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Marxistische Positionen und linke Studentenopposition in der Bundesrepublik I. Der Marxismus in Deutschland | APuZ 36/1968 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 36/1968 Soziologische Aspekte der Unruhe unter den Studenten Marxistische Positionen und linke Studentenopposition in der Bundesrepublik I. Der Marxismus in Deutschland

Marxistische Positionen und linke Studentenopposition in der Bundesrepublik I. Der Marxismus in Deutschland

Walter Euchner

Der Stand vor dem Zweiten Weltkrieg

I. Inhalt Der Marxismus in Deutschland II. Die linke Studentenopposition Der Stand vor dem Zweiten Weltkrieg Marxistische Neuansätze Die akademische Marx-Diskussion Marxistische Positionen im engeren Sinn Die Bundesrepublik als Klassengesellschaft Die manipulierte Öffentlichkeit Die „kritische Theorie"

Die Überwindung des eindimensionalen Menschen Der Sozialistische Deutsche (SDS)

Kritischer Attentismus Marxistischer Traditionalismus Demonstrativer Aktivismus Die Bundesrepublik angesichts der Jugen↓䖰ࡕ>

Bis zum Ersten Weltkrieg war Deutschland ein ausgesprochenes Exportland für Marxismus. Von den Gründervätern Marx und Engels ganz abgesehen, war eine Gestalt wie Karl Kautsky nicht nur der Lehrer des deutschen, sondern des internationalen Proletariats. Lenin war in vielem sein Schüler Aber auch Bebel und der alte Liebknecht, Rosa Luxemburg und Eduard Bernstein (der sich durchaus als Marxist empfand) Heinrich Cunow und Franz Mehring genossen internationale Reputation als marxistische Theoretiker. Nimmt man zu den deutschen Marxisten die soge-nannten Austromarxisten hinzu — was man unbedenklich tun darf, da die österreichischen Marxisten überwiegend großdeutsch dachten —, so kann man weitere glanzvolle Namen auf die Liste setzen: Victor und Friedrich Adler, Max Adler, Otto Bauer, Karl Renner und last not least Rudolf Hilferding, dessen Buch „Das Finanzkapital" (1910) in solchem Ansehen stand, daß man es als den vierten Band des (bekanntlich dreibändigen) „Kapital" von Marx bezeichnete. Kurz — Deutschland und Österreich waren das Zentrum des internationalen Marxismus; die Schriften der deutschsprachigen Marxisten wurden überall auf der Welt studiert — nicht zuletzt von den russischen Berufsrevolutionären Lenin, Trotzki und Stalin.

Der Erste Weltkrieg stürzte die internationale und insbesondere die deutsche Arbeiterbewegung in eine Krise, von der sie sich nie wieder erholen konnte. Er rückte die Kluft zwischen Theorie und Praxis, die sich in der deut-sehen sozialdemokratischen Partei bereits vor dem Kriege abgezeichnet hatte, in grellstes Licht. Während die marxistische Parteilinke zusammen mit Lenin die internationalen kriegerischen Verwicklungen, die sie heraufkommen sah, als rein bourgeoise und imperialisti-sehe Angelegenheit denunzierte, worin sich die Arbeiterklasse nur insofern engagieren dürfe, als sie den Krieg in einen revolutionären Bürgerkrieg überzuleiten habe, redete die reformistische Parteirechte, die den Apparat der Partei beherrschte, alsbald vom nationalen Verteidigungskrieg und von „Deutschlands ärmstem Sohn", der „in der Stunde der Gefahr auch der getreueste war" (Karl Bröger).

Der von Kautsky formulierte zentristische Marxismus — die sozialdemokratische Integrationsideologie als kleinster gemeinsamer Nenner, worauf sich wenigstens verbal die marxistische Linke und die reformistische Rechte (soweit diese sich nicht zu Bernstein bekannte) einigen konnten — dissoziierte endgültig in den revolutionären Luxemburgismus-Leninismus auf kommunistischer und in einen mehr oder weniger linken Praktizismus von fragwürdigem theoretischem Status auf sozialdemokratischer Seite. Was in der Sozialdemokratie von marxistischer Theorie übrig-geblieben war, trug alle Anzeichen von Verfall. Der Marxismus des zweibändigen Kauts-kyschen Alterswerks „Die materialistische Geschichtsauffassung" (1927) war zu einer dünnen Evolutionslehre geschrumpft, derzu-folge der Sozialismus mit Naturnotwendigkeit aus dem Kapitalismus herauswachsen müsse — eine Entwicklung, die sich auch ohne revolutionäre Erschütterungen auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie vollziehen könne. Hilferding, der berühmteste marxistische Nationalökonom der Sozialdemokratie, versuchte in seiner großen Rede auf dem Kieler Parteitag der SPD von 1927, unmittelbar vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, nachzuweisen, daß es mit der Sache der Republik und deren Wirtschaft zum besten stehe und daß der Sozialismus auf parlamentarischem Wege, indem man die Staatsmacht erobere, verwirklicht werden könne

Die Weltwirtschaftskrise belehrte die Marxisten, daß sie die Marxsche politische Ökonomie und ihre Krisentheorie zu früh aus dem Blickwinkel verloren hatten. Doch für eine Regeneration der Marxschen politischen Ökonomie und damit des Marxismus überhaupt war es zu spät. Zwar waren am Rande der großen Zweige der Arbeiterbewegung, der immer stärker von der Sojwetunion abhängigen KP und der immer reformistischer werdenden SPD, tiefschürfende Arbeiten entstanden, die den evolutionär und positivistisch verwässer-ten Marxismus wieder in seinen ursprünglichen philosophischen Kontext stellten. Georg Lukäcs in seinem Werk „Geschichte und Klassenbewußtsein" (1923) und Karl Korsch in „Marxismus und Philosophie" (1923/1930) rekonstruierten den Hegelianer Marx und wurden dafür von der kommunistischen wie von der sozialdemokratischen Orthodoxie gleichermaßen gescholten. Fritz Sternberg und Henryk Grossmann erneuerten im Anschluß an Rosa Luxemburg die marxistische Imperialismus-theorie. Fritz Sternberg, Max Adler und Anna Siemsen versuchten innerhalb der „Sozialistischen Arbeiterpartei" (SAP), die sich 1931 von der SPD abgespalten hatte, eine wiederbelebte marxistische Theorie mit der Praxis der Arbeiterbewegung in Einklang zu bringen

Im Jahre 1932 wurden die berühmten „Pariser Manuskripte" von Marx zum ersten Male herausgegeben, was der Marxforschung neue Impulse gab. Bei dieser Edition war übrigens Herbert Marcuse, der neuerdings im Zusammenhang mit den Aktivitäten der studentischen Linken so viel von sich reden macht, maßgeblich beteiligt. Im Jahre 1930 wurde Max Horkheimer Direktor des „Instituts für Sozialforschung" in Frankfurt/M. In der von ihm seit 1932 herausgegebenen „Zeitschrift für Sozialforschung" wurden, inspiriert von einem hegelianisch gedeuteten Marxismus, Arbeiten publiziert, die so bedeutend sind, daß sie die marxistische Forschung heute noch beeinflussen. Doch alle diese hier nur kurz aufgezählten Ansätze zu einer Regenerierung des Marxismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik — wobei unbedingt noch an die Arbeiten von Ernst Bloch und Walter Benjamin gedacht werden muß — konnten sich nicht zu einer neuen Analyse des allmählich sich zum Faschismus wandelnden krisenhaften Kapitalismus der frühen dreißiger Jahre zusammenfinden, die der völlig verwirrten Praxis der Arbeiterbewegung hätte zur Orientierung dienen können. Der Faschismus war schneller als eine neue marxistische Analyse der politischen Ökonomie des sich faschisierenden Kapitalismus — er zerstreute die deutschen Marxisten in die Emigration und liquidierte sie, soweit er ihrer habhaft werden konnte (wie etwa Rudolf Hilferding).

Marxistische Neuansätze

Die Naziherrschaft bedeutete für die Arbeiterbewegung und den Marxismus in Deutschland eine Zäsur, die kaum zu überbrücken war. An die marxistischen Erneuerungsbestrebungen des Beginns der dreißiger Jahre anzuknüpfen war schon deshalb unmöglich, weil die meisten Vertreter dieser marxistischen Renaissance, die das Dritte Reich überlebt hatten, in der Emigration weilten (zumeist in den Vereinigten Staaten) und erst zu Beginn der fünfziger Jahre nach Deutschland zurückkehrten. Vor allem aber wären die beiden neuerstandenen Arbeiterparteien, die Sozialdemokratische Partei und die Kommunistische Partei, auch gar nicht in der Lage gewesen, den Marxismus in seiner fortgeschrittensten Interpretation zu rezipieren. Den Kommunisten wurde auf bürokratischem Weg der sterile „Diamat" und „Histomat" des sogenannten „Marxismus-Leninismus" verordnet, den Stalin in seiner Schrift „Uber dialektischen und historischen Materialismus" kanonisiert hatte. Die Sozialdemokratie knüpfte, soweit sie nicht von vornherein bernsteinianisch, lassalleanisch oder reformistisch dachte, an den traditionellen Kautskyanismus oder bestenfalls an den linken Austromarxismus an

Immerhin wurde eine Reihe Marxscher Schriften, vor allem das „Kommunistische Manifest" und „Lohnarbeit und Kapital", die im Dritten Reich zumeist verlorengegangen waren, neu aufgelegt, und in sozialdemokratischen Zeitschriften, wie etwa dem Berliner „Das sozialistische Jahrhundert", kam die Marxismus-Diskussion zögernd und auf bescheidenem intellektuellem Niveau in Gang. Der Ost-West-Konflikt und die Probleme der politischen Praxis in der unerwarteten wirtschaftlichen Prosperität Nachkriegsdeutschlands, die zentrale Aussagen der Marxschen Theorie zu widerlegen schienen, brachten diese innerparteilichen Diskussionen um den Marxismus ziemlich rasch zum Erliegen Nur wenige marxistische Theoretiker, wie etwa der Marburger Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth, der Kölner Privatgelehrte Professor Leo Kofler, der Berliner Willy Huhn und der Stuttgarter Betriebsrat Fritz Lamm führten am Rande der SPD oder in anderen Organisationen der Arbeiterbewegung, z. B.den „Naturfreunden" oder den „Falken", die Marx-Diskussion weiter, wobei sie sich jedoch rasch in einen immer stärker werdenden Gegensatz zur Entwicklung der Partei setzten.

Die SPD gab sich 1959 in Bad Godesberg ein Grundsatzprogramm, in welchem sie die „christliche Ethik, den Humanismus und die klassische Philosophie", dagegen nicht mehr die Lehren von Marx und Engels, als Wurzeln des demokratischen Sozialismus bezeichnete. Das Verhältnis zu den Marxisten, die der SPD und zugleich anderen Gruppierungen, die den neuen Kurs der Partei bekämpften, angehörten, blieb noch für kurze Zeit in der Schwebe, bis sich der Vorstand der SPD Ende des Jahres 1961 dazu entschloß, die Mitgliedschaft in der SPD für unvereinbar mit der Mitgliedschaft im „Sozialistischen Deutschen Studentenbund" (SDS) und in der sogenannten „Sozialistischen Förderergemeinschaft" (die zur Unterstützung des SDS gegründet worden war) zu erklären. Seit diesem Unvereinbarkeitsbeschluß sind innerhalb der SPD keine Stimmen von Gewicht mehr laut geworden, die sich auf eine an Marx orientierte Gesellschaftstheorie berufen hätten. In der ohnehin an den Rand gedrängten gesellschaftstheoretischen Diskussion innerhalb der SPD beherrschen nunmehr die gängigen akademischen Spielarten des Positivismus und eines sozialstaatlich orientierten Pragmatismus das Feld

Die akademische Marx-Diskussion

Kam also in den Arbeiterparteien keine sinnvolle Diskussion des Marxismus in Gang, so fand Marx doch zu Beginn der fünfziger Jahre an den Universitäten und in einem breiten intellektuellen Publikum immer mehr Beachtung. Für dieses akademische Interesse an Marx lassen sich vor allem zwei Gründe nennen. Zunächst einmal hatte die schmerzliche Erfahrung, daß sich in einer Kulturnation wie der deutschen der nationalsozialistische Gewalt-staat mit seinen unvorstellbaren Verbrechen gegen die Menschheit etablieren konnte, zu einer moralischen Krise geführt. Es entstand, insbesondere unter jüngeren Menschen, ein lebhaftes Bedürfnis nach Selbstinterpretation und nach Reflexion über die conditio humana. Es war dies die Zeit, in der der Existentialismus in allen seinen Spielarten von Sartre bis Heidegger hoch im Kurs stand. In diesen Zusammenhang fiel die Entdeckung des jungen Marx. Von großem Einfluß war hier die Edition der „Pariser Manuskripte" („Nationalökonomie und Philosophie durch Ernst Thier, der in seinem Vorwort die Philosophie des jungen Marx als „existentielle Anthropologie" charakterisierte Besondere Faszination übte die Denkfigur des jungen Marx von der „Entfremdung" des Menschen aus; Der Mensch, der auf Grund seiner Lage in der Welt zur Arbeit gezwungen ist und sein Bewußtsein durch Arbeit, das heißt durch die Auseinandersetzung mit der Natur, erst eigentlich erwirbt, entäußert sich im Gegenstand seiner Arbeit und stellt sich darin selbst dar. Unter den Bedingungen der Lohnarbeit vermag der Proletarier in seinem Produkt sich nicht mehr selbst anzueignen, da dieses in das Eigentum des Besitzers der Produktionsmittel übergeht; so entfremdet er sich, indem er sein Produkt nicht mehr selbst aneignen und sich darin erkennen kann, von seinem eigenen Wesen. Die Frage, ob die existentialistischen Deutungen dem jungen Marx gerecht werden, der die Entfremdung des Menschen beileibe nicht als ontologische Konstante sah, sondern auf die historische Bedingtheit von Entfremdung hinwies, mag auf sich beruhen bleiben; neuere Arbeiten jedenfalls haben starke Bedenken angemeldet An dieser Stelle kommt es nur darauf an, * auf den Einfluß aufmerksam zu machen, den diese Deutung des Marxismus als radikaler Humanismus unter den jüngeren Theologen beider Konfessionen, vor allem aber unter den evangelischen, besessen hat. Als Beispiel für die von evangelischer Seite betriebene Marx-Forschung können die von Iring Fetscher herausgegebenen und nunmehr in fünf Bänden vorliegenden „Marxismusstudien" genannt werden, in denen viele richtungweisende Beiträge zum erstenmal veröffentlicht wurden.

Der zweite naheliegende Grund für das Aufleben einer akademischen Marx-Forschung war natürlich das Bestehen des Sowjetsystems und der Sowjetideologie. Das erste Motiv der Marx-Forschung, das Bedürfnis, den geistes-geschichtlichen Standort der eigenen Existenz zu klären, und das zweite Motiv, die als Herausforderung empfundene Sowjetideologie zu untersuchen, durchdrangen sich oft gegenseitig und führten zu geistesgeschichtlich orientierten Studien über die Wandlung des Marxismus und Leninismus bis zum Stalinismus. Die bedeutendsten Arbeiten dieser Art sind Iring Fetschers „Von Marx zur Sojwetideologie" und seine wichtigen Aufsätze in den „Marxismusstudien", in denen er als einer der ersten nach dem Kriege auf die Bedeutung von Lukäcs und Karl Korn für den Marxismus hinwies und das deutsche Publikum auf die Marx-Interpretation des französischen Existentialismus, etwa den von Sartre und Merleau-Ponty, aufmerksam machte. „Marxismus" kann man die akademische Marx-Forschung selbstverständlich nicht nennen, selbst wenn sie, beispielsweise auf protestantischer Seite, zu einer Teilrezeption Marxscher Theoreme geführt hat. Die akademische Marx-Forschung war in erster Linie philosophiegeschichtliche Forschung, betrieben vorwiegend in der Absicht der geistigen Selbstverständigung und der Auseinandersetzung mit der Sowjetideologie. Das hohe Niveau vieler akademischer Arbeiten über Marx erleichterte manchem engagierten Marxisten das volle Verständnis der Marxschen Intentionen; insofern beeinflußte die akademische Marx-Forschung den Marxismus im engeren Sinn und hat somit zu Recht ihren Platz in einem Überblick über die Nachkriegsgeschichte des Marxismus in der Bundesrepublik.

Marxistische Positionen im engeren Sinn

An dieser Stelle ist es angezeigt, einige Anmerkungen zu der hier gebrauchten Bezeichnung „marxistische Positionen" und zu dem sich aufdrängenden Begriff „Neomarxismus" zu machen. Hierbei ist zunächst zu beachten, daß Marx selbst kein in allen Teilen gleichermaßen ausgeführtes Lehrgebäude hinterlassen hat. Hinzu kommt, daß die moderne Marx-Forschung immer deutlicher zeigt, daß die philosophische und gesellschaftstheoretische Tragweite des Marxschen Ansatzes bei weitem nicht ausgelotet ist 11).

Den Marxismus, der in der Lage ist, alle Welt-rätsel zu lösen, gibt es höchstens in den Augen zweitrangiger Marx-Epigonen. Ist aber schon der Umfang des Begriffs „Marxismus" nicht eindeutig bes

Den Marxismus, der in der Lage ist, alle Welt-rätsel zu lösen, gibt es höchstens in den Augen zweitrangiger Marx-Epigonen. Ist aber schon der Umfang des Begriffs „Marxismus" nicht eindeutig bestimmt, so ist es der des „Neomarxismus" erst recht nicht. Von einem Neomarxismus könnte nur dann gesprochen werden, wenn es gelungen wäre, die Marxsche Analyse von ihrem Kern der her, Analyse der und auf Warenproduktion, nachzuvollziehen Grund dieses Ansatzes die Veränderungen des kapitalistischen Systems von Marx bis zur Gegenwart sowie die Erscheinungsformen des heutigen Kapitalismus theoretisch zu durchdringen. Da dies bis heute nicht befriedigend gelungen ist und da der Versuch, in Anlehnung an die Marxsche Gesellschaftstheorie die Gegenwart zu begreifen, angesichts der Wandlung kapitalistischer Strukturen zu einer Reihe von müßte, kann Marx-Revisionen führen von einer einheitlichen marxistischen Lehre in der Bundesrepublik wie auch anderswo keine Rede sein.

