Einleitung
Die Nürnberger Prozesse stellen — trotz mancher Analogien — zu den Ereignissen nach dem Ersten Weltkrieg ein Novum in der modernen Staatengeschichte dar. Nach dem Willen der Sieger sollte der kühle und rationale Geist des Rechtes die Bilanz ziehen und die Rechnung aufstellen für eine Zeit der Grenzsituationen, die die Verknüpfung von Recht und Sittlichkeit in einem anderen Lichte erscheinen ließen, als dies der Staat und seine Gesetzgebung in den letzten Jahrhunderten getan hatten. Ein Gerichtshof sollte am Ende des verlustreichsten Krieges der Menschheit stehen, eines Krieges, der in seiner Zerstörungskraft alles bisher Dagewesene übertroffen hatte, der sich Emotionen und Leidenschaften zu Diensten gemacht und der mit der Gewalt einer Katastrophe alles und jeden bedroht hatte.
Diese Entscheidung der Siegerstaaten traf und trifft auf die verschiedensten Beurteilungen. Betrachtet man repräsentative Äußerungen aus der fast unübersehbaren Fülle der Literatur zum Thema der Nürnberger Prozesse, so reicht die Skala der Urteile von der absoluten Verdammung bis zur Lobpreisung. Oftmals verquicken sich undifferenziert juristische, politische und moralische Betrachtungsweisen, oder es wird umgekehrt die Wertung der Prozesse auf einen einzigen Gesichtspunkt reduziert, den juristischen beispielsweise, ohne der politischen Relevanz Beachtung zu schenken. Soviel darf aber hier schon festgehalten werden: Prozesse solchen Ausmaßes und von solcher Thematik sind nicht allein als juristische Ereignisse zu betrachten, sie tragen — auch wenn dies nicht ihre Absicht sein sollte — in großem Maße zur politischen Bewußtseinsbildung bei, ja sie sind selbst als Zeichen eines bestimmten politischen Bewußtseins zu werten.
Sind die Nürnberger Verfahren als „juristische Ungeheuerlichkeit". als . Geschichtsklitte-rung"
Diese Fragen, in denen sich die divergierenden Auffassungen spiegeln, sollen im folgenden näher untersucht werden, um so die Problematik und die Bedeutung der Nürnberger Prozesse aufzuzeigen.
I. Das Verfahren vor dem IMT und die Nachfolgeprozesse
1. Erklärungen und Abkommen der Alliierten Schon in den ersten Kriegsjahren gaben die Alliierten ihrer Entrüstung Ausdruck über das deutsche Vorgehen in den besetzten Gebieten; sie sprachen wiederholt Warnungen aus und bekundeten schließlich ihren festen Entschluß, die Kriegsverbrecher der Achsenmächte zu bestrafen.
Am 25. Oktober 1941 gaben Roosevelt und Churchill Erklärungen ab. Während der amerikanische Präsident mehr eine moralische Verdammung aussprach, verkündete der englische Premierminister hier zum erstenmal das Prinzip der Bestrafung der Kriegsverbrecher als eines der Hauptkriegsziele: „Retribution for these crimes must henceforward take its place among the major purposes of the war."
Die erste praktische Folgerung aus diesen zahlreichen Erklärungen und Willenskundgebungen stellte die am 7. Oktober 1942 angekündigte Bildung der „United Nations Commission for the Investigation of War Crimes" dar, die zum erstenmal am 20. Oktober 1943 in London zusammentrat. An ihrer Arbeit beteiligten sich 17 Staaten
Der britische Außenminister Eden gab am 17. Dezember 1942 eine interalliierte Erklärung ab, in der erneut der Wille bekräftigt wurde, daß die Verantwortlichen für die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas zur Rechenschaft gezogen würden
In diesem Sinn ist auch die „Moskauer Dreimächteerklärung über Grausamkeit" vom 30. Oktober 1943 abgelaßt
Das Internationale Militärtribunal ist hier schon konzipiert, ebenso wie der Anspruch der späteren Siegermächte, für alle nichtnazistischen Staaten zu sprechen, und die Gleichstellung der Täter mit den Mitwissern.
In der Verlautbarung über die Konferenz von Jalta (12. Februar 1945)
Wie diese Zusammenstellung zeigt, stand am Anfang der politische Wille der Alliierten, nicht nur Nazideutschland zu besiegen, sondern auch seine Verbrechen zu ahnden. Als sich die endgültige deutsche Niederlage abzeichnete, nahmen diese Pläne klarere Gestalt an und der politische Wille artikulierte sich in der Schaffung eines rechtlichen Fundaments für die späteren Verfahren. 2. Summarische Übersicht über die Verfahren Gemäß der in der Moskauer Deklaration vorgesehenen und in Artikel I des Londoner Abkommens festgelegten Bestimmung zur gemeinsamen Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher, für deren Taten kein geographisch bestimmbarer Tatort vorhanden war, trat am 18. Oktober 1945 der Internationale Militär-gerichtshof in Berlin zu seiner Eröffnungssitzung zusammen und nahm die Anklageschrift entgegen. Das Verfahren selbst begann in Nürnberg am 20. November 1945 und endete am 1. Oktober 1946.
Der Gerichtshof
Die Angeklagten waren: Göring, Hess, von Ribbentrop, Ley, Keitel, Kaltenbrunner, Rosenberg, Frank, Frick, Streicher, Funk, Schacht, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Dönitz, Raeder, von Schirach, Sauckel, Jodl, Bormann, von Papen, Seyß-Inquart, Speer, von Neurath und Fritzsche.
Von diesen Angeklagten erschienen 21 vor Gericht, nachdem Robert Ley Selbstmord begangen hatte, Bormann nicht in Haft befindlich und Krupp haftunfähig war.
Die Anklageschrift richtete sich gegen diese Personen sowie gegen nationalsozialistische Gruppen und Organisationen, nämlich: Reichs-regierung, Korps der politischen Funktionäre, SS, SD, Gestapo, SA, Generalstab und Oberkommando der deutschen Wehrmacht.
Die vier Anklagepunkte waren:
1. Teilnahme an einem Plan einer Verschwörung zu einem Verbrechen gegen den Frieden; 2. Verbrechen gegen den Frieden, das heißt Führung eines Angriffskrieges;
3. Kriegsverbrechen, das heißt Verletzungen der Gesetze und Gebräuche des Krieges; 4. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, vor allem Völkermorde.
Das Gericht sprach zwölf Todesurteile aus: Göring, von Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner, Rosenberg, Frank, Frick, Streicher, Sauckel, Jodl, Seyß-Inquart, Bormann. Während bei Streicher die Verurteilung nur aufgrund von Menschlichkeitsverbrechen erfolgte, lagen den anderen Todesurteilen immer mindestens Verbrechen gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges und Menschlichkeitsverbrechen zugrunde, das heißt, es wurde niemand allein wegen Verbrechens gegen den Frieden oder wegen einer Verschwörung gegen den Frieden hingerichtet. In drei Fällen wurde auf lebenslänglich erkannt: Heß, Funk, Raeder. Freiheitsstrafen zwischen 10 und 20 Jahren wurden viermal verhängt: Dönitz 10 Jahre, von Neurath 15 Jahre, von Schirach und Speer 20 Jahre. Freigesprochen wurden Schacht, von Papen und Fritzsche. Von den Organisationen wurden SS, SD, Gestapo und das Korps der politischen Funktionäre für verbrecherisch erklärt.
Neben diesen Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem IMT gehören zu dem Komplex der Nürnberger Prozesse noch die zwölf sogenannten Nachfolgeprozesse
Es wurde dabei gegen 177 Personen verhandelt. Die Gerichte sprachen 24 Todesurteile aus, 20 Personen wurden zu lebenslänglicher Haft, 98 zu Strafen zwischen eineinhalb und 25 Jahren verurteilt, und 35 Personen wurden freigesprochen.
Um diese kurze Übersicht zu vervollkommnen, sei noch darauf hingewiesen, daß im Jahre 1951 der amerikanische Hochkommissar John McCloy in einer sehr großen Anzahl von Fällen die Strafen milderte; so wurden auch zehn Todesurteile in Gefängnisstrafen umgewandelt
Ein Kennzeichen der dreizehn Prozesse war die Tatsache, daß sie sich gegen führende Per-sönlichkeiten des nationalsozialistischen Regimes richteten. Diese Verfahren sind daher streng zu unterscheiden von den Dachauer Prozessen, den Prozessen in den anderen Besatzungszonen und den Entnazifizierungsunternehmen vor deutschen Spruchkammern. 3. Sinn und Zweck der Prozesse nach dem Wille
Um diese kurze Übersicht zu vervollkommnen, sei noch darauf hingewiesen, daß im Jahre 1951 der amerikanische Hochkommissar John McCloy in einer sehr großen Anzahl von Fällen die Strafen milderte; so wurden auch zehn Todesurteile in Gefängnisstrafen umgewandelt 31). Die letzten Entlassungen erfolgten 1958 aus dem Gefängnis Landsberg.
