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Spätkapitalismus ? | APuZ 44/1968 | bpb.de

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APuZ 44/1968 Die „Neue Linke" und die Institutionen der Demokratie Spätkapitalismus ? Demokratie und Demokratismus

Spätkapitalismus ?

Christian Watrin

„Aber von allen politischen Idealen ist der Wunsch, die Menschen glücklich zu machen, vielleicht der gefährlichste. Ein solcher Wunsch führt unvermeidlich zu dem Versuch, anderen Menschen unsere Ordnung , höherer'Werte aufzuzwingen, um ihnen so die Einsicht in Dinge zu verschaffen, die uns für ihr Glück am wichtigsten zu sein scheinen. . .. Dieser Wunsch führt zu Utopismus und Romantizismus. Wir alle haben das sichere Gefühl, daß jedermann in der schönen, der vollkommenen Gemeinschaft unserer Träume glücklich sein würde. Und zweifellos wäre eine Welt, in der wir uns alle lieben, der Himmel auf Erden. Aber ...der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, produziert stets die Hölle."

K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band II, S. 291 f.

In ökonomischer Sicht sind es vor allem drei Thesen, durch die die „Neue Linke" Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregt hat: — die Kennzeichnung der bestehenden Wirtschaftsordnung als spätkapitalistisch, — die These vom repressiven Zwangscharakter des sogenannten Spätkapitalismus und — die Behauptung, daß die einzige rationale Alternative in der gegenwärtigen Situation eine „qualitative Änderung" sei, d. h. die Abschaffung des sogenannten spätkapitalistischen Wirtschafts-und Gesellschaftssystems als Ganzes und seine Ersetzung durch eine neue Ordnung.

Analysen und Kritiken von Gesellschafts-und Wirtschaftsordnungen gehören nun keineswegs zu jenen Gegenständen, die nur gelegentlich öffentliches Interesse finden. Es ist daher eher verwunderlich als selbstverständlich, wenn eine bestimmte Position im Streit der Meinungen besonderes Gehör findet. Aber diese Frage soll im folgenden nicht erörtert werden — sie ist Gegenstand sozialpsychologischer und soziologischer Theorien, die sich mit den Rückwirkungen von Ideen auf das menschliche Handeln befassen. Statt dessen wird versucht, einige der vorgetragenen Argumente einer kritischen Analyse zu unterziehen, und zwar aus der Perspektive einer Politik, die an der rationalen Gestaltung der Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung orientiert ist. Es geht also nicht um die Frage nach den machtpolitischen Voraussetzungen einer erfolgreichen sozialistischen Revolution, sondern um die Prüfung einer Diagnose, einer Prognose und einer Alternative mit wissenschaftlichen Mitteln, d. h.den Versuch, das Verfahren von Versuch und Fehlerelimination auf politische Fragen anzuwenden.

Dieses „rationalistische Vorurteil", das die Ablehnung der vielfältigen Spielarten des Irrationalismus, die Kritik von Mythen und Ideologien, von geschlossenen Systemen und Doktrinen sowie die prinzipielle Revidierbarkeit von Theorien, Hypothesen, Methoden und Perspektiven impliziert, läßt sich als die gemeinsame Basis auffassen, auf der sich die Auseinandersetzungen vollziehen können, erheben doch nicht nur die Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus, sondern auch ihre heutigen Nachfolger den Anspruch, zu jenen sozialphilosophischen Richtungen zu zählen, die sich um eine rationale Lösung drängender gesellschafts-und wirtschaftspolitischer Probleme bemühen

Die Endphase des sogenannten Kapitalismus

Wir leben in der Epoche des sogenannten Spätkapitalismus — das ist eine zentrale Idee, die in den Äußerungen der „Neuen Linken" in vielen Variationen vertreten wird. Die Behauptung, daß sich irgendein Objekt in seiner „Spät" -Phase befindet, ist nun offenbar nur dann sinnvoll, wenn man davon ausgehen kann, daß es typische Entwicklungsphasen durchlaufe, also etwa ein Früh-, Hoch-und Spätstadium oder einen biologischen Rhythmus von Geburt und Tod. Die für viele Bereiche der biologischen Existenz geläufigen Vorstellungen vom Werden und Vergehen, von Leben und Tod, werden nun im vorliegenden Zusammenhang auf einen Objektbereich, nämlich soziale Interaktionssysteme, angewendet, wo sie alles andere als selbstverständlich sind. „Die Gesellschaft" läßt sich ja keineswegs ohne weiteres als eine Entität auffassen, auf die man organizistische Ideen anwenden kann oder von der sich ohne Schwierigkeit sagen läßt, daß sie Prozessen wie Geburt, Alterung und Absterben unterliege. Letzteres gilt für ihre Mitglieder, nicht aber für Kollektive, die gewöhnlich unter dem abstrakten Begriff „Gesellschaft" subsumiert werden. Dabei ist anzumerken, daß die Frage, was man unter „Gesellschaft" verstehen will, sehr verschieden beantwortet werden kann: die Menschen in einem bestimmten Territorium, Staat oder politischen Lager, die gegenwärtig Lebenden oder auch zukünftige Generationen oder schließlich auch jene angeblich existenten sozialen Ganzheiten, von denen der methodologische Kollektivismus auszugehen pflegt.

Die Rede vom Spätkapitalismus impliziert aber noch eine weitere Vorstellung, daß nämlich das so gekennzeichnete Wirtschafts-und Gesellschaftssystem sich gegenwärtig in der Phase einer krisenhaften Zuspitzung und des Übergangs in eine neue Ordnung befinde. Dieser Idee verleiht z. B. Dutschke Ausdruck, wenn er die Meinung vertritt, mit dem Ausgang des Zweiten Weltkrieges sei der soge-nannte Kapitalismus in die Phase des Niedergangs eingetreten. Speziell für die Bundesrepublik Deutschland prophezeit er das Ende ihrer „ökonomischen Rekonstruktionsperiode", und er sieht in der 1966 geschlossenen CDU-SPD-Koalition einen letzten verzweifelten Versuch der „herrschenden Oligarchien", die strukturellen Schwierigkeiten des Systems zu lösen. Der Zerfall des kapitalistischen Systems aber soll gleichzeitig begleitet sein von der Fleraufkunft einer „neuen Gesellschaft", dem „neuen Menschen des 21. Jahrhunderts", der das Ergebnis eines „langen und schmerzlichen Kampfes", eines schnellen Auf und Ab der Bewegungen ist, so daß die Gegenwart als „kulturrevolutionäre Übergangsphase" aufgefaßt werden kann. Anders ausgedrückt: Die Zukunft ist in die Gegenwart und Vergangenheit gleichsam eingeschachtelt, und es gilt den „richtigen Kurs (zu) beschleunigen", um die „Befreiung des Menschen von den unbegriffenen und unkontrollierten Mächten der Gesellschaft und der Natur“ zu erreichen und „Verhältnisse einzuführen, unter denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressive Arbeit führen können".