Der Marxismus in der Bundesrepublik besteht aus einer Vielzahl von mehr oder weniger eindeutig an Marxschen Thesen und Denkfiguren orientierten marxistischen Positionen. Ihr gemeinsames Merkmal kann man in ihrem historisch-kritischen Aspekt sehen: Die an Marx sich anlehnende Gesellschaftstheorie nimmt die Versprechungen bürgerlichen Selbstverständnisses, das eine solidarische Gesellschaft freier und gleicher Bürger ins Auge gefaßt hatte, beim Wort. Sozialwissenschaftliche Methoden, die das Postulat der Wert-freiheit wissenschaftlicher Aussagen verfechten und in deren theoretischen Ansatz das Interesse der Menschheit an der Emanzipation von Unterdrückung nicht eingeht, werden als borniert verworfen. Marxsche Argumente aufgreifend, sehen die kritischen Gesellschaftstheorien die Ursache dafür, daß eine wahrhaft freie und demokratische Gesellschaft bislang nicht verwirklicht werden konnte, daß im Gegenteil bisher erreichte demokratische Positionen von antidemokratischen Kräften bedroht werden, in den Bewegungsgesetzen der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Oft wird im Anschluß an marxistische Imperialismustheorien (Rosa Luxemburg, Hilferding, Lenin, Fritz Sternberg, Henryk Grossmann) die Ansicht vertreten, daß die großen Kapitalbesitzer der kapitalistischen Weltmächte darauf drängten, Kapital in Länder zu exportieren, in welchen die Anlage von Kapital eine höhere Rendite verspricht; aus diesem Grunde ziele die Politik dieser Großmächte darauf ab, Einflußsphären zu schaffen und zu verteidigen, in denen ohne Gefährdung durch kommunistische oder sozialistische Interventionen Kapital angelegt werden könne. Die Rüstungswirtschaft gilt häufig als Voraussetzung der Funktionsfähigkeit des kapitalistischen Systems.

Die Bundesrepublik als Klassengesellschaft

Eine der marxistischen Positionen, die heute in der Bundesrepublik zu finden sind, geht unmittelbar auf den linkssozialistischen, nichtkommunistischen Marxismus der Weimarer Republik zurück. Sie wird vor allem von ehemaligen Sozialdemokraten eingenommen, die* sich der marxistischen Interpretation des Weimarer Staates durch Rudolf Hilferding, Max Adler, Otto Bauer und Fritz Sternberg erinnern und die Prinzipien dieser Analyse mehr oder weniger modifiziert auf die Verhältnisse der Bundesrepublik übertragen.

Der bekannteste Vertreter dieser Richtung — der Lassalleaner Kurt Schumacher hatte ihr recht nahe gestanden 12) — ist der Marburger Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth. Die Bundesrepublik entspricht nach dieser Auffassung dem klassischen marxistischen Modell einer „Klassengesellschaft". Behauptungen, daß in der Bundesrepublik eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft" (Schelsky) oder eine nicht antagonistische „pluralistische Gesellschaft" entstanden sei, hielten „einer kritischen Analyse der sozialen Realität nicht stand" Freilich entspreche der heutige Kapitalismus nicht mehr dem von Marx analysierten, der von einer Vielzahl selbständiger Warenproduzenten charakterisiert gewesen sei. Der heutige Kapitalismus sei vielmehr, wie von Hilferding gezeigt, durch Konzentration und Zentralisation des Kapitals gekennzeichnet; er sei „organisierter Kapitalismus" Auch die starke Zunahme der Kapitalgesellschaften und damit das Vordringen einer Schicht von Managern, welche, ohne Eigentümer der Produktionsmittel zu sein, dennoch über diese verfüge, ändere nichts daran, daß in letzter Instanz das „Finanzkapital" (Hilferding) „Herr im Hause, auch gegenüber seinen Direktoren", bleibe Nach wie vor beute die faktisch und rechtlich (etwa durch Steuerbegünstigungen und Investitionshilfe-gesetze) privilegierte kapitalbesitzende Klasse die Arbeiterklasse aus. Zwar partizipierten auch die Arbeitnehmer an der allgemeinen Prosperität. Dies sei vor allem das Resultat des gewerkschaftlichen Kampfes; außerdem könne das kapitalistische System auf die Arbeitnehmer als Konsumenten nicht verzichten

Was die Stellung der Arbeiterklasse im spät-kapitalistischen System der Bundesrepublik betreffe, so erkläre sich das „Verschwinden des im früheren Sinne sozialistischen Bewußtseins aus der existenten Organisationswelt der Arbeit und damit aus dem gesellschaftlichen und politischen Leben der Bundesrepublik ... in stärkerem Maße aus sehr konkreten geschichtlichen Bedingungen als aus der Veränderung der sozialen Lage der Arbeiter in der Bundesrepublik, nämlich einerseits aus der Vernichtung der alten Kader der Arbeiterbewegung im Dritten Reich, andererseits aus den Enttäuschungen über die Fehlschläge von sozialen Umgestaltungsbestrebungen nach 1948 und aus ... negativen Erscheinungen in der DDR und aus der Ideologie des kalten Krieges." In Zeiten relativer gesellschaftlicher Ruhe bestätige sich immer wieder die Marxsche Einsicht, daß das „herrschende Bewußtsein einer Gesellschaft ... das Bewußtsein ihrer herrschenden Klasse" sei. Diese Arbeitnehmerschaft ohne Klassenbewußtsein sei hilflos den Manipulationen der Massenmedien und der Massenpresse ausgesetzt. Die sozialdemokratischen Arbeiterführer hätten es nicht verstanden, „das zerstörte Bewußtsein der eigenen Sozialschicht wiederherzustellen" — im Gegenteil, „sie unterwarf sich in vielen Fällen selbst den Ideologien, die durch die Restauration erzeugt wurden" Alle diese Ursachen hätten zur weitgehenden Entpolitisierung der Arbeiterschaft beigetragen.

Das Phänomen des sogenannten Wirtschaftswunders habe jedoch die grundsätzliche Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Systems nicht beseitigen können. In einer Zeit sinkender Profite und eines abnehmenden Steueraufkommens sähen sich die an der Erhaltung der privatkapitalistischen Wirtschaftsweise interessierten Machthaber gezwungen, künftigen politischen Krisen, die auf Grund von Rezessionen entstehen könnten, durch eine autoritäre „Formierung" der Gesellschaft vorzubeugen. Mit großem Mißtrauen betrachtete man Ludwig Erhards Programm einer „Formierten Gesellschaft", die, wie man befürchtete, vor allem auf eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Arbeitnehmerschaft abzielte. In diesem Zusammenhang der „Formierung" der Gesellschaft der Bundesrepublik sehen Abendroth und andere den Entwurf einer Notstands-gesetzgebung, gewisse Tendenzen der „Konzertierten Aktion", die auf einen Abbau der Tarifautonomie hinzudeuten scheinen, und überhaupt die generelle Neigung der beiden großen Parteien, mit dem Grundgesetz und mit dem Wahlrecht zu experimentieren: Alle diese Versuche seien geeignet, die bisher erreichte Demokratisierung der westdeutschen Gesellschaft wieder zurückzunehmen

Die manipulierte Öffentlichkeit

Während man die gesellschaftstheoretische Position Abendroths mit einigem Recht als orthodoxen Marxismus bezeichnen kann, da sie, was die Revision Marxscher Lehrstücke betrifft, kaum über Hilferding hinausgeht, so stellt Jürgen Habermas (der sein berühmtes Buch „Strukturwandel der Öffentlichkeit" Abendroth gewidmet hat) zentrale Theoreme des Marxschen Systems in Frage. Habermas hält der Marxschen Prognose „vier Fakten" entgegen:

Erstens sei der Bereich des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit nicht mehr allein einer politikfreien Sphäre der Gesellschaft zuzuordnen; Politik greife vielmehr im „organisierten Kapitalismus" in die ökonomische Basis unmittelbar ein; deshalb könne man auch nicht mehr von einer Trennung der Sphäre einer aus Privatleuten bestehenden Gesellschaft und der staatlichen Sphäre ausgehen; diese Trennung sei vielmehr „zugunsten einer wechselseitigen Verschränkung aufgehoben".

Zweitens sei in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern der Lebensstandard so weit gestiegen, daß „Entfremdung" ihre „ökonomisch sinnfällige Gestalt des Elends eingebüßt" habe.

Drittens habe sich unter diesen Verhältnissen „der designierte Träger einer künftigen sozialistischen Revolution, das Proletariat, als Proletariat, aufgelöst." Zwar sei die Existenz der Masse der Bevölkerung nach wie vor „proletarisch", doch das Bewußtsein davon als Klassenbewußtsein sei heute auch in den Kern-schichten der Arbeiterschaft nicht festzustellen.

Viertens habe die Etablierung des Sowjetsystems in einem so zurückgebliebenen Land wie der Sowjetunion, die zu einer Funktionärs- und Kaderherrschaft führen mußte, den Marxismus am meisten gelähmt. Die aus dem Kriege als Weltmacht hervorgegangene Sowjetunion habe jedoch die Führungskräfte des Westens zur „äußersten Wachsamkeit über die Stabilität ihres Systems" bewegt; so sei im Westen eine „Art institutionalisierte Dauerreform" entstanden, „so daß eine Selbst-regulierung des Kapitalismus durch Kräfte der . Selbstdisziplin'als möglich erscheint."

Habermas geht den Gründen nach, die zu dieser Abweichung des Verlaufs der gesellschaftlichen Entwicklung von der Marxschen Prognos-e geführt haben, und legt hierbei die kritische Sonde an das eigentliche Kernstück aller marxistischer Analyse: die Mehrwerttheorie und die damit verknüpfte Lehre vom tendenziellen Fall der Profitrate. Dieses Gesetz, nach dem die Profitrate sinken müsse, wenn auf Grund der von der Konkurrenz erzwungenen Rationalisierung der Anteil des in den arbeitssparenden Maschinen steckenden „konstanten" Kapitals steigt, liegt der Marxschen Krisen-theorie zugrunde und ist somit das entscheidende Moment des Gesamtzusammenhangs des Marxschen Systems: Die Krisen, die zu periodisch wiederkehrender gesteigerter Massenarbeitslosigkeit und Verelendung führen, lassen das Klassenbewußtsein des Proletariats und im revolutionären Proletariat das historische Subjekt der Transformation des Kapitalismus in den Sozialismus entstehen.

Habermas äußert die Vermutung, daß die Konzeption der werteschaffenden Arbeit bei Marx, die nur die unmittelbar produktive Arbeit umfasse, unzulänglich sei, da sie die intellektuellen Vorbereitungsund Entwicklungsarbeiten für die Rationalisierung der Produktion nicht in Rechnung stelle. Unter den Voraussetzungen der klassischen Arbeitswerttheorie jedenfalls lasse sich offenbar der tatsächliche Wertzuwachs der letzten achtzig Jahre nicht erklären. Deshalb empfehle sich die Erwägung, „ob nicht Rationalisierungsarbeiten als produktive Arbeit zweiter Ordnung verstanden und gewertet werden sollten, als eine zwar unselbständige, weil auf produktive Arbeit erster Ordnung angewiesene, aber zusätzliche Quelle der Wertbildung. Diese Arbeiten sind einerseits nicht produktiv im Sinne der unmittelbaren Güter-erzeugung; gleichwohl verändern sie deren Voraussetzungen derart, daß aus ihr nicht nur mehr Mehrwert, sondern insgesamt mehr Tauschwerte hervorgehen."

Ist aber die Annahme richtig, so führt Habermas seinen Gedanken weiter, daß der so „aus doppelter Quelle gespeiste Mehrwert" aus-reiche, eine angemessene Profitrate und zugleich ein steigendes Niveau der Reallöhne zu sichern, so wäre „eine politische Regulierung der Distributionsverhältnisse . . . mit den Bedingungen einer an Profitmaximierung orientierten Produktion nicht unvereinbar." Unter dieser Bedingung lasse sich eine schrittweise, nicht-revolutionäre Demokratisierung der Gesellschaft, die Wirtschaftsordnung einbezogen, denken. Voraussetzung einer wahrhaften Emanzipation des Menschen sei jedoch, daß bei einem Höchststand der Erzeugung von Gebrauchswerten die Vom Pröfitmotiv ständig vorangetriebene Akkumulation unterbrochen und ein Kreislauf der einfachen Reproduktion hergestellt werde.

Eine Gesellschaft aber, die sich nicht dazu entschließen könne, das alles beherrschende Motiv der Kapitalverwertung und Profitmaximierung abzulösen und statt dessen den Individuen „von notwendiger Arbeit wie von gelenktem Verbrauch weithin entlastetes Leben" zu gewähren, laufe Gefahr, in einer zwar reichen, aber weiterhin repressiven Gesellschaft zu versteinern. Das Krisenbild einer solchen „eindimensionalen Gesellschaft" (Herbert Marcuse) „wäre durch einen weithin gestreuten, aber unter Zwang realisierten Reichtum der Massen selbst geprägt, für dessen Steigerung, über die Grenze des lebensnotwendigen Lebensüberflusses hinaus, sie freilich in der Münze fremdgeregelter Arbeit und eines fremdgesteuerten Verbrauchs den Preis der vorenthaltenen Mündigkeit entrichten müßten." Die Chancen zu einer solchen Emanzipation der Masset! zur Mündigkeit würden allerdings durch den internationalen Konflikt der Weltmächte beeinträchtigt.

Für eine entscheidende Bedingung der Demokratisierung einer Gesellschaft hält Habermas die Herstellung einer Öffentlichkeit, die diesen Namen tatsächlich verdient. Erst sie ließe es zu, gesellschaftliche Interessenlagen zu klären und politische Alternativen rational zu diskutieren. In einer berühmt gewordenen Untersuchung „Strukturwandel der Öffentlichkeit" (1962) hatte Habermas nachgewiesen, daß es im fortgeschrittenen Kapitalismus eine Öffentlichkeit, die in der Blütezeit des bürgerlichen Liberalismus von einem politisch räsonierenden Publikum von Privatleuten dargestellt worden war, nicht mehr gebe. An Stelle dieser Öffentlichkeit, die den Anspruch erhoben habe, im Wettstreit der Meinungen das politisch Richtige zu ermitteln, sei heute die Manipulation der Öffentlichkeit durch das Wechselspiel von Parteien, Verbänden und den Staatsapparat selbst getreten. Aus diesem Zustand der Verschleierung wirklicher Interessenlagen durch eine manipulierte Öffentlichkeit, die dem demokratischen Offentlichkeitsgebot straks zuwiderläuft, folgert Habermas, daß in einer Zeit der Verstaatlichung der Gesellschaft und der Vergesellschaftung des Staates das Offentlichkeitsgebot auf alle staats-bezogenen agierenden Organisationen, das heißt auf Parteien und Verbände, ausgedehnt werden müsse, öffentlich dürfe eine Meinung nur dann heißen, wenn „sie zugleich aus einer organisationsinternen Öffentlichkeit des jeweiligen Mitgliederpublikums als auch aus der zwischen den gesellschaftlichen Organisationen und den staatlichen Institutionen selber diskutant sich herstellenden Öffentlichkeit hervorgeht."

Das Nahziel, das sich aus Habermas'politischen Überlegungen ergibt, ist die Demokratisierung der sozialstaatlich verfaßten Industriegesellschaft, indem durch Herstellung von Öffentlichkeit Machtkonstellationen und Interessenlagen durchsichtig gemacht werden. Nur so lasse sich der Vollzug sozialer und politischer Gewalt vernünftig gestalten An der Verwirklichung dieses Zieles lasse sich ablesen, „ob der Vollzug von Herrschaft und Gewalt als eine gleichsam negative Konstante der Geschichte beharrt" oder ob diese als historische Kategorien substantiellen Veränderungen zugänglich seien Die Würfel hierüber sind, dem Denken von Habermas zufolge, noch nicht gefallen; die Perspektive einer repressionsfreien Gesellschaft wahrhaft emanzipierter Bürger bleibt gültig.

Die „kritische Theorie"

Als „kritische Theorie" bezeichnen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die gesellschaftstheoretische Denkweise, die sie in den dreißiger und frühen vierziger Jahren zusammen mit anderen bedeutenden Mitarbeitern des „Instituts für Sozialforschung", etwa Herbert Marcuse, Leo Loewenthal und Friedrich Pollock, entwickelt hatten. Diese Denkweise entstand vor allem in der Auseinandersetzung mit den Lehren von Hegel, Marx und Freud: Mit Hegel wird Gesellschaft als System begriffen, worin die einzelnen, indem sie ihren Partikularinteressen folgen, sich unentrinnbar in gegenseitige Abhängigkeit begeben; mit Marx wird Gesellschaft als antagonistisches System gesehen, das auf den historisch gewordenen und also veränderbaren Bedingungen der Arbeitsteilung, Warenproduktion und Lohnarbeit beruht und alle gesellschaftlichen Erscheinungen unter sein Gesetz der Kapital-verwertung bringt; die dadurch bewirkte Entstellung und Unterdrückung des Menschen, so wird im Anschluß an Freud angenommen, führt, indem sie libidinöse Potenzen absorbiert, zu einem Uberschuß an Aggressivität in der Gesellschaft. Die kritische Theorie ist jeder Soziologie und Philosophie entgegengesetzt, welche die bestehenden Verhältnisse als unabänderlich sanktionieren.

