegenüber. Während das magische Weltbild von einem im Grunde genommen ungeschichtlichen, stets gleichbleibenden, von strengen Gesetzen beherrschten psychosomatischen Weltmechanismus ausging, versuchte das mythische Weltbild eine Rückführung der großen Errungenschaften kosmischer, kultureller und gesellschaftlicher Strukturierungen auf einmalige epochale Leistungen. Die eben angesprochene Spannung stand auch am Beginn der europäischen Philosophie und äußerte sich in der Antwort auf die Frage nach der Grundstruktur der Wirklichkeit, die entweder als bleibendes Sein oder als stetes Werden und Vergehen angesprochen wurde. Im Verlauf dieses geistigen Ringens griff schon sehr früh eine kritische Skepsis gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung um sich, während man dem reinen Denken ein hohes Maß an Vertrauen schenkte. Bereits bei Parmeni-des findet sich die bezeichnende Gegenüberstellung von „Sein — Denken — Wahrheit" auf der einen und „Wechsel — Sinne — Trug" auf der anderen Seite. Die Identität oder zumindest positive Zuordnung von Denken und Sein wurde auch von späteren Denkern mit Nachdruck behauptet, ohne jedoch allgemein überzeugend bewiesen zu werden.

Die These von der Wiederkehr des Gleichen Bei diesen Überlegungen stand das Problem der Zeit als ungelöstes Problem im Hintergrund. Die Eigengesetzlichkeit des Denkens drängte dazu, den augenfälligen Wechsel der Dinge entweder schlechthin für einen Trug der Sinne zu erklären oder die Veränderungen in der Zeit zumindest durch den Gedanken eines kosmischen Kreislaufs mit einer ewigen Wiederkehr des Gleichen zu überspielen. Dadurch wurde zugleich die Frage nach dem Anfang und Ende der Zeit in einer das Problem der Zeitlichkeit entschärfenden Weise „gelöst". Auch die von den Pythagoreern gelehrte Seelenwanderung muß unter dem Gesichtspunkt des Zeitproblems in Parallele zum kosmischen Kreislauf gesehen werden. Auch hier wurde die Zeitlichkeit durch ständige Wiederholungen überspielt.

Vergegenwärtigt man sich, daß die hervorragendsten Denker der Antike durch Denken das Sein zu ergründen suchten, so ist es verständlich, daß wie die Zeit auch die Geschichte nicht zu einem zentralen Gegenstand des Nachdenkens wurde. Es ist durchaus kennzeichnend, daß Aristoteles die Dichtkunst „eine philosophischere und ernstere Tätigkeit als die Geschichtsschreibung" nannte, da sich die Dichtkunst auf „das Allgemeine" richte Der Sinn für die Bedeutung des in der Zeit Einmaligen fehlte nahezu völlig. Daher ist es auch verständlich, daß die Geschichtsschreibung gewissermaßen neben den Wissenschaften stehen blieb und daß es keinerlei ernsthafte Bemühungen um eine Philosophie der Geschichte gab.

Dementsprechend spielte auch in der Lehre von der Politik die Geschichtlichkeit keine entscheidende Rolle. Zeitlos gültige Idealverfassungen faszinierten die führenden Denker. Angesichts der realen Erfahrungen sah man sich freilich auch hier schon bald zu Kompromissen genötigt: Auch hier versuchte man den offenkundigen Wechsel durch die Theorie eines Kreislaufs ordnend zu bändigen.

Die griechische Lehre vom Kreislauf der Verfassungen wurde nach Unterwerfung der hellenistischen Staaten den Römern übermittelt. In Rom trafen die griechischen Gedanken auf ein ausgeprägtes Bewußtsein geschichtlicher Tradition. Bei einem Manne wie Cicero finden sich gewisse Ansätze zu einer Verbindung von konkreter Geschichte mit der Philosophie. Insbesondere entwickelte er seine politischen Theorien immer im Angesichte des tatsächlichen Ablaufs der römischen Geschichte. In seiner berühmten Somnium Scipionis machte er die politische Bewährung zum Auswahlkriterium für die Berufung in die Region der Seligen. Aber auch bei Cicero fehlt nicht nur eine überzeugende Antwort auf die Frage nach der Geschichtlichkeit, sondern bereits eine klare Fragestellung. Die Geschichte wurde insgesamt nochmals überspielt durch den Gedanken eines großen Weltenjahres. Auch in der Folgezeit führte die insbesondere in der Stoa ausgeprägte, zum Teil politisch relevante Ethik nicht zu einer geschichtsphilosophischen Würdigung der Bedeutung des Einmaligen und zu einer Philosophie der Geschichte.

Christentum und Weltgeschichte All das Gesagte gilt freilich nur mit einer höchst beachtenswerten Ausnahme: Der einzige antike Denker, bei dem sich eine enge Verbindung von Philosophie, Weltgeschichtsdeutung und einmaligen historischen Ereignissen findet, ist der Dichter Vergil, der mit seiner Konzeption zu einem Wegweiser der christlichen Geschichtstheologie der folgenden Jahrhunderte wurde, auf den sich noch im 12. Jahrhundert kein Geringerer als Otto von Freising berief, um die philosophischen Exkurse in seinem Geschichtswerk zu rechtfertigen, deren ersten er bezeichnenderweise mit dem Vergil-Vers

Felix qui potuit rerum cognoscere causas einleitete.

Inzwischen hatte freilich das Geschichtsbewußtsein durch das Christentum neue Impulse bekommen. Von den das europäische Geschichtsbewußtsein der folgenden Jahrhunderte prägenden christlichen Glaubensüberzeugungen seien wenigstens vier kurz angedeutet: 1. Es gibt mit dem Tode und der Auferstehung Jesu Christi einmalige geschichtliche Ereignisse, die nicht nur für die Zeitgenossen oder einen bestimmten Staat bedeutsam sind, sondern die schlechthin als zentrale Ereignisse der Weltgeschichte angesehen werden müssen. 2. Jeder einzelne Mensch hat die Möglichkeit, an diesen weltgeschichtlichen Ereignissen Anteil zu bekommen und hat im Sinne dieser Teilhabe weltgeschichtliche Bedeutung. 3. Die Zeitlichkeit ist konstitutiv mit dieser Welt verbunden, die selbst nicht schon immer besteht, sondern zusammen mit der Zeit — nicht in der Zeit! — geschaffen ist. Bei einer bevorstehenden Umgestaltung dieser Welt wird auch die Zeit in der Ewigkeit aufgehoben sein.

4. Da der Mensch von dem nicht der Zeitlichkeit unterworfenen Gott als Du angerufen ist, transzendiert er bereits in der Zeit die Zeitlichkeit und wird mit der Umgestaltung der Welt in die Ewigkeit eingehen.

Hält man sich diese Überzeugungen vor Augen, so ist es verständlich, daß mit dem Christentum die Geschichte in einer bisher ungewohnten Weise Gegenstand der Darstellung und der geistigen Spekulation wurde. Den ersten Höhepunkt dieser Bemühungen bilden zwei fast gleichzeitig abgefaßte Werke: des Heiligen Augustinus Abhandlung „De civi-tate Dei" und des Aurelius Orosius sieben Bücher „Historiarum adversum paganos". Obgleich beide Werke aufeinander bezogen sind oder — genauer formuliert — obgleich Orosius auf Drängen Augustins schrieb und sich zudem an mehreren Stellen ausdrücklich auf Augustinus bezog, blieben beide Werke selbständig nebeneinander stehen: Die grundlegenden theologisch-philosophischen Überlegungen Augustins und die — wie es in der Realenzyklopädie von Pauly-Wissowa heißt — „erste in sich geschlossene und literarisch hochstehende Welt-und Universalgeschichte", die mit Adam beginnend und in der eigenen Gegenwart endend, vornehmlich die verschiedenen Überlieferungen der Profangeschichte, weniger die der Bibel, zu einer Gesamtdarstellung verarbeitete.