Ein Kennzeichen der dreizehn Prozesse war die Tatsache, daß sie sich gegen führende Per-sönlichkeiten des nationalsozialistischen Regimes richteten. Diese Verfahren sind daher streng zu unterscheiden von den Dachauer Prozessen, den Prozessen in den anderen Besatzungszonen und den Entnazifizierungsunternehmen vor deutschen Spruchkammern. 3. Sinn und Zweck der Prozesse nach dem Willen der Siegermächte Wie oben dargelegt wurde, reichte auf alliierter Seite der Gedanke, einen Strafprozeß durchzuführen, bis weit in die Anfangszeit des Krieges zurück — es war eines der Hauptkriegsziele. Keineswegs wollte man aber dieses Unternehmen als Rachegericht verstanden wissen 32), man sah darin vielmehr „eines der bedeutsamsten Zugeständnisse, das die Macht jemals der Vernunft eingeräumt" 33) hatte. Das Gerichtsverfahren sollte dazu dienen, die Herrschaft des Rechtes im internationalen Bereich wiederaufzurichten und zu stärken und das Völkerrecht weiterzuentwickeln 34). Die Prozesse und ihre Urteile sollten im Zeichen der Friedenssicherung stehen und in Zukunft Angriffskriege verhindern helfen, indem gesetzliche Grundregeln für das Verhalten von verantwortlichen Politikern und den Bürgern geschaffen werden sollten 35). Man wollte „eine Art kategorischen Imperativ für das politische Verhalten des einzelnen"
Wie man aus den zahlreichen Äußerungen ersieht, verbanden sich die historischen Anliegen der Entmythologisierung des Nationalsozialismus und das Bestreben, die ehemalige nationalsozialistische Führungsschicht als Verbrecher zu entlarven und zu bestrafen, mit einem fast missionarischen Reinigungsgedanken und optimistischen, zukunftsgerichteten Weltverbesserungsvorstellungen. „Ein Jahrhundert gerechten Friedens"
Die vom Londoner Statut als strafwürdig festgelegten und in der Anklageschrift und im Urteil aufgenommenen Tatbestände waren und sind Gegenstand der Diskussion. Während nach allgemeiner Auffassung die Bestrafung der Kriegsverbrechen im engeren Sinn (Zuwiderhandlungen gegen Gesetze und Gebräuche des Krieges während Kampfhandlungen) in der Tradition des Völkerrechts steht, sind die übrigen Punkte ohne diese Tradition und daher heftig umstritten. Aber auch der Begriff des Kriegsverbrechens an sich enthielt Zündstoff, da er nicht genügend scharf umgrenzt war, so daß die Gerichte eine beträchtliche Ermessensfreiheit hatten und die verschiedensten Tatbestände als Kriegsverbrechen behandelt wurden. So standen Kampfhandlungen der Truppe neben Verwaltungsakten, Maßnahmen der Privatwirtschaft neben Menschenversuchen
Die Tatsache, daß die Nürnberger Prozesse ohne Präzedenzfall waren, brachte es mit sich, daß sie sich auf schwankendem rechtlichen Boden befanden und im Kreuzfeuer der wissenschaftlichen Lehrmeinungen standen. Das Völkerrecht, auf das sie sich stützten, ist seiner Natur nach nicht mit der auf jahrhundertelange Praxis zurückgehenden und festgefügten nationalen Rechtsordnung zu vergleichen. Es ist in zahlreichen Punkten in der Entwicklung begriffen und in vielem umstritten. Während es in den angelsächsischen Ländern weitgehend als ein sich von Fall zu Fall entwikkelndes Gewohnheitsrecht betrachtet wird
Bei vielen Kritikern, wie z. B. bei dem amerikanischen Senator Taft
II. Probleme und Aspekte der Prozesse
Die Sonderstellung des Siegers gegenüber Deutschland, die Neuschaffung der Tribunale im Hinblick auf einen bestimmten Zweck, die bisher weitgehend noch nicht angewandten Anklagepunkte, der fließende Charakter des Völkerrechts und die spezifischen Rechtsgrundlagen trugen dazu bei, daß schon sehr früh die juristischen Auseinandersetzungen begannen und sich oft Theorie und Gegentheorie gegenüberstanden. Diese divergierenden Auffassungen, die natürlich in keinem Fall Apologien der Naziführer und der begangenen Verbrechen sind, zeigen sehr deutlich und eindringlich die Vieldeutigkeit der Verfahren in rechtlicher Hinsicht. Das Gesamtbild der rechtlichen Aspekte ist aber nicht nur von juristischem, sondern auch von politischem Interesse. Denn auf dem Boden jener Verfahren und Entscheidungen entwickeln sich selbständig und unmerklich politische Verhaltens-und Denkweisen, es gehen von ihnen Impulse aus, die über den rechtlichen Bereich hinaus wirksam werden. 1. Natur und Zuständigkeit der Gerichte Während es in Anbetracht der von den Deutschen begangenen Verbrechen wenig Zweifel an der Legitimität der Bestrafung, der inneren Berechtigung des Sühneverlangens gibt, wirft die Frage nach der Legalität der Verfahren Probleme auf. Inwieweit war der Rahmen geltenden Rechtes respektiert oder gesprengt worden? Auf welcher Grundlage und in welcher Eigenschaft urteilten die Siegermächte?
Das IMT und die nach KRG Nr. 10 eingerichteten Nürnberger Gerichte nahmen für sich in Anspruch, Gerichte mit internationaler Autorität zu sein
Daß es sich bei den Nachfolgeprozessen um Verfahren vor amerikanischen Besatzungsgerichten handelte
Von anderer Seite wird hingegen darauf hingewiesen, daß angesichts der Tatsache, daß zu jener Zeit weder eine zentrale Legislative aller Nationen noch ein permanenter Gerichtshof bestand, die Bildung eines Tribunals durch mehrere Mächte oder eine Macht mit der Zustimmung der internationalen Gemeinschaft die einzig mögliche Form eines internationalen Gerichtshofes gewesen sei
Die Frage nach der Natur der Gerichte ist deshalb wichtig, weil von ihr das anzuwendende Recht abhängt. Die Tribunale legten auf ihren internationalen Charakter wert, weil sie nur in diesem Fall berechtigt waren, Völker-recht, das heißt das Recht des Londoner Statuts anzuwenden. Als Besatzungsgerichte in Ausübung der Hoheitsbefugnisse des deutschen Staates aber mußten sie den Normen ihres Besatzungsrechtes das deutsche Recht zugrunde legen. Wie aus Art. 8 des Statuts hervorgeht, war dies aber keineswegs die Absicht der Siegerstaaten
Wenn auch die Nürnberger Verfahren unumstritten im Sinne der Mehrheit der Völker geführt. wurden, die noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Schrecken des Weltkrieges standen, so waren die Gerichte doch ihrer Intention nach „für bestimmte Arten von Fällen geschaffene Ausnahmegerichte"
Der Feind von gestern schwingt sich zum Richter auf, dessen hervorstechendes Merkmal die Unparteilichkeit sein sollte. Nun hängt natürlich diese Haltung von dem einzelnen Richter ab, aber es wird doch für ihn schwer sein, sich ganz frei zu machen von dem jahrelangen Propagandaeinfluß seines Landes, dem er ausgesetzt war. Grundsätzlich muß aber festgestellt werden, daß es rechtlich zulässig ist, daß der Sieger über gefangene Angehörige einer feindlichen kriegführenden Macht zu Gericht sitzt. Er läuft aber Gefahr, daß seinen Urteilssprüchen der Makel des Rachegeistes anhaftet, daß die von ihm in Anspruch genommene Gerechtigkeit als Gerechtigkeit des Siegers angesehen wird.
Dem ist allerdings entgegenzuhalten, daß es keine Strafgerichtsbarkeit gibt, die nicht durch die vorherige Ausübung der Gewalt bedingt ist
Es berührt eigenartig, wenn heute der ehemalige stellvertretende sowjetische Hauptankläger Smirnow ausdrücklich auf die strenge Einhaltung der Rechtsnormen, die Objektivität und Allseitigkeit des Verfahrens hinweist
Diese These blieb freilich nicht unangefochten. Bisher galt das Völkerrecht als ein System von Normen, die die Beziehungen der Staaten untereinander regelten. Sanktionen aufgrund von Verträgen richteten sich gegen Staaten und nicht gegen Einzelpersonen. Als nach dem Ersten Weltkrieg der Gedanke, den Kaiser wegen Völkerrechtsverletzungen vor Gericht zu bringen, vor allem von französischer Seite erwogen wurde, konnten sich die Alliierten nicht einigen, da vor allem die Amerikaner die Auffassung vertraten, Völkerrechtssubjekte seien nur die Staaten und jede andere Interpretation sei ein Eingriff in deren Souveränität.