Max Horkheimer, Jahrgang 1895, Sproß einer schwäbischen Fabrikantenfamilie, wurde 1930 Direktor des Frankfurter „Instituts für Sozial-forschung". Er ist offenbar in den frühen dreißiger Jahren, ausgehend von einer radikal-demokratischen, Position, deren bürgerlichen die des -Leitbild Versprechungen frühen Bür gertums „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit"

von war, der Marxschen Kritik am Bürgertum, dessen praktisches Verhalten seinen eigenen Idealen zuwiderlaufe, beeinflußt worden. In brillanten Aufsätzen, die zumeist in der von ihm gegründeten „Zeitschrift für Sozialforschung" erschienen sind, versuchte Horkheimer zu zeigen, daß die Struktur der auf Privateigentum an Produktionsmitteln beruhenden bürgerlichen Produktionsweise selbst verhindere, daß die bürgerlichen Ideale der Freiheit und der Selbstbestimmung eines jeden Individuums verwirklicht werden könnten.

Das Profitmotiv, so meinte Horkheimer mit Marx, widersetze sich jeder Realisierung der bürgerlichen Ideale. „Das gesellschaftliche Ganze lebt durch Entfesselung der Eigentums-instinkte aller einzelnen. Indem sie sich um Gewinn, Erhaltung und Vermehrung von eigenem Besitz bekümmern, wird es erhalten. . .. Der Prozeß vollzieht sich nicht unter der Kontrolle eines bewußten Willens, sondern als Naturvorgang. Das Leben der Allgemeinheit ergibt sich blind, zufällig und schlecht aus der chaotischen Betriebsamkeit der Individuen, der Industrien und der Staaten. Diese Irrationalität drückt sich in dem Leiden der Mehrzahl aller Menschen aus. ... Heute wird behauptet, die bürgerlichen Ideen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit hätten sich als schlecht erwiesen; aber nicht die Ideen des Bürgertums, sondern Zustände, die ihnen nicht entsprechen, haben ihre Unhaltbarkeit gezeigt. Die Losungen der Aufklärung und der französischen Revolution haben mehr als je ihre Gültigkeit."

Aber nicht genug damit, daß die Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft selbst verhindert, daß die bürgerlichen Ideale verwirklicht werden können: die von der anarchischen Produktionsweise des Privatkapitalismus herrührende gesellschaftliche Unordnung, die sich mit dem tendenziellen Fall der Profitrate noch verstärke, treibe aus der liberalen gesellschaftlichen Verfassung notwendig autoritäre Regierungsformen und letztlich den Faschismus heraus. Harmonie und Progressionsmöglichkeit der kapitalistischen Gesellschaft, so heißt es in einem 1939 in der Emigration entstandenen Aufsatz „Die Juden in Europa", hätten sich als Illusion entlarvt. Gerade wegen des technischen Fortschritts sei die vorausgesagte Krise permanent geworden. „... die totalitäre Ordnung ist nichts anderes als ihre Vorgängerin, die ihre Hemmungen verloren hat. Wie alte Leute zuweilen so böse werden, wie sie im Grunde immer waren, nimmt die Klassenherrschaft am Ende der Epoche die Form der Volksgemeinschaft an. Den Mythos der Interessenharmonie hat die Theorie zerstört; sie hat den liberalen Wirtschaftsprozeß als Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen vermittels freier Verträge dargestellt, die durch die Ungleichheit des Eigentums erzwungen werden. Die Vermittlung wird jetzt abgeschafft. Der Faschismus ist die Wahrheit der modernen Gesellschaft." Und, in einem von den linken Studenten viel zitierten Satz: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen."

Horkheimer ist 1950 aus der Emigration in die Vereinigten Staaten nach Frankfurt/M.

zurückgekehrt, wo er das „Institut für Sozial-forschung" wieder errichtete. Er lehrte dort weiter zusammen mit seinem Freund Adorno seine von Hegel und Marx beeinflußte Soziologie, deren zentrale These lautet, daß das System der bürgerlichen Gesellschaft die überkommene Herrschaft des Menschen über den Menschen perpetuiere und immer mehr verhärte: „Hatten in der vorbürgerlichen Welt die wirtschaftlich relevanten Beziehungen auf der blind vorgegebenen Abhängigkeit von Individuen und Gruppen, auf Geburt beruht, so sollte Gerechtigkeit in der bürgerlichen Ordnung durch das anonyme Medium des Geldes gestiftet werden, in dem die Unterschiede der Personen untergehen. Mittels seiner setzte von Anfang an die labilere, aber nicht weniger prononcierte Hierarchie sich durch, die im Schoß der alten sich gebildet hatte. Weniger starr und weniger durchsichtig als im Stände-staat, jedoch keineswegs rational, vollzog sich von nun an die Einordnung der Menschen in den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß. Der Liberalismus transformierte die bürgerliche Hierarchie in immer kompaktere und gewaltigere Machtkonstellationen."

Was aber die Chance betrifft, diese Machtkonstellationen zu durchbrechen, so wurde sie von Horkheimer mit zunehmender Skepsis beurteilt. Das Versagen der europäischen, insbesondere aber der deutschen, sozialistischen Parteien, vor allem aber das Aufkommen eines sich auf Marx berufenden Totalitarismus schienen ihm darauf hinzudeuten, daß das Proletariat nicht länger die Kraft besitze, die bestehenden Verhältnisse zu überwinden und eine gerechte sozialistische Gesellschaft zu schaffen. Es hat den Anschein, als sei Horkheimer nunmehr zu der Überzeugung gelangt, daß es Aufgabe des noch freiheitlich gesonnenen Teils der Bürger sei, jenen aus der bürgerlichen Gesellschaft selbst stammenden Tendenzen, die den bürgerlichen Freiheiten zuwiderlaufen, entgegenzutreten, um wenigstens einen Restbestand des alten bürgerlichen Liberalismus zu retten.

Seine Altersposition explizierte Horkheimer im Vorwort zu seinem jüngst erschienenen Sammelband „Zur Kritik der instrumentalen Vernunft" -(1967): „Am Ende des Nationalsozialismus, so glaubte ich damals, werde in den fortgeschrittenen Ländern, sei es durch Reformen oder Revolution, ein neuer Tag anbrechen, die wahre menschliche Geschichte beginnen. Mit den Begründern des Wissenschaftlichen Sozialismus hatte ich gemein, die kulturellen Errungenschaften der bürgerlichen Epoche, freie Entfaltung der Kräfte, geistige Produktivität, nicht mehr gezeichnet durch Gewalt und Ausbeutung, müßten in der Welt sich ausbreiten. Was ich seit jener Zeit erfahren habe, ließ mein Denken jedoch nicht unberührt. Die Staaten, die sich kommunistisch nennen und derselben Marxschen Kategorien sich bedienen, denen meine theoretische Anstrengung so viel verdankt, sind dem Anbruch jenes neuen Tages heute gewiß nicht näher als die Länder, in denen, zur Stunde wenigstens, Freiheit des einzelnen noch nicht erloschen ist."

Der 1903 geborene Theodor W. Adorno war bereits vor 1933 Mitarbeiter des „Instituts für Sozialforschung". Mit Horkheimer eng befreundet, ging er mit ihm in die Emigration, aus der er 1949 an die Frankfurter Universität zurückkehrte. Sein Denken sprengt die engen Grenzen bloßer Fachwissenschaft: Gleichermaßen zu Hause in Philosophie, Soziologie, Literatur und Musik, sucht er vor allem die kulturellen Phänomene der bürgerlichen Gesellschaft mit einer kritischen Theorie zu begreifen und darzutun, inwieweit sie Ausdruck der Strukturgesetze dieser bürgerlichen Gesellschaft selbst sind. Die bürgerliche Gesellschaft gehorcht den Gesetzen des Warentausches; sie sind es, die alle gesellschaftlichen Erscheinungen in ihren Bann schlagen: „Das Gesetz, nach dem die Fatalität der Menschheit abrollt, ist das des Tausches. Das aber ist selber keine bloße Unmittelbarkeit, sondern begrifflich: der Tauschakt impliziert die Reduktion der gegeneinander zu tauschenden Güter auf ein ihnen Äquivalentes, Abstraktes, keineswegs, nach herkömmlicher Rede, Materielles. Diese vermittelnde Begriff-lichkeit jedoch ist keine allgemeine Formulierung durchschnittlicher Erwartungen, keine kürzende Zutat der Ordnung stiftenden Wis-

nschaft, sondern ihr gehorcht die Gesell-haft selbst, und sie liefert das objektiv gül-je, vom Bewußtsein der einzelnen ihr unterorfenen Menschen ebenso wie von dem der rscher unabhängige Modell alles gesell-hässlich wesentlich Geschehenden. Mag man, genüber der leibhaftigen Realität und allen indfesten Daten, dies begriffliche Wesen hein nennen, weil es beim Äquivalentenusch mit rechten Dingen und doch nicht mit chten Dingen zugeht; es ist doch kein Schein, dem organisierende Wissenschaft die Reali-t sublimierte, sondern dieser immanent, ach die Rede von der Unwirklichkeit soziar Gesetze hat ihr Recht nur als kritisches, it Hinblick auf den Fetischcharakter der are. Der Tauschwert, gegenüber dem Ge-auchswert ein bloß Gedachtes, herrscht über is menschliche Bedürfnis und an seiner Stelle;

r Schein über die Wirklichkeit. Insofern ist e Gesellschaft der Mythos und dessen Auf-ärung heute wie je geboten. Zugleich aber : jener Schein das Allerwirklichste, die Forel, nach der die Welt verhext ward." eses Zitat weist unmittelbar auf das erste ipitel im ersten Band des „Kapital" zurück, m Adorno entscheidende Anregungen verinkt. In diesem Kapitel, das auch den be-hmten Abschnitt über den Fetischcharakter r Ware enthält, hatte Marx ausgeführt, daß e privaten Warenproduzenten sich unzutref-nde Vorstellungen über den privaten Cha-kter ihrer Arbeit machten. Privatarbeit kann lerhaupt nur Waren produzieren, wenn sie einem Abhängigkeitsverhältnis zur gesellhaftlichen Gesamtarbeit, der in der aufgeandten Arbeitszeit zu messenden Summe ler Privatarbeiten, steht. Denn die gesell-gastliche Gesamtarbeit, die im Geld zum rsdruck kommt, stellt die Äquivalentenbasis r, ohne die überhaupt kein Tausch denkbar ire; jede Privatarbeit, die fremde Produkte rs eigene Produkt erhalten möchte, bezieht h auf sie. Die gesellschaftliche Gesamtarbeit eine Abstraktion von der tatsächlichen rschiedenheit der real vorhandenen Aritsprodukte, den Gebrauchswerten, aber, mngleich als Abstraktion nichts Materielles, nnoch wirklich. Denn die gesellschaftliche samtarbeit als Wert oder Geld gesehen rrscht in einer warenproduzierenden Gesell-rast über alle gesellschaftlichen Beziehun-n. Insofern kann Adorno sagen, der Tausch-wert, der die Äquivalentenbasis, den gemeinsamen Nenner, allen Tausches ausmacht, sei „das Allerwirklichste", er sei „die Formel, nach der die Welt verhext ward". Der Tauschwert hat die Welt deshalb verhext, weil er, Marx zufolge, als Natureigenschaft der Ware erscheint, während er in Wirklichkeit ein gesellschaftliches Verhältnis, nämlich die bürgerliche Produktionsweise, und in der entwik-kelten bürgerlichen Gesellschaft abhängige Arbeit enthält und voraussetzt. So werden der gesellschaftliche Charakter der Privatarbeit und daher die gesellschaftlichen Verhältnisse der Privatarbeiter verschleiert (Verdinglichung); der historisch gewachsene (und damit veränderbare) Charakter der spezifisch bürgerlichen Produktionsweise wird als „Naturform des gesellschaftlichen Lebens" begriffen

Adorno übt selten explizite Gesellschaftskritik; diese stellt sich bei ihm vielmehr implizit durch die Kritik an philosophischen und soziologischen Richtungen und an kulturellen Phänomenen wie Musik, Literatur, Architektur und Film her, die bewußt oder unbewußt die bestehenden Verhältnisse feiern oder doch als natürlich und ewig begreifen. So haben seine Texte häufig etwas Palimpsestartiges an sich, was ihm oft den Beifall eines kulinarischen Publikums einbringt, das nicht zu erkennen vermag, daß „noch im esoterischen Gespinst der ästhetischen Reflexionen . . . etwas vom längst verdrängten Echo einer Kritik der Politischen Ökonomie" hängt (Habermas)

In der Tat haben Adornos Reflexionen die Perspektive der Veränderbarkeit einer als repressiv erkannten Gesellschaftsordnung bewahrt — ob sie nun die philosophischen Systeme perhorreszieren, weil sie analog der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft alles Existierende auf den Äquivalenzbegriff der Identität bringen wollen und dabei das entgegenstehende, nicht vom Begriff zu erfassende Andere eliminieren, die verschwiegen apologetische Funktion des existentialistischen „Jargons der Eigentlichkeit" enthüllen, oder der positivistischen Soziologie ankreiden, sie könne Gesellschaft nicht begreifen, weil sie, um sie zu erforschen, von außen her willkürlich „zugerüstete" Kriterien an sie herantrügen: „Die immanente Entfaltung der Produktivkräfte, die menschliche Arbeit bis zu einem Grenzwert überflüssig macht, birgt des Poten-tial von Änderung; die Abnahme der Quantität von Arbeit, die technisch heute bereits minimal sein könnte, eröffnet eine neue gesellschaftliche Qualität, die sich nicht auf ein-sinnigen Fortschritt zu beschränken brauchte, wenn nicht einstweilen die Drohung, die eben daraus den Produktionsverhältnissen erwächst, das Gesamtsystem dazu verhielte, in seine bornierte Tendenz unerbittlich sich zu verbeißen. Vollbeschäftigung wird zum Ideal, wo Arbeit nicht länger das Maß aller Dinge sein müßte."

Noch in Adornos neuestem Werk „Negative Dialektik" heißt es: „Je weiter die Produktiv-kräfte sich steigern, desto mehr verliert die Perpetuierung des Lebens als Selbstzweck die Selbstverständlichkeit. . . . Die nach dem Stand der Produktivkräfte überflüssige Anstrengung wird objektiv irreal, darum der Bann zur real herrschenden Metaphysik. Das gegenwärtige Stadium der Fetischisierung von Mitteln als Zwecken der Technologie deutet auf den Sieg jener Tendenz bis zum offenbaren Widersinn: ehemals rationale, doch überholte Verhaltensweisen werden von der Logik der Geschichte unverändert heraufbeschworen. Sie ist logisch nicht länger."

Wie Marx und seine Nachfolger sieht Adorno in der sich immer erneut reproduzierenden Struktur der bürgerlichen Gesellschaft das Haupthindernis der Emanzipation von Not und Unterdrückung: „Die Gesellschaft erhält sich nicht trotz ihres Antagonismus am Leben, sondern durch ihn; Profitinteresse, und damit das Klassenverhältnis, sind objektiv der Motor des Produktionsvorgangs, an dem das Leben aller hängt . . ." Die bürgerliche Gesellschaft, die dem Menschen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit versprochen hatte, ist zum Räderwerk geworden, das die Individualität verstümmelt: „Mit der Inthronisierung des Konkurrenzprinzips seit der Aufhebung der Zunft-schranken und dem Beginn der technischen Revolution entfaltete die bürgerliche Gesellschaft eine Dynamik, die das einzelne Wirtschaftssubjekt zwingt, seine Erwerbsinteressen rücksichtslos und um das Wohl der Allgemeinheit unbekümmert zu verfolgen. Die protestantische Ethik, der bürgerlich-kapitalistische Pflichtbegriff lieferten den Gewissenszwang dazu. Das antifeudale Ideal der Autonomie des Individuums, das dessen politische Selbst-bestimmung meinte., verwandelte sich im Wirtschaftsgefüge zu jener Ideologie, deren es zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Steigerung der Leistung bedurfte. So wird dem total verinnerlichten Individuum Wirklichkeit Schein und Schein Wirklichkeit. Indem es seine vereinzelte, von der Gesellschaft abhängige, ja widerruflich tolerierte Existenz absolut setzt, macht es sich zur absoluten Phrase.

. . . Das geistige Medium der Individuation, Kunst, Religion, Wissenschaft, verkümmert zum privaten Besitz einiger einzelner, deren Subsistenz die Gesellschaft nur zuweilen noch sichert. Sie, die das Individuum zur Entfaltung brachte, entfaltet sich, indem sie es sich entfremdet und zerbricht."

Das System der bürgerlichen Gesellschaft ist ferner dadurch gekennzeichnet, daß es, „um sich selbst zu erhalten, sich gleichzubleiben, zu .sein', immerwährend sich expandieren, weitergehen, die Grenzen immer weiter hin-ausrücken (muß) . . . Man hat ihr (der bürgerlichen Gesellschaft) demonstriert, daß sie, sobald sie einen Plafond erreicht, nicht länger über kapitalistische Räume außerhalb ihrer selbst verfügt, ihrem Begriff nach sich aufheben müßte."