Erst mehr als 700 Jahre später, auf dem Höhepunkt der mittelalterlichen Geschichtsschreibung, gelang es dem bereits erwähnten Otto von Freising in seiner „Chronica sive Histo-ria de duabus civitatibus", die doppelte Intention des Augustinus und des Orosius in einem einzigen Werk aufzunehmen und dabei sowohl die philosophisch-theologische Spekulation fortzuführen wie auch die Geschichtsdarstellung erheblich zu vervollkommnen. Damit war erstmalig eine in sich großartige Integration von Geschichtstheologie, Geschichtsphilosophie und Geschichtsschreibung gelungen, und es ist kein Zufall, daß das Werk von Freisings nicht nur ein Standardwerk mittelalterlicher Bibliotheken war, sondern zu Beginn der Neuzeit unter dem Titel „Ottonis Phrisingensis Episcopi, viri clarissimi, rerum ab origine mundi ad ipsius usque tempora gestartum Libri Octo" gedruckt und auch in den folgenden Jahrhunderten wiederholt nachgedruckt wurde. Die Restauration der Seinslehre durch die Scholastik Zur gleichen Zeit, in der Otto von Freising sein Werk abfaßte, begann die Ausbildung der Scholastik, die etwa hundert Jahre später in Thomas von Aquin ihren Höhepunkt fand. Diese Scholastik, die geistesgeschichtlich schließlich in der Bewältigung des Aristoteles ihre Hauptaufgabe sah und glänzend löste, übernahm von ihrem ursprünglichen geistigen Gegner die wissenschaftliche Konzeption einer die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit kaum berücksichtigenden Seinslehre. Bezeichnenderweise setzte Thomas dem aristotelischen Gedanken von der Ewigkeit der Welt keine Konzeption der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit entgegen, sondern er begnügte sich damit, darzulegen, daß der Gedanke der Ewigkeit der Welt nicht denknotwendig sei. Im übrigen verband er die Seinslehre des Aristoteles so eng und überzeugend mit der christlichen Theologie, daß die scholastischen Epigonen geradezu meinten, mit Thomas habe die christliche Theologie eine endgültige Fassung gefunden, die vielleicht noch systemkonsequent ausgebaut und abgesichert, aber grundsätzlich nicht überholt werden könne.

Zu einer konstruktiven Auseinandersetzung oder gar zu einer überzeugenden Synthese von Geschichte und scholastischer Philosophie ist es auch in den folgenden Jahrhunderten nicht gekommen. Otto von Freising und Thomas von Aquin zusammenzudenken und in einem Werk zusammenzufügen, hat niemand vermocht, ja niemand ernstlich versucht. Theologen und Philosophen wußten zwar grundsätzlich von der Zeitlichkeit der Welt und der Geschichtlichkeit des Menschen, sahen jedoch in ihrer an Aristoteles orientierten Seinslehre praktisch davon ab. Die Geschichtsschreibung wurde neben der Wissenschaft weiter betrieben und die Geschichtstheologie fiel nahezu ausschließlich den zum Teil faszinierenden, aber im Sinne einer geistigen Gesamtkonzeption willkürlichen Spekulationen kirchlicher Außenseiter anheim, deren Reihe schon bald nach Otto von Freisings Tod Joachim von Fiore eröffnete.

Hält man sich diese Tatbestände vor Augen, so kann man nur mit erheblichen Einschränkungen sagen, daß das christliche Mittelalter einen von der Offenbarung her konzipierten Kosmos der Wissenschaften besessen habe. Das Mittelalter hat vielmehr das vorchristliche aristotelische System der Wissenschaft übernommen, das durch den ersten Satz des XII. Buches der Metaphysik xtpi s oolag h Gcoga gekennzeichnet blieb und in dem bezeichnenderweise weiterhin die Philosophie — und nicht etwa die Theologie! — die Königin der Wissenschaften war. Die Seinslehre wurde durch eine Hinordnung auf Gott als Schöpfer und Erlöser verchristlicht, ohne daß jedoch die mit der Schöpfung aus dem Nichts und mit der Verheißung ewigen Lebens radikal gestellte Frage nach der Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit durchdacht worden wäre. Infolgedessen gab man eine relativ statische Seins-ordnung als ewige göttliche Ordnung aus, wobei diese Ordnung zum Teil bis hin zu einer „göttlichen" Legitimierung der ebenfalls relativ statischen ständischen Gesellschaft eingesetzt werden konnte. Die ganze geistige Konzeption war jedoch nur scheinbar umfassend. Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie blieben keineswegs zufällig außerhalb des Systems.

Die modernen Wissenschaften

Hinwendung zur irdischen Realität Nur von dieser Ausgangslage her läßt sich die nun folgende Epoche der Wissenschaftsentwicklung verstehen, die als eine Säkularisierung dieser ungeschichtlichen Konzeption bezeichnet werden kann. Selbstverständlich ist es im Rahmen dieser kurzen Überlegungen nicht möglich, die Entwicklung von den mittelalterlichen zu den modernen Wissenschaften auch nur in großen Zügen zu kennzeichnen. Aber einige für die folgenden Überlegungen besonders wichtigen Hinweise müssen gegeben werden:

In der Renaissance wurde die irdisch wahrnehmbare und erfahrbare Realität in ihrer Ei-genbedeutung und Eigengesetzlichkeit neu entdeckt. Das zeigt sich vielleicht am eindrucksvollsten in der Kunst. Die volle Menschlichkeit Christi und seiner Heiligen wurde einseitig zum Gegenstand der Darstellung. Dementsprechend bildeten anatomische Studien und nicht religiöse Betrachtungen künftig die notwendigen Voraussetzungen und Grundlagen auch für die künstlerische Darstellung Christis und der Heiligen, deren Leben und Wirken sich nicht mehr vor einem goldenen Hintergrund, sondern inmitten einer Landschaft unter dem normalen Wolkenhimmel abspielte. Die gleiche Hinwendung zur tatsächlichen Erfahrung beherrschte jedoch auch die Wissenschaften. Wie Machiavelli eindrucksvoll darlegte, drängten konkrete politische Erfahrungen den Staatsdenker zu der Feststellung, daß für einen „guten" Staatsmann andere Eigenschaften und Fähigkeiten nötig seien, als sie nach christlicher Lehre von einem „guten" Menschen erwartet werden mußten; denn das reale Staatserfordernis nötige den Staatsmann oft, andere zu täuschen und zu betrügen. Wie an anderer Stelle bereits dargelegt wurde gilt die Forderung nach einer Berücksichtigung der Besonderheiten der einzelnen Berufs-und Sachbereiche nicht nur für den Politiker, sondern ebenso für den Kaufmann und die Vertreter aller auf registrierbaren Erfolg abzielenden Berufe.

Durch die Reformation wurde die bisherige gemeinsame Argumentationsbasis der europäischen Christenheit in Frage gestellt und weitgehend zerstört: In einer in religiösen Fragen zerstrittenen, konfessionell gespaltenen christlichen Welt, die außerdem in zunehmendem Maße Kontakte mit nichtchristlichen Staaten und Völkern pflegte, schien es zumindest aus praktischen und methodischen Gründen weithin angebracht, bei dem Bemühen um allgemeinverbindliche Feststellung von einem „Rückgriff" auf Gott und die Offenbarung abzusehen Diese Tendenz zeigte sich besonders eindrucksvoll in der Geschichte der Jurisprudenz. Während für das Mittelalter die Frage nach dem Naturrecht weithin mit der Frage nach einem von Gott gesetzten Recht identisch gewesen war, berief sich Hugo Grotius in seinen grundlegenden Schriften auf ein Naturrecht, das selbst dann bestünde, „wenn es keinen Gott gäbe" Das Bestreben, innerhalb wissenschaftlicher Eröterungen zumindest aus methodischen Gründen von Gott abzusehen, bestand jedoch nicht nur in der Jurisprudenz, sondern in allen Wissenschaften schlechthin. Änderung der Fragestellung Die Hinwendung zur irdischen Realität und die zunächst methodisch begründete Abwendung von Gott waren die wichtigsten Voraussetzungen dafür, daß sich schließlich die wissenschaftliche Fragestellung selbst entscheidend änderte. Diese Neuorientierung der Fragestellung ist — bezeichnenderweise zunächst ebenfalls rein methodisch gemeint — erstmals von Newton in aller Klarheit ausgesprochen worden: „Ich habe noch nicht dahin gelangen können, aus den Erscheinungen den Grund dieser Eigenschaft der Schwere abzuleiten, und Hypothesen erdenke ich nicht. Alles nämlich, was nicht aus den Erscheinungen folgt, ist eine Hypothese, und Hypothesen . . . dürfen nicht in die Experimentalphysik ausgenommen werden. In dieser leitet man die Sätze aus den Erscheinungen ab und verallgemeinert sie durch Induktion. Auf diese Weise haben wir die Gesetze der Bewegung und der Schwere kennengelernt. Es genügt, daß die Schwere existiere, daß sie nach den von uns dargelegten Gesetzen wirke, und daß sie alle Bewegungen der Himmelskörper und des Meeres zu erklären imstande sei."

Das Entscheidende an diesen Sätzen Newtons ist, daß die Frage nach der Wirklichkeit in bestimmter Weise spezialisiert wurde: Es ging nicht darum, zu verstehen, was die Schwerkraft ihrem Wesen nach ist und worin sie selbst ihren Grund hat, sondern es ging allein darum, festzustellen, nach welchen „Gesetzen" die Schwerkraft wirkt, so daß mit Hilfe dieser Gesetze alle Bewegungen der Himmelskörper und des Meeres (Ebbe und Flut) „erklärt" werden konnten. Das heißt allgemein formuliert-Das „Verstehen der Wirklichkeit" wurde eingeschränkt auf die Frage nach den in Naturgesetzen formulierbaren Zusammenhängen zwischen den einzelnen Erscheinungen. Dabei verstand man unter Naturgesetzen mathematisch formulierte Gesetze, die ohne jede Ausnahme absolute Gültigkeit haben sollten.