Allerdings gab es in der Wissenschaft verschiedene Lehrmeinungen. So vertrat Triepel die dualistische Theorie, nach der das Völkerrecht und das Landesrecht zwei verschiedene Ordnungen sind, von denen das Landesrecht dem einzelnen nähersteht; Kelsen, um einen zweiten Exponenten für viele zu nennen, vertrat die monistische Theorie, nach der das Völker-recht die höchste Rechtsordnung überhaupt ist, nach der sich das Landesrecht zu richten hat, wenn es Gültigkeit beanspruchen will
Andererseits erweckt der Gedanke, daß sich die Verantwortlichen hinter ihrem Staatsamt verschanzen können, ein entschieden ungutes Gefühl. Der Staat als Abstraktum handelt und entscheidet ja nicht, sondern Menschen. „Staatsakte sind zugleich Personalakte. Menschen als einzelne verantworten sie und haften für sie"
Die in Nürnberg angewandten Prinzipien haben eine Doppelzurechnung gesetzt: der einzelne und der Staat haften. Zu Recht hat man das bisherige Völkerrecht als unzureichend empfunden
Die Anwendung dieser Prinzipien in Nürnberg zeigt den optimistischen Zukunftsglauben der Sieger und die Gefahr, in der sie sich ständig befanden, den Boden der realen politischen Wirklichkeit in einem Höhenflug idealistischer Vorstellungen und Hoffnungen zu verlassen. 4. Handeln auf Befehl Die eigentlichen Schwierigkeiten bei der Anwendung des Prinzips der individuellen Verantwortlichkeit ergeben sich bei den kleineren Tätern. Hier stellt sich nämlich die Frage, wo die Grenze liegen soll, von der ab von den einzelnen erwartet werden muß, Widersprüche zwischen internem und internationalem Recht zu erkennen und nationalen Gesetzen nur zu gehorchen, wenn sie in Einklang mit völkerrechtlichen Normen stehen. Die Frage des Unrechtsbewußtseins ist daher eng mit dem Komplex der individuellen Strafbarkeit nach Völkerrecht verbunden. Sie spielt allerdings bei dem hier behandelten Personenkreis eine geringere Rolle als bei den übrigen Kriegsverbrecherprozessen. Eine weit größere Bedeutung kam der Berufung auf einen höheren Befehl zur Rechtfertigung eines als Kriegsverbrechen angesehenen Aktes zu. Die Verteidigung machte reichlich Gebrauch davon. Auch in der Öffentlichkeit scheint dies eine Art Entschuldigungsmythos zu sein. Der Art. 8 des Londoner Statuts weist den Befehl eines Vorgesetzten oder der Regierung als Strafausschließungsgrund zurück, erkennt aber seine etwaige strafmildernde Funktion an. Daran fühlten sich die Gerichte gebunden; sie legten jedoch diese Bestimmung insoweit einschränkend aus, als sie den Befehlsnotstand anerkannten
Erich Kaufmann stellt fest, daß Artikel 8 des Statuts nicht dem allgemein anerkannten Rechtsgrundsatz entspreche, nach dem das Handeln auf Befehl nur den Vorgesetzten und nicht den Täter mit Strafe bedrohe
Die Problematik liegt darin, daß im Krieg Forderungen des Rechtsstaates mit Forderungen der Disziplin kollidieren können. Ist man aber der Auffassung, daß der Befehl eindeutig den Untergebenen bindet
Bei diesem Problem stellt sich die Frage, ob man in den hier zu Debatte stehenden Fällen dem Prinzip der Rechtssicherheit oder dem Prinzip der Gerechtigkeit den Vorrang gibt.
Während vor allem von deutschen Autoren darauf verwiesen wird, daß nach den Erfahrungen des Hitlerregimes die radikale Rechtssicherheit gefordert werden müsse
Es scheint, daß man im allgemeinen die Anwendung von eindeutig vor 1945 noch nicht schriftlich fixierten Gesetzen und Strafen auf die wesensmäßige Unvollkommenheit des die Völkergemeinschaft bindenden Rechtes zurückführt und auf die eigene Nachlässigkeit, die eine Kodifizierung verhindert habe
Im nächsten Kapitel soll untersucht werden, inwieweit dieser Anspruch im Hinblick auf die Verurteilung wegen Verbrechen gegen den Frieden aufrechterhalten werden kann.
Schon die bisherige nähere Betrachtung der Verfahren hat gezeigt, daß sie eine Menge wesentlicher Fragen aufwarfen, und dies keineswegs aufgrund juristischer Spitzfindigkeiten, sondern wegen der unbestreitbaren Tatsache, daß sie sich auf teilweise noch ungesichertem Neuland bewegten. Die von kommunistischen Wissenschaftlern gepflegte Auffassung von der Eindeutigkeit und Problemlosigkeit der Prozesse ist daher verfehlt, vor allem, da allzuoft mehr oder minder offen der Vorwurf erhoben wird, eine kritische Diskussion über die Verfahren sei nur eine versteckte Apologie der nationalsozialistischen Gewalttaten
III. Der Angriffskrieg als strafrechtliches Delikt
Es waren ursprünglich die Berichte und eigenen Erfahrungen von deutschen Gewalttaten in den besetzten Gebieten, die die Alliierten den Gedanken eines Strafprozesses erwägen ließen. Unter dem Eindruck der Massenverschleppungen zum Einsatz für die deutsche Kriegsmaschinerie, der Vernichtung von Millionen von Menschen und der Greueltaten in den Konzentrationslagern betrachteten die Siegermächte den von Hitler ausgelösten Krieg als überdimensionalen Ausdruck eben dieser Geschehnisse, als ihre getreue Trans-position in eine andere Größenordnung. Daher erklärten sie den Angriffskrieg zu einem Verbrechen. Der auf sowjetischen Einfluß zurückgehende Begriff des Verbrechens gegen den Frieden ist der wesentlichste Gegenstand der Anklage; er ist das Hauptproblem, das die Nürnberger Prozesse zu bewältigen suchten. Zugleich ist er auch der Punkt, der die heftigsten Kontroversen hervorrief und an dem sich die Geister scheiden.
Das Planen, Vorbereiten, Einleiten oder Führen eines Angriffskrieges wurde in Auslegung des geltenden Völkerrechts als ein strafrechtlich zu verfolgendes Verbrechen betrachtet, das individuelle Haftbarkeit der für den Angriffskrieg verantwortlichen Personen begründete. Dabei vertraten die Siegermächte und in Anlehnung an das Statut und KRG Nr. 10 die Tribunale den Standpunkt, daß der Angriffskrieg schon vor dem Zweiten Weltkrieg von der Völkergemeinschaft zum Verbrechen erklärt worden sei. Man stützte sich dabei auf Verträge und Resolutionen der zwanziger und dreißiger Jahre, die im folgenden betrachtet werden sollen. 1. Kriegsverbot und Kriegsächtung in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg Während seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Tendenz zu beobachten ist, daß internationale Abkommen zur Humanisierung des Krieges getroffen werden — die Krönung dieser Bestrebungen war die Haager Land-kriegsordnung vom 18. Oktober 1907 —, hat die Erfahrung des Ersten Weltkrieges dazu geführt, die Bemühungen nun auf das Verbot des Krieges durch völkerrechtliche Bestimmungen zu konzentrieren.
Zwar wird in diesem Sinn in der Präambel zur Völkerbundssatzung darauf hingewiesen, daß die Vertragsmächte „bestimmte Verpflichtungen" übernehmen, „nicht zum Kriege zu schreiten"
1923 wurde von einer Kommission der Völkerbundsversammlung der Entwurf eines gegenseitigen Beistandspaktes vorgelegt, in dem zum erstenmal der Angriffskrieg als ein internationales Verbrechen bezeichnet wurde
Das erste absolute Verbot des Krieges mit Ausnahme des Verteidigungs-und Sanktionskrieges enthält „das Genfer Protokoll zur friedlichen Regelung internationaler Streitigkeiten" (2. Oktober 1924). Es umfaßte ein fast lückenloses System der Schiedsgerichtsbarkeit und bestätigte zugleich, daß der Angriffskrieg ein internationales Verbrechen sei. Dieses Dokument wurde zwar von der V. Völkerbundsversammlung angenommen
Das Bestreben, den Krieg aus dem Arsenal der politischen Möglichkeiten zu verbannen und internationale Streitfragen mit friedlichen Mitteln zu lösen, kam auch in der Erklärung der VIII. VölkerbundsVersammlung vom 24. September 1927 zum Ausdruck. Sie stellte jedoch keine über die bisherigen Sanktionsbestimmungen hinausgehende Satzungsänderung dar, sondern unterstrich nur noch einmal in feierlicher Form die formelle Verurteilung des Angriffskrieges. Es kam ihi auch nach damaliger Auffassung nur moralische Bedeutung zu
An diesem Zustand änderten auch das Prager Memorandum von 1926
Ein wirklich rechtswirksames Verbot des Angriffskrieges stellen die Verträge von Locarno (16. Oktober 1925) dar. In einem regionalen Sicherheitspakt
Auf dem amerikanischen Kontinent entstanden weitere, sich auf regionaler Ebene vollziehende Resolutionen und Verträge. Auf der 5. Panamerikanischen Konferenz in Havanna erklärten 21 Staaten im Jahre 1928, daß der Angriffskrieg ein Verbrechen gegen die Menschheit sei (auch die USA unterschrieben Jie Resolution); 1929 unterzeichneten 20 amerikanische Staaten in Washington eine interamerikanische Konvention, in der ebenfalls ier Krieg als Mittel der Politik verurteilt wurde; 1933 schlossen 25 Staaten (die USA ingeschlossen) in Rio de Janeiro einen Nicht-angriffs-und Vermittlungspakt (Anti-WarTreaty on Non-Aggression and Conciliation), n dem der Krieg zwischen den Vertragspartlern und zwischen den übrigen Staaten verlammt wurde; und schließlich äußerte sich juch die in Buenos Aires 1936 tagende Interimerikanische Friedenskonferenz in diesem Sinn
An dieser Stelle sei darauf verwiesen, daß ler Begriff der Kriegsächtung amerikanischen Jrsprungs ist (outlawry of war). Er wurde ron dem nordamerikanischen Rechtsanwalt S. O. Levinson in einem Artikel in der Zeitichrift „New Republic" vom 9. März 1918 zum erstenmal gebraucht. Für seine Ideen gewann r den Herausgeber der Zeitschrift „The Christian Century", Charles C. Morrison, und or allem den Senator Börah, der in den Jähen von 1923 bis 1927 dreimal im Senat den ntrag auf Achtung des Krieges einbrachte, line eigens gebildete Organisation, das American Committee for the Outlawry of Var", sorgte für die Propagierung der Ziele. Vuch hier war die Grundforderung die Abchaffung des Krieges als völkerrechtliche nstitution
Das Verbot des Krieges war die eigentliche Absicht der Väter des Vertrages
Es steht zweifellos fest, daß in den zwanziger und dreißiger Jahren das Bewußtsein, daß um der Menschheit willen der Krieg verhindert werden muß, sehr ausgeprägt war und daß die Resolutionen eine starke Resonanz hatten. Jene Erklärungen, die Visionen eines Weltfriedens waren, gaben ja letztlich dem allgemeinen Verlangen nach Frieden in einer geordneten Welt Ausdruck. Fast unbegreiflich aber und für späteres Unheil von fataler Vorbedeutung scheint dem aus der Retrospektive Urteilenden die Tatsache, daß sich zwar die Völker und Staaten einig waren, daß eine neue Katastrophe verhindert werden muß, daß aber die politischen Verantwortlichen in den Regierungen und Parlamenten sich nicht dazu durchringen konnten, dieser Einsicht die politischen Konsequenzen folgen zu lassen, nämlich bei der Gestaltung der Zukunft nicht auf den guten Willen und die moralische Ansprechbarkeit zu vertrauen, sondern sich rechtzeitig die Frage, wie ein Aggressor wirkungsvoll abzuschrecken und gegebenenfalls zu bestrafen ist, vorzulegen und zu lösen.