Damit hat Adorno eine entscheidende These der marxistischen Imperialismustheorien ausgenommen. Diese gehen davon aus, daß die Hindernisse, die einer Verwertung des Kapitals im Innern eines Landes im Wege stünden, eine ökonomische und politische Expansion nach außen erzwängen, und rechnen diesen Expansionszwang zu den wichtigsten Ursachen internationaler Konflikte und vielleicht bevorstehender weltweiter Katastrophen. Auch Adorno sieht in der blinden Dynamik des bestehenden Systems eine Gefahr für den Weltfrieden: Er hält die „Chancen für den Untergang" für größer „als für ein neues Ägypten"

Entgegen der Annahme von Marx, das von der bürgerlichen Produktionsweise erzeugte Proletariat werde schließlich die Bedingung seiner Existenz, eben die bürgerliche Gesellschaft, aufheben, war gerade in.den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern das bürgerliche System stärker als die Kraft des Proletariats: dieses wurde, ohne daß damit die Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft verschwunden wären, in ihr System eingeschmolzen. Damit war die Forderung einer kritischen, auf Veränderung der bestehenden Verhältnisse abzielenden Theorie nach einer Einheit von Theorie und Praxis nicht mehr einzulösen. Das Denken wird in dieser Situation auf sich selbst zurückverwiesen; es kann Praxis nicht erzwingen, ja nicht einmal Auskunft über künftige Praxis geben. Ist aber gesellschaftsverändernde Praxis ausgeschlossen, so erfährt das Denken seine Rechtfertigung als einzig noch mögliche Praxis: „Praxis wird aufgeschoben und kann nicht warten; daran krankt auch Theorie. Wer jedoch nichts tun kann, ohne daß es, auch wenn es das Bessere will, zum Schlechten auszuschlagen drohte, wird zum Denken verhalten; das ist seine Rechtfertigung und die des Glücks am Geiste. Dessen Horizont muß keineswegs der einer durchsichtigen Beziehung auf später mögliche Praxis sein. Vertagendes Denken über Praxis hat allemal etwas Unzeitgemäßes, auch wenn es aus nacktem Zwang sie aufschiebt. . . . Eine Realität, die gegen die überlieferte Theorie, auch die beste, sich abdichtet, verlangt danach um des Bannes willen, der sie umhüllt; sie blickt das Subjekt mit so fremden Augen an, daß es, seines Versäumnisses eingedenk, die Anstrengung zur Antwort nicht sich ersparen darf. Das Verzweifelte, daß die Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist, gewährt paradox die Atempause zum Denken, die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre. Dem Denken kommt heute ironisch zugute, daß man seinen eigenen Begriff nicht verabsolutieren darf: es bleibt, als Verhalten, ein Stück Praxis, sei diese sich selbst noch so sehr verborgen."

Obwohl Adorno im gegenwärtigen Zeitpunkt gesellschaftsverändernde Praxis ausschließt, scheint er ein Minimum politischer Praxis für unerläßlich zu halten: den Kampf gegen Tendenzen, die einen Weltkrieg oder eine Refaschisierung der'noch liberalen bürgerlichen Gesellschaften verursachen könnten. „Heute hat sich die vereitelte Möglichkeit des Anderen (d. h. eine von Not und Unterdrückung befreite Welt, W. E.) zusammengezogen in die, trotz allem die Katastrophe abzuwenden." Wie Horkheimer scheint es auch Adorno heute darum zu gehen, vor allem den Liberalismus saute de mieux zu erhalten. Uber dieses Ziel hinaus führt jedoch keine praktische politische Anstrengung: Adorno hält Distanz zu den politischen Aktivitäten der linken Opposition. Das geschützte Gehäuse des Philosophen soll vor Erschütterungen bewahrt werden.

Die Überwindung des eindimensionalen Menschen

Im Gegensatz zu seinen alten Freunden vom „Institut für Sozialforschung", Horkheimer und Adorno, läßt der 1898 in Berlin geborene und heute in den USA lehrende Herbert Marcuse keine Anzeichen von Resignation erkennen: Er hält am Glauben an eine künftige Befreiung der Menschheit von Hunger, Elend, Unterdrückung und Ausbeutung fest.

Auch Marcuse ist der fast allen neueren Marxisten gemeinsamen Überzeugung, daß die ökonomische Struktur des fortgeschrittenen Kapitalismus mit der des Faschismus identisch sei und daß der Faschismus oder doch gewisse faschistoide gesellschaftliche Strukturen aus der liberalen Gesellschaftsordnung heraus-wachsen können. Die Überwindung des Faschismus im Zweiten Weltkrieg habe keinesfalls die gesellschaftliche Struktur, aus der er hervorgegangen sei, beseitigt, sondern nur moderner und leistungsfähiger gemacht Vor allem der moderne amerikanische Kapitalismus habe Methoden zur Weckung künstlicher Bedürfnisse entwickelt, die es ihm er-laubten, die überschüssige Produktionskapazität optimal auszunutzen und die Güter zu verkaufen, die verkauft werden müßten. „Geplanter Verschleiß" sorge dafür, daß Produkte, die besser und dauerhafter hergestellt werden könnten, ständig im Begriff seien, zu veralten und derart Anreiz für neuen Absatz schüfen. Ferner sei die Kriegswirtschaft ein unverzichtbarer Bestandteil des modernen Kapitalismus: Welfare state und warfare state bildeten eine untrennbare Einheit Mehr denn je sei heute der einzelne in das System der total verwalteten Industriegesellschaft eingespannt. Die moderne Industriegesellschaft habe Herrschaftstechniken, soziale Kontrollen entwickelt, die dem einzelnen derart introjiziert worden seien, die er derart verinnerlicht habe, daß für die überwiegende Mehrzahl der Menschen keine kritische Distanz zum sozialen Prozeß mehr möglich sei. Wer sich weigere, die Normen des sozialen Prozesses zu akzeptieren, erscheine als Neurotiker. Wirkliche Privatheit und innere Freiheit verschwänden — so entstehe der „eindimensionale Mensch": „Heute wird der private Raum (der inneren Freiheit, W. E.) durch die technologische Wirklichkeit angegriffen und beschnitten. Massenproduktion und -distribution beanspruchen das ganze Individuum, und Industriepsychologie ist längst nicht mehr auf die Fabrik beschränkt. Die mannigfachen Introjektionsprozesse scheinen zu fast mechanischen Reaktionen zu verknöchern. Das Ergebnis ist nicht Anpassung, sondern Mimesis: eine unmittelbare Identifikation des Individuums mit seiner Gesellschaft und dadurch mit der Gesellschaft als einem Ganzen." Die Individuen werden derart präformiert, daß zu den Konsumgütern auch Gedanken, Gefühle und Wünsche gehören: Warum sollten sie also „selbst denken, fühlen und sich etwas vorstellen? Zwar mögen die angebotenen materiellen und geistigen Waren schlecht, verschwenderisch, Schund sein — aber Geist und Erkenntnis sind keine durchschlagenden Argumente gegen die Befriedigung von Bedürfnissen."

In einer Gesellschaft, in der alles soziale Leben dem Zweck der Profitmaximierung untergeordnet ist, kann es keine andere Vernunft als die der Zweckrationalität geben. „Die Gesellschaft reproduzierte sich in einem wachsenden technischen Ensemble von Dingen und Beziehungen, das die technische Nutzbarmachung der Menschen einschloß — mit anderen Worten, der Kampf ums Dasein und die Ausbeutung von Mensch und Natur wurden immer wissenschaftlicher und rationaler. Die doppelte Bedeutung von Rationalisierung ist in diesem Zusammenhang von Belang. Wissenschaftliche Betriebsführung und wissenschaftliche Arbeitsteilung erhöhten in starkem Maße die Produktivität des ökonomischen, politischen und kulturellen Unternehmens. Das Ergebnis war der höhere Lebensstandard. Gleichzeitig und aus demselben Grunde produzierte dieses rationale Unternehmen ein Denkund Verhaltensschema, das die zerstörerischsten und grausamsten Züge dieses Unternehmens rechtfertigte und sogar freisprach. Wissenschaftlich-technische Rationalität und Manipulationen werden zu neuen Formen sozialer Kontrolle zusammengeschweißt." Damit aber verkümmere die Vernunft zu einem Mittel, die vom Menschen gesetzten Zwecke, vor allem die der Natur-und Menschenbeherrschung, optimal zu verwirklichen. Humanitäre, religiöse und moralische Ideen seien im zweck-rationalen Denken der heute vorherrschenden „eindimensionalen Philosophie" vom Bereich der Vernunft ausgeschlossen, weil sich über sie nichts rational Gesichertes ausmachen lasse. Der Positivismus, der sich selbst ans Bestehende ausgeliefert habe, verbanne so jede Reflexion über ein besseres und gerechteres Zusammenleben der Menschen, in welchem die heute verschleiert weiterbestehende Ausbeutung abgeschafft sei, in den Bereich des Mythos

Marcuse charakterisiert den modernen Wohlfahrtsstaat als eine „historische Mißgeburt zwischen organisiertem Kapitalismus und Sozialismus, Knechtschaft und Freiheit, Totalitarismus und Glück" In einer solchen Gesellschaft des partiellen Überflusses, von dem der überwiegende Teil der Arbeiterschaft profitiert, hat das Proletariat — und hier greift Marcuse eine charakteristische Position des neueren Marxismus auf — seine Funktion als jene Klasse, welche die Umgestaltung des Kapitalismus vollziehen werde, verloren. Ein übereinstimmendes Interesse an der Erhaltung und Verbesserung des institutionellen Status quo vereinige nunmehr die früheren Antagonisten Bourgeoisie und Proletariat Aber wenn auch das Proletariat das Bewußtsein verloren habe, daß es das historische Subjekt der Transformation des Kapitalismus in den Sozialismus sei, so sei doch die objektive Möglichkeit einer solchen Transformation gegeben, und zwar heute — angesichts einer Entfaltung der Produktivkräfte, die selbst Marx in Erstaunen gesetzt hätte — mehr als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der Geschichte. Wenn die materiellen und intellektuellen Kräfte, die in der Lage wären, eine freie Gesellschaft zu realisieren, hierfür nicht eingesetzt würden, so sei dies „ausschließlich der totalen Mobilisierung der bestehenden Gesellschaft gegen ihre eigene Möglichkeit der Befreiung zuzuschreiben'1 Marcuse insistiert darauf, daß der Sozialismus heute nicht mehr als Utopie angesprochen werden könne: Man könne heute „in der Tat von einem Ende der Utopie reden"

Es gebe heute kaum noch einen ernst zu nehmenden Wissenschaftler, der bestritte, „daß mit den technisch bereits vorhandenen Produktivkräften, materiell sowohl wie intellektuell, die Abschaffung des Hungers und des Elends möglich ist und daß das, was heute geschieht, der sozialpolitischen Organisation der Erde zuzuschreiben ist" So gesehen stelle sich, angesichts der „Undefinierbarkeit einer revolutionären Klasse", die entscheidende Frage, wie in der Gesellschaft neue vitale Bedürfnisse geweckt werden könnten, die als „gesellschaftliche Produktivkraft" eine totale technische Umgestaltung der Lebens-welt in die Wege leiten könnten. Voraussetzung hiefür sei die Negation der „das heutige Herrschaftssystem tragenden Bedürfnisse": zum Beispiel die Negation „des Existenzkampfes, Negation des Leistungsprinzips, der Konkurrenz, Negation des heute ungeheuer starken Bedürfnisses nach Konformität, nicht aufzufallen, kein Außenseiter zu sein, Negation des Bedürfnisses nach einer verschwendenden, zerstörenden Produktivität, die mit Destruktion untrennbar verbunden ist, Negation des vitalen Bedürfnisses nach verlogener Trieb-unterdrückung. Diese Bedürfnisse werden negiert in dem Bedürfnis nach Frieden . . ., dem Bedürfnis nach Ruhe, dem Bedürfnis nach Alleinsein, der Sphäre der Privatheit, die, wie die Biologen uns sagen, ein notwendiges Bedürfnis des Organismus ist. . . ." Die Befriedigung solcher Bedürfnisse aber setze voraus, daß die zwischenmenschlichen Verhältnisse und die Lebenswelt des Menschen verändert werden müßten. Dies hieße im Hinblick auf die technisch am höchsten entwickelten Länder „die Beseitigung der Schrecken der kapitalistischen Industrialisierung und Kommerzialisierung, die totale Rekonstruktion der tädte und die Wiederherstellung der Natur nach der Beseitigung der Schrecken der kapitalistischen Industrialisierung." Damit sei kein romantischer Rückschritt hinter die Technik gemeint — im Gegenteil, die Segnungen der Technik könnten überhaupt erst wirklich werden, wenn die kapitalistische Industrialisierung und die kapitalistische Technik beseitigt seien

Natürlich kommt Marcuse um die Frage, wer denn der Träger der Überwindung oder doch wenigstens Infragestellung der modernen kapitalistischen Gesellschaft sein söll, nicht herum. Die Antwort, die er hierauf gibt, bleibt vorläufig und zwiespältig, denn „die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten" Ein Kollektivsubjekt der Transformation, das dem Marxschen Proletariat vergleichbar wäre, kann er nicht nennen, sondern nur zersplitterte Gruppen: Studenten, Intellektuelle, die Restbestände der europäischen, noch nicht ins System integrierten Arbeiterklasse, die Minoritätsgruppen, die sich weigern, „an den Segnungen der . Gesellschaft im Überfluß'teilzunehmen", wie die Hippies und Beatniks. Eine revolutionierende Wirkung des Kampfes der Länder der Dritten Welt gegen amerikanische Interventionen auch in den westlichen Metropolen möchte Marcuse nicht ausschließen, aber er ist in dieser Frage doch weit skeptischer als etwa Dutschke

Marcuses Zuneigung gilt jenen Gruppen in der Gesellschaft, die sich weigern, das aufgezwungene Spiel von Konsum und Anpassung mitzuspielen: „Unter der konservativen Volksbasis befindet sich jedoch das Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen. Sie existieren außerhalb des demokratischen Prozesses; ihr Leben bedarf am unmittelbarsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen. Damit ist ihre Opposition revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewußtsein. Ihre Opposition trifft das System von außen und wird deshalb nicht durch das System abgelenkt; sie ist eine elementare Kraft, die die Regeln des Spiels verletzt und es damit als ein aufgetakeltes Spiel enthüllt. Wenn sie sich zusammenrotten, ohne Waffen, ohne Schutz, um die primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie, daß sie Hunden, Stei-nen und Bomben, dem Gefängnis, Konzentrationslagern, selbst dem Tod gegenüberstehen. . .. Die Tatsache, daß sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein, die den Beginn des Endes einer Periode markiert."

Auf der gleichen Linie liegen die Thesen des Aufsatzes über „Repressive Toleranz", der auf die linke Studentenopposition großen Einfluß ausgeübt hat. Der Sinn der bürgerlichen Idee der Toleranz sei gewesen, durch die Ermöglichung unabhängigen Denkens, frei von geistigem Drill und Manipulation, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Die Toleranz dagegen, die in den heutigen gleichgeschalteten Gesellschaften in gewissen Grenzen den Minderheiten entgegengebracht werde, habe die Funktion, diese Minderheiten ebenfalls gleichzuschalten und ins System zu integrieren. Deshalb sei es legitim, daß sich diese Minderheiten, die das repressive System überwinden wollen, über die üblichen Spielregeln des Austrags gesellschaftlicher Konflikte hinwegsetzen. Marcuse stellt ausdrücklich fest, daß es kein Widerstandsrecht für irgendeine Gruppe oder ein Individuum „gegen eine verfassungsmäßige Regierung, die von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen wird", geben könne. Dennoch glaube er, „daß es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein , Naturrecht" auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben. Gesetz und Ordnung sind überall und immer Gesetz und Ordnung derjenigen, welche die etablierte Hierarchie schützen; es ist unsinnig, an die absolute Autorität dieses Gesetzes und dieser Ordnung denen gegenüber zu appellieren, die unter ihr leiden und gegen sie kämpfen — nicht für persönlichen Vorteil und aus persönlicher Rache, sondern weil sie Menschen sein wollen."

Solche Sätze lesen sich vordergründig wie eine Aufforderung, die gesetzliche Ordnung zu durchbrechen. Man sollte sich jedoch, bevor man sie verurteilt, ins Gedächtnis rufen, daß sie sich genau mit der Ansicht eines der ersten Verfechter des Prinzips der Volkssouveränität, John Locke, und überhaupt mit der gemeinsamen Überzeugung der bürgerlichen Freiheitsbewegung decken. Die Arbeiterbewegung konnte sich auf solche Sätze berufen, wenn ihre formal gesetzwidrigen Streiks mit militärischer Gewalt beendet werden sollten und wenn sie dagegen Widerstand leistete. An dieses Argument halten sich die Menschen, die in den USA und in Südafrika gegen rassische Diskriminierung kämpfen und dabei gegen bestehende Gesetze verstoßen. Die These, daß es legitim sei, Gesetze, die bestehendes Unrecht sanktionieren, zu durchbrechen, hat eine lange Tradition in der Geschichte abendländischen Denkens.

Marcuse weist mit Nachdruck auf die Differenz hin, die zwischen den modernen demokratischen Herrschaftssystemen, welche die rebellischen Minderheiten durch Tolerierung ins System integrieren und so neutralisieren, und den Praktiken einer Diktatur gegenüber Minderheiten besteht: „Bei all ihren Grenzen und Verzerrungen ist demokratische Toleranz unter allen Umständen humaner als eine institutionalisierte Intoleranz, welche die Rechte und Freiheiten der lebenden Generationen künftigen Generationen zuliebe hinopfert."

Deshalb ist Marcuse auch weit davon entfernt, der Abschaffung der Toleranz das Wort reden zu wollen, wie ihm immer wieder vorgehalten wird. „Ich hoffe", so interpretiert Marcuse seine Toleranzschrift selbst, „daß nichts in meinem Aufsatz über die Toleranz darauf hindeutet, daß ich jede Toleranz ablehne. ... Was ich gemeint und auch gesagt habe, ist, daß es Bewegungen gibt, in der Propaganda sowohl wie in der Aktion, von denen sich mit größter Sicherheit voraussagen läßt, daß sie zu einer Verstärkung der Repression und Destruktion führen müssen. Diese sollten im Rahmen der Demokratie nicht toleriert werden. Ein klassisches Beispiel: Ich glaube, daß, wenn die Nazibewegung in der Weimarer Republik von Anfang an, nachdem sie ihren Charakter — und das war sehr früh — enthüllt hatte, nicht toleriert worden wäre, wenn sie nicht die Segnungen dieser Demokratie genossen hätte, daß wir dann die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und noch einige andere Schrecken wahrscheinlich nicht erlebt hätten."

