„Aber von allen politischen Idealen ist der Wunsch, die Menschen glücklich zu machen, vielleicht der gefährlichste. Ein solcher Wunsch führt unvermeidlich zu dem Versuch, anderen Menschen unsere Ordnung , höherer'Werte aufzuzwingen, um ihnen so die Einsicht in Dinge zu verschaffen, die uns für ihr Glück am wichtigsten zu sein scheinen. . .. Dieser Wunsch führt zu Utopismus und Romantizismus. Wir alle haben das sichere Gefühl, daß jedermann in der schönen, der vollkommenen Gemeinschaft unserer Träume glücklich sein würde. Und zweifellos wäre eine Welt, in der wir uns alle lieben, der Himmel auf Erden. Aber ...der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, produziert stets die Hölle."
K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band II, S. 291 f.
In ökonomischer Sicht sind es vor allem drei Thesen, durch die die „Neue Linke" Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregt hat: — die Kennzeichnung der bestehenden Wirtschaftsordnung als spätkapitalistisch, — die These vom repressiven Zwangscharakter des sogenannten Spätkapitalismus und — die Behauptung, daß die einzige rationale Alternative in der gegenwärtigen Situation eine „qualitative Änderung" sei, d. h. die Abschaffung des sogenannten spätkapitalistischen Wirtschafts-und Gesellschaftssystems als Ganzes und seine Ersetzung durch eine neue Ordnung.
Analysen und Kritiken von Gesellschafts-und Wirtschaftsordnungen gehören nun keineswegs zu jenen Gegenständen, die nur gelegentlich öffentliches Interesse finden. Es ist daher eher verwunderlich als selbstverständlich, wenn eine bestimmte Position im Streit der Meinungen besonderes Gehör findet. Aber diese Frage soll im folgenden nicht erörtert werden — sie ist Gegenstand sozialpsychologischer und soziologischer Theorien, die sich mit den Rückwirkungen von Ideen auf das menschliche Handeln befassen. Statt dessen wird versucht, einige der vorgetragenen Argumente
Dieses „rationalistische Vorurteil", das die Ablehnung der vielfältigen Spielarten des Irrationalismus, die Kritik von Mythen und Ideologien, von geschlossenen Systemen und Doktrinen sowie die prinzipielle Revidierbarkeit von Theorien, Hypothesen, Methoden und Perspektiven impliziert, läßt sich als die gemeinsame Basis auffassen, auf der sich die Auseinandersetzungen vollziehen können, erheben doch nicht nur die Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus, sondern auch ihre heutigen Nachfolger den Anspruch, zu jenen sozialphilosophischen Richtungen zu zählen, die sich um eine rationale Lösung drängender gesellschafts-und wirtschaftspolitischer Probleme bemühen
Die Endphase des sogenannten Kapitalismus
Wir leben in der Epoche des sogenannten Spätkapitalismus — das ist eine zentrale Idee, die in den Äußerungen der „Neuen Linken" in vielen Variationen vertreten wird. Die Behauptung, daß sich irgendein Objekt in seiner „Spät" -Phase befindet, ist nun offenbar nur dann sinnvoll, wenn man davon ausgehen kann, daß es typische Entwicklungsphasen durchlaufe, also etwa ein Früh-, Hoch-und Spätstadium oder einen biologischen Rhythmus von Geburt und Tod. Die für viele Bereiche der biologischen Existenz geläufigen Vorstellungen vom Werden und Vergehen, von Leben und Tod, werden nun im vorliegenden Zusammenhang auf einen Objektbereich, nämlich soziale Interaktionssysteme, angewendet, wo sie alles andere als selbstverständlich sind. „Die Gesellschaft" läßt sich ja keineswegs ohne weiteres als eine Entität auffassen, auf die man organizistische Ideen anwenden kann oder von der sich ohne Schwierigkeit sagen läßt, daß sie Prozessen wie Geburt, Alterung und Absterben unterliege. Letzteres gilt für ihre Mitglieder, nicht aber für Kollektive, die gewöhnlich unter dem abstrakten Begriff „Gesellschaft" subsumiert werden. Dabei ist anzumerken, daß die Frage, was man unter „Gesellschaft" verstehen will, sehr verschieden beantwortet werden kann: die Menschen in einem bestimmten Territorium, Staat oder politischen Lager, die gegenwärtig Lebenden oder auch zukünftige Generationen oder schließlich auch jene angeblich existenten sozialen Ganzheiten, von denen der methodologische Kollektivismus auszugehen pflegt.