Die Idee, daß sich historische Ereignisse in den Bahnen von Zerfall einer alten und Heraufkunft einer neuen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung vollziehen, gehört zu jenen Denkschemata, die in der Geschichtsphilosophie stets eine besondere Rolle gespielt haben. Man findet sie z. B. in Dreistadiengesetzen, die Früh-, Hoch-und Spätepochen oder bestimmte Entwicklungszyklen behaupten, in Entwicklungstheorien, die entweder mit dem optimistischen Bild des Aufstiegs aus primitiven Ursprüngen zu immer höheren Formen operieren, oder die sich der umgekehrten Perspektive bedienen, des Abstiegs aus dem goldenen Zeitalter in eine Verfallssituation. Die Annahme historischer Gesetzmäßigkeiten tritt in der Geschichte der ökonomischen Theorien bei Richtungen auf, die in ihren übrigen Meinungen und politischen Überzeugungen soweit auseinandergehen wie die Konzeptionen der ökonomischen Klassik und der Historischen Schule, die des wissenschaftlichen Sozialismus und der Historischen Schule (Katheder-sozialisten); ihrer bedienen sich ferner Geschichtsphilosophen wie Hegel, Comte, J. St. Mill, Spencer oder Toynbee. Der bei weitem einflußreichste Versuch mit dem Modell zu arbeiten, daß der Ablauf der Wirtschaft und darüber hinaus der Menschheitsgeschichte einen Ursprung hat und auf ein Endstadium ausgerichtet ist, aber stammt von Karl Marx, dessen wissenschaftliches Programm die „Enthüllung des ökonomischen Bewegungsgesetzes der modernen Gesellschaft" war, und der wie viele seiner Zeitgenossen glaubte, diese in einem Dreistadiengesetz gefunden zu haben, der Stufenfolge von Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus.

Worin liegt nun die Problematik entwicklungstheoretischer Vorstellungen, wie sie sich im Begriff „Spätkapitalismus" niederschlagen? Die Mängel sind dreifacher Art: — sie liefern erstens faktisch keine zutreffenden Beschreibungen, — sie führen zweitens zu methodologisch problematischen Strategien und — sie sind drittens offen für die politisch-ideologische Verwendung im Dienst sehr verschiedener Zielsetzungen. 1. Geschichtstheoretische Entwicklungsideen in ihren verschiedenen Spielarten — seien sie nun marxistischer oder „bürgerlicher" Herkunft — wirken auf den ersten Blick vor allem dadurch, daß sie es scheinbar erlauben, eine äußerst genaue Gegenwartsanalyse zu betreiben, zu erklären, wie es zu der gegenwärtigen Situation kommen „mußte", und schließlich die Richtung anzugeben, wohin der Weg führt. Dutschkes Deutung der deutschen Sozialgeschichte der letzten hundert Jahre läßt sich hierzu ebenso heranziehen wie Toynbees Lehre von der Entwicklung und Abfolge der Kultursysteme. Unterstellt man einmal vorläufig, es sei wissenschaftlich vertretbar, mit derartigen Entwicklungsschemata zu operieren, so ist die Frage am Platz, ob sie zutreffende Deskriptionen, Erklärungen und Prognosen liefern. Die Antwort ist negativ; zahlreiche historische, soziologische und ökonomische Untersuchungen haben gezeigt, daß sie weder zutreffende Beschreibungen oder Erklärungen der Vergangenheit noch richtige Voraussagen der Zukunft liefern. 2. Hiergegen gibt es jedoch seitens der Verfechter geschichtstheoretischer Anschauungen eine häufig angewandte Strategie, die zwar im Endergebnis auf eine inhaltliche Entleerung der aufgestellten Behauptungen hinausläuft, aber trotzdem — oder besser: gerade deswegen — häufig verwendet wird. Sie besteht kurz gesagt darin, daß man neue Phasen in das Entwicklungsschema einführt bzw. Adhoc-Adaptionen im Lichte widersprechender Tatsachen vornimmt. Dieses Vorgehen ließe sich zwar mit dem Argument verteidigen, daß man gescheiterte Theorien durch bessere ersetzen soll, seine praktische Funktion ist jedoch häufig nicht die Verbesserung der Theorie, sondern ihre Immunisierung gegen faktische Einwände

Der bekannteste Versuch, eine neue Phase in das Entwicklungsschema Marx'einzuführen, unternahmen die älteren Imperialismustheoretiker, die das Ausbleiben des von Marx zu seinen Lebzeiten erwarteten Zusammenbruchs des Kapitalismus durch die Einfügung einer Zwischenstufe, des Imperialismus, zu erklären versuchten. Dabei legten sie größten Wert darauf, darunter eine zeitlich begrenzte historische „Phase", nicht aber das Ergebnis einer bewußten „Politik" zu verstehen. Dieses Verfahren läßt sich, wie die gegenwärtige Diskussion zeigt, beliebig fortsetzen, indem man als weitere Zwischenstufen oder Phasen etwa die spätkapitalistische oder die neokolonialistische einschiebt und neue „Kapitalismen" kreiert wie den Vergeudungskapitalismus (Kozlik), den „Stamok" (staatsmonopolitischer Ka-pitalismus, Reinhold) oder schlicht vom Neokapitalismus (Gorz) spricht.

Der Vorteil dieses Vorgehens scheint darin zu liegen, daß man nicht gezwungen wird, die Behauptung von den unüberwindbaren Grund-widersprüchen des „Kapitalismus", die sein Scheitern letztlich hervorrufen sollen, revidieren zu müssen. Tatsächlich handelt es sich jedoch um einen Pyrrhussieg; sein Preis ist die inhaltliche Entleerung des Aussagensystems denn durch das Festhalten an einem Entwicklungsschema angesichts widersprechender Tatsachen gerät man in ein Dilemma. Man ist entweder gezwungen, zu dem methodologisch unbefriedigenden Verfahren, Widersprüche mit der Realität durch Ad-hoc-Hypothesen hinwegzuerklären, Zuflucht zu nehmen, oder aber man muß die Theorie so umkonstruieren, daß sie mit den jeweils bekannten Fakten prinzipiell nicht in Konflikt geraten kann. Besonders deutlich kommt diese zweite Strategie bei Sweezy zum Ausdruck. Er vertritt die Auffassung, daß der sogenannte Kapitalismus zwar zeitweilig vor dem Zerfall durch systemstabilisierende Maßnahmen „gerettet" werden kann, gleichzeitig hält er aber am Zwangscharakter des Entwicklungsgesetzes fest; um sich jedoch vor der Widerlegung durch die Tatsachen zu schützen, immunisiert er seine Position durch den Hinweis, daß sich der Übergang zum Sozialismus „sehr wohl lang ausgedehnt und stufenweise vollziehen, und . .. viele Phasen durchlaufen (kann), die sich betont voneinander unterscheiden" In dieser Form ist die Große Idee vom zwangsläufigen Zerfall des „Kapitalismus" mit jedem beliebigen Sachverhalt vereinbar. Jedes widersprechende Ereignis kann als eine der vielen „Phasen" auf dem Weg, als vorübergehender Zustand, als „nicht zu umgehende . Niederlage'" (Dutschke) aufgefaßt werden. Die inhaltliche Entleerung eines Aussagensystems aber bedeutet den Verlust seines empirisch-wissenschaftlichen Charakters Damit erweisen sich Entwicklungsschemata gleichzeitig für die Fundierung einer rationalen Politik, die auf empirischen und überprüfbaren sozialen Gesetzmäßigkeiten aufbaut, als unbrauchbar. Es verbleibt jedoch ihre ideologische Verwendbarkeit zur Verhaltenssteuerung. 3. Der Kampf um eine Neue Gesellschaft vermag, wie das Beispiel der Bundesrepublik zeigt, starke emotionale Kräfte zu aktivieren. Man war der Auffassung, daß es darum ginge, einer „repressiven Ordnung" den Gehorsam aufzukündigen, den „manifesten Terrorismus der Klassenherrschaft des Spätkapitalismus" durchbrechen zu sollen, die „zunehmende Irrationalität des Ganzen" zu dekuvrieren und durch die „Durchbrechung der Spielregeln der herrschenden kapitalistischen Ordnung" zur „manifesten Entlarvung des Systems als . Diktatur der Gewalt'" zu gelangen. Jene, die sich als die revolutionäre Avantgarde einer neuen Zeit, als Repräsentanten des „fortgeschrittensten Bewußtseins der Menschen" fühlten, waren der Meinung, daß man den „langen Weg durch die Institutionen" (Dutschke) nach einem sorgfältigen Studium und einer kritischen Rezeption der Marxschen Theorie und auf der Grundlage der Dialektik als kritischer Methode eingeschlagen habe. Sollten aber nicht Ad-hoc-Theorien und Immunisierungsstrategien für Intellektuelle so leicht durchschaubar sein, daß sie kaum als geistiges Fundament von Massenaktionen, an denen sie sich führend beteiligen, taugen?