Nachträglich betrachtet, scheint dies eine akademische Feststellung zu sein. Für die Nürnberger Verfahren war diese Entwicklung jedoch von tiefgreifender Bedeutung. Die Tendenzen jener Zeit waren nicht zur Reifung gebracht worden und wurden schließlich für Jahre zur Nichtigkeit verurteilt. Die Anknüpfung an sie nach 1945 und ihre extensive Interpretation als Fundament für eine neuzuschaffende Ordnung und für die Bestrafung von Menschen stießen auf Schwierigkeiten und widerstreitende Meinungen. Den Krieg zum Verbrechen zu erklären und auf die Macht der öffentlichen Meinung zu vertrauen, das ist ein optimistisches Unterfangen von zweifelhaftem politischem Charakter. Es steht fest, daß die Staatenpraxis jener Jahre umstandsbestimmte Erwägungen über den Geist der Zeit gestellt und somit jenen Bestrebungen nicht gedient hatte. Positiv rechtlich gesehen, stützten sich die Nürnberger Gerichte auf ein Gesetz, das in der Zeit vor dem Krieg nicht schriftlich fixiert und keinen rechtswirksamen Charakter besaß, über dessen Berechtigung und erstrebenswerte Ziele jedoch allgemeine Übereinstimmung bestanden hatte.
IV. Politische Relevanz der strafrechtlichen Kriegsächtung
l. Schwierigkeit der Definition und der Feststellung des Angriffskrieges Hiner Betrachtung des Angriffskrieges unter streng juristischen Kriterien stellen sich mehrere Hindernisse entgegen. Es sind dies vor illem die Schwierigkeit der Definition und ier Feststellung. Es gab und gibt keine erschöpfende Darlegung dessen, was ein Anyriffskrieg ist, und keine vollständige Aufstellung seiner gesamten konstituierenden Elemente. Die Gefahr einer solchen Zusamnenstellung liegt nämlich darin, daß ein potentieller Aggressor sich irgendeine vorher richt geahnte Lücke zunutze machen könnte. Hs sei beispielsweise nur darauf hingewiesen, laß derjenige, der den ersten Schuß abgibt, keineswegs automatisch der Angreifer sein nuß, daß auch nichtmilitärische Maßnahmen Aggressionen im echten Sinne des Wortes larstellen können.
Nesentlicher ist aber die Tatsache, daß die Feststellung des Aggressors und die Anwenlung der daraus zu ziehenden Konsequenzen in ganz bestimmte Voraussetzungen gebunien sind. Nur wenn derjenige, der den Krieg ingezettelt hat, auch wirklich besiegt wird, ist s möglich, ihn die Folgen seiner Handlung püren zu lassen. Wenn er aber siegt, dann können ihn die Unterlegenen zwar einen Aggressor nennen, ohne dadurch aber auch iur das geringste zu erreichen. Der Sieger vird sich nie dem Urteilsspruch des Besiegten teilen oder unterwerfen, er wird gestützt auf eine Macht selbst irgendeinen Staat als Aggressor" bezeichnen oder einfach über die atsache seiner Angriffshandlungen hinweg-ehen. normative Kraft des Faktischen öst die Frage von selbst, das heißt, die Festitellung des Aggressors ist notwendigerweise in Politikum. Sie kann nur dann zu einer echtlichen Frage werden, wenn es eine auf üner Weltordnung beruhende, mit den notvendigen Machtmitteln versehene Instanz übt, die diese Frage nach objektiven Gesichtspunkten beurteilen kann. So wie die Vereinen Nationen heute in bescheidenem Maße heoretisch in der Lage sind, bei kriegerischen Auseinandersetzungen kleinerer Staaten den Angreifer — unabhängig von seinen militäischen Erfolgen — festzustellen, vorausgesetzt reilich, daß die beide 1'Weltmächte zusamnenarbeiten, so müßte es eine allen Staaten -unabhängig von ihrer Größe, Bedeutung und Macht — übergeordnete Institution geben, damit der gleiche Effekt auch für die Supermächte erzielt werden könnte.
Bei den aktuellen Gegebenheiten ist eine solche höchstrichterliche Gewalt nicht verfügbar. 2. Grenzen der Macht des Rechts Die normale Strafjustiz ist in diesem Falle überfordert, denn sie kann sich nur Geltung verschaffen, wenn hinter ihr die faktische Macht steht. Dies ist aber ganz besonders für den internationalen Bereich der Auffassung von Recht und Gerechtigkeit als unabhängigen und allgemein gültigen Größen abträglich. Wenn Montesquieu im Hinblick auf die Punischen Kriege gesagt hat, „nur der Sieg entschied darüber, ob man von punischer oder römischer Treue zu sprechen hatte", so kommt darin zum Ausdruck, wie abhängig von der politischen Konstellation die Verurteilung des wirklichen Angreifers ist. Wäre Scipio von Hannibal geschlagen worden, würden wir heute sicher von römischen Kriegen sprechen. Ein Zyniker könnte sagen, es sei das Grund-verbrechen des Krieges, ihn nicht zu gewinnen. Er kann es aber nur sagen, wenn die rechtlichen Kriterien des „Verbrechens" dort ins Spiel gebracht werden, wo sie von politischen Gegebenheiten abhängig sind. Der ehemalige französische Richter am IMT, Professor D.de Vabres, weist mit Recht darauf hin, daß es in den Bereichen des menschlichen Zusammenlebens eine Zone gibt, die nicht allein durch Gesetzeskraft zu sichern ist, wenn er von einem Niemandsland im zwischenstaatlichen und internationalen Bereich des Rechtes spricht, wo die Zufälligkeiten der Politik herrschen, nämlich opportunistisches Handeln, Machtinteresse, Gleichgewichtsdenken und auch der Wille des Stärkeren
Das Gesetz allein kann nicht den politischen Gestaltungswillen ersetzen. Wenn es dies versucht, leistet es ungewollt illusionistischen Vorstellungen Vorschub, die den Boden gefährlicher Entwicklungen mit bereiten helfen. Der Krieg kann nicht durch Gesetze verhindert werdenl Die Erklärung, daß ein Angriffskrieg ein Verbrechen ist, ist solange nicht dazu angetan, einen Aggressor von seinen Absichten abzuhalten, solange er nicht gewärtig sein muß, auch als Sieger zur Verantwortung gezogen zu werden. Im anderen Falle fühlt er sich durch das Verdikt geradezu verpflichtet, mit allen Mitteln zu siegen.