Die Rede vom Spätkapitalismus impliziert aber noch eine weitere Vorstellung, daß nämlich das so gekennzeichnete Wirtschafts-und Gesellschaftssystem sich gegenwärtig in der Phase einer krisenhaften Zuspitzung und des Übergangs in eine neue Ordnung befinde. Dieser Idee verleiht z. B. Dutschke
Die Idee, daß sich historische Ereignisse in den Bahnen von Zerfall einer alten und Heraufkunft einer neuen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung vollziehen, gehört zu jenen Denkschemata, die in der Geschichtsphilosophie stets eine besondere Rolle gespielt haben. Man findet sie z. B. in Dreistadiengesetzen, die Früh-, Hoch-und Spätepochen oder bestimmte Entwicklungszyklen behaupten, in Entwicklungstheorien, die entweder mit dem optimistischen Bild des Aufstiegs aus primitiven Ursprüngen zu immer höheren Formen operieren, oder die sich der umgekehrten Perspektive bedienen, des Abstiegs aus dem goldenen Zeitalter in eine Verfallssituation. Die Annahme historischer Gesetzmäßigkeiten tritt in der Geschichte der ökonomischen Theorien bei Richtungen auf, die in ihren übrigen Meinungen und politischen Überzeugungen soweit auseinandergehen wie die Konzeptionen der ökonomischen Klassik und der Historischen Schule, die des wissenschaftlichen Sozialismus und der Historischen Schule (Katheder-sozialisten); ihrer bedienen sich ferner Geschichtsphilosophen wie Hegel, Comte, J. St. Mill, Spencer oder Toynbee. Der bei weitem einflußreichste Versuch mit dem Modell zu arbeiten, daß der Ablauf der Wirtschaft und darüber hinaus der Menschheitsgeschichte einen Ursprung hat und auf ein Endstadium ausgerichtet ist, aber stammt von Karl Marx, dessen wissenschaftliches Programm die „Enthüllung des ökonomischen Bewegungsgesetzes der modernen Gesellschaft" war, und der wie viele seiner Zeitgenossen glaubte, diese in einem Dreistadiengesetz gefunden zu haben, der Stufenfolge von Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus.
Worin liegt nun die Problematik entwicklungstheoretischer Vorstellungen, wie sie sich im Begriff „Spätkapitalismus" niederschlagen? Die Mängel sind dreifacher Art: — sie liefern erstens faktisch keine zutreffenden Beschreibungen, — sie führen zweitens zu methodologisch problematischen Strategien und — sie sind drittens offen für die politisch-ideologische Verwendung im Dienst sehr verschiedener Zielsetzungen. 1. Geschichtstheoretische Entwicklungsideen in ihren verschiedenen Spielarten — seien sie nun marxistischer oder „bürgerlicher" Herkunft — wirken auf den ersten Blick vor allem dadurch, daß sie es scheinbar erlauben, eine äußerst genaue Gegenwartsanalyse zu betreiben, zu erklären, wie es zu der gegenwärtigen Situation kommen „mußte", und schließlich die Richtung anzugeben, wohin der Weg führt. Dutschkes Deutung der deutschen Sozialgeschichte der letzten hundert Jahre läßt sich hierzu ebenso heranziehen wie Toynbees Lehre von der Entwicklung und Abfolge der Kultursysteme. Unterstellt man einmal vorläufig, es sei wissenschaftlich vertretbar, mit derartigen Entwicklungsschemata zu operieren, so ist die Frage am Platz, ob sie zutreffende Deskriptionen, Erklärungen und Prognosen liefern. Die Antwort ist negativ; zahlreiche historische, soziologische und ökonomische Untersuchungen haben gezeigt, daß sie weder zutreffende Beschreibungen oder Erklärungen der Vergangenheit
Der bekannteste Versuch, eine neue Phase in das Entwicklungsschema Marx'einzuführen, unternahmen die älteren Imperialismustheoretiker, die das Ausbleiben des von Marx zu seinen Lebzeiten erwarteten Zusammenbruchs des Kapitalismus durch die Einfügung einer Zwischenstufe, des Imperialismus, zu erklären versuchten. Dabei legten sie größten Wert darauf, darunter eine zeitlich begrenzte historische „Phase", nicht aber das Ergebnis einer bewußten „Politik" zu verstehen. Dieses Verfahren läßt sich, wie die gegenwärtige Diskussion zeigt, beliebig fortsetzen, indem man als weitere Zwischenstufen oder Phasen etwa die spätkapitalistische oder die neokolonialistische einschiebt und neue „Kapitalismen" kreiert wie den Vergeudungskapitalismus (Kozlik), den „Stamok" (staatsmonopolitischer Ka-pitalismus, Reinhold) oder schlicht vom Neokapitalismus (Gorz) spricht.