In diesem Zusammenhang muß man jedoch die starke motivschaffende Wirkung von Geschichtsphilosophien und Entwicklungsgesetzen beachten. Sie gestatten es, nicht nur den Eindruck zu, erwecken, sondern sich auch der Selbsttäuschung hinzugeben, man handele in Übereinstimmung mit objektiven Sachverhalten, einer unabhängigen Geschichtstendenz, die von eigenen Absichten, Aspirationen und Interessen anscheinend völlig unabhängig ist Wie Topitsch bemerkt, gibt die konditionale Vorhersage, „wenn wir die äußersten Anstrengungen machen, dann werden wir siegen", weniger Zuversicht und innere Sicherheit als die apodiktische „wir werden mit eherner Notwendigkeit siegen" Im Rahmen motivationeller Prozesse kommt den Entwicklungsschemata in der politischen Praxis gerade jene Eigenschaft zugute, die vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt ihre eigentliche Schwäche darstellt, nämlich ihre Unbestimmtheit, Vagheit und Inhaltslosigkeit Diese gestattet es, sie ebenso in den Dienst von Rechtfertigungsideologien der Herrschenden als auch in den Dienst revolutionärer Bestrebungen zu stellen; so können sich auf die marxistische Variante des Geschichtsgesetzes sowohl die Vertreter der Orthodoxie in östlichen Ländern als auch südamerikanische Revolutionäre berufen. Durch entsprechende Uminterpretationen oder geeignete Auswahl einer inhaltlich möglichst unbestimmten Version kann man sie in jeder Situation verwenden. Man kann auf ihnen Adhoc-Erklärungen aufbauen, eine Teilung aller Ereignisse in positive, die vermeintliche Geschichtstendenz verstärkende, und in negative, d. h. zeitweilige Abweichungen, „momentane Unterbrechungen", „notwendige" Rückschläge vornehmen, ohne daß man sich zu dem Entschluß durchringen muß, die Ausgangsposition, das Geschichtsgesetz, sei unhaltbar. Bei den Gefährten kann man so das Gefühl vermeiden, ihre Führer seien ratlos, sie handelten womöglich aufgrund eigener Entscheidungen und nicht als Erfüllungsgehilfen historischer Tendenzen Gerade die marxistische Position eröffnet diese Möglichkeit, denn sie will ja nicht nur Motivationen durchschauen, also Ideologiekritik betreiben, sondern zugleich motivieren, d. h. Ideologie sein oder wie Marx in seiner 11. These gegen Feuerbach zum Ausdruck bringt, nicht nur die Welt interpretieren, sondern sie auch verändern.

Die politisch-ideologische Funktion geschichtsphilosophischer Konzeptionen läßt sich an der Verwendung des Begriffes Spätkapitalismus durch die „Neue Linke" exemplifizieren „Spätkapitalismus" ist ja nicht nur ein Begriff zur Kennzeichnung einer historischen Phase im Rahmen eines Entwicklungsschemas, sondern gleichzeitig auch ein Appell, eine bestimmte wertende Einstellung zu übernehmen.

Er soll den Adressaten veranlassen, alles zu unterlassen, was den zum Untergang verurteilten und negativ bewerteten Zustand stabilisieren könnte und möglichst Aktivitäten in Richtung auf die Unterstützung der vermeintlich unabhängigen Geschichtstendenz erzeugen. Das Handeln soll so wiederum die Gültigkeit des zuvor postulierten Geschichtsgesetzes beweisen.

Der skizzierten ideologiekritischen Argumentation könnte man H. Marcuses Position entgegenhalten. Nach seiner Auffassung ist es logisch möglich, am Begriff „objektiver historischer Gesetze" festzuhalten und gleichzeitig den teleologischen Charakter der Geschichtsgesetze, die Vorstellung, daß die Geschichte einen Sinn hat, auf den sie sich zubewegt, zu leugnen. Mit seinen Worten: „Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten" Der Vorwurf der motivationeilen Verwendung geschichtstheoretischer Modelle scheint hier ungerechtfertigt. Tatsächlich trifft dieser Einwand jedoch dann nicht zu, wenn man die von Habermas vertretene Interpretation seiner Ansichten heranzieht. Danach entgeht nämlich H. Marcuse der aus seiner Position folgenden „resignativen Enthaltsamkeit gegenüber der Praxis" durch seine Theorie des Spätkapitalismus, in dem an die Stelle der revolutionären Klasse der spontane Protest des einzelnen tritt, der sich mit den Entrechteten und Pauperisierten verbündet Damit wird zwar dem aus der Marxschen Geschichtstheorie folgenden Glauben an die historische Aufgabe der Arbeiterschaft eine Absage erteilt, gleichzeitig jedoch einer neuen sozialen Gruppe eine Motivation für ihr Handeln zu schaffen versucht. Nicht die geschichtsphilosophische Theorie der Avantgarde wird aufgegeben, sondern lediglich ihr Subjekt ausgewechselt. Die Konstruktion von weiteren Theorien des Kapitalismus auf der Basis geschichtstheoretischer Gesetze läßt sich beliebig fortführen und damit — gewollt oder ungewollt — auch ein scheinbar festes Fundament für politisches Handeln liefern. Die faktischen, methodologischen und ideologiekritischen Einwände lassen es jedoch geraten erscheinen, den gesamten Ansatz in Frage zu stellen.

Die These vom repressiven Charakter des „kapitalistischen" Wirtschafts-und Gesellschaftssytems

Marx’ Theorie vom Zerfall des Kapitalismus über eine Kette sich verschärfender ökonomischer Krisen und seinen Umschlag in den Sozialismus hat bekanntlich bei seinen Nachfolgern zu einer Fülle von enttäuschten Erwartungen geführt. Trotz zahlreicher konjunktureller Krisen hat sich die Entwicklung nicht in den von Marx prognostizierten Bahnen vollzogen. Erfolgreiche Revolutionen im Namen des Sozialismus, wie etwa in Rußland, waren nicht die Konsequenz ökonomischer Zusammenbrüche des „kapitalistischen Systems", sondern Folge äußerer militärischer Auseinandersetzungen und lassen sich, wie die Diskussionen der zwanziger Jahre zeigen, kaum mit dem Marxschen Entwicklungsschema erklären.