In der Toleranzschrift selbst nennt Marcuse weitere Beispiele für politische Strömungen und Tendenzen, die nach seiner Ansicht nicht toleriert zu werden verdienen: „Gruppen und Bewegungen . . . die eine aggressive Politik, Aufrüstung, Chauvinismus und Diskriminierung aus rassischen und religiösen Gründen befürworten oder sich der Ausweitung öffentlicher Dienste, sozialer Sicherheit, medizinischer Fürsorge usw. widersetzen." Was die Prinzipien betreffe, nach denen zwischen befreienden und repressiven, menschlichen und unmenschlichen Lehren und Praktiken geurteilt werden sollte, so seien sie keine Sache bloß subjektiven Vorziehens von Werten, sondern sie könnten nach rationalen Kriterien bemessen werden.

Die politische Praxis, die Marcuse den rebellischen Minderheiten empfiehlt, ist die des great reiusal, die auf Gewissensentscheidung beruhende Weigerung, die Normen eines Systems, das Individualitäten unterdrückt, Menschen ausbeutet und Völker, die gegen ihre einheimischen Unterdrücker aufstehen, mit einer infernalischen Kriegsmaschinerie überzieht, nicht zu akzeptieren. Wer sich dergestalt dem Integrationssog des bestehenden Systems entzieht, kennt dessen Reaktion auf die Rebellion des „great refusal": „Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen." Die kritische Gesellschaftstheorie sei nicht imstande, Anweisungen zur gesellschaftsverändernden Praxis zu geben. Aber dennoch bleibe ihr die Aufgabe, ständig auf die Möglichkeit eines besseren Zustandes hinzuweisen, die gerade von der modernen Technologie und der unvorstellbaren Entwicklung der Produktivkräfte geschaffen worden sind: die Befreiung des Menschen von Not und seelischer Unterdrückung durch Befriedigung des Lebenskampfes.

II. Die linke Studentenopposition

Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS)

Zur linken Studentenopposition müssen neben dem SDS auch der Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB), die verschiedenen gewerkschaftlichen Arbeitskreise an den Universitäten, die Humanistische Studentenunion (HSU) und in vieler Hinsicht auch der Liberale Studentenbund (LSD) gerechnet werden; in allen diesen Gruppierungen, vor allem in SHB, sind einzelne Mitglieder oder ganze Fraktionen zu finden, die marxistische Positionen vertreten.

Dennoch beschränkt sich der nachstehende Versuch, einzelne Richtungen innerhalb der linken Studentenopposition im Hinblick auf die in ihr vertretenen marxistischen Positionen zu unterscheiden, auf den SDS, da die dort geführten Diskussionen über Theorie und Praxis einer neuen Linken als exemplarisch für die linke Studentenopposition gelten können.

Der SDS wurde im Jahre 1946 gegründet. Zu den Gründungsmitgliedern gehörte übrigens der jetzige Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Helmut Schmidt. Bis zum Entschluß der Führung der SPD nach den verlorengegangenen Wahlen von 1957, ein linksliberales und vom Bürgertum nicht länger attackierbares Par-teiprogramm zu schaffen, gab es zwischen SDS und SPD keine nennenswerte Spannungen. Die SPD selbst hatte ja in ihren verschiedenen Aktionsprogrammen sozialistische Forderungen wie die Überführung der Grundstoffindustrien in Gemeineigentum und partielle Planwirtschaft erhoben, und auch in der Außenpolitik stand sie eindeutig gegen den Regierungskurs. Der Deutschlandplan Herbert Wehners von 1960 hat vielleicht den Bruch zwischen SPD und SDS noch etwas verzögert — aber grundsätzlich gilt doch, daß mit der Durchsetzung des Godesberger Programms die guten Beziehungen zwischen SDS und SPD rapide dahinschwanden.

Die marxistische Mehrheitsfraktion des SDS hatte ihre ganzen intellektuellen Potenzen gegen die Verabschiedung des Godesberger Programms mobilisiert — so z. B. Gegenentwürfe erarbeitet — und mochte sich auch nach seiner Verabschiedung nicht mit ihm abfinden. Im Jahre 1959 veranstaltete der SDS zwei Kongresse, den Kongreß „Für Demokratie — gegen Restauration und Militarismus" in Frankfurt und den „Studentischen Kongreß gegen Atomrüstung''in Berlin, auf denen er pronon-ciert auf früher von der SPD selbst vertretenen innen-und außenpolitischen Forderungen verharrte und sich vor allem bundeswehr-und NATO-feindlich zeigte. Nach der Bundesdelegiertenkonferenz von Göttingen im Jahr 1959 kam es zu einem kurzen Burgfrieden zwischen SPD und SDS. Der SDS bekannte sich ausdrücklich zu den Grundsätzen der „Sozialistischen Internationale", was ihm um so leichter fiel, als in diesen Grundsätzen, welche die SPD bis heute noch nicht widerrufen hat, das ganze altsozialistische Credo enthalten ist Außerdem bekannte sich der SDS auf dieser Bundeskonferenz zur Führungsrolle der SPD in der sozialistischen Bewegung Deutschlands. Auf der Göttinger Konferenz fiel ein kleiner SED-freundlicher Flügel bei den Vorstandswahlen durch; gegen seine Wortführer, die der damaligen Studentenzeitschrift „Konkret" nahestanden, wurde ein Ausschlußverfahren eingeleitet. Seit dieser Zeit hat es im SDS keine SED-freundliche Fraktion mehr gegeben.

Der SDS vertrat zu Beginn der sechziger Jahre einen relativ gemäßigten Kurs, der hauptsächlich von den Anhängern Abendroths bestimmt wurde. Aber selbst dieser gemäßigte Kurs war für die sozialdemokratischen Reformbemühungen unerträglich geworden. Im Jahr 1960 wurde der SHB gegründet, von dem die SPD hoffte, daß er dem SDS das Wasser abgraben könne — eine Hoffnung, die bisher getrogen hat. Ins gleiche Jahr fiel der Entzug der finanziellen Förderung durch die SPD selbst und durch Sperrung der Mittel des Bundesjugendplanes. Ehemalige Mitglieder des SDS, dem SDS nahestehende Professoren und Intellektuelle gründeten daraufhin eine „Sozialistische Förderergesellschaft", aus der der heutige „Sozialistische Bund" hervorgegangen ist, der vor allem die Aufgabe hat, den

SDS finanziell zu unterstützen. Die SPD reagierte auf die Gründung der „Sozialistischen Förderergesellschaft" mit dem bereits oben erwähnten Beschluß, daß eine Mitgliedschaft im SDS und in der Förderergesellschaft mit einer Mitgliedschaft in der SPD unvereinbar sei.

Der SDS Überstand die Krise. Der Vorstand verzichtete auf spektakuläre Aktionen wie die Berliner und Frankfurter Kongresse; im Vordergrund der SDS-Aktivität stand nunmehr die gesellschaftstheoretische Schulung der Mitglieder. Zu diesem Zweck wurden an den einzelnen Hochschulgruppen Arbeitsgemeinschaften gebildet, die sich etwa anhand der Schriften von Georg Lukäcs um ein adäquates Marx-

Verständnis oder um eine marxistische Interpretation der fortgeschrittenen kapitalistischen Ökonomie bemühten, indem sie Texte des belgischen Marxisten Ernest Mandel oder der amerikanischen Marxisten Baran und Sweezy studierten. Von mehreren Hochschulgruppen gemeinsam veranstaltete Seminare, auf denen prominente Marxisten wie Abendroth, Leo Kofler und Ernest Mandel referierten, dienten dazu, die gesellschaftstheoretische Schulungsarbeit zu vertiefen. Diese ernsthafte Selbst-schulung war schon immer ein Charakteristikum des SDS; sie hat ihn stabilisiert und auch nach außen hin selbstsicher gemacht. Beträchtliches Ansehen in einer weiteren Öffentlichkeit hat sich der SDS durch seine Denkschrift zur Hochschulpolitik „Hochschule in der Demokratie" erworben, die in einem angesehenen wissenschaftlichen Verlag erschienen ist

Der SDS ist keine zentralisierte und bürokratisierte Organisation; dies kann er schon auf Grund der Eigenständigkeit der einzelnen Gruppen an den Universitäten nicht sein. Deshalb werden auch in den einzelnen Gruppen unterschiedliche theoretische Positionen vertreten, wobei an den verschiedenen Hochschulgruppen einmal diese, einmal jene Richtung die Mehrheit haben mag. Es soll gleich darauf aufmerksam gemacht werden, daß der Bezug auf die in der Bundesrepublik vertretenen marxistischen Positionen, die oben referiert worden sind, nicht genügen kann, um die ideologischen. Richtungen des SDS genau zu bestimmen. Hierzu wäre es erforderlich, jene marxistischen Theorien, die sich explizit auf die revolutionären Bewegungen in der Dritten Welt und auf die Rückwirkung dieser Bewegungen auf Theorie und Praxis der sozialistischen Bewegungen in den hochkapitalistischen Ländern beziehen, mit ins Spiel zu bringen — also die theoretischen Vorstellungen Leo Trotzkis, Mao Tse-tungs, Fidel Castros, Che Guevaras und Frantz Fanons, die vor allem den linken Flügel des SDS beeinflußt haben. Ferner sind die Aktionen und Demonstrationen des SDS nicht verständlich ohne Kenntnis der Aktionsformen, welche die linke Studentenbewegung in den USA, vor allem bei den Studentenrevolten von Berkeley, entwickelt hat

Die vorliegende Arbeit bescheidet sich mit einer Darstellung der Resonanz, welche die im Westen, insbesondere in der Bundesrepublik, vertretenen marxistischen Positionen in den verschiedenen Richtungen des SDS gefunden hat. Von einem Einfluß der Parteiideologie der SED auf den SDS kann keine Rede sein. Gewisse Presseorgane und Politiker der großen Parteien, welche die Eigenart des SDS noch nicht verstanden haben und gerne von dessen „Fernsteuerung" und „Finanzierung durch dunkle Kanäle" sprechen, täuschen sich. Wenn Dutschke meint, daß das in der „Sowjetunion herrschende System von Institutionen . . . sich gerade dadurch aus(zeichnet), daß es keinen kritisch-schöpferischen Dialog zwischen der Partei und den Massen gibt", und daß das „verselbständigte System der Herrschaft der Bürokratie" und „die Verkettung von Partei und Staatsapparat" zu der „seit Jahrzehnten herrschende(n) Entfremdung zwischen Partei und Massen" geführt habe, so gibt er damit die Überzeugung so gut wie aller SDS-Mit-glieder wieder Ein von SDS und FDJ gemeinsam veranstaltetes Seminar über „Konzeptionen — Wege — Möglichkeiten einer Deutschlandpolitik", dem ein gescheiterter Versuch eines gemeinsamen Seminars vor-anging, konnte nur mühsam vor einem Fiasko bewahrt werden Treten in Veranstaltun-ten des SDS oder der linken Studentenopposition kommunistische Redner auf, so erregen sie in der Regel beträchtlichen Unmut durch die Primitivität ihrer agitatorischen Argumente.

Kritischer Attentismus

Die „Kritische Theorie" Horkheimers und Adornos hat sich in den letzten Jahrzehnten auf eine Kritik der Überbauphänomene der weiterhin als mangelhaft empfundenen kapitalistischen Gesellschaft verengt. Gesellschaftsverändernde Praxis erscheint als ausgeschlossen und wird durch Philosophie und Kultur-kritik ersetzt. Solange sich der SDS in jener Entwicklungsphase befand, in welcher er das Hauptgewicht auf die gesellschaftstheoretische Schulung seiner Mitglieder legte, war ihm die Rezeption der kritischen Theorie Horkheimers und Adornos besonders wichtig, da ihn deren Begriffe und Kategorien vor einem Abgleiten in vulgärmarxistische Mißverständnisse bewahren konnten. Nunmehr jedoch, da der SDS in eine aktivistische Phase eingetreten ist, hält er die aller Praxis distanziert gegenüberstehende Position Horkheimers und Adornos für ungenügend. Diese Unzufriedenheit zeigte sich z. B. in Berlin im Sommer 1967, als Adorno an der Freien Universität, wo die politischen Wogen hochgingen, mit einem Vortrag über „Die Klassizität von Goethes Iphigenie" aufwartete. Der SDS boykottierte diesen Vortrag, indem er Flugblätter mit der Ankündigung verteilte, er wolle „Professor Adorno einer einsamen Ekstase an seinem Text" überlassen; außerdem unternahm eine SDS-Studentin den Versuch, Adorno einen roten Teddybären zu überreichen. Horkheimers Liberalismus saute de mieux wurde angegriffen, als er in einer Rede anläßlich der „Deutsch-amerikanischen Freundschaftswoche" vom Mai 1967 den Eindruck erweckte, als verteidige er die amerikanische Vietnampolitik, und dazu noch die Vereinigten Staaten als einen Hort der bürgerlichen Freiheitsrechte pries. Horkheimer und Adorno waren freimütig genug, sich dem Frankfurter SDS zu einer Diskussion über das Verhältnis ihrer kritischen Theorie zur Praxis der linken Studentenopposition zu stellen. Adorno betonte ausdrücklich seine Skepsis hinsichtlich des Sinns und der Wirksamkeit der studentischen Demonstrationen, machte jedoch aus seiner Solidarität mit den linken Studenten keinen Hehl

Im Gegensatz zu Adorno und Horkheimer hält Jürgen Habermas auch unter den gegenwärtigen Verhältnissen eine Praxis für möglich, die — auf lange Sicht gesehen — zur Umwandlung der bestehenden Gesellschaft in eine wahrhafte Demokratie von freien und gleichen Bürgern führen könnte. Die Habermassche Praxis zielt vor allem auf eine demokratische Durchdringung der Oligarchien der staatlichen Bürokratie, der Parteien und Verbände und nicht zuletzt auch der Universität ab, um zu einer politischen und kritischen Öffentlichkeit zu gelangen, die diesen Namen auch verdient. Natürlich gibt sich Habermas, was die Widerstände gegen eine solche auf Herstellung von Öffentlichkeit gerichtete Aktivität betrifft, keinen Illusionen hin: „Die Durststrecke zwischen Theorie und Praxis ist in der heutigen Lage ungewöhnlich lang." Eben darum und weil die Gefahr drohe, daß der Freiheitsspielraum vom Machtkartell der großen Parteien weiter eingeschränkt werde, gelte es für die Linke, sich des Resonanzbodens der liberalen Presse zu versichern und mit den Gewerkschaften zusammenzuarbeiten: „Ich sehe keinen Grund, der einen leichtfertigen oder rücksichtslosen Umgang mit den elementaren Legitimationsgrundlagen unserer Verfassung rechtfertigte. Die Transformation des bürgerlichen Klassenstaates in die soziale rechtsstaatliche Demokratie wäre ohne europäische Arbeiterbewegung nicht möglich gewesen. Die Linke ist es, die diesen Transformationsprozeß weitertreibt und den drohenden Rückfall in ein autoritäres System verhindern will, sie ist es, die die Intentionen des Grundgesetzes realisieren will." Eine Revolution aber werde es weder heute noch morgen geben.

Dieser Position entspricht im SDS am ehesten die Richtung des ehemaligen Bundesvorsitzenden Reimut Reiche. Sie vertritt, was die manifesten Aktionen des SDS betrifft, einen gewissen Attentismus. Anders als die von Dutschke vertretene Richtung hat sie gegenüber der gegenwärtigen Aktivität des SDS an den Hochschulen einige Vorbehalte. Die Hochschulpolitik, so erklären Reiche und Gäng, gerate in Gefahr, „zum Angelpunkt der gesellschaftlichen Revolution erklärt zu werden. Oft ist das, was am Hochschulort produziert wird, nicht viel mehr als eine Spielweise für junge sozialistische Intellektuelle, die an der Universität das ausprobieren, was sie in anderen gesellschaftlichen Bereichen sowieso nicht erreichen können: die permanente Revolte." Subjektiv revolutionäre Haltungen könnten dabei leicht zu objektiv konterrevolutionären werden

Auch hinsichtlich des Stellenwerts, der auf dem linken Flügel des SDS den Kämpfen in der Dritten Welt beigemessen wird, vertreten Reiche und Gäng abweichende Meinungen. Unter Umständen seien es nicht diese Kämpfe, sondern die „friedliche Koexistenz", welche „langfristig durchaus günstigere Randbedingungen für die Belebung des Klassenkampfes im Innern des Landes schaffen (kann). Diese mögliche Wirkung der sowjetischen Koexistenzpolitik darf man — bei allen Vorbehalten im Hinblick auf die antikoloniale Revolution in der Welt — nicht unterschätzen."

Als vorläufige Strategie empfehlen Reiche und Gäng die Schaffung einer „formal lockeren, inhaltlich einheitlichen, öffentlich arbeitenden Organisation", die sich an sozialistischen Zielen orientieren und gewisse antikapitalistische Aktionen organisieren solle: „Was sich lohnt, ist: Ausgehend von der aktuellen Kraft und basierend auf den aktuellen Tendenzen eine Opposition zu organisieren, die so arbeitet und mit einer solchen Programmatik antritt, daß sie für Ostermarschierer und linke Jugendliche, für linke Gewerkschaftler und SPD-Genossen, für sozialistische Studenten und Schüler gleichermaßen attraktiv ist, weil sie ihre Interessen und ihre Widersprüche zu formulieren versteht und sich für sie einzusetzen vermag. Auszugehen ist dabei von den gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozessen und der Arbeit oppositioneller Kräfte." Die Gründung einer Partei oder der Vorform einer Partei könne diese Aufgabe der Sammlung von linken Gymnasiasten (Reiche ist einer der geistigen Väter des „Aktionszentrums unabhängiger und sozialistischer Schüler"), Studenten, Gewerkschaftlern und Intellektuellen nicht erfüllen. Reiche und Gang bleiben übrigens Anhänger der traditionellen Schulungsformen des SDS wie Arbeitskreise und Seminare, die vom linken Flügel gerne als „reformistisch" und „systemstabilisierend" abgetan werden.