Das System Comtes Die Änderung der wissenschaftlichen Fragestellung, die von Newton zunächst nur als methodischer Schritt gemeint war, wurde in der Folgezeit von der gesamten Wissenschaft so konsequent vollzogen, daß sich der Wissenschaftsbegriff selbst wandelte: Am Ende dieser Entwicklungslinie stand das positivistische Wissenschaftssystem Auguste Comtes. Er knüpfte unmittelbar an die geistige Tat Newtons an, indem er die auch von anderen bereits gezogene Konsequenz in die klare Forderung zusammenfaßte, „überall anstelle der unzulänglichen Bestimmung der eigentlichen Ursachen die bloße Forschung nach den Gesetzen, d. h. nach den konstanten Beziehungen zu setzen, die zwischen den beobachteten Erscheinungen existieren. Mag es sich nun um die geringsten oder höchsten Tatsachen han-dein, um Stoß-und um Schwerkraft, wie um Denken und Sittlichkeit"

Da es nach Comtes Überzeugung solche konstanten Beziehungen überall gab und „alle Vorgänge, anorganische und organische, körperliche wie geistige, individuelle wie soziale, streng unveränderlichen Gesetzen unterworfen" waren schien es ihm möglich zu sein, durch Kenntnis der Gesetze des individuellen und sozialen Lebens der Menschheit den Weg zu bisher ungeahnten Fortschritten zu sichern. Seine besondere Hoffnung galt dabei der von ihm neu konzipierten Wissenschaft der Soziologie, die er bezeichnenderweise auch Sozial-physik nannte. Er hoffte, daß die Kenntnis der Gesetze der gesellschaftlichen Veränderungen eine Steuerung der gesamten gesellschaftlichen Entwicklung gestatten werde und daß die Menschheit sich somit durch entsprechende vorausschauende Planungen eine glückliche Zukunft schaffen könne.

Die Forderung, das naturwissenschaftliche Prinzip auf alle Wissenschaften auszudehnen, bedeutete folgerichtig auch, daß nur noch diejenigen Disziplinen als Wissenschaften gelten konnten, welche nach dem naturwissenschaftlichen Prinzip arbeiteten. Alle anderen Disziplinen konnten zumindest nicht als Wissenschaften im Vollsinn des Wortes betrachtet werden. Sie wurden daher auch von Comte in das neue System der Wissenschaften nicht mit ausgenommen, in dem auf der Mathematik als Grundwissenschaft Astronomie, Physik, Chemie, Biologie und Soziologie (= Sozialphysik) aufruhten.

Ziel aller in das System aufgenommenen allgemeinen Wissenschaften war das Auffinden von konstanten Beziehungen, d. h. von Gesetzen im naturwissenschaftlichen Sinne, mit deren Hilfe der Mensch alle Bereiche der Wirklichkeit ebenso beherrschen sollte wie die Natur durch die Technik. Mit dieser Zielsetzung waren die modernen sozialen Handlungswissenschaften geistig konzipiert.

Wissenschaft und Wirklichkeit Wenn man sich diese Struktur und Zielsetzung der modernen Wissenschaften vergegenwärtigt, so ergeben sich bereits an dieser Stelle zwei innerlich miteinander zusammenhängende, für die weiteren Überlegungen wichtige Feststellungen: 1. Da sich die modernen Wissenschaften — die Naturwissenschaften wie die sozialen Handlungswissenschaften —-nur noch der Sprache mathematischer Formeln bedienten, entschwand notwendigerweise alles ontisch Individuelle und alles historisch Einmalige aus ihrem Horizont. In diesem Zusammenhang sei nur daran erinnert, daß die Natur zwar Gegenstände, die man zählen kann, jedoch keine Zahlen kennt. Schon die einfachste Addition ist strenggenommen fragwürdig, wenn man sie auf reale Dinge bezieht, da man ja jeweils nur gleiches addieren darf. In der Realität aber gibt es niemals zwei Menschen, zwei Tiere, zwei Pflanzen oder auch nur zwei Atome, die mit Sicherheit als völlig gleich bezeichnet werden können. Daher vermag keine mathematisch formulierte wissenschaftliche Aussage die volle Wirklichkeit zu erfassen.

Dennoch sind die Aussagen der Wissenschaften richtig. Denn die modernen Wissenschaften haben eine Erfassung der vollen Wirklichkeit für ihre Aussagen nicht nötig, da sie jeweils nur in der Form von Funktionsgleichungen sprechen. Sie können also von ihrem Gesichtspunkt her durchaus damit zufrieden sein, daß sie ihre jeweiligen Objekte nur im Hinblick auf bestimmte Funktionen richtig beschreiben. Was es im übrigen mit diesen Objekten auf sich haben mag, kann ihnen gleichgültig sein. Sie abstrahieren somit in einer den tierischen Abstraktionsleistungen analogen Weise Daraus ergibt sich auch, daß die jeweiligen Dinge für die Wissenschaften keinen Eigenwert haben, sondern daß ihr Wert identisch ist mit der Funktion, die sie erfüllen. Jedes Ding kann durch ein anderes ersetzt werden, sofern das andere die gleiche Funktion ebenso gut ausübt. Nicht die Individualität, sondern die Funktionalität ist das Entscheidende. 2. Da die erfolgreiche Erforschung der Wirklichkeit identisch ist mit der Formulierung neuer Gesetze und da somit der Nachweis von Gesetzmäßigkeiten das Ziel der Wissenschaften ist, sind auch die wissenschaftlichen Forschungsmethoden allein darauf abgestimmt, Gesetzmäßigkeiten nachzuweisen. Wie ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt habe, sind sie dagegen völlig außerstande, Spontaneität bzw. Freiheit zu erfassen Sie wirken somit wie eine besondere Brille, die es dahin bringt, daß überall Gesetzmäßigkeiten klar und eindrucksvoll sichtbar werden, während zugleich alle Ungesetzmäßigkeiten im Filter dieser Brille Steckenbleiben und daher für den, der die wissenschaftliche Brille benutzt, nicht existieren. Mit der Ausrichtung auf die Feststellung gesetzmäßiger Zusammenhänge erfolgte zugleich eine Einengung des Begriffs der Kausalität. Die moderne Wissenschaft kennt den Begriff der Kausalität nur noch im Sinne der causa efficiens, da nur die Wirkursachen mit den von ihnen verursachten Folgen zum Gegenstand mathematisch formulierter Gesetze werden können.

Das Ideal einer normierten Welt Die beiden Feststellungen, daß die Wissenschaften das Individuelle und das Nichtgesetzmäßige ausschließen, gelten — wie sich aus dem Dargelegten ergibt — zunächst für die Naturwissenschaften und für die notwendigerweise zu ihnen gehörende Technik. Es kennzeichnet die Situation, daß die Bedingungen, in denen die Formeln der Naturwissenschaften tatsächlich gelten, jeweils im Experiment künstlich geschaffen werden müssen und daß mit dem Fortschreiten der Naturwissenschaften und der ihnen zugehörigen Techniken eine neue, von der natürlichen Welt deutlich unterschiedene normierte Welt entsteht. Diese künstliche Welt ist vom Standpunkt der Naturwissenschaften die vollkommenere Welt, da in ihr tatsächlich alles in allgemeinen Formeln nicht faßbare Individuelle und alles unberechenbar Spontane weitgehend ausgeschaltet ist. Bezeichnenderweise treten in dieser gemachten Welt unvorhergesehene Ereignisse nur in zwei Fällen auf:

a) Es gibt immer wieder unvorhergesehene Überraschungen durch Material„fehler". Diese lassen sich zwar zurückdrängen durch eine künstliche Herstellung oder zumindest Aufbereitung des verwendeten Materials-, sie völlig auszuschalten ist jedoch so lange unmöglich, wie es dem Menschen nicht gelingt, alles Material ohne irgendwelche Verwendung bereits vorgefundener Ausgangsstoffe selbst zu schaffen. b) Es gibt immer wieder unvorhergesehene Überraschungen durch sogenanntes menschliches Versagen. Dabei sind zwei Arten des Versagens möglich: ein Versagen bei der Herstellung der Apparaturen der gemachten Welt und ein Versagen beim Umgang mit diesen Apparaturen.

Das bedeutet, daß die gemachte Welt tatsächlich eine perfekte, zuverlässig funktionierende Welt ist, soweit sie wissenschaftlich-technisch gemacht ist, und daß Unzulänglichkeiten jeweils nur dadurch eintreten, daß der Mensch einerseits nicht darauf verzichten kann, als erste Ausgangsstoffe für seine gemachte Welt Material zu verwenden, das er nicht selbst geschaffen hat, und daß es ihm andererseits auch nicht gelungen ist, sich selbst mit seinen eigenen je individuellen Eigenarten und Unzulänglichkeiten völlig auszuschalten.