Der Nichteintritt der Prognose hat bei marxistischen Ökonomen eine umfangreiche Kontroverse erzeugt über die Frage, ob der „Kapitalismus" stabilisierungsfähig sei oder nicht. In ihr werden zwei Positionen vertreten: die These von der prinzipiellen Instabilität, die auch heute noch von orthodoxen Richtungen verfochten wird, und die entgegengesetzte Behauptung, die bereits in den zwanziger Jahren von Varga vertreten wurde. Während die erstere Richtung permanent nach Erklärungen für das Weiterbestehen „kapitalistischer" Wirtschaftsordnungen suchen muß, gibt die letztere einen wesentlichen Bestandteil des Marxschen Argumentes auf.

In der „Neuen Linken" ist diese Diskussion wieder virulent. Es läßt sich jedoch eine Akzentverschiebung in der Argumentation feststellen. Während Marx den Zerfall mit natur-gesetzlicher Notwendigkeit behauptet wird jetzt, anscheinend unter dem Eindruck des trotz konjunktureller Rückschläge säkula-ren wirtschaftlichen Wachstums, eine andere Position bezogen: „Kapitalistische" Volkswirtschaften lassen sich zwar stabilisieren durch Rüstungsausgaben, verschwenderische Produktion (Werbung, Weltraumforschung, Entwicklungshilfe), wirtschaftspolitische Maßnahmen oder Beschleunigung des technischen Fortschritts; die „kapitalistische" Ordnung als solche ist jedoch moralisch zu verurteilen, weil sie repressiv ist. Anders als bei Marx, der die Auffassung vertrat, daß das kapitalistische System sich selbst widerspreche und zerstöre und selbst die Kräfte freisetze, welche die nächste historische Periode, den Sozialismus, hervorbringen, wird hier das politische Postulat aufgestellt, daß dieses System abgeschafft werden muß, auch dann, wenn einer seiner Hauptmängel, die ökonomische Instabilität, beseitigt werden kann.

Diese Position ist vom Standpunkt einer rationalen Politik nur verständlich, wenn man die Meinung vertritt, daß alle Mittel der Stabilisierung moralisch verwerflich sind. Ist das nicht der Fall und existieren moralisch zulässige Mittel (etwa Arbeitslosenversicherung, konjunkturpolitische Programme), so ist nicht einzusehen, warum bestimmte Institutionen, die eine erfolgreiche Lösung sozialer Probleme zulassen, zerstört werden sollen. Es bedarf daher einer genaueren Analyse des Repressionsargumentes, wobei sich zeigen wird, daß es zweideutig ist. Eine Version weist eine große Ähnlichkeit zur Verschwörungstheorie der Gesellschaft auf, die andere hat Strukturähnlichkeiten mit der Wissenssoziologie Mannheimscher Prägung.

Die verschwörungstheoretische Variante findet sich in Marcuses Lehre von den neuen Formen der Kontrolle in der Gesellschaft, die sich nicht länger auf physischen Zwang gründen, sondern Folge einer quasi freiwilligen Koordinierung im Rahmen einer „nicht-terroristischen ökonomisch-technischen Gleichschaltung (sind), die sich in der Manipulation von Bedürfnissen durch althergebrachte Interessen geltend macht"

Die neuen Kontrollmöglichkeiten seien aber in ihrem „wahren" Charakter ebenso totalitär wie die alten und würden im Interesse der jeweils Herrschenden ausgeübt. Als Begründung wird angeführt, die menschlichen Bedürfnisse seien nicht autonom, sondern „sozial präformiert" in dem Sinne, daß sie gesellschaftlichen Institutionen ausgeliefert sind und damit denjenigen, die diese kontrollieren. Dieses Repressionsmodell setzt also voraus, daß es eine genau bestimmbare Schicht oder Gruppe gibt, in deren Interesse die Manipulation ausgeübt wird. Die Herrschenden müssen ferner über die notwendigen Machtmittel verfügen, um ihren Willen erfolgreich durchzusetzen und sich den Rest der Gesellschaft unterwerfen zu können. In einem Zwei-Klassen-modell sind Träger und Mittel der Manipulation schnell zu finden. Es sind die Besitzer der Produktionsmittel und die vielfältigen Formen der Reklame.

Diese Deutung des Repressionsargumentes steht jedoch im Widerstreit mit seiner zweiten Variante. Danach ist die Manipulation nicht das Ergebnis bewußter Handlungen der Herrschenden, sondern Ausfluß der technisch-wissenschaftlichen Organisation von Produktionsprozessen in der fortgeschrittenen industriellen Zivilisation. In dieser soll sich in Form einer „Komplicenschaft" zwischen den ehemals antagonistischen Klassen eine weitgehende Integration vollzogen haben, die von dem gemeinsamen Interesse an der Erhaltung des Produktionsapparates getragen wird. „Ein sich über alles hinwegsetzendes Interesse an der Erhaltung und Verbesserung des institutioneilen Status quo vereinigt die früheren Antagonisten in den fortgeschrittensten Bereichen der Gesellschaft" Der Produktionsapparat aber soll, wie bei Marx, eine Eigendynamik entwickeln, die vom Willen der Menschen unabhängig ist; denn „der Apparat erlegt der Arbeitszeit und der Freizeit, der materiellen und der geistigen Kultur, die ökonomischen wie politischen Erfordernisse seiner Verteidigung und Expansion auf" Er verselbständigt sich und tendiert dazu, „in dem Maße totalitär zu werden, wie er nicht nur die gesellschaftlich notwendigen Betätigungen, Fertigkeiten und Haltungen bestimmt, sondern auch die individuellen Bedürfnisse und Wünsche" Repression und Manipulation sind somit nicht mehr Handlungen im Dienste der Herrschenden, sie werden vielmehr total, niemand kann sich ihnen entziehen. Sie umfassen alle Lebensbereiche, die Politik, die Sprache, die Kommunikationsmittel, die Logik, das Denken, die Philosophie und die empirischen Wissenschaften. Die Manipulation soll schließlich so perfekt sein, daß sie den Individuen als „Objekten totaler Verwaltung" nicht einmal bewußt wird.

Die Frage, ob beide Versionen des Repressionsargumentes miteinander kompatibel sind oder nicht, ist für die weitere Diskussion von geringerer Bedeutung. Wichtiger ist vielmehr, ob die eine oder die andere oder keine Variante einer Prüfung standhält.

Analysiert man die verschwörungstheoretische Fassung, so läßt sich anmerken, daß sie im Grund an das Marxsche Klassenkampfmodell in seiner Leninschen Abwandlung anknüpft. Lenin behauptet ja in seiner Bestechungstheorie der Arbeiterschaft, daß die Nichterfüllung der Marxschen Prognosen damit zu erklären sei, daß sich eine Spaltung der Arbeiterklasse in ein „eigentliches Proletariat" und ein „verbürgerlichtes Proletariat" mittels einer bewußten Korruption der Arbeiterklasse seitens der Kapitalisten vollzogen habe In der Marcuseschen Version der Theorie wird diese Bestechung offenbar raffinierter, gründlicher und erfolgreicher durchgeführt, auch die „eigentliche proletarische Unterschicht" fällt ihr zum Opfer. Aber ist diese Analyse wirklich zutreffend? Erfüllen „Wahlen" und „Märkte", die ja als nichtautoritäre Koordinationsmechanismen für politische und ökonomische Entscheidungen entworfen sind so wenig ihre selbstgesetzten Ziele?