Der Vorteil dieses Vorgehens scheint darin zu liegen, daß man nicht gezwungen wird, die Behauptung von den unüberwindbaren Grund-widersprüchen des „Kapitalismus", die sein Scheitern letztlich hervorrufen sollen, revidieren zu müssen. Tatsächlich handelt es sich jedoch um einen Pyrrhussieg; sein Preis ist die inhaltliche Entleerung des Aussagensystems
In diesem Zusammenhang muß man jedoch die starke motivschaffende Wirkung von Geschichtsphilosophien und Entwicklungsgesetzen beachten. Sie gestatten es, nicht nur den Eindruck zu, erwecken, sondern sich auch der Selbsttäuschung hinzugeben, man handele in Übereinstimmung mit objektiven Sachverhalten, einer unabhängigen Geschichtstendenz, die von eigenen Absichten, Aspirationen und Interessen anscheinend völlig unabhängig ist
Die politisch-ideologische Funktion geschichtsphilosophischer Konzeptionen läßt sich an der Verwendung des Begriffes Spätkapitalismus durch die „Neue Linke" exemplifizieren
Er soll den Adressaten veranlassen, alles zu unterlassen, was den zum Untergang verurteilten und negativ bewerteten Zustand stabilisieren könnte und möglichst Aktivitäten in Richtung auf die Unterstützung der vermeintlich unabhängigen Geschichtstendenz erzeugen. Das Handeln soll so wiederum die Gültigkeit des zuvor postulierten Geschichtsgesetzes beweisen.
Der skizzierten ideologiekritischen Argumentation könnte man H. Marcuses Position entgegenhalten. Nach seiner Auffassung ist es logisch möglich, am Begriff „objektiver historischer Gesetze" festzuhalten und gleichzeitig den teleologischen Charakter der Geschichtsgesetze, die Vorstellung, daß die Geschichte einen Sinn hat, auf den sie sich zubewegt, zu leugnen. Mit seinen Worten: „Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten"
Die These vom repressiven Charakter des „kapitalistischen" Wirtschafts-und Gesellschaftssytems
Marx’ Theorie vom Zerfall des Kapitalismus über eine Kette sich verschärfender ökonomischer Krisen und seinen Umschlag in den Sozialismus hat bekanntlich bei seinen Nachfolgern zu einer Fülle von enttäuschten Erwartungen geführt. Trotz zahlreicher konjunktureller Krisen
Der Nichteintritt der Prognose hat bei marxistischen Ökonomen eine umfangreiche Kontroverse erzeugt über die Frage, ob der „Kapitalismus" stabilisierungsfähig sei oder nicht. In ihr werden zwei Positionen vertreten: die These von der prinzipiellen Instabilität, die auch heute noch von orthodoxen Richtungen verfochten wird, und die entgegengesetzte Behauptung, die bereits in den zwanziger Jahren von Varga vertreten wurde. Während die erstere Richtung permanent nach Erklärungen für das Weiterbestehen „kapitalistischer" Wirtschaftsordnungen suchen muß, gibt die letztere einen wesentlichen Bestandteil des Marxschen Argumentes auf.
In der „Neuen Linken" ist diese Diskussion wieder virulent. Es läßt sich jedoch eine Akzentverschiebung in der Argumentation feststellen. Während Marx den Zerfall mit natur-gesetzlicher Notwendigkeit behauptet
Diese Position ist vom Standpunkt einer rationalen Politik nur verständlich, wenn man die Meinung vertritt, daß alle Mittel der Stabilisierung moralisch verwerflich sind. Ist das nicht der Fall und existieren moralisch zulässige Mittel (etwa Arbeitslosenversicherung, konjunkturpolitische Programme), so ist nicht einzusehen, warum bestimmte Institutionen, die eine erfolgreiche Lösung sozialer Probleme zulassen, zerstört werden sollen. Es bedarf daher einer genaueren Analyse des Repressionsargumentes, wobei sich zeigen wird, daß es zweideutig ist. Eine Version weist eine große Ähnlichkeit zur Verschwörungstheorie der Gesellschaft auf, die andere hat Strukturähnlichkeiten mit der Wissenssoziologie Mannheimscher Prägung.