In Nürnberg wurde der Krieg zum Verbrechen erklärt, um die des Verbrechens schuldigen Individuen bestrafen zu können. Es ist in der Tat ein unbefriedigender Zustand, wenn die Verantwortlichen nicht zu fassen sein sollten, weil sie sich hinter der Kollektivität des Staates und ihren politischen Ämtern verschanzen. Kriege werden nie von ganzen Völkern, sondern immer von einzelnen, von den Mächtigen und Einflußreichen angezettelt, die auf der Klaviatur der öffentlichen Meinung zu spielen wissen. Im speziellen Fall der Nürnberger Prozesse gilt, daß alle Verurteilten mit Ausnahme von Heß auch oder nur wegen anderer Delikte bestraft wurden. Ein gewisses Abrücken von jenem Anklagepunkt ist damit unverkennbar. Allgemein gilt, daß jeder Politiker die politische Haftung für seine Handlungen zu tragen hat. Im innerstaatlichen Bereich ist dies eindeutig, und in einem demokratischen Staatswesen ist es eine Selbstverständlichkeit (oder sollte es sein), daß ein Politiker, der keine Erfolge aufzuweisen hat, seine Position verliert, daß einem Politiker, der mit illegalen oder gar verbrecherischen Methoden vorgeht, seine Immunität aberkannt wird und er zur Rechenschaft gezogen werden kann. Im zwischenstaatlichen Bereich haftet er für die Folgen eines verlorenen Krieges, wobei es als erschwerend hinzukommen kann, daß er ihn vom Zaun gebrochen hat. In jener Grenzsituation scheint es berechtigter zu sein, eine sinnvolle politische Entscheidung zu treffen, um der moralischen Forderung nach Gerechtigkeit zu entsprechen, als das Strafrecht für einen Bezirk anzuwenden, der ihm wesensfremd ist. „Wer nach Meinung unserer Zeit . . . historische und politische Schuld auf sich geladen hat, ist im Rahmen staatlicher Rechtsprechung nur strafbar, wenn er schuldhaft gegen das Strafgesetz verstoßen hat. Ein anderes gibt es für die Rechtsprechung, für unsere staatliche Rechtsprechung und für die Rechtsprechung irgendeines Rechtsstaates nicht. Wer mehr von ihr verlangt, führt sie ins Illegale und uns zur Rechtlosigkeit. Wer verlangt, daß sie weniger tue, verleitet sie zum Rechtsbruch."
(Der Krieg kann nicht einfach verboten und geächtet werden, so wie das Duellieren durch Gesetz untersagt wurde. Das besagt nun aber keineswegs, daß er als periodische Katastrophe fatalistisch zu erdulden ist, daß er unausrottbar und zum Wesen des Menschen gehörig ist. Eine Resignation auf diesem Gebiet hätte gerade heute eine verheerende Wirkung. Der Krieg ist keineswegs der Vater aller Dinge oder die Fortführung der Politik mit anderen Mitteln. Um ihn zu eliminieren, muß man über juristische Kategorien hinausgehen. Das Verbot im strafrechtlichen Sinne allein setzt eine Weltordnung voraus, die es noch nicht gibt. Es ist ein Vorgriff auf eine Friedens-organisation mit einer allgewaltigen schiedsgerichtlichen Instanz. Wunschdenken in diesem Bereich ist allzu gefährlich und allzu ernüchternd, zumal eine zukünftige Weltgemeinschaft sich nur ganz allmählich unter jetzt noch gar nicht zu bestimmenden Einflüssen entwickelt. Die politische Kategorie, die der Erklärung des Krieges zum Verbrechen zugrunde liegt, könnte man als politischen Idealismus bezeichnen, in dem eine ganze Menge Gesinnungsethik im Sinne Max Webers steckt. Es kommt aber nicht nur auf das rechte Wollen an, es kommt darauf an. daß sich das rechte Wollen so artikuliert, daß es in (oder vielleicht auch trotz) der Realität sein Ziel erreicht. Die Praxis der Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zeigt deutlich, daß trotz der Erklärung der Nürnberger Urteile Angriffskriege nicht verschwanden. Der Krieg kann nicht verboten werden, sondern er muß durch schöpferische politische Gestaltung, die sich selbstverständlich des rechtlichen Instrumentariums bedient, unmöglich gemacht werden. Als Zwang zur rationalen Einsicht, daß die Großmächte nicht zum Mittel des Krieges greifen können, dienen heute die Errungenschaften der Vernichtungstechnik, so daß zumindest der „Große Krieg" zu bannen ist,
V. Die Prozesse als neuartige Erscheinungsform in der Geschichte der Friedenssicherung
ine Deutung der Nürnberger Prozesse auschließlich aus juristischen Kategorien heraus ann nur einige Aspekte von vielen aufzeigen nd muß naturgemäß mit einer gewissen Eineitigkeit behaftet sein. Der Zeitgenosse, der ich mit einem solchen Ereignis konfrontiert ieht, vergißt allzu leicht, die Einzelbegebeneiten in einem größeren Zusammenhang zu ehen. In dieser geweiteten Perspektive erhalln die Verfahren eine neue Bedeutung und eue Konturen, die ihren Stellenwert in der kala ihrer Beurteilung beeinflussen können.
Prinzipien der Friedenssicherung und die Auffassung vom Krieg Ian kann die Geschichte in gewollter Abraktion als ein Aufeinanderfolgen von riegs-und Friedenszeiten betrachten. Seit ther versuchte die Menschheit ihrer eigenen ihigkeit zur Zerstörung Herr zu werden, den sieden zu wahren, ja zu organisieren und em Krieg einen den jeweiligen Vorstellunm gemäßen Platz zuzuweisen. Im Altertum ad im Mittelalter wurde auf die Unterscheijng des bellum justum und des bellum justum Wert gelegt. Freilich war dieser in elem subjektive Begriff sehr oft auch Rechtrtigung des Stärkeren. Nicht zuletzt hatte e Kirche im Mittelalter einen großen Einfluß if die Beurteilung, um welche Art Krieg es ch jeweils handelte, zumal sie Kämpfe gegen ndersgläubige als „Heilige Kriege" bezeich; te. Mit dem Entstehen der Nationalstaaten id ihrem Souveränitätsanspruch entfiel in r Praxis diese Unterscheidung. Machiavelli kannte dem Herrscher das Recht zu, über ine Gründe zum Krieg zu entscheiden. Die imma potestas gehörte dem absolutistischen errscher. So wurde im 18. und im 19. Jahrindert der Krieg ein unbestrittener Bestandil der staatlichen Diplomatie zur Lösung rittiger Probleme. Die Entscheidung über n Krieg war ein machtpolitischer Vorgang, rrondierungsbestrebungen, Gleichgewichtsinken und Drang nach purer Machterweiteng waren die Kriterien der Kabinettspolitik, iristische Erwägungen waren der politischen tention untergeordnet. aranten zur Wahrung des Friedens waren irch die Geschichte hindurch die verschiedensten Instanzen und Faktoren. Im römischen Altertum war die militärische Macht ein solcher Faktor. Die pax romana mit ihrem Höhepunkt zur Zeit des Augustus war auf Waffengewalt und überlegenem Ordnungsund Verwaltungssinn aufgebaut. Karl der Große fügte bei seinem Streben nach einem Universalreich dem militärischen noch das christliche Element hinzu. Die Macht des Glaubens hatte eine bedeutende Ordnungsfunktion. Man denke an die Strafgewalt des Papstes, den Bann und den oft verkündeten Gottesfrieden (treuga dei). Später trat die Macht der Vernunft auf den Plan, wobei allerdings nicht übersehen werden darf, daß die Denkmodelle und Theorien der Philosophen oft nur sehr wenig oder gar keinen Einfluß auf ihre Zeit hatten, da sie teilweise allzusehr von den hemmenden und beherrschenden Elementen ihrer Umwelt abstrahierten. So entwarf z. B. Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" schon 1795 eine föderative Weltordnung. Die großen europäischen Friedens-kongresse von 1648, 1713 und 1815 schufen Friedensordnungen nach rationalen Gesichtspunkten der Staatsraison. Die Solidarität der Monarchen und der Kosmopolitismus des Bür. gertums waren nicht zu unterschätzende Stützen der zwischenstaatlichen Beziehungen. Der sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwikkelnde, durch das apokalyptische Erlebnis des Ersten Weltkrieges zur Reifung gebrachte neue Faktor zur Sicherung des Friedens war der Rechtsgedanke. Die Macht völkerrechtlicher Abmachungen sollte das Stabilisierungselement der internationalen Ordnung sein.
Man kann daher Jürgen Schlochauer folgen
Die Tatsache, daß am Ende eines Krieges ein Strafprozeß stand, der nicht nur einzelne gemeine Verbrechen, sondern den Krieg als Ganzes und alle mit ihm zusammenhängenden Erscheinungen zum Gegenstand hatte, war in der bisherigen Staatenpraxis unbekannt. Die Friedensverträge früherer Epochen, etwa 1648 und 1713, enthielten Amnestieklauseln, die Kriegshandlungen außer Strafe setzten. Auch 1815 führten die Alliierten gegen Napoleon, nachdem er zum zweitenmal geschlagen worden war, kein Strafverfahren durch, sondern sie nahmen ihn aufgrund ihrer militärischen Gewalt in politische Sicherungshaft und verbannten ihn auf St. Helena. Zum erstenmal tauchte nach dem Ersten Weltkrieg der Gedanke auf, die Urheber des Krieges, d. h. die deutsche politische und militärische Führung zur Rechenschaft zu ziehen und Kriegsverbrecher zu bestrafen. Es kann hier nicht näher auf die Einzelprobleme eingegangen werden, die die am 25. Januar 1919 konstituierte „Kommission für die Feststellung der Verantwortlichkeiten der Urheber des Krieges und Sanktionen" lösen sollte. Insgesamt gesehen waren es die gleichen Fragen, die sich auch 1945 stellten. Neu war damals die Schaffung eines internationalen Gerichts zur -Aburteilung von Kriegsverbrechern und die Bestrafung des deutschen Staatsoberhauptes. Im Gegensatz zur Situation nach dem Zweiten Weltkrieg war damals die amerikanische Delegation der heftigste Gegner solcher Pläne.