Sammlung und Schulung sollen eine breite Schicht von Linksintellektuellen heranbilden, die vorläufig, solange sich die Linke noch in der Defensive befindet, auf einen Ausbau der Demokratisierung in der Bundesrepublik hinwirken soll und die später, falls es wieder einmal so etwas wie eine sozialistische Bewegung geben wird, dieser zur Verfügung stehen könnte.

Marxistischer Traditionalismus

Eine andere Richtung im SDS, die vor allem von Schülern Abendroths vertreten wird, mißt der Arbeiterschaft und vor allem den Gewerkschaften nach wie vor eine bedeutende Rolle in der sozialistischen Praxis bei: „Die einzige gesellschaftliche Gruppe, die in der gegenwärtigen Situation von den konkreten politisch-ökonomischen Krisentendenzen und Konflikten direkt betroffen ist, ist die deutsche Arbeiterklasse. . .. Nur die deutsche Arbeiterklasse kann Träger einer sozialistischen Politik sein, da sie aufgrund ihrer Stellung im Produktionsprozeß über die Macht verfügt, diese Politik wirksam durchzusetzen." Die These, daß es in der spätkapitalistischen Gesellschaft kein revolutionäres Subjekt mehr gebe und deshalb auch die Arbeiterklasse nicht mehr Träger gesellschaftlicher Veränderungen sei, müsse den SDS zwangsläufig in die Isolierung führen „Wir haben", so meint Abendroth selbst, „heute in Westdeutschland eine sozial weithin exklusive Studentenbewegung mit ra-dikalen Forderungen zu aktuellen Fragen, mit denen man sich als Sozialist identifizieren muß. Diese Bewegung wird aber wahrscheinlich, wenn sich keine Vermittlung zu neuen Willensbildungszentren der Arbeiterklasse ergibt, den Weg aller dieser Wellenbewegungen gehen, den des Zerfalls."

Die Abendroth-Richtung innerhalb des SDS bemüht sich deshalb in Zusammenarbeit mit den Gleichgesinnten im „Sozialistischen Bund" um eine organisatorische Sammlung aller sozialistischen Kräfte. Im Laufe des Jahres 1967 hat sich eine „Sozialistische Opposition" konstituiert, die sich im Februar 1968 in Offenbach ein Programm gegeben hat. Es gibt durchaus Überlegungen, aus dieser Sammlung unterschiedlicher sozialistischer Gruppierungen eine neue linkssozialistische Partei zu entwickeln. Das Projekt einer solchen organisatorischen Verfestigung ist jedoch im SDS sehr umstritten; seine Befürworter dürften sich in der Minderheit befinden.

Demonstrativer Aktivismus

Die theoretische Position innerhalb des SDS, die in der Öffentlichkeit am meisten Aufsehen erregt hat, ist jene, die besonders prononciert von Rudi Dutschke vorgetragen wird. Da sie in Dutschkes Äußerungen am besten dingfest zu machen ist, liegen auch hauptsächlich diese der folgenden Darstellung zugrunde, obwohl sich Dutschke eindringlich gegen jede Personalisierung des von ihm vertretenen Standpunktes wehrt.

Dutschke stammt aus der DDR und blieb nach dem Bau der Mauer in West-Berlin. Sein persönlicher Mut zeigt sich darin, daß er in der DDR Mitglied der evangelischen Gemeinde war und den Wehrdienst in der Volksarmee verweigert hat. Er ist offensichtlich stark von Marcuse beeinflußt. Wie dieser geht er davon aus, daß in der Epoche des organisierten monopolistischen Spätkapitalismus die gesellschaftlichen Antinomien dergestalt entschärft, das heißt im eindimensionalen Menschen verinnerlicht worden seien und zudem imperialistisch nach außen hin durch Aggressionen abgelenkt werden konnten, daß das Proletariat als revolutionäre Klasse verschwand. Deshalb sind alle Versuche, eine neue revolutionäre Partei zu gründen, aussichtslos, da die bewußte Klasse, die ihr Träger werden könnte, nicht existiert Wie Marcuse setzt Dutschke gewisse Hoffnungen auf das revolutionäre Potential jener Minderheiten, die vom Gesamtsystem nicht integriert werden können oder die sich im great refusal weigern, sich integrieren zu lassen.

Bei Marx, so führte Dutschke auf dem Kongreß in Hannover, der im Juni 1967 nach der Über-führung des bei den Berliner Schah-Demonstrationen von einem Polizisten erschossenen Benno Ohnesorg abgehalten worden war, mit einer Spitze gegen Habermas aus, habe es noch geheißen, daß es nicht genüge, daß der Gedanke zur Wirklichkeit dränge, vielmehr müsse auch die Wirklichkeit zum Gedanken drängen. Heute jedoch dränge in den europäischen Metropolen die Wirklichkeit nicht mehr zum Gedanken. Hieraus leite Habermas seinen Attentismus ab, wobei er verkenne, daß Aufklärung und Schulung ohne Aktion zum reinen Konsum entarte. Umgekehrt betonte Dutschke jedoch ausdrücklich, daß reine Aktion ohne rationale Bewältigung der Problematik in Irrationalität umschlage. Habermas hielt Dutschke entgegen, er entwickle eine voluntaristische Ideologie, und indem er Provokationen propagiere, fordere er die Institutionen dazu heraus, die in ihnen verborgene „sublime Gewalt" in „manifeste Gewalt" umzuwandeln, was masochistisch sei. In diesem Zusammenhang fiel auch Habermas’ von der Publizistik begierig aufgegriffene und inzwischen arg strapazierte Wort von Dutschkes „linkem Faschismus": „Ich bin der Meinung, (Dutschke) hat eine voluntaristische Ideologie hier entwickelt, die man im Jahre 1848 utopischen Sozialismus genannt hat, und die man unter heutigen Umständen . . . linken Faschismus nennen muß."

Habermas wollte damit nicht sagen, daß die linke Studentenbewegung faschistisch sei, auch nicht, daß sie zu faschistischen Methoden gegriffen habe. Daß beides nicht faschistisch sein kann, liegt auf der Hand, wenn man die Methoden der studentischen Demonstrationen und die Ziele, wofür oder wogegen demonstriert wird, mit den brutalen und antihumanen Methoden und Zielen der realen faschistischen Bewegungen dieses Jahrhunderts vergleicht. Der Vorwurf des linken Faschismus kann nur bedeuten, daß eine Praxis, die, ohne auf eine konkrete historische Tendenz sich stützen zu können, durch voluntaristische Einzelaktionen die gesellschaftlichen Verhältnisse in Bewegung bringen will, der Struktur nach mit faschistischen Haltungen identisch ist, die ebenfalls unfähig waren, ihre Praxis mit den konkreten historischen Tendenzen zu vermitteln. Im übrigen besitzt Dutschke durchaus eine theoretische Konzeption der gegenwärtigen geschichtlichen Tendenzen, nach der er seine Praxis zu orientieren sucht, so daß ihn der Vorwurf Habermas'auch in der hier gegebenen Interpretation nicht trifft.

Dutschke erwiderte auf den Vorwurf des Voluntarismus: „Marx ging davon aus, daß wir eine dialektische Identität von Ökonomie und Politik hatten. Die Tendenz der Ökonomie sollte in Richtung Krise gehen und die Krise politische und menschliche Emanzipation durch kämpferische Aktion ermöglichen. Da aber die gegenwärtige sozio-ökonomische Entwicklung diese emanzipierende Tendenz nicht mehr in sich trägt, verändert sich vollkommen das Gewicht der subjektiven Tätigkeit des einzelnen. Davon bin ich ausgegangen, damit ist genannt eine neue Bestimmung des Voluntarismus. Wir können nicht mehr einfach sagen, Wille ist falsch, denn unter den Bedingungen, wo Tendenzen qua Tendenzen nicht mehr emanzipierend, geschichtlich vorangehen, wird die praktische Tätigkeit der Menschen in der gegenwärtigen Periode von entscheidender Bedeutung für unsere Zukunft und darum neue Bestimmung der subjektiven Tätigkeit, darum , sich-wenden'gegen einen Objektivismus, der weiterhin* vertraut auf einen emanzipatorischen Prozeß, der sich naturwüchsig setzt. Dieses Vertrauen habe ich nicht, ich vertraue nur auf die konkreten Tätigkeiten von praktischen Menschen und nicht auf einen anonymen Prozeß."

Anzumerken wäre hier, daß es völlig unmarxistisch gedacht ist, die subjektiven Handlungen der Menschen und einen objektiven, anonymen geschichtlichen Prozeß abstrakt gegeneinanderzustellen. Auch bei Marx wird Geschichte — und wenn sich objektive Tendenzen noch so sehr durchsetzen — von den Menschen mit Bewußtsein gemacht. Dutschke weiß dies natürlich. Was er zum Ausdruck bringen wollte, ist, daß das Bewußtsein des eindimensionalen Menschen so sehr den bestehenden Verhältnissen verhaftet ist, daß er seine Selbstentfremdung nicht mehr fühlt und folglich auch keinen Impuls zur Veränderung der Verhältnisse. In dieser Lage ist der unter der gesellschaftlichen Repression noch Leidende gezwungen, auch in der Isolation gesellschaftsverändernd zu handeln. Er kann jedoch in seinen Aktionen nur Sinn erblicken, wenn er die objektive geschichtliche Möglichkeit besserer Verhältnisse erkennt sowie das objektiv gesellschaftsverändernde Wesen der in der Dritten Welt stattfindenden Kämpfe, welche die Idee des Ringens um eine gerechte und humane Gesellschaftsordnung wieder in die vom eindimensionalen Menschen beherrschten Metropolen zurückspiegeln. Auch für Dutschke hat die reale geschichtliche Bewegung Sinn. Wäre sie nur Chaos, so wäre sein Aktivismus in der Tat blindester Voluntarismus.

Dutschke geht mit Marcuse davon aus, daß „die Entwicklung der Produktivkräfte einen Prozeßpunkt erreicht hat, wo die Mangelsituation der Menschheit, die Herrschaft von Menschen über Menschen abgeschafft werden könnte". Gleichzeitig aber bestehe in den Entwicklungsländern größte Not, und die Vereinigten Staaten unterdrückten in der Dritten Welt jeden Sozialrevolutionären Aufstand. Dennoch würden die revolutionären Bewegungen ständig um sich greifen, „ein zweites, drittes oder viertes Vietnam werden die Belastung der Herrschaftsapparate in Ost und West auf das äußerste steigern". Mehr als Marcuse und andere Marxisten in der Bundesrepublik bezieht Dutschke die Bewegungen der Dritten Welt in sein theoretisches System ein; sein Bezugssystem ist nicht mehr von der Arbeiterbewegung der Metropolen, sondern von den revolutionären Bewegungen in der Dritten Welt bestimmt. In den westlichen Metropolen sei die ökonomische Aufschwungphase nach dem Kriege zu einem Abschluß gekommen. In diesem Zusammenhang müsse man auch die Versuche, Staat und Universität zu „formieren", sehen. Gerade in diesen Tendenzen lägen die politischen Chancen der Linken. Insbesondere unter den Studenten, die ihre intellektuelle Entfaltung von der geplanten „Rationalisierung" des Studiums bedroht sähen, könne man neue Anhänger für das „antiautoritäre Lager" gewinnen. Denn inzwischen sei vor allem die junge Intelligenz zu der Erkenntnis gelangt, daß innerhalb der bestehenden Parteien und Institutionen der Kampf um die Demokratisierung der Gesellschaft und speziell der Universität nicht geführt werden könne.

Dutschke lehnt das heute in der Bundesrepublik unter Politikwissenschaftlern und Politikern verbreitete angelsächsische Demokratieverständnis, nach dem Demokratie Herrschaft im Auftrag des Volkes sei, ab, und vertritt statt dessen den auf Rousseau zurückgehenden Demokratiebegriff: Demokratie sei Seibstätigkeit und Selbstbestimmung des Menschen. Im Lichte dieser Auffassung von Demokratie kann die heutige demokratische Praxis der Bundesrepublik nicht bestehen: „Die Parteitage von CDU und SPD entsprechen den stalinistischen Parteitagen der KPdSU der dreißiger Jahre: keine Selbsttätigkeit von unten, nur noch Manipulation von oben; Führer, die keinen Dialog mit ihrer Basis führen; verselbständigte Führungselite, die es gar nicht mehr will, daß eine Diskussion stattfindet — weil nämlich die praktisch-kritische Diskussion Ausgangspunkt der Infragestellung der bürokratischen Institutionen wäre . . . Die Parteitage sind nur noch Plattformen für Karrieristen." Ziel des antiautoritären Lagers dürfe deshalb keine sozialistische Partei sein, die, sobald sie sich ins bestehende System mit seinen Spielregeln integriere, doch nur korrumpiert werden müsse. Zu schaffen seien vielmehr „räteartige Aktionszentren", welche die Aufgabe hätten, „spezifische Herausforderungen des bestehenden Systems, wie Notstandsgesetze, Entdemokratisierung der Institutionen und Pressekonzentrationen, durch Aktionen zu beantworten". In diesen Räten müsse wirkliche Demokratie herrschen, das heißt, sie seien in direkter Wahl zu wählen und wieder abzuberufen

In dem hier zitierten, entweder von Dutschke selbst verfaßten oder doch von ihm inspirier-ten Aufsatz, wird am Schluß noch einmal die neue aktivistische Linksbewegung mit der politischen Weltsituation in Beziehung gesetzt: „Die von Habermas angegriffene voluntaristische Komponente unseres Handelns beruht darauf, daß unter der historischen Möglichkeit der Beseitigung von Hunger, Krieg und überflüssiger Herrschaft die aktuell-spezifische Situation in der Bundesrepublik und West-Berlin voller Widersprüche in allen Bereichen der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist. Jede Bewegung gegen des Bestehende trifft sofort auf die Schranken des Systems. Eine geschichtlich neue Form der Spontaneität wird sichtbar. Sie zu organisieren, ihr endlich klar zu sagen, wie ein Leben jenseits der entmenschlichenden Apparate möglich ist, ist die Aufgabe, die noch am allerwenigstens theoretisch und praktisch in Angriff genommen wurde. So erscheint unser Protest dem oberflächlichen Betrachter oft als Selbstzweck; er sieht nicht die tiefen Wünsche, Bedürfnisse, Sehnsüchte und Interessen der an den Aktionen beteiligten Menschen, die mit einem Leben in Isoliertheit und Einsamkeit nicht mehr einverstanden sind, ihr immer konkreter werdendes Unbehagen gegen das System wenden. Durch provokative und demonstrative Aktionen, besser durch Offensivaktionen mit Rückzugsmöglichkeit aktualisieren wir die Widersprüche, vergrößern das antiautoritäre Lager, schaffen die Voraussetzungen für eine . zukünftige'aktuell-revolutionäre Situation."

Dutschke greift zur Beschreibung der Strategie des Lagers" häufig „antiautoritären auf leninistische und maoistische Wendungen zurück — so z. B., wenn er meint, daß es nunmehr gelte, „die temporär . schwächsten Glieder'" des bestehenden Systems, die Universitäten, zu politisieren und von dieser Basis aus den „langen Marsch" durch die gesellschaftlichen und politischen Institutionen der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung anzutreten. Das „antiautoritäre Lager", so glaubt Dutschke, das jetzt bereits Tausende umfasse, werde auf diesem „langen Marsch" wachsen; es werde schließlich eine augenblicklich erst in Keimen sichtbare „Selbstorganisation" der „Interessen, Bedürfnisse, Wünsche und Leiden der um ihre Emanzipation kämpfenden Menschen" entstehen. Indem die in den Kampf gegen die repressive Gesellschaftsordnung hineingezogenen Massen „neue radikale Bedürfnisse" entdek-ken, z. B.den Wunsch, „die Totalität der die Menschen von langer Arbeitszeit, Manipulation und Elend befreienden Produktivkräfte endlich von den Fesseln des Kapitals und der Bürokratie zu befreien", entwickele sich schließlich ein neues Subjekt der gesellschaftlichen Transformation

Diese inadäquate Übertragung von Begriffen der Leninschen Imperialismustheorie und Mao Tse-tungs Bürgerkriegsstrategie auf die Protestbewegung der studentischen Linken in der Bundesrepublik lassen an Dutschkes Gespür für die realen Möglichkeiten einer linken Opposition zweifeln. Denn angesichts des prekären Verhältnisses zwischen den antiautoritären Studenten und Schülern auf der einen und dem überwiegenden Teil der Arbeiterschaft auf der anderen Seite ist ein Erfolg der nächsten Etappe des von den Antiautoritären ins Auge gefaßten „langen Marsches", nämlich „Basisgruppen in den Betrieben zu bilden, an ihrem Aufbau mitzuhelfen, die Einheitsfront von antiautoritären Studenten, Schülern und Lohnabhängigen in der Produktion und Verwaltung praktisch werden zu lassen", zumindest in der Bundesrepublik kaum vorstellbar Unerläßliche Voraussetzung für das Gelingen eines „langen Marsches" ist nämlich, daß sich seine Teilnehmer im Volk oder wenigstens in Teilen der Bevölkerung „wie Fische im Wasser" bewegen können. Immerhin hat die von Studenten ausgelöste Revolte der französischen Studenten und Arbeiter in den Maitagen des Jahres 1968, welche die Sympathien weiter Teile des Volkes gefunden hat, gezeigt, daß zumindest temporär auch in den europäischen Metropolen die Bedingungen revolutionärer Aktionen gegeben sein können. Aber Frankreichs Uhren gehen aus vielen Gründen anders als die deutschen.