Daraus ergibt sich, daß die weitere Vervollkommnung der wissenschaftlich-technischen Welt vornehmlich durch die Lösung folgender beider Aufgaben vorangetrieben werden kann: 1. durch die Herstellung immer zuverlässigerer Rohstoffe für den weiteren Ausbau der gemachten Welt; 2. durch eine Vervollkommnung des Menschen selbst im Hinblick auf die Erfordernisse der wissenschaftlich-technischen Welt.

Der erste dieser beiden Punkte kann im Rahmen dieses Themas nicht näher erörtert werden, wenngleich sich auch in ihm eine größere Problematik verbirgt, als man allgemein annimmt. Statt dessen soll sofort der zweite Punkt im Zentrum der Überlegungen stehen: Der Mensch als Objekt der Produktion Zunächst muß daran erinnert werden, daß sich mit dem Heraufkommen der wissenschaftlich-

technischen Zivilisation das Verhältnis des Menschen zu den Produktionsmitteln entscheidend geändert hat. Dabei geht es jetzt nicht um die Frage der Eigentumsverhältnisse — so wichtig diese Frage in anderen Zusammenhängen sein mag —, sondern um das direkte Verhältnis des arbeitenden Menschen zum Produktionsmittel selbst. Dem früheren Handwerker war sein Werkzeug ein Hilfsmittel, das er in jedem Augenblick des Arbeitsganges beherrschte. Der Mensch bestimmte Arbeitsrhythmus und Arbeitstempo. Das Werkzeug und auch die Töpferscheibe oder das Spinnrad dienten dem Menschen. Bei den kombinierten Kraft-Arbeits-Maschinen der wissenschaftlich-technischen Welt hat sich dieses Verhältnis jedoch grundlegend geändert. Die Maschinen nötigen den Menschen, sich ihnen anzupassen, so daß man jetzt zurecht sagen kann: der Mensch bedient die Maschinen.

Was vom Verhältnis des Arbeiters zur Maschine gilt, das bestimmt insgesamt das Verhältnis des Menschen zur wissenschaftlich-technischen Welt. Der Mensch bleibt zwar insofern der treibende Motor der gesamten Bewegung, weil er es ist, der diese gesamte künstliche Welt schafft; er ist jedoch zugleich in vielleicht noch stärkerem Maße der Getriebene und Bedrängte, da er selbst ständig ge-nötigt ist, sich dieser Welt anzupassen. Mit vollem Recht stellt Helmut Schelsky fest: „Der Mensch ist sich selbst in dieser wissenschaftlichen Zivilisation als soziales und seelisches Wesen eine technisch-wissenschaftliche Aufgabe der Produktion geworden. Er kann auf allen Lebensgebieten dieses durch wissenschaftliche Produktion vermittelte Verhältnis zu sich selbst gar nicht mehr vermeiden." Im unmittelbaren Anschluß daran fährt Schelsky fort: „Hierin liegen die notwendige Umwandlung der Wissenschaften vom Menschen'aus unmittelbaren , Geisteswissenschaften'zu Funktionsund damit letzten Endes Produktionswissenschaften und ihr unvermeidbares Vordringen und Vordrängen auf den Hochschulen begründet." Die Umwandlung der Wissenschaften in Funktionswissenschaften geht mit der „Umkonstruktion" des Menschen zum Funktionsträger Hand in Hand.

Wie die Maschinen, so werden in dieser modernen Welt auch die Menschen nicht nur genutzt, sondern zugleich gepflegt und verbessert. Schon Robert Owen hatte einst den Unternehmern vorgerechnet, daß sich soziale Fürsorge noch mehr lohne als die Pflege der Maschinen, da die Menschen das vornehmste Produktionsmittel seien. Der moderne Sozial-und Versorgungsstaat hat nicht nur diese These angenommen, sondern darüber hinaus die wirtschaftliche Bedeutung des einzelnen als Konsumenten entdeckt. Produzierend und konsumierend hat jeder einzelne seinen Beitrag dazu zu leisten, daß die große Maschine weiterläuft, und kann seinerseits eines seiner gesellschaftlichen Funktion entsprechenden Maßes an Wohlstand sicher sein. Darüber hinaus wird die Funktionstüchtigkeit und damit der gesellschaftliche Wert des einzelnen durch Verbesserungen im Bildungswesen planmäßig erhöht. Die damit gegebene gesellschaftliche Gesamtlage ist von verschiedenen Gesichtspunkten aus oft genug gekennzeichnet worden, so daß sich ein weiteres Eingehen darauf erübrigt.

Auch das Unbehagen, das viele Menschen angesichts der heutigen Gesamtlage erfaßt, haben Dichter, Philosophen und Wissenschaftler zur Genüge beschrieben. Die meisten dieser Beschreibungen zeichnen sich durch einen offenen oder zumindest unterschwelligen Pessimismus aus, der zuweilen bis zur Resignation geht, zuweilen in allgemein gehaltenen, wohlmeinenden Appellen endet. Dabei gilt die Sorge vornehmlich der Frage, ob und wie auf die Dauer in einer nach wissenschaftlichen Prinzipien planvoll konstruierten Welt ein freies und menschenwürdiges Leben möglich sei. So beschreibt Carl Friedrich von Weizsäcker die Situation mit den Sätzen: „Planung ist in einer wissenschaftlichen Welt wie der unseren unvermeidlich. Aber sicher ist es leichter, eine Maschine zu planen als das Verhalten von Menschen, die ihren freien Willen betätigen wollen. Deshalb ist es leichter, das Verhalten der Menschen zu planen, wenn wir sie behandeln, als wären sie Maschinen. Knechtschaft ist leichter zu planen als Freiheit. Wenn wir unser gemeinsames Leben dem Geist der wissenschaftlichen Planung nicht öffnen, so wird freilich das Chaos die Folge sein. Aber wenn wir es diesem Geist öffnen, so werden wir der Versuchung standhalten müssen, die Freiheit wegzuplanen und eine Knechtschaft über uns zu bringen, die um so gefährlicher ist, je unsichtbarer sie unsere Gesellschaft überzieht."

Selbst die Hoffnung auf eine umfassende, weltweite Friedensordnung, die heute viele Menschen erfüllt, wird begleitet von der Furcht vor einem weltweiten totalen, über alle Menschen verfügenden System. So schreibt etwa Arnold Gehlen, der ewige Friede werde „bezahlt werden in einer Weise, die sich gerade eben erst anzukündigen scheint ... sie wird eine gewaltige, noch unmeßbare moralische Belastung des einzelnen bedeuten können, eine neue, noch nicht dagewesene Form ganz tiefer Unfreiheit" Nach der Überzeugung von Hannah Arendt ist in den totalitären Regimen nur eine Krise offen sichtbar geworden, „in der wir heute alle und überall leben" und Karl Jaspers hat eindringlich davor gewarnt, in einer formalen Demokratie bereits eine Sicherung der Freiheit zu sehen

Fragt man, woher solche Zukunftsvisionen und -sorgen ihren besonderen Akzent bekommen, so trifft man auf die Überzeugung, daß ein System entstehen könnte, das endgültig und unwiderruflich ist. So schreibt Karl Jaspers: „Sollten aber die Völker ... insgesamt unversehens in solche Diktatur als Weltdiktatur geraten, so würde es keine Befreiung mehr geben"

Die Utopie einer perfekten Welt

Die Idee einer stabilen Ordnung Tatsächlich ist jedoch ein endgültiger, stabiler und damit ungeschichtlicher Zustand der menschlichen Gesellschaft heute nicht nur das Ziel totalitärer Planer, sondern auch solcher Denker, die sich selbst als Vertreter der Menschlichkeit und Menschenwürde fühlen und auch von anderen als solche anerkannt werden. So schreibt der Friedensnobelpreisträger Bertrand Russel: „Meine Schlußfolgerung ist, daß ein wissenschaftliches Gemeinwesen unter bestimmten Bedingungen stabil sein kann. Erste Bedingung ist eine Weltregierung, die ein Militärmonopol besitzt und daher den Frieden sichern kann. Zweite Bedingung ist ein allgemeiner Wohlstand . . . dritte Bedingung (die die Erfüllung der zweiten voraussetzt) ist die allseitige Einhaltung einer niedrigeren Geburtenziffer . .

Derartige Gedanken und Planungen unterscheiden sich von den ebenso geschichtsfremden Utopien der Vergangenheit in zweifacher Weise: 1. Sie entwerfen nicht nur ideale Verfassungen für einen Staat, sondern sie wollen die gesamte Erde politisch endgültig ordnen. 2. Sie werden nicht als Utupien konzipiert, sondern ihre Verfasser sind davon überzeugt, daß ihre Entwürfe in absehbarer Zukunft Realität werden können.

Das alles bedeutet, daß die Geschichtslosigkeit der modernen Welt, von der Helmut Schelsky spricht, nicht nur darin besteht, daß diese moderne Welt durch wissenschaftliche Objektivierung die Brücke zur Vergangenheit abbricht, sondern auch darin, daß diese Welt sich selbst ihrer technisch-wissenschaftlichen Grundstruktur nach als eine endgültige Welt versteht und somit die Offenheit zur Zukunft hin aufgibt.