Sie erkannte nur die moralische Verantwortlichkeit des Kaisers an und vertrat den Grundsatz, daß ein internationales Verfahren in der bisherigen Praxis unbekannt sei, und lehnte Ex-post-facto-Gerichte, Gesetze und Strafen ab
In den Nürnberger Prozessen kommt zum Ausdruck, daß nach dem Zweiten Weltkrieg der Ordnungsfunktion des Rechts friedens-sichernde Wirkung beigemessen wurde. Rechtliche Kategorien, hier erstmals in ihrer Konsequenz angewandt, sollten hinfort die zwischenstaatlichen Beziehungen regeln. Die Abrechnung mit dem Dritten Reich war zugleich als eine in die Zukunft gerichtete Mahnung und Warnung gedacht. Es ist das Besondere und bisher Einmalige der Zeit nach 1945, daß nach diesem Krieg eine Friedenskonferenz nicht unmittelbar folgte. Ausschließlich in Form der Prozesse wurde ein erster Schlußstrich unter die Kriegsperiode gezogen. Daher kann man wohl sagen, daß sie zwar formaljuristisch nur dem Recht Geltung verschaffen sollten, daß sie aber wegen des Fehlens einer regelrechten Friedenskonferenz zur Ausarbeitung eines Friedensvertrages und wegen ihrer bisherigen Einmaligkeit auch Wirkungen hat-en, die in früheren Epochen von Friedens-Kongressen ausgegangen sind, nicht in terriorialer Hinsicht natürlich, sondern in dem usdrücklichen Hinweis auf die Beziehungen ler Staaten untereinander. er Westfälische Friede von 1648 stand unter lern zukunftsweisenden Leitgedanken der Souveränität auch des kleinsten Staates; das vichtigste Motiv des Wiener Kongresses von 815 war die Restauration, d. h. die Wieder-erstellung des europäischen Gleichgewichts als ‘riedensgarant. Die Grundidee der den Zweien Weltkrieg abschließenden Vertragswerke ollte die dem einzelnen Staat übergeordnete, allgemeingültige Kraft des Völkerrechts sein. Die Nürnberger Verfahren legen beredtes Zeugnis davon ab. Auch für die Zeit eines provisorischen Friedens nach 1945, in der keine Konferenz, sondern Prozesse eine Art reinigende und ordnende Funktion hatten, gilt, daß nur der Friedenszeit Dauer beschieden ist, die den Mittelwert zwischen Gegenwart und Zukunft einhält. Ob diese Forderung eingehalten wurde, soll im übernächsten Kapitel dargelegt werden. Bevor wir eine abschließende Beurteilung versuchen, sollen im folgenden Abschnitt die Prozesse als Ausdruck einer bestimmten politischen Konzeption betrachtet werden.
VI. Die Nürnberger Prozesse als politisches Phänomen
rieh Kaufmann, um einen Kritiker von vieen zu nennen, wirft dem Londoner Statut und em Kontrollratsgesetz Nr. 10, auf die sich ie Verfahren stützten, eine unerträgliche usweitung des Schuldbegriffes vor
Die Notwendigkeit einer solchen Unterscheidung, vor allem bei der Anklage des Verbrechens gegen den Frieden — eine Unterscheidung, die vielleicht materiell an den Urteilen gar nicht viel geändert hätte —, war den Alli132) ierten — und hierbei besonders den Amerikanern — keineswegs bewußt. Die moralische Entrüstung über die deutsche machiavellistische Politik, die zum Kriege führte, ließ eine Unterscheidung zwischen krimineller und politischer Schuld nicht zu. Denn die amerikanische Auffassung vom Krieg ist — wie Otto Kranzbühler sehr einleuchtend zeigt
Um aber das politische Denken voll zu erfassen, aufgrund dessen Strafprozesse am Ende eines Krieges standen, müssen wir noch eine weitere Überlegung anschließen. Wir dürfen uns dabei mit Recht allein auf Amerika beschränken, das als die treibende Kraft zur Durchführung der Prozesse gelten darf, obwohl dieser Staat noch weit weniger direkt vom Krieg betroffen war als die anderen Siegermächte.
Die Prozesse sind nicht nur Ausdruck eines moralisierenden Rechtsdenkens
Kreuzzugsideen zur Sicherung des Friedens und zur Stärkung der Demokratie waren kennzeichnend für Präsident Wilson, der mit seinen 14 Punkten am 8. Januar 1918 ein Programm des Weltfriedens verkündete, das er dann nur teilweise in politische Realität umsetzen konnte. Besonders lag ihm der Punkt 14 am Herzen, nämlich die „Installierung eines Völkerbundes zum Zweck der Gewährung gegenseitiger Garantien für politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität in gleicher Weise für große und kleine Staaten"
Roosevelt sah auch die Aufgabe und Bestimmung seines Landes darin, daß die Vereinigten Staaten als der Hort der Freiheit und der Demokratie ein zweites Mal dazu ausersehen waren, Europa von der grausamen Tyrannei des Krieges zu befreien und in der Welt dem demokratischen Geist zum Sieg zu verhelfen. Sprechende Zeugen dafür sind die von ihm am 6. Januar 1941 in seiner Jahres-botschaft verkündeten „Vier Freiheiten" (Freiheit der Meinungsäußerung, Freiheit der Religionsausübung, Freiheit von Not und Freiheit von Furcht)
Das Denken, das den Prozessen zugrunde lag, war politischer Idealismus — gepaart mit Optimismus, Sendungsbewußtsein und Kreuzzugs-gedanken.
VII. Die Bedeutung der Prozesse
Die Verfahrensmöglichkeiten der Alliierten nach dem Krieg enn man sich die Frage stellt, warum die egermächte nach dem Zweiten Weltkrieg rafprozesse durchgeführt haben, muß man gleich auch überlegen, welche Möglichkeiten nen überhaupt zur Verfügung gestanden ben, um einen Schlußstrich unter das Verngene zu ziehen. waren dies eine Generalamnestie, ein polieher Akt oder ein Strafprozeß. Der erste mkt war absolut irreal. Angesichts der Veristung und der Menschenverluste in der nzen Welt war die Atmosphäre so emonsgeladen, daß eine solche Entscheidung sgeschlossen war. Die weisen Worte von pst Innocenz L, geschrieben am 13. Dezemr 414, scheinen in einer Zeit ideologischer rnichtungskämpfe wie aus einer anderen 21t zu sein:
Tenn von Völkern oder einer großen Menge sündigt wird, so pflegt dies ungesühnt rchzugehen, da wegen der großen Zahl ht gegen alle vorgegangen werden kann, shalb, so sage ich, muß das Vergangene n Urteil Gottes überlassen bleiben, und die Zukunft mit äußerster Anstrengung rgebeugt werden"
Am wenigsten war die Problematik eines solchen Strafprozesses wohl den russischen Verantwortlichen bewußt, da für sie Schauprozesse zur politischen Praxis gehören. Bei den anderen Siegerstaaten, vor allem bei den Amerikanern, war wohl neben dem ausgeprägten Rechtsdenken auch eine gewisse Selbstrechtfertigung mit im Spiel, die den Weg eines Prozesses einschlagen ließ. Otto Kranzbühler sieht geradezu in dem politischen Zweck der Rechtfertigung der harten amerikanischen Besatzungspolitik das Hauptmotiv für die Verfahren: Sie sollten dazu dienen, die deutsche Kriegführung für illegal zu erklären und die amerikanischen Maßnahmen zu rechtfertigen; man wählte dieses Vorgehen, um die Kriegsschuld durch Gerichtsurteil und nicht durch einfache widerrufbare Erklärung festzustellen; zur Rechtfertigung der amerikanischen Propaganda; die Generalsprozesse dienten dazu, die Entmilitarisierung moralisch zu untermauern; die Industrieprozesse der Demontage und dem Ruhrstatut; der Diplomatenprozeß dem Verbot der deutschen Außenpolitik
Wir glauben nachgewiesen zu haben, daß eine solche Sicht von den den Prozessen zugrunde liegenden Motiven zu einseitig und wohl auch nicht richtig ist. Die Prozesse einzig als Ausdruck einer geschickt kaschierten Macht-politik der Besatzungsmächte zu verstehen, heißt das oben dargelegte spezifische politische Denken auf amerikanischer Seite außer acht lassen. Das in der Literatur häufig anzutreffende Argument, es habe sich in Nürnberg um ein politisches Verfahren gehandelt, impliziert den Vorwurf einer Rechtsbeugung zugunsten politischer Ziele. Hierzu ist zu sagen, daß es durchaus legitim ist, daß sich in dieser Situation der politische Gestaltungswille in der Form eines Prozesses artikuliert. Ein auf der faktischen Macht beruhendes Vorgehen ist bestimmt nicht einleuchtender. Wesentlich ist daher nicht, daß hinter dem Prozeß ein bestimmter politischer Wille stand, sondern die Frage, ob diese politische Intention sich des prozessualen Gewandes nur bediente, um für willkürliche Maßnahmen der Macht den Schein des Rechts zu wahren, oder ob die politische Intention nur in diesem Rahmen Gestalt gewinnen konnte. Selbstverständlich waren es politische Gründe, die zur Verwirklichung der Prozesse geführt haben, nämlich der Wille, mit der Bestrafung der am und im Krieg Schuldigen ein Exempel zu statuieren, um den Frieden hinfort zu sichern. Da dieser Wille aber keineswegs dem Wesen der Gerechtigkeit entgegengesetzt war, kann man nicht von Rechtsbeugung sprechen. Es ist durchaus die Aufgabe der Politik, über bestehende Ordnung hinaus Neues zu entwickeln und auch rechts-schöpferisch tätig zu sein. 3. Die dreifache Aufgabe der Prozesse Das Problem der Nürnberger Prozesse ist nicht so sehr die Frage, inwieweit sie Verfahren zwischen Politik und Recht waren — Politik und Recht bedingen einander —, es resultiert vielmehr aus der Tatsache, daß die Ziele der Prozesse zu weitgesteckt waren. Die Prozesse kranken an ihrer dreifachen Aufgabe: Bestrafung, Friedenssicherung, Weiterentwicklung des Völkerrechts.