Es fällt schwer anzunehmen, daß die punktuelle Kooperation von Arbeitern, Studenten und Schülern im Kampf gegen die Verabschiedung der Notstandsverfassung im Mai 1968 über diesen Anlaß hinaus in einem politisch ins Gewicht fallenden Maße fortgesetzt werden könnte. „Die Arbeiter haben sich nicht mit euch solidarisiert, sondern sie haben gegen die Notstandsgesetze protestiert", rief ein Betriebsratsvorsitzender auf einem Teach-in an der Frankfurter Universität den Studenten zu. Sollte sich jedoch wider Erwarten ein Teil der linken Arbeiterschaft mit dem antiautoritären Lager der Jugend verbünden und dessen politische Ziele und Kampfesweisen übernehmen, so steht zu erwarten, daß die staatlichen Ordnungsmächte eine solche, die heutige Gesell•Schaftsstruktur bedrohende Bewegung mit allen ihr zur Verfügung stehenden juristischen und polizeilichen Mitteln zerschlagen werden.

Die Bundesrepublik angesichts der Revolte der Jugend

Die offizielle Politik, die meinungsbildenden Organe und erst recht die Bevölkerung der Bundesrepublik stehen in ihrem überwiegenden Teil dem Phänomen der in politische Bewegung geratenen Jugend ratlos gegenüber. Wie eine Umfrage der Zeitschrift „Der Spiegel" zeigte, erklärten sich im Februar 1968 670/0 der jungen Leute zwischen 15 und 25 Jahren mit den Demonstrationen der vergangenen Monate und immerhin 27 0/0 mit den Zielen Dutschkes solidarisch, wobei die Sympathiehaltung mit Alter und Bildung zu-nahm

Die Debatten, in welchen der Bundestag zu den Studentenunruhen Stellung nahm (Fragestunde vom 9. Februar 1968; Sondersitzung über die Osterunruhen vom 30. April 1968; Aussprache zur Hochschulreform vom 7. Mai 1968), scheinen zu bestätigen, daß viele Abgeordnete und Minister die volle Tragweite der Jugendrebellion noch nicht erkannt haben. Die Demonstrationen und Protestaktionen der linken Studenten und anderer linksgerichteter Gruppen wurden vor allem unter dem Aspekt der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung diskutiert, während nur wenige Redner wirklich ernsthaft auf die sachlichen Inhalte der Demonstrationen (Proteste gegen die amerikanische Kriegführung in Vietnam und die tendenziöse Informationspolitik des Springerkonzerns) eingingen. Dabei führt der Zugang zum Verständnis der jungen Menschen und ihres provokativen Verhaltens allein über die Auseinandersetzung mit jenen Problemen, die diese heute beschäftigen. Bundeskanzler Kiesinger hat dies erkannt, als er sich auf seiner Wahlkampfreise in Baden-Württemberg Studenten zur Diskussion stellte. „Ich habe immer wieder erlebt", so sagte er am 30. April 1968 im Bundestag, „daß in den Diskussionen in dem Augenblick, wo darauf die Rede kam, (auf die Probleme der Dritten Welt und die deutschen Entspannungsbemühungen, W. E.), plötzlich die Sprechchöre verstummten und die Studenten mit Aufmerksamkeit zuhörten, ja sogar Beifall spendeten."

In der Öffentlichkeit werden vor allem zwei Gründe angeführt, die erklären sollen, weshalb es unter einem erheblichen Teil der jungen Generation zu dieser rebellischen Stimmung gekommen ist: Die erste Begründung verweist auf das weltweite Phänomen der über die Stränge schlagenden Jugend, die, ausgewachsen im Wohlstand, jeden Sinn für das Erfordernis gesellschaftlicher Ordnung verloren habe; die zweite macht auf den zu allen Zeiten immer wieder sich zeigenden Generationenkonflikt aufmerksam. Beide Begründungen sind unzureichend, da sie auf Sachverhalte hinweisen, die ihrerseits wieder erklärungsbedürftig sind. Denn nicht zu allen Zeiten wandte sich eine im Wohlstand ausgewachsene Generation gegen die Wertvorstellungen der von ihren Vätern geprägten Gesellschaft. Schließlich ist es noch nicht lange her, als man die Jugend als die „skeptische", dem Engagement abgeneigte Generation bezeichnete.

Das erste Phänomen, das in vielen Gesellschaftsordnungen zu beobachten ist und vielleicht zur Erklärung des Protestverhaltens unter der jungen Generation beitragen könnte, ist die Kompromittierung von politischen Autoritäten und Leitbildern sowie die Relativierung und Entwertung gewisser überkommener Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Politiker, die heute noch Machtpositionen innehaben, waren in politische Vorgänge verstrickt, die weder ihnen noch ihren Staaten zur Ehre gereichten oder deren moralische Bewertung zumindest umstritten ist: z. B. in den Nationalsozialismus, den Stalinismus, den Algerienkrieg oder den Vietnamkrieg. Leitbilder und Werte, womit die als fragwürdig erachtete Politik der älteren Generation legitimiert wurden — nationale Größe etwa, oder Gehorsam und Pflichterfüllung —, sind entsprechend diskreditiert. Gewisse normative Erwartungen der Gesellschaft werden von den ökonomischen Gesetzen der bürgerlichen Gesellschaft gleichsam konterkariert: So weckt und manipuliert die Konsumgüterindustrie aus Profitinteresse gerade unter jungen Menschen Bedürfnisse, deren Befriedigung den überkommenen Normen (wie immer man über deren Berechtigung denken mag) häufig zuwiderlaufen. Selbst Pressehäuser, deren gesellschaftspolitische Grundhaltung eher als konservativ zu bezeichnen ist, inspirieren in gut verkäuflichen Erzeugnissen zu Exzentrizität und Libertinage.

Auf der einen Seite sieht sich also jener Teil der Jugend, der nach Orientierung in der gesellschaftlichen Welt verlangt, konfrontiert mit unglaubwürdigen Normen, die von unglaubwürdigen Autoritäten vertreten werden. Auf der anderen Seite hat die Erziehung zu freiheitlichem und demokratischem Denken, um die man sich nach der Erfahrung eines von Diktatur und Krieg überzogenen Europas bemüht hat, unter der Jugend Widerhall gefunden. Insbesondere in der Bundesrepublik haben jüngere, engagierte und deshalb überzeugende Sozialkundelehrer das Bild einer menschenwürdigen Gesellschaftsordnung gezeichnet, in der soziale Gerechtigkeit herrscht, die über-und Unterordnungsverhältnisse so weit wie möglich abgebaut und die Bürger dazu aufgerufen sind, ihr politisches Schicksal selbst zu bestimmen. Dabei scheint das Denken der Jugend dem klassischen Demokratieverständnis zuzustimmen, das auf von Rousseau beeinflußte politische Theorien der Französischen Revolution und des deutschen Idealismus zurückgeht und wonach das Parlament als Instrument der Willensbildung der sich selbst bestimmenden Bürger gedacht ist. Dagegen entspricht das (von der deutschen Politikwissenschaft überwiegend vertretene) angelsächsische Demokratiemodell den Auffassungen der Jugend weniger. Dieses stellt nicht so sehr darauf ab, daß im Parlament auch tatsächlich der Volkswille zum Ausdruck kommt, als vielmehr im Interesse der staatlichen Stabilität auf die Selbstverantwortung von Regierung und Parlament, denen das Volk die Führung der politischen Geschäfte anvertraut habe Der Bundestagsabgeordnete Matthöfer hat in der Fragestunde des Bundestags vom 9. Februar 1968 in der Tat eine wesentliche Ursache der Unruhe unter der Jugend genannt, wenn er sie auf den „Erfolg der politischen Bildungsarbeit''zurückführt: „Die Ursache liegt darin, daß diese Studenten und Schüler die Wirklichkeit an dem Modell messen, das wir ihnen im politischen Unterricht beizubringen versucht haben. Dieses Modell, so wie auch wir uns eben wirklich gute Demokratie vorstellen, kommt eben in Konflikt mit der Realität, die diese jungen Menschen vorfinden."

Nicht nur die gravierenden, von fast allen Beobachtern bestätigten Funktionsstörungen des parlamentarischen Regierungssystems der Bundesrepublik, sondern bereits der hierzulande geübte politische Stil haben bei der jüngeren Generation zunehmend Verärgerung und schließlich Proteste hervorgerufen. Durch die politische Erziehung an Schule und Universität mehr und mehr mit politikwissenschaftlicher und soziologischer Terminologie vertraut, sind viele junge Menschen in der Lage, die heutigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse begrifflich zu erfassen und zu prüfen, in welcher Weise sich diese in den Verlautbarungen der offiziellen Politik widerspiegeln. Mit diesem zunehmenden politischen Verständnis der jungen Generation kontra-stiert auffällig die verwaschene Redeweise vieler Politiker, deren Terminologie darauf angelegt zu sein scheint, die politischen Probleme zu verschleiern, statt sie der Öffentlichkeit klar vor Augen zu stellen. Phrasenhafte Diktion und vollends gravitätisches Auftreten „kommen" bei dem aufgeweckten Teil der Jugend „nicht an".

Das offizielle politische Denken hat den Druck, der von den ökonomischen Erfordernissen auf die Politik ausgeht, den Zwang, den Rhythmus von Produktion und Konsum aufrechtzuerhalten (Momente, die nicht nur die Seelenmassage durch private Reklame, sondern auch die — der jeweiligen wirtschaftlichen Lage entsprechenden — Konsum-oder Konsumverzichtsaufrufe der Bundesregierung hervorrufen), weitgehend aus der politischen Reflexion verbannt. Viele jüngere Menschen besitzen jedoch ein Sensorium für den manipulatorischen, Fremdsteuerung erzeugenden Effekt des privaten Profitstrebens und einer dieses begünstigenden Politik. Die gesellschaftskritiB ehe Haltung eines nicht zu unterschätzenden Teils der jungen Generation führt dazu, daß narxistische Positionen, welche die gefühlsnäßig vermuteten gesellschaftlichen Zusamnenhänge zu erklären suchen, besonders leicht Niderhall finden. Die Sozialdemokratische ‘artei, die früher auf die sozialkritisch den-Lende Jugend eine starke Anziehungskraft usgeübt hatte, hat seit ihrer Wendung zum Nirtschaftsliberalismus für diese viel von hrer Anziehungskraft verloren.

ine wesentliche Rolle bei der Bildung eines jesellschaftskritischen Bewußtseins innerhalb ler jungen Generation spielten ferner die olitischen Zustände und Vorgänge in vielen Andern der Dritten Welt. Die Politik des Nestens, vor allem der Vereinigten Staaten, o meint man, ziele darauf ab, korrupte, das /olk unterdrückende und ausbeutende Olijarchien aus egoistischen Interessen heraus u unterstützen. Die Sympathie vieler junger Menschen gilt deshalb den revolutionären Bevegungen in der Dritten Welt, insbesondere n Lateinamerika und in Asien. Das amerikaniche Eingreifen in Vietnam wird als besonlers drastisches Beispiel einer Politik angeseien, die, koste was es wolle, ein Regime interstützt, das beim eigenen Volk kaum noch kückhalt besitzt. Nicht zuletzt an der amerika-lischen Kriegführung in Vietnam entzündeen sich die Proteste der Oppositionsbewe-yung unter der Jugend. In der Öffentlichkeit vird diese Beurteilung der Probleme der Drit-en Welt häufig als Schwärmerei und Sozialomantik abgetan. Solchen Auffassungen muß nit Habermas entgegengehalten werden: „Die ersönliche Identifizierung mit den Hungern-len, den Elenden und Abhängigen in der iritten Welt spricht für die Kraft der morali; chen Phantasie."

Der Bundestag und die großen Parteien haben ange versucht, einer Stellungnahme zum Viet-lamkrieg mit der Begründung aus dem Wege u gehen, daß es den Deutschen nicht zustehe, olitische Zensuren zu verteilen. Erst der ruck der vor allem von den Protesten der [ugend aufgescheuchten Öffentlichkeit hat den Bundestag und die Parteien — am deutlichsten iie SPD — dazu bewogen, sich mehr oder veniger vage zur amerikanischen Kriegfüh-ung in Vietnam äußern. Daß dies so spät und ffensichtlich erst dann geschah, als die Reaktion der Öffentlichkeit ein längeres Schweigen nicht mehr zuließ, hat das Prestige der offiziellen Politik bei der Jugend weiter gemindert. Inzwischen hat sich die Kluft zwischen den Repräsentanten des etablierten politischen Systems der Bundesrepublik und dem radikalen Teil der Jugend, besonders der Studenten, so vertieft, daß alle Versuche zur Beschönigung oder Beschwichtigung nur über den Ernst der Lage hinwegtäuschen würden. Die Fronten sind klar. Auf der einen Seite stehen die traditionellen politischen Kräfte, welche die parlamentarische Demokratie in ihrer jetzigen Gestalt aufrechterhalten wollen; Kreise innerhalb der CDU und SPD planen, durch Einführung eines mehrheitsbildenden Wahlrechts die bestehende politische Ordnung zusätzlich zu stabilisieren. Soweit gesellschaftliche Strukturen und Institutionen für reformbedürftig erachtet werden, sollen sie in einem behutsamen Evolutionsprozeß verändert werden Ziel dieser Reformen ist in erster Linie die Effizienz der betreffenden Institution, dagegen nicht die Partizipation der betroffenen Bürger an ihren Entscheidungsprozessen. Auf der anderen Seite steht der radikaldemokratische Flügel der Jugend, dem es vor allem anderen um eine Ausdehnung der Partizipationsmöglichkeiten bis hin zur Übernahme der Verwaltung von Institutionen durch die in ihren Wirkungsbereich einbezogenen Bürger geht. Die Schlüsselwörter der heutigen Rebellion der Jugend heißen hier wie auch anderswo Partizipation und Selbstbestimmung. Herrschafts-und Autoritätsstrukturen, die bisher durch traditionelle Ordnungsvorstellungen oder durch die technische Effizienz, die sie den Institutionen verleihen, legitimiert wurden, werden von der Jugend nicht mehr unbesehen hingenommen, sondern über ihre auf Leistungsfähigkeit bezogene Rationalität hinaus nach ihrer demo-tischen Rationalität und Legitimation befragt In diesen Zusammenhang der demokratischen Rationalität gehört auch die zuerst vom Berliner SDS in die Debatte geworfene Forderung nach einer Umwandlung der politischen und gesellschaftlichen Institutionen in ein Rätesystem. Diese Forderung hat in der Öffentlichkeit entrüstete Ablehnung gefunden, da man den Begriff der Räte mit den politischen Verhältnissen in den kommunistischen Ländern in Zusammenhang bringt. Auf Grund dieses Zieles hält es der Bundesminister des Innern für erwiesen, daß der SDS eine verfassungsfeindliche Organisation darstellt Man sollte jedoch den genuin demokratischen Gehalt dieser Forderung nach einem Rätesystem nicht übersehen. Die amerikanische Soziologin Hannah Arendt hat in einer bemerkenswerten Arbeit gezeigt, daß alle demokratischen Umwälzungen von der amerikanischen Revolution bis zur ungarischen von 1956 spontan räte-artige Gebilde hervorgebracht haben, welche an die Erkenntnis der klassischen griechischen Politik erinnerten, „daß keiner . glücklich'genannt werden kann, der nicht an öffentlichen Angelegenheiten teilnimmt, daß niemand frei ist, der nicht aus Erfahrung weiß, was öffentliche Freiheit ist, und daß niemand frei oder glücklich ist, der keine Macht hat, nämlich keinen Anteil an öffentlicher Macht." Die modernen Parteiensysteme hätten das alte Verhältnis zwischen einer regierenden Elite und dem Volk aufrechterhalten — die Räte jedoch, die in revolutionären Situationen immer wieder vom Volk geschaffen worden seien, beinhalteten die „wahrhaft revolutionäre Hoffnung der europäischen und schließlich vielleicht aller Völker der Erde auf eine neue Staatsform, die es jedem inmitten der Massengesellschaften doch erlauben könnte, an den öffentlichen Angelegenheiten der Zeit teilzunehmen." Es kann sich hier nicht darum handeln, die heute kaum vorstellbare Praktikabilität dieses utopischen Programms zu kritisieren oder seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu prüfen. Es ging nur darum, darzutun, daß das Denken der opponierenden Jugend aus demokratischen Quellen gespeist, ist und daß deshalb der legalistische Hinweis auf eine etwaige Verfassungswidrigkeit dem ernsten Inhalt solcher Forderungen nicht gerecht wird.

Das radikaldemokratische Programm eines Teils der jungen Generation hätte in der Öffentlichkeit kaum Widerhall gefunden, hätten die Studenten nicht neue Formen der Demonstration und des Protestes entwickelt, welche das Publikum aufhorchen ließen. Die provokativen Proteste haben Probleme zum Gegenstand öffentlicher Diskussion gemacht, welche von einer weitgehend entpolitisierten Öffentlichkeit verdrängt oder tabuisiert worden waren, den Vietnamkrieg etwa oder die längst überfällige Universitätsreform. Die überkommenen Autoritäts-und Herrschaftsstrukturen wurden auf ihre Legitimation und Rationalität abgeklopft: „Gerade die neuen provokativen, publizistisch auffälligen und mißverständlichsten Protesttechniken richten sich gegen die Positivität solch abgestorbener Terminologien und rühren den Brei des offiziösen Sprachgebrauchs. Sie erweisen akademischen Ehrensenatoren die Ehre, die ihnen gehört, sie begehen Sakrileg an Heiligtümern, die handfest profan geworden sind, sie geben falsches Pathos der Lächerlichkeit preis und nennen Mief, was Mief ist" (Habermas)

Doch diese Strategie der Provokation durch partielles überschreiten gewisser Legalitätsschranken scheint nunmehr an eine Grenze ihrer Wirksamkeit gekommen zu sein. Sie hatte ihren unbestreitbaren Erfolg darin, daß sie die Öffentlichkeit überhaupt erst dazu gezwungen hat, die Forderungen der Studenten und anderer junger Menschen zur Kenntnis zu nehmen und zu diskutieren. Radikale Kreise innerhalb des SDS haben anscheinend aus dieser punktuellen Wirksamkeit provokativer Aktionen den Schluß gezogen, daß mit verstärkten Provokationen, die auch — z. B. im Kampf gegen die Springerpresse — Gewalt gegen Sachen einschließen könnten, das Feld für eine allmähliche Revolutionierung der Gesellschaft bereitet werden könne

Die Revolutionäre innerhalb des SDS unterliegen hier einer Selbsttäuschung, die gerade für die linken Studenten gefährliche Folgen haben könnte. Es sind kaum Zweifel daran erlaubt, daß die Staatsgewalt mit allen ihr zur Verfügung stehenden Machtmitteln staatliche Institutionen und das Privateigentum schützen wird; Studenten, die bei Demonstrationen oder anderen Aktionen, etwa bei Universitätsbesetzungen, gegen bestehende Gesetze verstoßen, wird man schließlich von der Universität weisen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird man bald wieder unbesonnene junge Männer auf Grund von politisch motivierten Straftaten in den Gefängnissen sitzen sehen. Und vermutlich wird die linke Jugendopposition bekämpft werden können, ohne daß sich breitere Kreise der Öffentlichkeit, vor allem unter der Arbeiterschaft, mit ihr solidarisierten.