Diese Feststellungen bedeuten selbstverständlich nicht, daß sich in der modernen Welt überhaupt nichts mehr ändere und daß sie in diesem Sinne am Ende sei; sie bedeuten jedoch, daß die von den Vorkämpfern der modernen Welt noch erwarteten Änderungen jeweils in einem im einzelnen höchst imponierenden, aber doch nur systemkonseguenten Ausbau des Vorhandenen bestehen. Dieser mit den Mitteln des Systems selbst programmierbare und manipulierbare Fortschritt kann jedoch nicht als eine geschichtliche Fortentwicklung be-zeichnet werden, da der Primat der bereits erarbeiteten wissenschaftlich-technischen Grundprinzipien dabei unverkürzt erhalten bleibt.

Geplante Freiheit Es kennzeichnet dieses in sich geschlossene System, daß sich selbst zwei in vielen Fragen so verschiedene Denker wie der Christ Carl Friedrich von Weizsäcker und der Atheist Bertrand Russel darin einig sind, daß die nach wissenschaftlichen Prinzipien durchzuführende Planung einen Vorrang vor der Freiheit haben müsse: Nach beider Überzeugung wird die Freiheit gewissermaßen von der Planung um-griffen, indem ein Raum der Freiheit von vornherein in das künftige rationale Weltsystem eingeplant werden soll! Man kann sich somit trotz des großen Respektes vor der Persönlichkeit und den positiven humanitären Absichten beider Denker nicht darüber täuschen, daß der Mensch der von ihnen entworfenen Welt zwar nicht wie in einem Käfig, wohl aber wie in einer Art von gut gesichertem Freigehege leben soll.

Selbstverständlich könnte man einwenden, daß ja durch die Beschränkung der Freiheit der einzelnen nicht notwendigerweise auch die Freiheit der Gesamtentwicklung eingeschränkt werde. Nähere Überlegungen zeigen jedoch sehr schnell, daß zumindest bei Russel in dem konzipierten System auch die Gesamtentwicklung ihrerseits prinzipiell dadurch determiniert wird, daß sie in ihrem Fortschritt methodisch auf die Wissenschaften festgelegt bleibt.

Der damit gegebene Verzicht auf Offenheit wird vielleicht am deutlichsten in den Untersuchungen Helmut Schelskys spürbar. Er wendet sich mit Schärfe gegen den Versuch, eine philosophische Gesamtkonzeption zurückzugewinnen und fährt dann fort: „Das Starren auf die philosophische Einheit der Wissenschaften läßt weiterhin übersehen, daß die einzelnen Disziplinen heute aus ihren Fachgegenständen heraus eine fachgebundene Ebene der Abstraktion ihrer Ergebnisse entwickeln, auf denen eine unphilosophische Kommunikation der Wissenschaften mit der Tendenz der Vereinigung sich vollzieht: Die Theorie. Diese unterscheidet sich von der Philosophie dadurch, daß sie als ein System von Hypothesen von der jeweils empirischen Analyse des Gegenstandes abstrahiert wird, um die Gesetzlichkeiten oder Regelmäßigkeiten des Gegenstandes zu erfassen." Die hier angesprochene Theorie unterscheidet sich von der Philosophie somit vor allem dadurch, daß sie sich in den Möglichkeiten ihres Denkens die gleichen Beschränkungen auferlegt hat wie die Wissenschaften, deren Integration sie vornimmt: Auch die von Schelsky konzipierte Theorie legt sich einseitig auf die Erfassung von Gesetzmäßigkeiten fest und ist somit in den festen Rahmen des ungeschichtlichen Gesamtsystems gebunden. Individualität, Spontaneität und Freiheit existieren für sie nicht oder erscheinen allenfalls als störende Faktoren, die man eliminieren muß.

Selbstverständlich ist das damit gekennzeichnete System noch nicht perfekt. Daher kann die Kennzeichnung einseitig erscheinen. Es kann mit Recht auf einzelne Erscheinungen hingewiesen werden, die sich in das gekennzeichnete Bild nicht einfügen lassen. Trotzdem wird man kaum bestreiten können, daß es eine mächtige Tendenz zur vollen Perfektion der allein auf optimales Funktionieren abgestellten wissenschaftlich-technischen Welt gibt und daß die Gegenkräfte unsicher und schwach sind.

Geschichte als systemfremde Offenheit

Anerkennung des Einmaligen und Personalen Erst auf diesem Hintergrund bzw. angesichts dieser Situation zeigt sich die besondere Bedeutung der historischen Wissenschaften für den Menschen unserer Zeit. Sie liegt darin, daß die historischen Wissenschaften, sofern sie ihre eigene Fragestellung nicht verkürzen, sich nicht in das geschlossene, moderne System integrieren lassen, daß sie vielmehr eine gewisse geistige Gegenkraft zu diesem System darstellen und so in der Lage sind, auch dem modernen Menschen eine Offenheit zu sichern.

Dieser Dienst erscheint um so dringender und wichtiger, da die Philosophie aus verschiedenartigen Gründen an allgemeiner Bedeutung verloren hat und da die traditionelle christliche Theologie — nicht die Offenbarung! — infolge ihrer Bindung an eine ungeschichtliche Seins-lehre zwar eine gewisse Konkurrenz oder auch Ergänzung, aber kein echtes Gegengewicht zu dem wissenschaftlich-technischen System darstellt. Hierin liegt wahrscheinlich der tiefere Grund dafür, daß die heute mancherorts fast zur Mode gewordenen Gespräche zwischen Naturwissenschaftlern und Theologen im allgemeinen recht harmonisch verlaufen, und daß sich selbst zwischen den Vertretern des dialektischen Materialismus, der ja nur eine besondere Ausprägung der modernen Wissenschaften darstellt und den Theologen ein gutes Einvernehmen anzukündigen beginnt.

Zur Erläuterung der Systemfremdheit und Offenheit der historischen Wissenschaften sei in einem letzten Teil auf folgende Punkte besonders hingewiesen: 1. Die historischen Wissenschaften haben sich nicht das Ziel gesetzt, alle Erscheinungen in allgemeinen, mathematisch formulierten Aussagen zu erfassen. Sie streben — wie Hans Georg Gadamar es formuliert — nicht danach, „die konkrete Erscheinung als Fall einer allgemeinen Regel zu erfassen. Das einzelne dient nicht einfach zur Bestätigung einer Gesetzmäßigkeit, von der aus in praktischer Umwendung Voraussagen möglich werden. Ihr Ideal ist vielmehr, die Erscheinung selber in ihrer einmaligen und geschichtlichen Konkretheit zu verstehen"

Damit hat die Historie eine einzigartige Chance, die Wirklichkeit besser zu erfassen, als es die Naturwissenschaften und die sozialen Handlungswissenschatten vermögen. So ist z. B. für die Biologie, die Medizin, die Jurisprudenz und die Soziologie der Tod eines bestimmten Menschen grundsätzlich nur ein Fall, ein ganz normaler oder vielleicht auch ein besonders interessanter Fall; stets jedoch ein Ereignis, das in ein Schema eingeordnet wird, in dem die wesentliche Realität dieses Todes niemals erfaßt werden kann.

Mit dieser Grundstruktur hängt es zusammen, daß man biologische, medizinische, soziologische, ja selbst philosophische und theologische Abhandlungen über den Tod lesen kann, ohne selbst davon betroffen zu werden, während die historische Darstellung eines bestimmten Sterbens eine Betroffenheit auszulösen vermag, weil hier die volle Realität ins Spiel kommt. Der große klassische Zeuge für diese Wahrheit ist Sokrates. Die von Plato berichteten allgemeinen philosophischen Erör-terungen des Sokrates über den Tod vermögen über die Realität des Todes weniger auszusagen als das von dem gleichen Plato berichtete konkrete Sterben des Sokrates selbst.

Solche Feststellungen zeigen einen zunächst überraschenden Tatbestand: Allgemeine Aussagen der Wissenschaften, in denen auch wir selbst als Fälle mit erfaßt sind, betreffen uns weniger als spezielle Aussagen über einen einzigen, uns recht fern liegenden Fall. Diese merkwürdige Erscheinung deutet ebenso wie die bereits angestellten Überlegungen darauf hin, daß in jedem konkreten Fall mehr Wirklichkeit liegt, als in noch so richtigen allgemeinen Aussagen über alle Fälle insgesamt.