Der umstrittene Punkt des Verbrechens gegen den Frieden wäre nicht notwendig gewesen, um die Angeklagten ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Hätte man sich darauf beschränkt, Kriegs-und Menschlichkeitsverbrechen zu ahnden, dann hätte man den Kritikern weit weniger Angriffsfläche geboten. Der Gedanke, zur politischen Gesundung beizutragen, eine historische Mission mit der Verurteilung einer Ideologie erfüllen zu müssen, war den Prozessen abträglich. Prozesse sind zweifelhafte Geschichtsquellen. 4. Beurteilung und Wertung Untersucht man einmal einen repräsentativen Ausschnitt aus der reichhaltigen völkerrechtlichen Literatur auf die jeweilige Wertung der Prozesse, so ist festzustellen, daß eine kritische Beurteilung vorherrscht und daß man eine endgültige Beurteilung der zukünftigen Entwicklung zuweist. Die Frage über die Bedeutung der Verfahren konzentriert sich zumeist darauf, ob von den Nürnberger Urteilen und den dort angewandten Prinzipien Präzedenz-Wirkung ausgegangen ist. Hat der Versuch der eger, das Völkerrecht weiterzuentwickeln, im ternationalen Bereich positive Auswirkunen gehabt? War die Friedensidee nur ein höner Traum? Es seien hier nur einige enige Stimmen zitiert, um den Tenor vieler usführungen zu charakterisieren. ustav Radbruch (1946)
Manche juristische Bedenken, welche gegen e Rechtsgrundlagen dieses Verfahrens vor-bracht worden sind, müssen zurücktreten nter dem großartigen Rechtsfortschritt, der ch in Nürnberg ankündigt. Eine doppelte Artbildung des Völkerrechts ist dort im Wer-m: das Völkerrecht soll zu einer Rechtsording werden, die nicht nur die Staaten verliebtet, vielmehr auch die Staatsmänner und aatsbürger; und dies auch die Einzelnen verlichtende Strafrecht soll durch ein neu zu hassendes Völkerstrafrecht gewährleistet erden. Fortan wird auch der Mann der Feder, r nur befiehlt und die eigenen Hände nicht it Schmutz oder Blut besudelt, mit seiner rson haften für das, was unter seinem Banne idere ausgeführt haben. Wo bei Staatsmänrn das Gewissen nicht mehr spricht, wird in ikunft vielleicht die Drohung der Strafe eine irksamere Sprache führen. Ob dieser Forthritt in Nürnberg sich wirklich vollzogen iben wird, kann freilich erst eine Zukunft hren, in der nicht nur der Besiegte von einem richte der Sieger, sondern bei gleicher huld auch Mächtige unter dem Richterspruch r doch noch mächtigeren Gesamtheit der ationen sich werden verantworten müssen." mdolph Churchill (1946)
is ist eine bewunderungswürdige Idee. Aber in sollte nicht übersehen, daß der Haupt-und dafür, daß sich die Naziführer vor Geht fanden, nicht darin bestand, daß sie Krieg hrten, sondern darin, daß sie den Krieg verren. Künftige Historiker werden daher wahreinlich berichten, daß die eigentliche Bedeung von Nürnberg darin bestand, einen Prä-zedenzfall dafür zu schaffen, daß die Besiegten von den Siegern abgeurteilt und getötet werden. Ob das die Sache der Weltzivilisation wesentlich fördern wird, erscheint zweifelhaft."
Hans Kelsen (1947)
Karl Jaspers (1962)
Im Gericht saß das bolschewistische Rußland als Staat totaler Herrschaft, der Herrschaftsform nach nicht anders als der nationalsozialistische Staat. Es war also ein Richter beteiligt, der das Recht, auf dem das Gericht gegründet werden sollte, faktisch gar nicht anerkannte ...
Die Hoffnung hat getrogen. Die große Idee ist, wie in früheren Zeiten, nur als Idee, nicht als Wirklichkeit erschienen. Der Prozeß hat nicht einen Weltzustand mit einem Weltrecht begründet...
Er war im Effekt ein einmaliger Prozeß von Siegermächten gegen die Besiegten, bei dem die Grundlage des gemeinsamen Rechtszustandes und Rechtswillens der Siegermächte fehlte. Daher hat er das Gegenteil erreicht von dem, was er sollte. Nicht Recht wurde begründet, sondern das Mißtrauen gegen das Recht gesteigert. Die Enttäuschung ist angesichts der Größe der Sache niederschmetternd."
Man war sich in den ersten Jahren nach dem Krieg durchaus im klaren, daß die Nürnberger Prinzipien weiterentwickelt werden müßten, um die Prozesse zu bestätigen
Die Enttäuschung, die vor allem in den Worten von Karl Jaspers zum Ausdruck kommt, resultiert aus dem Gegensatz zwischen den hoch-gesteckten Erwartungen und der Nachkriegs-wirklichkeit. Dieses Hoffen, daß das nunmehr reformierte Völkerrecht die einzige Grundlage der internationalen Beziehungen darstellen und eine Art summa auctoritas sein würde, ist aus der Situation unmittelbar nach dem Krieg verständlich. Jede Umbruchszeit, die neue Anfänge setzt, scheint das Versprechen auf eine bessere, glücklichere, friedlichere Zukunft in sich zu tragen. Die Hochstimmung der Menschen und ihr Optimismus sind um so einsichtiger, als nur der Glaube an die Zukunft die Kraft gibt, die Trümmer der Vergangenheit zu beseitigen. Und dennoch war es, wenn man in politischen Kategorien denkt, ein Trugschluß zu glauben, man könne die Grundlage für eine neue Ordnung schaffen und sich zugleich von den politischen Realitäten entfernen. Die Schaffung des Verbrechens gegen den Frieden hat nicht verhindern können, daß es Kriege gab — in Palästina, in Korea, in Vietnam. Es ist nicht bekannt, daß die Schuldigen bestraft worden sind.
Die Nürnberger Verfahren und die dort behandelten völkerrechtlichen Fragen hatten insofern Nachwirkungen, als viele jener Probleme auch in der UNO behandelt wurden. Am 11. November 1946 erkannte die General-versammlung der Vereinten Nationen die völkerrechtlichen Prinzipien des IMT-Urteils an. Die Völkerrechtskommission legte 1950 der Generalversammlung einen Report mit den Nürnberger Prinzipien vor, ohne daß sie allerdings bisher angenommen wurden. 1951 unterbreitete die Völkerrechtskommission der Generalversammlung einen Vertragsentwurf über Vergehen gegen Frieden und Sicherheit der Menschheit. Eine Beschlußfassung wurde 1954 vertagt bis eine Klärung des Begriffes „Angriff" gefunden sei. Am 10. Dezember 1948 gab die Generalversammlung eine Erklärung über die Menschenrechte ab. Am 9. Dezember 1948 wurde die Konvention über die Verhütung und die Bestrafung des Verbrechens des Genocid gebilligt
Die Bedeutung der Nürnberger Prozesse liegt nicht im internationalen Bereich, denn ihre Prinzipien stellten teilweise einen Vorgriff auf eine noch nicht vorhandene Ordnung dar. Ihre Bedeutung bezieht sich auf Deutschland. Gerade dadurch, daß sich die Prozesse auf die ehemalige Führungsschicht beschränkten, konnte von ihnen nicht eine dem zukünftigen deutschen Staat schädliche Wirkung, wie die des Versailler Kriegsschuldparagraphen, ausgehen. Es gab keine Kollektivverurteilung des gesamten deutschen Volkes. Da uns nur Kausalität, nicht aber Solidarität mit der geschichtlichen Vergangenheit verbindet, haben wir keinen Grund, die Prozesse instinktiv als eine Schmach für Deutschland abzulehnen. Das für die Prozesse zusammengetragene Material, das zwar wegen seiner Einseitigkeit und seiner Unvollständigkeit sicherlich keine ausreichende Quellengrundlage für den Historiker bildet, spricht jedoch eine so eindeutige Sprache, daß eine nachträgliche Bemäntelung der Beschönigung vieler Handlungen der ationalsozialistischen Machthaber unmöglich t. Auch wenn man auf dem Standpunkt steht, aß Vergangenheitsbewältigung nicht im Gechtssaal zu geschehen habe, so muß festgeellt werden, daß die nun einmal durchge-thrten Prozesse zwar Härten für einzelne enteiten, aber bestimmt keinen Unrechtscharakr besaßen. Eine böswillige Legendenbildung ird daher keine Aussicht auf Erfolg haben. rotz ihrer Ungereimtheiten und Mängel aben die Prozesse doch ein ganz wesentches Verdienst. Sie dienen der Einsicht, das ergangene nicht als ein kollektives, trans-personalesGeschehen zu betrachten, sondern die Funktion des Einzelmenschen zu sehen. Es darf im politischen Bereich kein Zurückziehen in eine schützende Anonymität geben. Der Begriff der tragischen Verstrickung wäre allzu einfach. Zeitumstände und Zeitgeist können als Erklärung, nicht als Entschuldigung dienen. Die Prozesse haben zum erstenmal deutlich gemacht, daß es kein beruhigendes Eingebettetsein in ein System von Befehl und Gehorsam geben darf, in dem sich der einzelne selbst aufgibt, und daß die Übermächtigkeit des Herrschaftsapparates in dem Maße wächst, wie sich der einzelne blindlings in das Handlungssystem eingliedert.