Die verschwörungstheoretische Variante findet sich in Marcuses Lehre von den neuen Formen der Kontrolle in der Gesellschaft, die sich nicht länger auf physischen Zwang gründen, sondern Folge einer quasi freiwilligen Koordinierung im Rahmen einer „nicht-terroristischen ökonomisch-technischen Gleichschaltung (sind), die sich in der Manipulation von Bedürfnissen durch althergebrachte Interessen geltend macht"
Die neuen Kontrollmöglichkeiten seien aber in ihrem „wahren" Charakter ebenso totalitär wie die alten und würden im Interesse der jeweils Herrschenden ausgeübt. Als Begründung wird angeführt, die menschlichen Bedürfnisse seien nicht autonom, sondern „sozial präformiert" in dem Sinne, daß sie gesellschaftlichen Institutionen ausgeliefert sind und damit denjenigen, die diese kontrollieren. Dieses Repressionsmodell setzt also voraus, daß es eine genau bestimmbare Schicht oder Gruppe gibt, in deren Interesse die Manipulation ausgeübt wird. Die Herrschenden müssen ferner über die notwendigen Machtmittel verfügen, um ihren Willen erfolgreich durchzusetzen und sich den Rest der Gesellschaft unterwerfen zu können. In einem Zwei-Klassen-modell sind Träger und Mittel der Manipulation schnell zu finden. Es sind die Besitzer der Produktionsmittel und die vielfältigen Formen der Reklame.
Diese Deutung des Repressionsargumentes steht jedoch im Widerstreit mit seiner zweiten Variante. Danach ist die Manipulation nicht das Ergebnis bewußter Handlungen der Herrschenden, sondern Ausfluß der technisch-wissenschaftlichen Organisation von Produktionsprozessen in der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation. In dieser soll sich in Form einer „Komplicenschaft" zwischen den ehemals antagonistischen Klassen eine weitgehende Integration vollzogen haben, die von dem gemeinsamen Interesse an der Erhaltung des Produktionsapparates getragen wird. „Ein sich über alles hinwegsetzendes Interesse an der Erhaltung und Verbesserung des institutioneilen Status quo vereinigt die früheren Antagonisten in den fortgeschrittensten Bereichen der Gesellschaft"
Die Frage, ob beide Versionen des Repressionsargumentes miteinander kompatibel sind oder nicht, ist für die weitere Diskussion von geringerer Bedeutung. Wichtiger ist vielmehr, ob die eine oder die andere oder keine Variante einer Prüfung standhält.
Analysiert man die verschwörungstheoretische Fassung, so läßt sich anmerken, daß sie im Grund an das Marxsche Klassenkampfmodell in seiner Leninschen Abwandlung anknüpft. Lenin behauptet ja in seiner Bestechungstheorie der Arbeiterschaft, daß die Nichterfüllung der Marxschen Prognosen damit zu erklären sei, daß sich eine Spaltung der Arbeiterklasse in ein „eigentliches Proletariat" und ein „verbürgerlichtes Proletariat" mittels einer bewußten Korruption der Arbeiterklasse seitens der Kapitalisten vollzogen habe
Diese Fragen lassen sich natürlich nicht ohne Prüfung der realen Sachverhalte entscheiden. Immerhin läßt sich anführen, daß „Märkte" und „Wahlen" von ihrer Konstruktionsidee her gesehen gegen die Durchsetzung einseitiger Herrschaftsinteressen gerichtet sind. Der Wettbewerb der Parteien und Produzenten um die Wähler-und „Geld" -Stimmen wird ja in der Absicht veranstaltet, eine erhebliche Immunisierung gegen einseitige Beeinflussung zu erzeugen. Man ist der Meinung, daß es um so schwerer wird, Konsumenten und Wähler zur Realisierung eines gewünschten Verhal-tens zu bewegen, je intensiver der Wettbewerb und je größer die Zahl der politischen und ökonomischen Wahlmöglichkeiten ist. Man behauptet daher auch, daß es — im Gegensatz zu totalitären Gesellschaften, welche die Konkurrenz der Meinungen, Ideen, Parteien und meist auch der Güter nicht zulassen — in dezentral organisierten Wirtschafts-und Gesellschaftssystemen nicht zur Dominanz einer Gruppe oder Klasse über alle übrigen kommt, solange die Spielregeln eingehalten werden.