Was hier vom Tod und Sterben gesagt wurde, gilt ebenso für alle anderen Grundgegebenheiten des menschlichen Lebens. Was Liebe, Achtung, Treue, Dankbarkeit oder auch was Haß, Verachtung, Gemeinheit ist, kann in seiner vollen Realität niemals in allgemeinen Formulierungen erfaßt werden, sondern es enthüllt sich nur im jeweils konkreten Fall. Das alles bedeutet: Während zumindest die Naturwissenschaften zu der Auffassung neigen, daß sie in ihren allgemeinen Formeln das Wesentliche des jeweiligen Vorganges erfaßt hätten und daß spezielle Abweichungen nur durch unwesentliche Zufälligkeiten zustande kämen, verhält es sich zumindest in den Bereichen, die Gegenstand historischer Forschungen sind, offensichtlich gerade umgekehrt: In allgemeinen Formeln und Feststellungen läßt sich nur Unwesentliches sagen, während das Wesentliche jeweils nur durch die Beschreibung des einzelnen, konkreten Falles erfaßbar ist.

In diesem Sinne schreibt Karl Jaspers:

. . was nur identisch wiederkehrt, die regelmäßigen Kausalitäten, das ist das Ungeschichtliche in der Geschichte" und Reinhard Wittram stellt fest: „Das Schema tötet die Individualität der Person und verdunkelt die Wahrheit der geschichtlichen Stunde. Analogien dieser Art sind m. E. nicht nur wertlos, sondern auch schädlich — schädlich, weil sie das einzige, wovon man in der Geschichte vielleicht wirklich etwas lernen kann — die jeweilige Geschichtlichkeit der Dinge —, gar nicht erst ins Blickfeld kommen lassen."

Erweis der Un-Endgültigkeit des Systems 2. Die Geschichtlichkeit der Dinge, von der Reinhard Wittram spricht, bedeutet jedoch noch mehr als die Achtung ihrer wesentlichen Einmaligkeit und Individualität. Eine solche Achtung wäre auch in einem statisch-ontisehen System denkbar. Geschichtlichkeit bedeutet, daß die Dinge in der Zeit und in ihrem Wechsel stehen, daß sie sich nicht in gleicher Weise wiederholen, und daß diese Struktur für sie konstitutiv ist. Die Anerkennung dieser Grundstruktur kann man mit Hans Freyer in den knappen Satz bringen: „Die Geschichte verharrt immer im Un-Endgültigen."

Daraus ergibt sich freilich, daß entgegen der im ersten Teil aufgezeigten immanenten Tendenz der wissenschaftlich-technischen Welt auch diese Welt niemals zu einer endgültigen Welt werden wird. Es wurde bereits gezeigt, daß der wissenschaftlich-technischen Weltbeherrschung schon dadurch eine Grenze gesetzt ist, daß sie auf von ihr nicht geschaffenes Rohmaterial angewiesen bleibt. Die größte Schwierigkeit für eine volle Perfektionierung des wissenschaftlich-technischen Systems ist jedoch der Mensch. Daher entspringt die durchaus system-konsequente Tendenz, den im Sinne des berechenbaren Systems unzuverlässigen Menschen durch entsprechende, besser funktionierende Apparaturen zu ersetzen. Dabei rücken diese Apparaturen in wachsender Zahl auch in führende Positionen ein. Während die Maschinen des vorigen Jahrhunderts vornehmlich ungelernte Arbeiter ersetzten sowie Facharbeiter einsparten, sind die elektronischen Anlagen unserer Zeit besonders in den letzten Jahrzehnten dabei, die Arbeit der leitenden Angestellten zu übernehmen. Es ist jedoch trotz allem unerreichbar, daß das gesamte wissenschaftlich-technische System ohne jede Einschaltung von Menschen abläuft. Und wenn man — den Zukunftsvisionen mancher Planer entsprechend — die Menschen durch perfekte elektronische oder chemische Steuerung zu voller Zuverlässigkeit im Sinne der funktionalen Abläufe brächte, bliebe die Frage, wer denn die Steuerung selbst laufend vornehmen soll. Entweder muß man in der entscheidenden Zentralstelle ein technisches Gerät einsetzen und damit das ganze System einem völlig absurden Untergang preisgeben, da es bei jeder nicht miteingeplanten Veränderung im kosmischen oder biologischen Bereich hilflos zusammenbrechen müßte, oder man muß wenigstens in der höchsten Spitze weiterhin echte, d. h. nicht gesteuerte und programmierte Menschen verwenden und damit das gesamte System — um nochmals die Formulierung Freyers zu gebrauchen — im „Un-Endgültigen" lassen.

Entgegen der Tendenz des wissenschaftlich-technischen Systems zu seiner eigenen permanenten Perfektion bedeutet die Un-Endgültigkeit auch, daß das System als Ganzes einmal geschichtlich überholt und abgelöst werden kann, denn es ist nur so lange gesichert, wie die Menschen es nicht ändern wollen

Diese Feststellung muß freilich vor zwei Mißverständnissen abgesichert werden: a) Sie bedeutet nicht, daß es nur eines Entschlusses bedürfe, um das wissenschaftlich-technische System zu überwinden. Es bedarf vielmehr außer einer bewußten geistigen Offenheit der Findung neuer Grundlagen für das gesamte menschliche und gesellschaftliche Leben. b) Sie bedeutet nicht, daß vielleicht eine Zeit ohne Wissenschaft und ohne Technik heraufkommen werde, sondern nur, daß Wissenschaft und Technik ihre das gesamte Weltverständnis und Weltverhältnis des Menschen beherrschende Stellung verlieren können.

Die möglichst baldige Überwindung des autonomen wissenschaftlich-technischen Systems bezeichnet Carl Friedrich von Weizsäcker als eine Notwendigkeit, indem er schreibt: „Jedes einzelne technische Gerät ist von einem Zweck bestimmt; es ist so konstruiert, daß das Zusammenwirken aller seiner Teile eben diesem Zweck dient. Kein Gerät ist Selbstzweck. . . . Eine Technik, die sich als Selbstzweck gebärdet, ist als ganze auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe als ihre einzelnen Apparate."

Mit dieser Feststellung fordert Carl Friedrich von Weizsäcker, obgleich er es nicht so formuliert, tatsächlich eine völlige Strukturänderung, ja eine Ablösung des Systems. Denn er stellt ihm eine Aufgabe, zu deren Lösung die ihm immanenten Möglichkeiten schlechthin nicht ausreichen.

Hier liegt auch genau der Punkt, an dem die wissenschaftstheoretische Konzeption Helmut Schelskys scheitert, der in seiner umfassenden Untersuchung zur Reform der deutschen Universität schreibt: „Die Erziehung zur Wissenschaftlichkeit nimmt heute also den Bildungsvorgängen gegenüber jene Stellung ein, die das klassische Bildungsideal der Universität nur der unmittelbaren sittlichen und religiösen Volkserziehung zuschrieb." Wie aus dem ersten Teil dieser Überlegungen eindeutig hervorgeht, stellt er damit der Wissenschaft eine Aufgabe, die sie schlechthin und grundsätzlich nicht lösen kann, da ihre Methoden die Frage nach dem Wesen der Dinge und dem Sinn des Ganzen nicht in den Griff zu bekommen vermögen.

Selbstverständlich kann man mit Recht darauf hinweisen, daß die hier angesprochene Aufgabe auch von den historischen Wissenschaften nicht gelöst werden könne. Dieser Hinweis übersieht jedoch, daß die historischen Wissenschaften wenigstens dazu imstande sind, die Grenzen des wissenschaftlich-technischen Systems sichtbar zu machen, eine Offenheit gegenüber der Wirklichkeit und der Zukunft zurückgewinnen und durch ihre Blickrichtung auf den Menschen und sein Handeln zumindest gewisse Hilfen zur Beantwortung der angedeuteten Fragen zu geben. Überwindung des nivellierenden Relativismus 3. Die historischen Wissenschaften können einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, den um sich greifenden Relativismus zu überwinden. Dieser Satz wirkt vielleicht befremdlich. Denn es gibt eine verbreitete Auffassung, die gerade die historischen Wissenschaften wegen ihrer umfassenden Erforschung aller menschlichen Kulturen für die Relativierung verantwortlich macht. Diese Auffassung übersieht jedoch das heute veränderte Selbstverständnis der historischen Wissenschaften. „Im neuen Selbstverständnis der Historiker bekommt auch das Problem des historischen Relativismus ein neues Gesicht. Der . klassische'Relativismus setzte voraus, daß der Historiker sich auch , zu den Göttern und Institutionen der eigenen Gesellschaft'objektiv verhält, sie in die . Vorstellung'nimmt und damit verfremdet, so daß er . sie schon als Vergangenes'sieht. Das ist nur möglich, wenn der Historiker — und das war tatsächlich lange sein Bestreben — selbst aus der Geschichte hinausspringt und gewissermaßen , von oben herab'das vielfältige Leben der Geschichte besieht. Mit dem Entweichen des Historikers in den ungeschichtlichen Raum fehlt der Geschichte dann das sie verbindende und ihre Einheit garantierende Subjekt historischer Besinnung. Was zeitbestimmtes Nacheinander war, bleibt unverbunden stehen und kommt nur als zufälliges Nebeneinander in den Blick. Bezeichnenderweise entstammt aus diesem Denken die Redewendung vom , Museum der Geschichte', ein Bild, in dem die Zeit, die eigentliche Kategorie der Geschichte, völlig fehlt."