Diese Fragen lassen sich natürlich nicht ohne Prüfung der realen Sachverhalte entscheiden. Immerhin läßt sich anführen, daß „Märkte" und „Wahlen" von ihrer Konstruktionsidee her gesehen gegen die Durchsetzung einseitiger Herrschaftsinteressen gerichtet sind. Der Wettbewerb der Parteien und Produzenten um die Wähler-und „Geld" -Stimmen wird ja in der Absicht veranstaltet, eine erhebliche Immunisierung gegen einseitige Beeinflussung zu erzeugen. Man ist der Meinung, daß es um so schwerer wird, Konsumenten und Wähler zur Realisierung eines gewünschten Verhal-tens zu bewegen, je intensiver der Wettbewerb und je größer die Zahl der politischen und ökonomischen Wahlmöglichkeiten ist. Man behauptet daher auch, daß es — im Gegensatz zu totalitären Gesellschaften, welche die Konkurrenz der Meinungen, Ideen, Parteien und meist auch der Güter nicht zulassen — in dezentral organisierten Wirtschafts-und Gesellschaftssystemen nicht zur Dominanz einer Gruppe oder Klasse über alle übrigen kommt, solange die Spielregeln eingehalten werden.

Aber alle diese Annahmen könnten trügen, die Fakten ihnen widersprechen. Wenn es gelänge, diesen Nachweis vom Standpunkt der Repressionstheorie zu führen, so wäre damit ohne Zweifel ein großer wissenschaftlicher Fortschritt erzielt. Dieser Konfrontation, die, sofern sie mißlingt, Argumente gegen das Repressionsmodell liefern würde, weicht man jedoch dadurch aus, daß man die zweite Version ins Spiel bringt, die Behauptung, daß die Repression total sei, also von Zweiflern möglicherweise nicht einmal erkannt werden kann

Dieses Argument weist eine große Strukturähnlichkeit zu den Auffassungen jener Wissenssoziologen auf, die sich als zeitgenössische Variante des Solipsismus der Vorstellung einer Totalideologie bedienen. Es führt seine Verfechter aber in eine Schwierigkeit hinein, denn sie müssen darlegen, wie denn überhaupt Repression erkannt werden (bzw. wie man sich vom totalen Ideologieverdacht befreien) kann. Die hier vorgeschlagenen Lösungen weisen eine bei näherem Hinsehen kaum überraschende Verwandtschaft auf. In beiden Fällen gelangt man zu einer Elitetheorie der Wahrheit. Danach gibt es eine soziale Gruppe, die aufgrund besonderer Voraussetzungen in der Lage ist, sich aus den Verstrickungen der Ideologie bzw.der Repression zu lösen. In der Wissenssoziologie von K. Mannheim ist es eine freischwebende Intelligenzschicht, die nur lose mit den sozialen Traditionen verankert ist und die dadurch die Fähigkeit gewinnt, die geheimen Beweggründe der übrigen Total

Ideologien zu durchschauen und zu entlarven Im Repressionsmodell der Gesellschaft wird die gleiche Rolle entweder von einigen wenigen wahrgenommen, die die Barriere des „eindimensionalen Denkens" durchbrechen, oder von jenen Gruppen, die in der „gesamtgesellschaftlichen Reproduktion soziologisch eine Zwischenlage" einnehmen und über eine „temporäre Subversivstellung" verfügen — d. h.der linken Intelligenz oder einigen ihrer Untergruppen. Ihren Angehörigen ist ein „intellektuelles Durchschauen der gesellschaftlichen Mechanismen der Herrschaft" und damit die Befreiung aus der „organisierten Repression" nicht zuletzt durch fortwährende Selbstkritik möglich.

Diese Position liefert eine bequeme Basis, andere Auffassungen zu „durchleuchten" oder abzuqualifizieren, vermittelt sie doch den Angehörigen der jeweiligen wahrheitsfähigen Eliten das angenehme Gefühl, die aufgeblasenen „Charaktermasken" in Politik und Wirtschaft zu durchschauen, die wahren Beweggründe ihres Handelns zu erkennen und den Unwissenden das richtige Bewußtsein zu vermitteln Tatsächlich jedoch zerstört sie die rationale Basis der Diskussion genauso wie die Wissenssoziologie von Mannheim und führt wie jene zum Irrationalismus

Die Vorstellung, daß nur die Träger des „fortgeschrittensten Bewußtseins" in der Lage sind, die Repression und Manipulation zu durchschauen, enthält einen unbedingten Wahrheitsanspruch im Hinblick auf die von jenen formulierten Aussagen. Gleichzeitig impliziert sie eine radikale Ablehnung aller kritischen Einwände, sofern sie von Andersdenken, „Rechten", „Konservativen" oder „Reaktionären", kommen.

Die Wahrheit einer Aussage, Behauptung oder Theorie aber kann niemals damit begründet werden, daß sie auf den Auffassungen einer Gruppe oder Gemeinschaft beruht, sondern nur dadurch, daß sie dem Prozeß der kritischen Prüfung ausgesetzt wird, in dem alle rationalen Argumente zugelassen sind. Weder der soziale Standort noch die Herkunft, weder die soziale Zugehörigkeit noch die intellektuelle Position aber sind ein Argument für oder gegen eine Ansicht, die im Prozeß der kritischen Erörterungen vorgebracht wird. Es zählt nur die Qualität eines Argumentes, gemessen an den kritischen Standards der Wissenschaft, d. h. vor allem der logischen Konsistenz und der Vereinbarkeit mit den Fakten.

Das Repressionsargument in seiner obigen Form aber erfüllt diese Ansprüche nicht. Die ihm zugrunde liegende Elitetheorie der Wahrheit ist eher der späte Nachfahre einer schon vielfach kritisierten erkenntnistheoretischen Auffassung, der sogenannten Manifestationstheorie der Wahrheit nach der die Dignität der Autorität, von der eine bestimmte Aussage abgeleitet wird, die Wahrheit garantiert. Die Rolle der obersten Instanzen können nicht nur Offenbarungen, Erleuchtungen oder höheres Bewußtsein einnehmen, sondern ebenso die intellektuelle Einsicht (Rationalismus) oder die Erfahrung (naiver Empirismus) — oder, wie man anfügen kann, eine Gruppe, eine Klasse, eine Partei, eine Rasse oder gar ein Rat von Weisen. Die Wahrheit einer Aussage aber ist niemals dadurch zu erhärten, daß man sie auf letzte Autoritäten stützt, sondern nur dadurch, daß sie der Kritik vorläufig erfolgreich widerstanden hat.

Die Verwandtschaft des Repressionsmodells zur Mannheimschen Wissenssoziologie und zur Manifestationstheorie macht es kaum noch verwunderlich, daß auch weitere methodische Konsequenzen dieser Denkansätze in Verbindung mit ihm auftreten: die Intoleranz gegenüber anderen Auffassungen, die radikale Verurteilung abweichender Standpunkte und die Diffamierung von Opponenten — Konsequenzen, für die dogmatisches Denken, auch wenn es sich selbst antiautoritär versteht, anfällig ist.