Aber alle diese Annahmen könnten trügen, die Fakten ihnen widersprechen. Wenn es gelänge, diesen Nachweis vom Standpunkt der Repressionstheorie zu führen, so wäre damit ohne Zweifel ein großer wissenschaftlicher Fortschritt erzielt. Dieser Konfrontation, die, sofern sie mißlingt, Argumente gegen das Repressionsmodell liefern würde, weicht man jedoch dadurch aus, daß man die zweite Version ins Spiel bringt, die Behauptung, daß die Repression total sei, also von Zweiflern möglicherweise nicht einmal erkannt werden kann
Dieses Argument weist eine große Strukturähnlichkeit zu den Auffassungen jener Wissenssoziologen auf, die sich als zeitgenössische Variante des Solipsismus der Vorstellung einer Totalideologie bedienen. Es führt seine Verfechter aber in eine Schwierigkeit hinein, denn sie müssen darlegen, wie denn überhaupt Repression erkannt werden (bzw. wie man sich vom totalen Ideologieverdacht befreien) kann. Die hier vorgeschlagenen Lösungen weisen eine bei näherem Hinsehen kaum überraschende Verwandtschaft auf. In beiden Fällen gelangt man zu einer Elitetheorie der Wahrheit. Danach gibt es eine soziale Gruppe, die aufgrund besonderer Voraussetzungen in der Lage ist, sich aus den Verstrickungen der Ideologie bzw.der Repression zu lösen. In der Wissenssoziologie von K. Mannheim ist es eine freischwebende Intelligenzschicht, die nur lose mit den sozialen Traditionen verankert ist und die dadurch die Fähigkeit gewinnt, die geheimen Beweggründe der übrigen Total
Ideologien zu durchschauen und zu entlarven
Diese Position liefert eine bequeme Basis, andere Auffassungen zu „durchleuchten" oder abzuqualifizieren, vermittelt sie doch den Angehörigen der jeweiligen wahrheitsfähigen Eliten das angenehme Gefühl, die aufgeblasenen „Charaktermasken" in Politik und Wirtschaft zu durchschauen, die wahren Beweggründe ihres Handelns zu erkennen und den Unwissenden das richtige Bewußtsein zu vermitteln
Die Vorstellung, daß nur die Träger des „fortgeschrittensten Bewußtseins" in der Lage sind, die Repression und Manipulation zu durchschauen, enthält einen unbedingten Wahrheitsanspruch im Hinblick auf die von jenen formulierten Aussagen. Gleichzeitig impliziert sie eine radikale Ablehnung aller kritischen Einwände, sofern sie von Andersdenken, „Rechten", „Konservativen" oder „Reaktionären", kommen.
Die Wahrheit einer Aussage, Behauptung oder Theorie aber kann niemals damit begründet werden, daß sie auf den Auffassungen einer Gruppe oder Gemeinschaft beruht, sondern nur dadurch, daß sie dem Prozeß der kritischen Prüfung ausgesetzt wird, in dem alle rationalen Argumente zugelassen sind. Weder der soziale Standort noch die Herkunft, weder die soziale Zugehörigkeit noch die intellektuelle Position aber sind ein Argument für oder gegen eine Ansicht, die im Prozeß der kritischen Erörterungen vorgebracht wird. Es zählt nur die Qualität eines Argumentes, gemessen an den kritischen Standards der Wissenschaft, d. h. vor allem der logischen Konsistenz und der Vereinbarkeit mit den Fakten.
Das Repressionsargument in seiner obigen Form aber erfüllt diese Ansprüche nicht. Die ihm zugrunde liegende Elitetheorie der Wahrheit ist eher der späte Nachfahre einer schon vielfach kritisierten erkenntnistheoretischen Auffassung, der sogenannten Manifestationstheorie der Wahrheit
Die Verwandtschaft des Repressionsmodells zur Mannheimschen Wissenssoziologie und zur Manifestationstheorie macht es kaum noch verwunderlich, daß auch weitere methodische Konsequenzen dieser Denkansätze in Verbindung mit ihm auftreten: die Intoleranz gegenüber anderen Auffassungen, die radikale Verurteilung abweichender Standpunkte und die Diffamierung von Opponenten — Konsequenzen, für die dogmatisches Denken, auch wenn es sich selbst antiautoritär versteht, anfällig ist.