Der moderne Historiker weiß, daß die Zeit keine beliebige Ordnung ist und daß auch er selbst unlösbar in der Geschichte steht. Dieses doppelte Wissen ermöglicht es, die vorhin ausgesprochene Unendgültigkeit der Geschichte mit fester Verbindlichkeit zu paaren.

Hier sei beispielhaft an das Problem des Naturrechts erinnert: „Das Naturrecht ist weder eine durch vernünftiges Nachdenken jederzeit voll erfaßbare Vorgegebenheit, noch eine rechtsphilosophische Fiktion, sondern eine sich in der Geschichte manifestierende und enthüllende Realität, deren Anerkennung oder Mißachtung zugleich eine Entscheidung für oder gegen eine Realisierung dessen ist, was der Mensch seiner Natur nach zwar nicht notwendigerweise ist, aber im Sinne des Sollens sein kann.“ Die Verbindlichkeit des Naturrechts ist absolut in seinem Anspruch an den Menschen, aber nicht absolut im Sinne einer geschichtslosen und damit wirklichkeitsfremden Abstraktion.

Abschließend muß über einen letzten — wie mir scheint besonders wichtigen — Punkt gesprochen werden:

Beitrag zu einer neuen Konzeption der Wissenschaften 4. Die historischen Wissenschaften können und müssen einen entscheidenden Beitrag leisten zu einer neuen Konzeption der Wissenschaften überhaupt. Wie im ersten Teil der Überlegungen dargelegt wurde, hat weder die Antike noch das Mittelalter noch die Neuzeit eine wissenschaftliche Gesamtkonzeption unter Einbeziehung des Problems der Zeitlichkeit der Welt und der Geschichtlichkeit des Menschen gehabt. Daher zeichnen sich die Systeme der Wissenschaften durch eine gewisse statische Geschlossenheit aus. Sosehr diese Geschlossenheit dem nach endgültiger Ordnung strebenden Geiste des Menschen zu imponieren vermag, sowenig kann sie einer durch Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit wesentlich geprägten Welt gerecht werden. Mit gewisser innerer Notwendigkeit mußten diese Systeme von der Zeit und der Geschichte überholt werden, da sie nicht — wie sie glauben machen wollten — zeitlos gültig waren, sondern vielmehr durch Absolutsetzung eines zeitgebundenen Denkens nur die Illusion einer Überzeitlichkeit gewonnen hatten.

Es ist beim augenblicklichen Stand der Diskussion ausgeschlossen, bereits eine Vermutung über eine künftige Gesamtkonzeption der Wissenschaften zu äußern. Aber man kann einige unabdingbare Forderungen angeben, die an eine solche Konzeption gestellt werden müssen: a) Innerhalb einer neuen wissenschaftlichen Gesamtkonzeption muß einer kritischen Methodologie eine zentrale Stelle eingeräumt werden. Dabei ist zwischen Bewältigungswissen und Wirklichkeitserkenntnis klar zu unterscheiden Wie aus dem ersten Teil dieser Abhandlung hervorgeht, handelt es sich bei allen Formulierungen gesetzmäßiger Zusammenhänge vornehmlich um Bewältigungswissen, nicht um Wirklichkeitserkenntnis, da sich die tatsächliche Realität in mathematischen Formulierungen grundsätzlich nicht fassen läßt. Selbstverständlich ist es z. B. zur erfolgreichen Bewältigung wirtschaftlicher und politischer Aufgaben unerläßlich zu wissen, daß die Familien eines bestimmten Landes durchschnittlich, 2, 7 Kinder haben und daß 0, 3 °/o der Säuglinge sterben. Die Wirklichkeit der Familien, die stets eine je bestimmte konkrete Wirklichkeit ist, wird jedoch durch solche Aussagen nicht getroffen. Auf die Differenz zwischen soziologischen Aussagen und der Realität ist schon des öfteren hingewiesen worden. Im allgemeinen Bewußtsein kaum beachtet wird jedoch die Tatsache, daß die gleiche Differenz zwischen mathematisch formulierten Aussagen und Realität auch im Arbeitsbereich der Naturwissenschaften besteht. Selbstverständlich ist die damit ausgesprochene Tatsache, daß unsere wissenschaftlichen Aussagen grundsätzlich nur statistische Richtigkeit beanspruchen können, allgemein bekannt. Aber bis heute ist von kaum jemandem die daraus unabweisbare Konsequenz gezogen worden, daß sich auch die Naturwissenschaften — sofern es ihnen nicht nur um Bewältigungswissen, sondern um Wirklichkeitserkenntnis geht — nicht allein darauf konzentrieren dürfen, Gesetzmäßigkeiten festzustellen, daß sie vielmehr mit der gleichen Intensität das jeweils konkrete, individuelle, einmalige und unwiederholbare Verhalten der Materie zum Gegenstand ihrer Forschungen machen müssen. Eine solche Forschung würde den Menschen die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit allen Geschehens und damit die Zeitlichkeit voll ins Bewußtsein heben und damit eine völlig neue Geisteshaltung schaffen. Die seit der Zeit der Pythagoreer in zahlreichen Variationen immer wiederholte Auffassung, daß das Seiende eine Nachahmung von Zahlen und damit Kosmos sei, würde in ihrer Einseitigkeit durchschaut und aufgehoben in einem neuen Weltbild, zu dessen konstitutiven Elementen auch Spontaneität, Einmaligkeit, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit gehören würden, das somit aus seiner eigenen Struktur heraus niemals zu einem in sich geschlossenen System werden könnte. b) Auch bei einem methodisch offenen Streben nach Wirklichkeitserkenntnis im Rahmen einer neuen Konzeption der Wissenschaften bleiben die Forschungsergebnisse insofern anthropomorph, als sie in menschlichen Vorstellungen und Begriffen gedacht und formuliert werden müssen. Sie unterscheiden sich jedoch qualitativ vom Bewältigungswissen dadurch, daß sie nicht nur über Funktionszusammenhänge Auskunft geben, sondern sich auch der nur in der jeweiligen Individualität faßbaren konkreten Wirklichkeit zuwenden.

Dadurch wird in Erweiterung des Ansatzes von Newton und Comte die volle Wirklichkeit selbst wieder Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Eigenbedeutung und Eigenart der Dinge kommt erneut ins Blickfeld. Der Eigenwert jeder Wirklichkeit — nicht nur ihr Funktionswert! — wird wieder Gegenstand wissenschaftlichen Fragens.

Diese notwendige Fortentwicklung der Wissenschaften läßt sich auch in folgender Weise kennzeichnen: Im Laufe der letzten Jahrhunderte haben die Naturwissenschaften durch eine bestimmte Akzentuierung ihrer Fragestellung erfolgreiche Methoden zur Erweiterung des Bewältigungswissens entwickelt, die auch von den sozialen Handlungswissenschaften übernommen worden sind. Gerade dem Historiker liegt es fern, diesen Vorgang rückgängig machen zu wollen. Aber die Wissenschaften dürfen angesichts dieser eindrucksvollen Entwicklung nicht vergessen, daß es nicht ihre einzige Aufgabe ist, das Bewältigungswissen zu vermehren, sondern daß sie ebenso bestrebt sein müssen, die Wirklichkeitserkenntnis zu erweitern. Daher gilt es, analog den historischen Wissenschaften auch in den übrigen Wissenschaften Methoden zur Erforschung des Spontanen, des Einmaligen und Unwiederholbaren zu entwickeln. Methoden, die die Eigenbedeutung und den Eigenwert der einzelnen Gegenstände ins Licht rükken.

Das erscheint um so notwendiger, weil nur auf diese Weise die gegenwärtige Krise des wissenschaftlichen Zeitalters überwunden werden kann, das vorerst keine Kriterien kennt, um zu entscheiden, welche technischen Möglichkeiten der Natur-und Sozialwissenschaften realisiert und welche nicht realisiert werden sollen. Denn die Auffassung, „daß man alles, was technisch möglich ist, auch ausführe'', ist von Carl Friedrich von Weizsäcker mit vollem Recht als „nicht fortschrittlich, sondern kindisch“ bezeichnet worden, als „das typische Verhalten einer ersten Generation, die alle Möglichkeiten ausprobiert, nur weil sie neu sind"

Erst wenn die Wissenschaften wieder methodisch die auf Wirklichkeitserkenntnis abzielende Frage nach dem Eigenwert ihrer jeweiligen Forschungsgegenstände stellen, können Kriterien für das Recht und die Grenzen der auf Bewältigungswissen abzielenden Forschungen und ihrer Techniken gefunden werden. In diesem Sinne gilt z. B. im Hinblick auf den Menschen der Satz: „Jemand, der sich nie die Frage stellt, was der Mensch ist, erscheint absolut ungeeignet, Forschungen an Menschen vorzunehmen."