Die radikale Alternative

Wenn man unter rationaler Politik die Entwicklung von Problemlösungen für die Beseitigung von sozialen Mißständen versteht, dann besteht eine der wichtigsten Aufgaben der Auseinandersetzung mit einer Position in der kritischen Prüfung der vorgeschlagenen Alternative. Postuliert man eine „qualitative Änderung", so bedarf ihre Realisierung zweier Schritte, die Organisation der Phase des Über-gangs und die Gestaltung der Neuen Ordnung. Die Erörterungen über den ersten Schritt finden ihren Niederschlag in den Diskussionen über die Methoden des revolutionären Wandels der Gesellschaft, in den kulturrevolutionären Programmen mit ihrer Forderung zur Erziehung des „neuen Menschen" und der Aufforderung, sich quasi in einem Akt der Selbst-reinigung von der „eigenen autoritären Charakterstruktur" zu befreien, ferner in den Diskussionen über die Rolle der Gewaltanwendung und die Entwicklung des revolutionären Bewußtseins und schließlich in der Frage nach den Trägern der sozialen Umwandlung. Das dialektische Denken, die Marcusesche Idee von der Macht der Negation, führt hier manchmal zu rational nicht mehr nachvollziehbaren Vorstellungen

Ziel des ersten Schrittes muß es sein, die politische Macht zu erlangen, Beamtenschaft und Militär als „unproduktive und parasitäre Gruppen" in der revolutionären Umwälzung als „Gewaltorganisationen der herrschenden Klasse" schnell aufzulösen und zu zerschlagen und Sicherungen gegen eine „kapitalistische Konterrevolution" zu ergreifen. Auf dieser Basis ist dann die Neue Ordnung zu realisieren, sind die Bedingungen festzulegen, nach denen politische und ökonomische Prozesse ablaufen sollen. Damit erlangt die Frage nach den Methoden, mit denen diese Probleme gelöst werden sollen, entscheidende Bedeutung. Die Antworten schwanken zwischen Agnostizismus und Utopismus und verfehlen die eigentliche Aufgabe. So wird die Schaffung einer „sozialistischen Welt, ohne Ausbeutung des Menschen und ohne Krieg", und die Herstellung von Verhältnissen, unter denen „die Menschen ein schöpferisches Leben ohne . . . repressive Arbeit" führen können oder ein „befriedetes Dasein", in dem die „freie Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und Anlagen" gewährleistet ist gefordert. Diese Postulate, von denen man sagen kann, daß sie die meisten Menschen ohne Einschränkung akzeptieren, sind inhaltsleer, solange man nicht angibt, mit welchen Mitteln man die Freiheit der Menschen sichern, wie man sie gegen Ausbeutung, Unterdrükkung, Krieg und Hunger schützen, wie man die „Befriedung des Daseins" garantieren, wie man gegensätzlichen Interessen und politischen Haltungen, die voraussichtlich jede gesellschaftliche Organisationsform hervorbringt,. Rechnung tragen will. Eine soziale Revolution ist keine Garantie für die Herstellung des ersehnten Zustandes; ebensowenig schützt der gute Wille der Revolutionäre davor, daß die Ergebnisse ihres Handelns neue Unterdrü£kung, neue Kriege und neues menschliches Elend sind

Man kann der für eine rationale Politik fundamentalen Frage nach der institutioneilen Kontrolle der Macht ausweichen, indem man vorgibt, daß nur im „praktischen Kampf, in der ständigen Vermittlung von Reflexion und Aktion, von Praxis und Theorie" von der „revolutionären Wissenschaft" eine Konzeption erarbeitet werden kann. Diese Position übersieht bei aller scheinbaren Bereitschaft, aus der unmittelbaren Erfahrung zu lernen, daß eine rationale Befassung mit der Politik nicht von einem Tabula-rasa-Standpunkt ausgehen kann. Die Konstruktion neuer institutioneller Lösungen zur Verbesserung der Bedingungen des menschlichen Lebens verlangt nicht nur die genaue Analyse des Problems, sondern setzt auch die Kenntnis der propagierten und bereits praktizierten Problemlösungen und die Kenntnis der Bedingungen ihres Funktionierens oder Scheiterns voraus. Erst auf diesem Hintergrund lassen sich rationale Vorschläge entwickeln, die keine alten Fehler wiederholen und der vorliegenden Erfahrung Rechnung tragen. Angesichts ihrer existentiellen Bedeutung für die Betroffenen aber müssen sie — und das ist eine weitere Bedingung einer wissenschaftlichen Einstellung zur Politik — der Kritik, der Diskussion und Revision unterworfen werden. Der kompromißlose Radikalismus, die totale Ablehnung des Bestehenden, und das Ausweichen vor der Frage, wie Verbesserungen in einer konkreten historischen Situation unter Beachtung der bekannten sozialen Gesetzmäßigkeiten erzielt werden können, sind daher kein Weg, um soziale Fortschritte zu erzielen

Diese Einwände gelten im Grundsatz nicht hinsichtlich jener Versuche, die eine Skizze wenigstens einiger Institutionen der „befriedeten Gesellschaft" bieten. So schlägt H. Marcuse zwar dialektisch-widersprüchlich — („die dialektische Theorie .. . kann kein Heilmittel bieten, [sie] kann nicht positiv sein") — und mit mannigfachen Kautelen versehen für das „befriedete Dasein" u. a. vor — die zentralisierte Kontrolle von Produktion und Verteilung — die „erzieherische Diktatur" für Entwicklungsländer und — die „Neubestimmung der Bedürfnisse" Diese Vorschläge muten angesichts des radikalen Charakters der zugrunde liegenden Position dürftig an. Sie geben gleichzeitig einen Hinweis darauf, daß es so etwas wie eine „qualitative Änderung" der Gesellschaft als Ganzes, in der alles anders gemacht wird, nicht gibt. Es kann sich in Wahrheit stets nur um die Änderung einiger Institutionen, nicht aber um eine totale Neuschöpfung handeln. Darüber hinaus zeigt der obige Katalog, daß die gewollte radikale Umformung der Gesellschaft sich als Rückgriff auf Maßnahmen und Institutionen entlarvt, die vom Standpunkt der Humanisierung des menschlichen Lebens höchst problematisch erscheinen und die man angesichts der vorliegenden Erfahrungen kaum als ingeniöse Erfindungen bezeichnen kann. Einige Bemerkungen mögen das verdeutlichen.

So bedeutet eine zentralisierte Wirtschaftsplanung nicht nur eine direkte Kontrolle der produzierten und konsumierten Mengen und eine Einschränkung der freien Konsumwahl — ein anonymer Beamter kann z. B. darüber entscheiden, ob und für was der einzelne Devisen ausgeben darf, wohin er reist, wo er sich aufhält —, sondern sie birgt die Gefahr, darüber hinaus auch zur zwangsweisen Einweisung in Berufe und Tätigkeiten zu führen. Ferner erzeugen Systeme direkter quantitativer Kontrolle durchweg Cliquenwirtschaft und Korruption, da sie das Entstehen sogenannter schwarzer und grauer Märkte fördern. Bei der dann meist unvermeidbaren Zuteilung von Bezugsscheinen und Lizenzen an einen Teil der Nachfrager legen sie ferner in die Hand weniger Personen außerordentliche Ermessensentscheide und begünstigen so das Entstehen neuer Abhängigkeitsverhältnisse. Die wirtschaftlichen Reformversuche in einigen Ostblockländern, die jetzt Gefahr laufen, als konterrevolutionär verurteilt zu werden, sind nicht zuletzt aus der Kritik an den Formen der sozialen Abhängigkeit, welche die zentrale Planung bedingt, erwachsen. Wie aber soll, wenn derartige Konsequenzen möglich sind, dann die „wahrhafte Selbstbestimmung der Individuen" gesichert werden? Der Vorschlag einer „Kontrolle von unten" 43a), der sich in einer konkreteren Fassung als Einführung eines Räte-Systems, in dem Betriebe und Organisationen durch Plenardiskussionen gelenkt werden, verstehen läßt, vermag vorerst kaum zu überzeugen. Er bedarf zunächst einer kritischen theoretischen Analyse, wenn man nicht dem verhängnisvollen idealistischen Glauben zum Opfer fallen will, daß soziale Institutionen stets so funktionieren, wie sie entworfen werden