Die radikale Alternative
Wenn man unter rationaler Politik die Entwicklung von Problemlösungen für die Beseitigung von sozialen Mißständen versteht, dann besteht eine der wichtigsten Aufgaben der Auseinandersetzung mit einer Position in der kritischen Prüfung der vorgeschlagenen Alternative. Postuliert man eine „qualitative Änderung", so bedarf ihre Realisierung zweier Schritte, die Organisation der Phase des Über-gangs und die Gestaltung der Neuen Ordnung. Die Erörterungen über den ersten Schritt finden ihren Niederschlag in den Diskussionen über die Methoden des revolutionären Wandels der Gesellschaft, in den kulturrevolutionären Programmen mit ihrer Forderung zur Erziehung des „neuen Menschen" und der Aufforderung, sich quasi in einem Akt der Selbst-reinigung von der „eigenen autoritären Charakterstruktur" zu befreien, ferner in den Diskussionen über die Rolle der Gewaltanwendung und die Entwicklung des revolutionären Bewußtseins und schließlich in der Frage nach den Trägern der sozialen Umwandlung. Das dialektische Denken, die Marcusesche Idee von der Macht der Negation, führt hier manchmal zu rational nicht mehr nachvollziehbaren Vorstellungen
Ziel des ersten Schrittes muß es sein, die politische Macht zu erlangen, Beamtenschaft und Militär als „unproduktive und parasitäre Gruppen" in der revolutionären Umwälzung als „Gewaltorganisationen der herrschenden Klasse" schnell aufzulösen und zu zerschlagen
Man kann der für eine rationale Politik fundamentalen Frage nach der institutioneilen Kontrolle der Macht
Diese Einwände gelten im Grundsatz nicht hinsichtlich jener Versuche, die eine Skizze wenigstens einiger Institutionen der „befriedeten Gesellschaft" bieten. So schlägt H. Marcuse zwar dialektisch-widersprüchlich — („die dialektische Theorie .. . kann kein Heilmittel bieten, [sie] kann nicht positiv sein")
So bedeutet eine zentralisierte Wirtschaftsplanung nicht nur eine direkte Kontrolle der produzierten und konsumierten Mengen und eine Einschränkung der freien Konsumwahl — ein anonymer Beamter kann z. B. darüber entscheiden, ob und für was der einzelne Devisen ausgeben darf, wohin er reist, wo er sich aufhält —, sondern sie birgt die Gefahr, darüber hinaus auch zur zwangsweisen Einweisung in Berufe und Tätigkeiten zu führen. Ferner erzeugen Systeme direkter quantitativer Kontrolle durchweg Cliquenwirtschaft und Korruption, da sie das Entstehen sogenannter schwarzer und grauer Märkte fördern. Bei der dann meist unvermeidbaren Zuteilung von Bezugsscheinen und Lizenzen an einen Teil der Nachfrager legen sie ferner in die Hand weniger Personen außerordentliche Ermessensentscheide und begünstigen so das Entstehen neuer Abhängigkeitsverhältnisse. Die wirtschaftlichen Reformversuche in einigen Ostblockländern, die jetzt Gefahr laufen, als konterrevolutionär verurteilt zu werden, sind nicht zuletzt aus der Kritik an den Formen der sozialen Abhängigkeit, welche die zentrale Planung bedingt, erwachsen. Wie aber soll, wenn derartige Konsequenzen möglich sind, dann die „wahrhafte Selbstbestimmung der Individuen" gesichert werden? Der Vorschlag einer „Kontrolle von unten" 43a), der sich in einer konkreteren Fassung als Einführung eines Räte-Systems, in dem Betriebe und Organisationen durch Plenardiskussionen gelenkt werden, verstehen läßt, vermag vorerst kaum zu überzeugen. Er bedarf zunächst einer kritischen theoretischen Analyse, wenn man nicht dem verhängnisvollen idealistischen Glauben zum Opfer fallen will, daß soziale Institutionen stets so funktionieren, wie sie entworfen werden
Die gleichen Bedenken gelten in verstärktem Maß für die Erziehungsdiktatur, jene schon von den totalitären Gesellschaftstheoretikern des Altertums vorgeschlagene Herrschaftsform. Wie soll hier institutionell gesichert werden, daß die Erzieher die Sklaven wirklich „befähigen zu lernen, zu sehen und zu denken"? Die von H. Marcuse vorgetragene „einzig mögliche Entschuldigung (sie ist schwach genug!), . . . daß das schreckliche Risiko, das sie einschließt, nicht schrecklicher als dasjenige sein kann, das die großen liberalen wie autoritären Gesellschaften jetzt eingehen..."
Die „Neubestimmung der Bedürfnisse" schließ-lieh, dargestellt am Beispiel der abrupten Abschaffung „aller Reklame und aller schulenden Informations-und Unterhaltungsmedien" würde, wenn sie realisierbar wäre, sicher, wie Marcuse