Ferment wissenschaftlicher Integration c) Die Strukturbasis für eine neue Gesamt-konzeption der Wissenschaften kann nicht ohne eine entscheidende Beteiligung der historischen Wissenschaften gewonnen werden. Nach dem Scheitern der Philosophie und Theologie als Universalwissenschaften sind die historischen Wissenschaften die einzigen, deren Horizont grundsätzlich alle Erscheinungen der Wirklichkeit umschließt. Von ihnen aus ist am ehesten eine umfassene kritische Selbstbesinnung des heutigen Menschen denkbar. Dabei kommt es ihnen zugute, daß sie nicht nur eine kritisch-theoretische Prüfung der Ideen und geistigen Konzeptionen der Menschheit vorzunehmen vermögen, sondern daß sie zugleich stets vor Augen haben, wie segensreich oder auch wie verhängnisvoll sich diese tatsächlich auf die Menschen ausgewirkt haben. Es spricht viel dafür, daß der Wert oder Un-wert philosophischer Theorien dem Menschen erst nach realen geschichtlichen Erfahrungen voll ins Bewußtsein tritt. Hier sei nur daran erinnert, mit welch kritischer Skepsis man heute nach den Erfahrungen totalitärer Systeme Platos Staat liest, während sich vorher die Altphilologen weithin vom platonischen Engagement für die Ideen der Gerechtigkeit des Guten und des Wahren mitreißen ließen. Bezeichnenderweise beurteilt auch in der Gegenwart der Historiker die kommunistische Welt im allgemeinen anders als der Philosoph, weil er nicht nur die Ideologie, sondern zugleich die Realität der entsprechenden politischen Systeme im Blick hat. Dabei gewinnt er den Eindruck, daß die Differenz zwischen Theorie bzw. Ideologie und politischer Praxis nicht nur auf Unzulänglichkeiten in der Durchführung beruht, sondern daß die Theorie von vornherein zu wenig am konkreten geschichtlichen Menschen orientiert ist. Daher hält er es nicht für Zufall, daß alle derartigen Konzeptionen — von Plato bis zu den modernen Marxisten — die erfolgreiche Durchführung eines großen, das allgemeine Bewußtsein ändernden Erziehungsprogramms zur Schaffung eines neuen Menschen als Voraussetzung für die Verwirklichung ihrer Ideen betrachten.

Solche Feststellungen zielen selbstverständlich nicht darauf ab, zugunsten der Historie die Philosophie für unwichtig oder gar entbehrlich zu erklären. Sie besagen nur, daß eine geschichtsfremde Philosophie die Wirklichkeit der realen geschichtlichen Welt und des realen Menschen leicht verfehlt. Es bedarf keines Wortes, daß umgekehrt ei: Schichtswissenschaft ohne Philosphie ei rikatur ihrer selbst ist.

Die historischen Wissenschaften sind nicht nur geeignet, bei einer neuen Ko rung der Wissenschaften mit der Philo zusammenzuwirken, sondern sie rücke: die vom Comteschen System grunds ausgeschlossene Religion und Offen! wieder in den Blick der Wissenschaften wie jede Religion, so vollzieht sich ins dere die christliche Offenbarung — ar gen vom Wirken Jesu bis zur heutiger der Christenheit — in der geschichtliche: und ist somit Gegenstand historische schungen. Auf die sich dabei ergel Grenzfragen kann im Zusammenhang Untersuchung nicht eingegangen werde:

Zum Schluß sei die Bedeutung der histoi Wissenschaften für den Menschen unser in dem Satz zusammengefaßt: Die histo Wissenschaften hindern den Menschel vorzeitig und unkritisch einem in sich schlossenen wissenschaftlich-technischen System anheimzugeben und geben ihr alles Bewältigungswissen übersteigenc fenheit für eine stets unabgeschlossene lichkeitserkenntnis. Damit erfüllen sie eine völlig andere Aufgabe, als ihnen r Vertreter der Natur-und Sozialwisse: ten zuweisen möchten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, rde 171/172, S. 280.

  2. Hugo Staudinger, Gott: Fehlanzeige?, Trier 1968, S. 16 f.

  3. Emeiich Coreth, Grundfragen des menschlichen Daseins, Innsbruck 1956, S. 85.

  4. Coreth, a. a. O„ S. 87.

  5. Ars poetica cap. 9.

  6. Otto von Freising, Gesta friderici I, 4.

  7. Hugo Staudinger, Die Krise des Zeitalters der Wissenschaften, in dem gleichnamigen Band des Deutschen Instituts für Bildung und Wissen, Frankfurt 1964“, S. 5.

  8. Vgl. Hilgenberg u. a., Unsere Geschichte — unsere Welt, Bd. II, München 1963, S. 127.

  9. Vgl. auch hierzu die in Anmerkung 7 genannte Untersuchung.

  10. Auguste Comte, Discours sur l’Esprit positif, Paris 1944.

  11. Ebd.

  12. Auf diese Analogie hat unter anderen Gesichtspunkten bereits Scheler bei seiner Kennzeichnung des Herrschaftswissens hingewiesen.

  13. Hugo Staudinger, Gott: Fehlanzeige?, Trier 1968, S. 35 ff.

  14. Schelsky, a. a. O., S. 218 f.

  15. Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft, Bd. I, Stuttgart 1964, S. 12.

  16. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956, S. 296.

  17. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt 1955, S. 725.

  18. Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Fischer-Bücherei Nr. 91 S. 161 f.

  19. Jaspers, a. a. O., S. 200.

  20. Bertrand Russel, Wissenschaft wandelt das Leben, Kap. 7.

  21. Schelsky, a. a. O., S. 825.

  22. Es ist paradox, daß sich auch der Diamat, der ja in Form des Histomat eine Geschichtskonzeption entwickelt hat, durch seine Betonung der Gesetzmäßigkeit historischer Abläufe und seine Utopie einer endgültigen kommunistischen Weltgesellschaft als eine geschichtsfremde Ideologie ausweist.

  23. Hans Georg Gadamar, Wahrheit und Methode, Tübingen 1965-, S. 2.

  24. Jaspers, a. a. O., S. 224.

  25. Reinhard Wittram, Das Interesse an der Geschichte, Göttingen 19632, S. 51.

  26. Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeit alters, Stuttgart, 1961, S. 216.

  27. Der Wille zur Änderung kann selbstverständlich erst dann aufkommen, wenn man das System als ein geschichtliches, d. h. un-endgültiges erkannt hat.

  28. Carl Friedrich von Weizsäcker, Bedingungen des Friedens, Göttingen 19643, S. 20.

  29. Schelsky, a. a. O„ S. 297.

  30. Hugo Staudinger, Geschichte als Wissenschaft vom Menschen, in: Deutsches Institut für Bildung und Wissen: Mensch und Zukunft, Frankfurt 1964, S. 83.

  31. Hugo Staudinger, Naturrecht, Menschenrechte, Offenbarung, in dem gleichnamigen Band des Deutschen Instituts für Bildung und Wissen, Frankfurt 1968, S. 27.

  32. Das hier als Bewältigungswissen gekennzeichnete Wissen deckt sich zum Teil mit dem, was Scheler Herrschaftswissen nennt.

  33. Metaph. A 6, 987 b il.

  34. Aet, 2, 1, 1; Diels, DOX 327, 8.

  35. v. Weizsäcker, Bedingungen . . ., a. a. O., S. 19.

  36. Staudinger, Die Krise ..., a. a. O., S. 9.

  37. Vgl. dazu im gleichen Band Hollenbach, Pannen-berg und Sladeczek.

  38. Staudinger, Gott: Fehlanzeige?, Trier 196 bei bin ich besonders auch auf die Untei zwischen naturwissenschaftlichen und histr Forschungsmethoden eingegangen.

Weitere Inhalte

Hugo Staudinger, Dr. phil., o. Prof, für politische Bildung und Didaktik der Geschichte an der Pädagogischen Hochschule in Paderborn; Hauptgeschäftsführer des Deutschen Instituts für Bildung und Wissen; geb. am 5. Juli 1921 in Dresden; zunächst Studium der theoretischen Physik in Dresden und nach Unterbrechung durch Wehrdienst und Gefangenschaft Studium der Geschichte, Philosophie, Latein und Theologie in Münster; 1950 Staats-examen und Promotion; von 1958 bis 1966 Direktor des Deutschen Instituts für Bildung und Wissen; seit 1966 Hauptgeschäftsführer dieses Instituts. Veröffentlichungen u. a.: Mensch und Politik, Trier 1968; Gott: Fehlanzeige? Überlegungen eines Historikers zu Grenzfragen seiner Wissenschaft, Trier 1968; Mitautor des Werkes Unsere Geschichte — unsere Welt, 3. Bd., München 1962 ff.; zahlreiche Untersuchungen zu politischen, wissenschaftstheoretischen, didaktischen und bildungspolitischen Fragen.