Die gleichen Bedenken gelten in verstärktem Maß für die Erziehungsdiktatur, jene schon von den totalitären Gesellschaftstheoretikern des Altertums vorgeschlagene Herrschaftsform. Wie soll hier institutionell gesichert werden, daß die Erzieher die Sklaven wirklich „befähigen zu lernen, zu sehen und zu denken"? Die von H. Marcuse vorgetragene „einzig mögliche Entschuldigung (sie ist schwach genug!), . . . daß das schreckliche Risiko, das sie einschließt, nicht schrecklicher als dasjenige sein kann, das die großen liberalen wie autoritären Gesellschaften jetzt eingehen..." vermag — abgesehen von der in ihr enthaltenen Verteilung der Wertgewichte — denjenigen nicht zu überzeugen, der Marcuses Analyse nichtautoritärer Koordinationsmechanismen für unzutreffend hält. Sein Versuch, den Einsatz eines Mittels zu empfehlen, das auch von ihm selbst als höchst problematisch angesehen wird, zerstört ferner den aktivistischen Ansatz seiner Theorie des Spätkapitalismus, da aus dem Argument der fatalistische Schluß folgt, daß unter den Bedingungen der ökonomischen Unterentwicklung selbst bei „qualitativer Änderung" soziale Verbesserungen möglicherweise ausgeschlossen sind.

Die „Neubestimmung der Bedürfnisse" schließ-lieh, dargestellt am Beispiel der abrupten Abschaffung „aller Reklame und aller schulenden Informations-und Unterhaltungsmedien" würde, wenn sie realisierbar wäre, sicher, wie Marcuse richtig vermutet, zum Zerfall eines dezentralisierten Wirtschaftssystems über plötzlich einsetzende Massenarbeitslosigkeit, Einkommensausfälle und Produktionsschrumpfung führen. Die Frage ist nur, was kommt danach? Der Rückzug ins „einfache Leben" oder der Sprung „ins Reich der sozialistischen Armut", der in den vierziger Jahren angeblich den chinesischen Massen geglückt ist, die so zur „wirklichen Bedürfnisbefriedigung" fanden Jedoch, führte dieser Sprung nicht in Wahrheit zu Hunger, Elend, Massen-armut, blutiger Kulturrevolution und Verfolgung aller Andersdenkenden, aller Kritiker als Konterrevolutionäre, die man, wenn man sie nicht „bekehren" konnte, in grausamer Konsequenz des utopischen Programms liquidierte? Die von der „Neuen Linken" vorgeschlagenen Maßnahmen können nicht als rationaler Versuch zur Verbesserung sozialer und ökonomischer Bedingungen angesehen werden. Die „qualitative Änderung”, die soziale Revolutionierung bietet keine Gewähr, die selbstgeglaubten humanitären Ziele zu erreichen. Die Vorschläge verfehlen ihr eigentliches Problem: die Suche nach sozialen Mechanismen, die eine nichtautoritäre Koordination der Wünsche, Bedürfnisse und Entscheidungen von Individuen möglich machen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die Konzentration auf die Argumente erübrigt es, eine soziologische Identifikation der Gruppierungen voizunehmen, die man als „Neue Linke" bezeichnen kann. Die Kritik gilt selbstverständlich nicht Personen, sondern Argumenten, -zwischen beiden läßt sich sehr wohl unterscheiden.

  2. Siehe hierzu z. B. die Argumentation von K. Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. 2, 1. Hlb. 1921, S. 312 f., und die starke Betonung des Rationalitätsaspektes bei H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, 3. Auflage, Neuwied 1968.

  3. R. Dutschke, Die Widersprüche des Spätkapitalismus, die antiautoritären Studenten und ihr Verhältnis zur Dritten Welt, in: U. Bergmann, R. Dutschke, W. Lefevre, B. Rabehl, Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, Hamburg 1968, S. 61, 71, 81 f.

  4. Um nur ein Beispiel zu nennen: Marx’ dialektisches Schema sieht sich der Schwierigkeit gegenüber, daß der Feudalismus eine spezifisch europäische Erscheinung ist, die sich in asiatischen Kulturen nicht in gleicher oder entsprechender Form nachweisen läßt. Zur kritischen Analyse der verschiedenen „feudalistischen" Uminterpretationen der sogenannten asiatischen Gesellschaft unter dem Einfluß von Lenin und Stalin sowie den daraus resultieienden Folgen für das Marxsche Entwicklungsschema siehe K. A. Wittfogel, Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht, Köln und Berlin o. J. (1962), S. 470— 511.

  5. Zu den zahlreichen Behauptungen, daß der krisenhafte Umschwung des sogenannten Kapitalismus unmittelbar vor der Türe stehe - z. B. zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, zu Beginn und zum Ende der beiden Weltkriege, im Verlauf der Weltwirtschaftskrise - und den Reaktionen auf das Scheitern der Vorhersagen siehe die Studie von K. Shibata, Dynamic and Dialectic Theories of World Capitalism, Kyoto 1959, passim.

  6. Anmerkung des Herausgebers (Erwin K. Scheuch): Vgl. hierzu das Korrelat der Wissenschaftslehre, daß durch Ad-hoc-Zusatzannahmen jede Theorie gegen Widerlegungen immun wird. So konnte sich über Jahrhunderte hinweg die Ptolemäische Lehre gegenüber der Kopernikanisehen Lehre halten, indem bei jeder nicht mit der Ptolemäischen Theorie vereinbaren neuen Beobachtung flugs eine Zusatzannahme eingeführt wurde. Der Zusammenbruch der Ptolemäischen Lehre wurde weniger durch eine weitgehende Unvereinbarkeit mit Erfahrungstatsachen bewirkt als dadurch, daß sich schließlich der gleiche Satz an Beobachtungen viel einfacher mit der Kopernikanischen Vorstellung als mit der durch immer weitergehende Zusatzannahmen überkompliziert gewordenen Ptolemäischen Lehre erklären ließ.

  7. Zur methodologischen Kiitik derartiger Immunisierungsstrategien vgl. H. Albert (Hg.), Theorie und Realität, Tübingen 1964, S. 27 ff. — Derselbe, Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied o. J. (1967), passim.

  8. P. Sweezy, Theorie der kapitalistischen Entwicklung, Köln o. J. (1959), S. 172 ff., 278, 280.

  9. Damit sind die Möglichkeiten zur Kritik von Entwicklungsschemata keineswegs erschöpft. Wie K. R. Popper (Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965, S. 83 ff.) zeigt, braucht man sich nicht auf die Analyse ihres empirisch-wissenschaftlichen Charakters zu beschränken, man kann sie darüber hinaus unter den Gesichtspunkien der Methodologie der Sozialwissenschaften kritisch behandeln.

  10. E. Topitsch, Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, Neuwied o. J., 2. Auflage, 1966, S. 176 f. — Derselbe, über Leerformeln, in: Probleme der Wisserschaftstheorie. Festschrift für V. Kraft, hersg. von E. Topitsch, Wien 1960.

  11. Derselbe, Sozialphilosophie, a. a. O., S. 178.

  12. Ebenda, S. 293 ff.

  13. Vgl. ebenda, S. 153 ff.

  14. Ebenda, S. 153 f. und S. 295 f. — Siehe ferner H. Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, o. O. (Neuwied), o. J. (1964), S. 30.