Steht also nicht zu erwarten, daß die Massen der Arbeiterschaft von den Aktionen der rebellischen Jugend mobilisiert würden, so wird dies aber sehr wohl das autoritär gestimmte Potential der Gesellschaft, das, wie die Sozial-psychologie weiß, zu aggressiver Gewaltanwendung neigt und dabei vor Brutalitäten nicht zurückschreckt. Auf der Berliner Massenkundgebung vom Februar 1968, zu welcher der Senat aufgerufen und die vor allem einen gegen die studentischen Aktionen gerichteten Inhalt hatte, hat es sich gezeigt, wie weit in der Bevölkerung das Ressentiment gegen die Studenten und die Bereitschaft gehen, gegen von der Norm abweichende junge Menschen pogromartige Gewalt anzuwenden Kurz, der Aktivismus des Provokationen befürwortenden Flügels des SDS könnte — freilich latent bereits vorhandene — autoritäre Gewalten entfesseln, denen sie letztlich ohnmächtig entgegenstehen.

Für das politische Klima in der Bundesrepublik wäre viel gewonnen, wenn die Repräsentanten des etablierten politischen Systems den Inhalt der von der Jugendopposition erhobenen Forderungen — nämlich das demokratische Prinzip der Partizipation und der Selbstbestimmung — ernst zu nehmen vermöchten und die bestehenden staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen überprüften, inwieweit sie die Verwirklichung dieser Prinzipien zulassen Insbesondere die Parteien hätten Anlaß zu einer derartigen Selbstbesinnung. Zwar wird ein solches überdenken der eigenen Positionen auf beiden Seiten der Barrikaden den Riß nicht heilen können — er ist inzwischen zu tief geworden. Doch könnte es vielleicht zur Herstellung erträglicher Beziehungen zwischen der offiziellen Politik und der rebellierenden Jugend beitragen. Die radikaldemokratische Bewegung der Jugend wird weder heute noch morgen siegen können. Ob sie nun schließlich ermattet oder ob ihr das Rückgrat gebrochen wird — die Frage demokratischer Partizipation und Selbstbestimmung wird in West und Ost auf der politischen Tagesordnung bleiben. Die Angehörigen der älteren Generation aber mögen in ihrem Zorn über die Rebellion der Jugend und deren provokativen Methoden einmal bedenken, ob das Ringen um demokratischere, wenn vielleicht auch utopische Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens mit allen damit verbundenen Unruhen und Spannungen dem deutschen Ansehen nicht förderlicher ist als eine Jugend, die unter irrationalen faschistischen Symbolen geeint im Gleichschritt marschiert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu Tayeb Lahdiri, Lenins Revolutionstheorie und Kautskys Kritik an der bolschewistischen Revolution, phil. Diss., Frankfurt 1965.

  2. Vgl. etwa Eduard Bernstein, Was ist der Marxismus? Eine Antwort auf eine Hetze, Berlin o. J. (nach 1914).

  3. Dazu Erich Matthias, Kautsky und der Kautskyanismus. Die Funktion der Ideologie in der deutschen Sozialdemokratie vor dem ersten Weltkrieg, in: Marxismusstudien, zweite Folge, Tübingen 1957, S. 151— 197.

  4. Vgl. „Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik. Hilferding auf dem Parteitag zu Kiel Mai 1927. Hrsg. v. Vorstand der SPD".

  5. Vgl. dazu Hanno Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik, Meisenheim am Glan 1965.

  6. Für die Anknüpfung an den Austromarxismus vgl. Ernst Böse, Materialistische Geschichtsauffassung. Eine kritische Einführung, Hamburg 1947.

  7. Vgl. dazu Walter Euchner, L’uvre de jeunesse de Marx et Engels. 1945— 1963/64 (kommentierte

  8. Vgl. dazu Wolf-Dieter Narr, CDU-SPD, Programm und Praxis seit 1945, Stuttgart—Berlin— Köln—Mainz 1966.

  9. Erich Thier, Die Anthropologie des jungen Marx nach den Pariser ökonomisch-philosophischen Manuskripten. Einleitender Essay zu Karl Marx: Nationalökonomie und Philosophie, Köln—Berlin 1950. Jetzt auch gekürzt unter dem Titel „Das Menschenbild des jungen Marx", Göttingen 1957.

  10. Vgl. dazu Jürgen Habermas, Zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus, in: Jürgen Habermas, Theorie und Praxis. Sozial-philosophische Studien, Neuwied und Berlin 1963, S. 261— 335.

  11. Vgl. dazu die Nachworte von Alfred Schmidt zu Henri Lefebvre: Probleme des Marxismus, heute, Frankfurt/M 1965; Existentialismus und Marxismus. Eine Kontroverse zwischen Sartre, Garaudy, Hyppolite, Vigier und Orcel, Frankfurt/M 1965; Henri Lefebvre, Der dialektische Materialismus, Frankfurt/M. 1966.

  12. Wolfgang Abendroth, Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie. Aufsätze zur politischen Soziologie, Neuwied und Berlin 1967, S. 25.

  13. Ebenda, S. 479.

  14. Ebenda, S. 72.

  15. Ebenda, S. 358.

  16. Ebenda, S. 34.

  17. Ebenda, S. 79.

  18. Ebenda S. 109 ff. Vgl. auch die Programmatik der von Abendroth beeinflußten „Sozialistischen Opposition" in den „Informationen der Sozialistischen Opposition", Frankfurt/M 1967, fortlaufend.

  19. Jürgen Habermas, Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik, in: Theorie und Praxis, S. 162 ff.

  20. Ebenda, S. 193.

  21. Ebenda, S. 197.

  22. Ebenda, S. 199.

  23. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied 1962, S. 268.

  24. Ebenda, S. 253.

  25. Ebenda, S. 270.

  26. Max Horkheimer, Materialismus und Moral, in: Zeitschrift für Sozialforschung, II (1933), S. 166; 184 f.

  27. Max Horkheimer, Soziologie und Philosophie, in: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Sociolo-gica II, Reden und Vorträge, Frankfurt/M. 19G 2, S. 6.

  28. Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentalen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende, hrsg. v. Alfred Schmidt, Frankfurt/M. 1967, S. 8.

  29. Theodor W. Adorno, Soziologie und empirische rschung, in: Sociologica II, S. 216.

  30. Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, Berlin 1960, S. 76 ff.

  31. Habermas, Theorie und Praxis, S. 170.

  32. Adorno, in Sociologica II, S. 239.

  33. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frank-furt/M. 1966, S. 340.

  34. Ebenda, S. 312.

  35. Horkheimer/Adorno in: Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und Diskussionen, Frankfurt/M. 1956, S. 49.

  36. Adorno, Negative Dialektik, S. 35.

  37. Adorno, in Sociologica II, S. 240.

  38. Adorno, Negative Dialektik, S. 240 f.

  39. Ebenda, S 315. — Adorno hat übrigens zusammen mit Golo Mann, Heinrich Böll, Alexander Mitscherlich und anderen eine Erklärung unterzeichnet, welche sich gegen den „neuen autoritätsbestimmten Nationalismus" der Springer-Presse wendet. Vgl. „Der Spiegel" v. 6. 5. 1968, Nr. 19, S. 44.

  40. Herbert Marcuse, Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt/M. 1965, S. 7

  41. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellscbaft, Neuwied und Berlin 1967, S. 68 ff.

  42. Ebenda, S. 30.

  43. Ebenda, S. 70.

  44. Ebenda, S. 161.

  45. Ebenda, S. 159 ff.

  46. Ebenda, S. 72.

  47. Ebenda, S. 39 ff.

  48. Herbert Marcuse, Das Ende der Utopie. Herbert Marcuse diskutiert mit Studenten und Professoren Westberlins an der Freien Universität über die Möglichkeiten und Chancen einer politischen Opposition in den Metropolen in Zusammenhang mit den Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt, o. O., o. J. (1968), S. 14.

  49. Ebenda.

  50. Ebenda.

  51. Ebenda, S. 18 f.

  52. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 268.

  53. Marcuse, Das Ende der Utopie, S. 30, 49 ff.

  54. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 267.

  55. Herbert Marcuse, Repressive Toleranz, in: Robert Paul Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt/M. 1966, S. 127.

  56. Ebenda, S. 110.

  57. Marcuse, Das Ende der Utopie, S. 61.

  58. Marcuse, Repressive Toleranz, S. Ulf.

  59. Ebenda, S. 127 f.

  60. Vgl. etwa die Präambel der „Erklärung der Sozialistischen Internationale", beschlossen 1951 in Frankfurt/M.: „Obwohl die materiellen Hilfsquellen der Welt jedermann ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen könnten, ist der Kapitalismus außerstande, die elementaren Lebensbedürfnisse der Menschheit zu befriedigen. Er hat sich als unfähig erwiesen, ohne verheerende Krisen und Massenarbeitslosigkeit zu funktionieren. Er hat soziale Unsicherheit und schroffe Kontraste zwischen arm und reich erzeugt. Durch imperialistische Expansion und koloniale Ausbeutung hat er die Konflikte zwischen Nationen und Rassen verschärft. In einer Reihe von Ländern hat mit Hilfe des Großkapitals die Barbarei der Vergangenheit in der Gestalt des Faschismus und des Nazismus wieder ihr Haupt erhoben." In: Programme der deutschen Sozialdemokratie, Bonn 1963, S. 101.

  61. Wolfgang Nitsch, Uta Gerhardt, Claus Offe, Ulrich K. Preuß, Hochschule in der Demokratie. Kritische Beiträge zur Erbschaft und Reform der deutschen Universität, Berlin—Neuwied 1965.

  62. Vgl. dazu Helmut Kuhn, Studentenrevolten diesseits und jenseits des Ozeans. Das amerikanische Vorbild, in: Merkur, XXI (1967), S. 1001— 1012.

  63. In: Marcuse, Das Ende der Utopie, S. 143.

  64. Vgl.den Bericht „Ende und Anfang einer sozialistischen Deutschlandpolitik — das Seminar von FDJ und SDS", in: neue kritik, VIII (1967), S. 37— 47. —• über die Geschichte des SDS vgl. nunmehr Ekkehard Kloehn, Der Weg in den Widerstand. Eine Chronik des Sozialistischen Deutschen Studenten-bundes, in: Die Zeit v. 23. 2. 1968, Nr. 8, S. 9 f.

  65. Vgl. dazu die Frankfurter Studentenzeitschrift „Diskus", 1967, Nr. 5.

  66. In: Bedingungen und Organisation des Widerstandes. Der Kongreß von Hannover. Protokolle, Flugblätter, Resolutionen. Voltaire Flugschrift 12, o. Ö., o. J. (1967), S. 46.

  67. Abgedr. bei Karl Heinz Bohrer, Auf der Suche nach Isolation. Die Taktik der radikalen Studenten — Jürgen Habermas, Georg Benz und der Frankfurter SDS, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12. 2. 1962, S. 18.

  68. Reimut Reiche, Peter Gäng, Vom antikapitalistischen Protest zur sozialistischen Politik, in: neue kritik, VIII (1967), S. 28. Peter Gäng und Reimut Reiche sind übrigens Autoren zweier lesenswerter Schriften zu Problemen der Dritten Welt und zum Vietnam-Konflikt; Peter Gäng, Reimut Reiche, Modelle der kolonialen Revolution. Beschreibungen und Dokumente, Frankfurt/M. 1967; Jürgen Horlemann, Peter Gäng, Vietnam, Genesis eines Konflikts, Frankfurt/M. 1967.

  69. Reiche, Gäng, Vom antikapitalistischen Protest ..., S. 19.

  70. Ebenda, S. 18.

  71. Georg Büchner, Dieter Boris u. a., Sozialistische Politik? Bemerkungen zur Theorie einer Revolution , des einzelnen Menschen in den spätkapitalistischen Gesellschaften', in: neue kritik, VII (1967), S. 88 bis 108 (S. 981.). Dieser Artikel richtet sich ausdrücklich gegen den oben zitierten Aufsatz von Reiche und Gang.

  72. Vgl. dazu Peter C. Walther, SDS in der Krise, in: Sozialistische Hefte, VI (1967), S. 569 f.

  73. Wolfgang Abendroth, Uber die Notwendigkeit sozialistischer Opposition, in: Informationen der Sozialistischen Opposition, Franks. August 1967.

  74. Vgl. Karl Heinz Bohrer, Aufklärung mit Gewalt? Rebellen-Theorie ohne Praxis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 3. 11. 1967, S. 38.

  75. Bedingungen und Organisation des Widerstandes. Der Kongreß von Hannover. Protokolle, Flugblätter, Resolutionen. Voltaire-Flugschrift 12, o. O., o. J. (1967), S. 48, 76, 93, 101.

  76. Ebenda, S. 93.

  77. In „Der Spiegel", 10. Juli 1967, Nr. 29, S. 29.

  78. In: Oberbaum Blatt Nr. 3 v. 23. 6. 1967.

  79. Ebenda.

  80. In: „konkret" Nr. 3, März 1968, S. 5 f.; „konkret" Nr. 1, Januar 1968, S. 53; vgl. auch Dutschke in: Uwe Bergmann u. a., Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, Reinbek b. Hamburg 1968 (rororo aktuell, 1043), S. 91.

  81. „konkret" Nr. 3, März 1968, S. 6; vgl. auch Bernd Rabehl, in: Bergmann, ebenda, S. 178.

  82. „Der Spiegel", 12. Februar 1968, Nr. 7, S. 31.

  83. Vgl. „Das Parlament" v. 8. 5. 1968, Nr. 19, S. 12.

  84. Vgl. dazu vor allem die Aufsätze Ernst Fraenkels in: Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964.

  85. Vgl. „Das Parlament" v. 14. u. 21. 2. 1968, Nr. 7 u. 8.

  86. Vgl. statt vieler Beiträge Franz Schneider, Diskussion und Evidenz im parlamentarischen Regierungssystem, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B. 6/68, 7. 2. 1968.

  87. Abgedr. bei Karl Heinz Bohrer, Auf der Suche iach Isolation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung i. 12. 2. 1968, S. 18.

  88. Vgl. dazu Rainer Barzel in der Debatte über die Studentenunruhen, in „Das Parlament" v. 8. 5. 1968, Nr. 19, S. 10 f.

  89. Daß die radikaldemokratische Bewegung bereits traditionell rechts stehende Jugendorganisationen erreicht hat, zeigt ein Brief des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend an Dr. Barzel: „Den jungen Menschen fehlen weitgehend die Möglichkeiten, sich im -Rahmen ihrer Fähigkeiten an der Mitgestaltung von Gesellschaft, Staat und Kirche zu beteiligen. Viele sehen in dem gegenwärtigen Gesellschaftssystem überhaupt keinen Ansatz mehr, mit den herkömmlichen Mitteln etwas zu erreichen. Sie wollen deshalb die Revolution." Abgedr. in „Das Parlament" v. 8. 5. 1968, Nr. 19, S. 10.

  90. „Das Parlament" v. 8. 5. 1968, Nr. 19, S. 1 f.

  91. Hanna Arendt, Uber die Revolution, München 1963, S. 326 f.

  92. A. a. O. S. 341.

  93. Abgedr. bei Karl Heinz Bohrer (vgl. Anm. 88).

  94. Symptomatisch für diese Richtung innerhalb des SDS ist der Artikel über „Gewalt" in „konkret" Nr. 6, Juni 1968, S. 25 ff.

  95. Vgl. dazu den Bericht über die Senatsdemonstration v. 21. 2. 1968 von Dettmar Cramer in der Frankfurter Allgemeinen . Zeitung v. 23. 2. 1968, S. 2: „Während sich die Demonstranten am Sonntag (d. h. die Teilnehmer an der studentischen Vietnam-Demonstration, W. E.) im wesentlichen diszipliniert verhalten hatten, kam es nach der Kundgebung am Mittwoch zu Ausschreitungen. Erregte Massen verprügelten Bartträger nur deshalb, weil sie einen Bart trugen und damit scheinbar oppositionellen Studenten glichen." Vgl. dazu auch den „Der Spiegel" v. 26. 2. 1968, Nr. 9, S. 23 ff.

  96. Zu jenen, die gegenüber der jungen Generation zur Selbstbesinnung aufrufen, gehört insbesondere Bundeskanzler Kiesinger. Er warnte ausdrücklich vor „selbstgefälligem und selbstgerechtem Verhalten gegenüber den studentischen Unruhen" und rief die ältere Generation dazu auf, herauszufinden, „ob sie in der Vergangenheit versagt und welche Fehler sie gemacht habe". Die Unruhe unter der Jugend sitze tiefer, als manche Beobachter meinten. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 4. 6.

Weitere Inhalte

Walter Euchner, geb. 31. Oktober 1933 in Stuttgart, Studium der Rechtswissenschaften (erste jur. Staatsprüfung), Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft, 1967 Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über „Naturrecht und Politik bei John Locke" (erscheint 1969 in Buchform), arbeitet als Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Frankfurt/M.