Literatur
ngermann, Erich: Die Vereinigten Staaten von Amerika (DTV Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts Bd. 7), München 1966 irdeche, Maurice: Nürnberg oder die Falschmünzer, Wiesbaden 19613 iuer, Fritz: Die Kriegsverbrecher vor Gericht, Zürich 1945 mton, Wilbourn/Grimm, George: Nuremberg. German Views of the War Trials, Dallas 1955 ^rber, Friedrich: Lehrbuch des Völkerrechts, 2 Bd., München 1960/62 iissier, Pierre: Völkerrecht und Militärbefehl, Stuttgart 1953 weri, Margret: Der Diplomat vor Gericht, Berlin-Hannover 1948 ichheim, Hans: Anatomie des SS-Staates, Bd. I, Freiburg 1965 >oper, Robert W.: Der Nürnberger Prozeß, Krefeld 1947 'scheemaeker, J.: Le tribunal militaire international des grands criminels de guerre, Paris 1947 ard, Hans: Der Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher und das Völkerrecht, in:
Süddeutsche Juristenzeitung 3, 1948, S. 354 ff.
senhower, D. D.: Friede ist mehr als nur ein Wort (Rede), Frankfurt 1953 rster, Karl (Hrsg.): Möglichkeiten und Grenzen für die Bewältigung historischer und politischer Schuld in Strafprozessen. Studien und Berichte der katholischen Akademie in Bayern, Heft 19, Würzburg 1962 m Frieden entgegen. Dokumente zur Geschichte der Gegenwart, hrsg. vom State Department der USA, Salzburg 1946 iedrich, Carl Joachim: Inevitable Peace, Cambridge 1948 ewe, Wilhelm: Nürnberg als Rechtsfrage. Eine Diskussion, Stuttgart 1947 iggenheim, P.: Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. 2, Basel 1951 igemann, Max: Der provisorische Frieden. Die Bauprinzipien der internationalen Ordnung seit 1945, Zürich-Stuttgart 1964 ihnenfeld, Günther: Die Herkunft der in dem Nürnberger Urteil gegen die sog. Hauptkriegsverbrecher angewandten allgemeinen Lehren des Strafrechts, Frankfurt (Diss. jur.) 1959 Lord Hankey: Politics, Trials and Errors, Oxford 1950 Heinze, Kurt/Schilling Karl: Die Rechtsprechung der Nürnberger Militärtribunale, Bonn 1952 Hentig, Hans v.: Der Friedensschluß. Geist und Technik einer verlorenen Kunst, Stuttgart 1952 Heydecker, Joe Julius: Der Nürnberger Prozeß, Köln-Berlin 1958 Jackson, Robert H.: Opening Statement for the USA, Frankfurt 1946 Ders.: Staat und Moral. Zum Werden eines neuen Völkerrechts. Die Anklagereden von R. H.
Jackson, München 1946 Jäger, Herbert: Verbrechen unter totalitärer Herrschaft. Studien zur nationalsozialistischen Gewaltkriminalität, Freiburg 1967 Jaspers, Karl: Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945— 1965, München 1965 Jescheck, Hans-Heinrich: Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, Bonn, 1952 Jessup, Philip C.: Modernes Völkerrecht, Wien-Stuttgart 1950 Ders.: The Crime of Aggression and the Future of International Law, in: Political Science Quarterly, Vol. 62, Nr. 1, 1947 Kaufmann, Erich: Warum konnte der Krieg zum Verbrechen erklärt werden? in: Schicksalsfragen der Gegenwart. Handbuch politisch-historischer Bildung (6 Bde), hrsg. vom Bundesministerium für Verteidigung, Tübingen 1957, Bd. I, S. 271— 294 Kelsen, Hans: Will the Judgment in the Nuremberg Trials constitute a Precedent in International Law? in: International Law Quarterly 1, 1947, S. 153 ff.
Kempner, Robert M. W.: SS im Kreuzverhör, München 1964 Ders.: Das Urteil im Wilhelmstraßenprozeß (Text), Schwäbisch-Gmünd 1950 Kempski, Jürgen v.: Krieg als Straftat, in: Merkur, Jg. 1, Heft 1, 1947, S. 28— 40 Knieriem, August v.: Nürnberg. Rechtliche und menschliche Probleme, Stuttgart 1953 Kranzbühler, Otto: Nürnberg als Rechtsproblem, in: Um Recht und Gerechtigkeit. Festgabe für Erich Kaufmann, 1950, S. 219 ff.
Ders.: Rückblick auf Nürnberg, Hamburg 1949 Kraus, Herbert: Gerichtstag in Nürnberg, Hamburg 1947 Ders.: Kontrollratsgesetz Nr. 10, Hamburg 1948 Laun, Rudolf: Der dauernde Friede, Hamburg 1950 Link, Arthur S.: Der idealistische Realismus Woodrow Wilsons, Freiburg 1959 Maehler, Hans Georg: Die völkerrechtliche Bedeutung des Kriegs-und Gewaltverbots durch Kellogg-Pakt und UN-Satzung (Diss. jur.), München 1965 Menthon, Francois de: Frankreich verlangt Gerechtigkeit im Namen der Menschheit. Rede vor dem IMT, Neustadt 1946 Merle, Marcel: Le proces de Nuremberg et le chätiment des criminels de guerre, Paris 1949 Nadolny, Rudolf: Völkerrecht und deutscher Friede, Hamburg 1949 Nürnberger Prozeß — Gestern und heute, hrsg. von der Humboldt-Universität, Berlin (Ost) 1966 Paolini, Fulvio: A dieci Anni dal processo di Norimberga. La sua guistificazione, Bologna 1956 Rain, Pierre: Organisation de la paix en Europe depuis les origines jusqu'ä l’O. N. U., Paris 1946’ Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, Bd. 1 und 22, Nürnberg 1947 Raumer, Kurt v.: Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg-München 1953 auschenbach, Gerhard: Der Nürnberger Prozeß gegen die Organisationen, Bonn, 1954 udenko, R. A.: Die Gerechtigkeit nehme ihren Lauf! Die Reden des sowjetischen Haupt-anklägers im Nürnberger Prozeß der deutschen Hauptkriegsverbrecher, Berlin 1946 mrel, Louis: Le proces de Nuremberg, Paris 1965 : hlochauer, Hans Jürgen: Das Problem der Friedenssicherung in seiner ideengeschichtlichen und völkerrechtlichen Entwicklung, Köln 1946 lawcross, Sir Hartley: Nürnberg. Die Rede des englischen Hauptanklägers, Hamburg 1946 egert, Karl: Repressalie, Requisition und höherer Befehl. Ein Beitrag zur Rechtfertigung der Kriegsverurteilten, Göttingen 1953 imson, Henry, L.: The Nuremberg Trial. Landmark in Law, in: Foreign Affairs, Vol. 25, Nr. 2, 1947, S. 179 ff.
iskind, W. E.: Die Mächtigen vor Gericht (List Taschenbuch 238), München 1963 lylor, Telford: Die Nürnberger Prozesse, Zürich 1950 app, Erwin: Die kriegsrechtliche Bedeutung der Nürnberger Urteile, Düsseldorf, 1957 ihres, H. Donnedieu de: Le proces de Nuremberg devant les principes modernes du droit penal international, in: Recueil des Cours de l'Academie de Droit International, Bd. 70, 1947 I, S. 481 ff.
ahl, E.: Grundfragen der Nürnberger Prozesse, in: Schriften der Universität Heidelberg, Heft 4, 1950, S. 76 ff.
echsler, Herbert: The Issues of the Nuremberg Trial, in: Political Science Quarterly, Vol. 62, Nr. 1, 1947 oetzel, Robert K.: The Nuremberg Trials in international law with a postlude on the Eichmann case, London 19622 right, Quincy: The role of International Law in the elimination of war, London 1961