  15. Um Mißverständnisse auszuschalten, sei an dieser Stelle ausdrücklich bemerkt, daß sich die Kritik nicht gegen das in der Geschichtswissenschaft angewendete Verfahren der Periodisierung (z. B. Altertum, Mittelalter, Neuzeit) wendet, sondern gegen den Versuch der Hypostasierung oder Personalisierung von methodischen Periodenbegriffen als soziale Wesenheiten mit Eigenleben.

  16. H. Maicuse, a. a. O., S. 268.

  17. J. Habermas (Hg.), Antworten an Herbert Marcuse. o. O., o. J. (Frankfurt a. M. 1968), S. 12 f.

  18. In den Vereinigten Staaten von Amerika z. B., wo die Konjunkturforschung am weitesten ausgebaut ist, zählt man in den letzten hundert Jahren sechs schwere Depressionen und siebzehn leichte Rezessionen. Bezogen auf den gesamten Zeitraum in der „fortgeschrittensten Volkswirtschaft" aber ist das Sozialprodukt mit jahresdurchschnittlich drei Prozent gewachsen.

  19. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, daß Dutschkes Behauptung, die Annahme „zeitlos gültiger Gesetze der menschlichen Gesellschaft" sei vulgär-marxistisch, kaum mit Marx’ Auffassung kompatibel ist. Sie führt — marxistisch gesprochen — zu einem unmarxistischen Voluntarismus. (Siehe a. a. O., S. 43 f. und 40.)

  20. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, a. a. O., S. 23.

  21. Ebenda, S. 15.

  22. Ebenda, S. 23

  23. Ebenda, S. 17 f.

  24. W. J. Lenin, Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus, Bd. IX, Hamburg 1921, S. 103.

  25. Zu dieser Interpretation siehe J. W. N. Watkins, Epistemology and Politics, in: Proceedings of the Aristotelian Society, 1957/58, S. 79 ff. — A. Downs, ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968.

  26. Anmerkung des Herausgebers (Erwin K. Scheuch): Mit der Vorstellung der Totalität der Manipulation ist schlecht vereinbar, daß die Differenzierung von Meinungen und Verhaltensweisen der Industriegesellschaften so groß ist, daß studentische Anarchisten und Gesellschaftstheologen wie Adorno möglich sind. Die Lehre von der totalen Vermittlung bzw. Manipulation hat allerdings für ihre Vertreter die Funktion, ihre eigene Belanglosigkeit für die Struktur der Gesellschaft wegzuerklären.

  27. Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft, Bd. II, a. a. O., S. 262.

  28. Dutschke, a. a. O., S. 86, 81.

  29. Vgl. hierzu Popper, Die offene Gesellschaft, a. a. O., S. 264 f., und J. A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Ausl. München 1950, S. 84 f.

  30. Hierzu und zu den folgenden Argumenten siehe Popper, Die offene Gesellschaft, a. a. O., S. 264 ff., S. 270.

  31. Siehe hierzu K. R. Popper, Coniectures and Refutations, London o. J. (1963), S. 5 ff., 15 ff. — H. Albert, Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Neuwied o. J (1967), S. 69 und 220 sowie die dort angegebene Literatur.

  32. So fordert z. B. B. Nirumand (Die Avantgarde der Studenten im internationalen Klassenkampf. Kursbuch Nr. 13, hrsg. von H. M. Enzensberger, Juni 1968, S. 13): „Wir müssen Gegen-Institutionen schaffen und einen Anfang machen mit der freien Selbstorganisation. Wir brauchen Gegen-Universitäten, um den Prozeß der permanenten Revolutionierung des Bewußtseins in Gang zu bringen, wir brauchen Gegen-Kindergärten und Gegen-Schulen, die unsere Kinder davor bewahren, zerrissen zu werden in einer in sich selbst zerrissenen Gesellschaft, wir müssen uns zusammenschließen in Wohngemeinschaften und modellhaft eine Gegen-Gesellschaft entwickeln, in deren Grundlinien sich die freie Gesellschaft, die unser Ziel ist, bereits abzeichnet. Wir müssen eine Gegen-Offentlichkeit herstellen, um unsere Ziele wirksam zu erläutern und diskutieren zu können, und dazu brauchen wir Gegen-Sender und Gegen-Zeitungen."

  33. Dutschke, a. a. O., S. 53.

  34. Dutschke, a. a. O., S. 42 u. 85.

  35. Marcuse, a. a. O., S. 232.

  36. Die Position der „Neuen Linken" und ihrer alten Mentoren (wie z. B. Sartre) unterscheidet sich hier nicht vom älteren Positivismus Comtes, der der Ansicht ist, daß schon die Zerstörung eines bestehenden Systems ein politischer Fortschritt sei. Allerdings erkennt er gleichzeitig ein wesentliches Problem, das die „Neue Linke" völlig vernachlässigt, daß nämlich die begrenzte Tragweite unseres empirischen Wissens es nicht gestattet, Prognosen über die Folgen einer totalen Revolution zu machen (Vgl. A. Comte, Die positive Philosophie, Bd. 2, Heidelberg 1884, S. 9).

  37. Siehe hierzu besonders K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, Bern 1957, Kap. 9 und 10. — Derselbe, Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften, in: E. Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln und Berlin o. J. (1965), S. 122 f.

  38. Dutschke, a. a. O., S. 91.

  39. Siehe hierzu auch L. Kolakowski, Die Intellektuellen und die kommunistische Bewegung, a. a. O., insb. S. 42 f.

  40. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, a. a. O., S. 263.

  41. Ebenda, S. 59 f. und S. 262.

  42. Ebenda, S. 60.

  43. Ebenda, S. 256.

  44. Eine solche Analyse müßte der Frage der institutioneilen Realisierung sowie den potentiellen Herrschaftsstrukturen und Konfliktsituationen besondere Aufmerksamkeit widmen. Es dürfte sich in diesem Zusammenhang empfehlen, von der soge-nannten Autonomie-oder Erhaltungshypothese auszugehen, nach der in sozialen Gebilden stets Tendenzen in Richtung auf die Erhaltung, Festigung und Verbesserung der einmal eingenommenen Position wirksam sind. Bezogen auf die Delegierten einer Räteversammlung würde daraus folgen, daß sie um die Erhaltung ihrer Position kämpfen und Versuchen zur Ablösung Widerstand leisten würden. — Weiterhin müßte man untersuchen, nach welchen Regeln Konflikte aller Art innerhalb der Wählerschaft ausgetragen werden sollen und welche unbeabsichtigten, aber eventuell unvermeidbaren Nebenwirkungen entstehen können. — Schließlich müßte auch die Leistungsfähigkeit dieses Entscheidungsmechanismus im Vergleich zu anderen Gegenstand kritischer Analysen sein, wobei verschiedene Maßstäbe wie Gerechtigkeit, Effizienz, Stabilität zugrunde gelegt werden können.

  45. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, a. a. O., S. 61 (Der Klammerausdruck ist im Original enthalten).

  46. Ebenda, S. 256 f.

  47. So Dutschke, a. a. O., S. 60.

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Christian Watrin, Dr. rer. pol., o. Professor für Wirtschaftslehre, insbesondere Außenhandel und Außenwirtschaft, und Direktor des Seminars für angewandte Wirtschaftslehre an der Universität Bochum, geb. am 29. Juni 1930.