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Asozialität Soziologische Reflexionen über gesellschaftlichen Pluralismus und Schule | APuZ 34-35/1968 | bpb.de

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APuZ 34-35/1968 Asozialität Soziologische Reflexionen über gesellschaftlichen Pluralismus und Schule Stellungnahme zu Stieglitz'soziologischen Reflexionen über gesellschaftlichen Pluralismus und Schule

Asozialität Soziologische Reflexionen über gesellschaftlichen Pluralismus und Schule

Heinrich Stieglitz

Sozialität und Asozialität im Verständnis der Soziologie

Es gibt einen zwar durchaus nicht zur Zufriedenheit definierten, aber doch immerhin geläufigen Begriff der Asozialität. An repräsentativer Stelle heißt es: „Nach dem augenblicklichen Sprachgebrauch wird als asozial bezeichnet, wer auf Grund seiner Persönlichkeitsstruktur die berechtigten Belange seiner Umwelt fortdauernd wesentlich beeinträchtigt, indem er sich in das dem Kulturstand seines Volkes entsprechende Gemeinschafts-, Arbeitsund Familienleben böswillig oder anlagebedingt nicht einordnet und so die Mindestanforderungen des Zusammenlebens nicht erfüllt. Er wird seiner Umgebung zur ständigen Last und stellt sich außerhalb der zu fordernden Ordnung.

Zu unterscheiden von diesen gemeinschaftsfremden, charakterlich meist passiven Asozialen sind die gemeinschaftsfeindlichen Antisozialen, die willensstarken, kriminellen Typen, sowie die Unsozialen, die als Arbeitgeber und Vorgesetzte den Untergebenen gegenüber ihre wirtschaftliche Macht ungebührlich ausnutzen und berechtigte Forderungen nicht erfüllen. Zwischen den einzelnen Typen bestehen fließende Übergänge.

Zu den Asozialen rechnet man Arbeitsscheue, Hochstapler, Landstreicher, Stadtbummler, Krankheitssimulanten, gewisse Trinker-und Spielertypen, Fürsorgeschmarotzer, Dirnen und Zuhälter, bestimmte Gruppen von säumigen Nährpflichtigen. Ihnen allen ist gemeinsam die mangelhafte oder fehlende Bindung an Heimat, Familie und Beruf."

In der Tat gibt diese Umschreibung das geläufige Verständnis des Begriffes der Asozialität wieder, wie sie auch den geläufigen Gebrauch der Begriffe der Unsozialität und der Antisozialität zum Ausdruck bringt. Dabei fällt auf, daß diese Begriffe nicht eigentlich dem Erkenntniszusammenhang der Soziologie angehören. Der Hinweis auf die Persönlichkeitsstruktur, die die Asozialität bewirke, verweist vor allem auf die Erkenntnisabsicht der Psychologie, näherhin die der Sozialpsychologie. Nicht weniger operieren mit ihnen theoretisch aber auch die wissenschaftliche Sozialpolitik, die Kriminologie und die Sozialpädagogik. In praktischer Hinsicht gehören sie dem Fürsorgewesen bzw.der Strafrechtspflege an.

In charakteristischer Ähnlichkeit und Unterscheidung gibt es aber auch einen soziologischen Begriff des Asozialen, des Unsozialen und des Antisozialen. Freilich ist die gegenwärtige Soziologie an der durch sie bezeichneten Thematik aus hier nicht zu erörternden Gründen wenig interessiert. Aus diesem Grunde muß das soziologische Verständnis der Asozialität, der Unsozialität und der Antisozialität als durchaus ungeläufig gelten. So besteht aller Anlaß, diese Begriffe in ihrer soziologischen Bedeutung zu fixieren und sie von ihrem herkömmlichen Verständnis klar abzuheben.

Ausgangspunkt eines jeden Bestimmungsversuches hat der Begriff des Sozialen zu sein. Wie die Anschauung der Gesellschaft lehrt, verhält sich sozial, wer mit anderen Menschen verbunden ist und dieser Verbundenheit einen Wert beimißt. Sozialität besagt somit wertge-bundenes Zusammensein. Natürlich ist die Soziologie, die es wesentlich als ihre Aufgabe anzusehen hat, die durch ihre Werthaftigkeit als soziale konstituierte Vergesellung zu verstehen, sich darüber im klaren, daß das gesellschaftliche Leben durchaus nicht immer im genannten Sinn sozial ist. Es gibt auch die Verfehlung, Verkehrung und absichtliche Auflösung sozialer Werte und damit die Auflösung von sinnbestimmtem sozialem Leben. Zu deren Erfassung hat die sinnverstehende Soziologie die Begriffe des Asozialen, des Unsozialen und des Antisozialen ausgebildet Sie bezeichnen nichts anderes als Grade der Destruktion sozialer Gestaltbildung.

Der denkbar intensivste Angriff auf das soziale Zusammen von Menschen liegt vor im Falle der Antisozialität. Antisozial verhält sich, wer nicht etwa nur in einem moralischen Anarchismus die Umwertung aller sozialen Werte anstrebt, sondern wer sich vielmehr gegen die mitmenschliche Existenz überhaupt wendet. Der reine Fall ist der Mörder, sei es als einzelner, sei es als Massenmörder, der selbst vor der physischen Liquidation des Lebens nicht zurückschreckt. Antisozialität darf insofern als ein Grenzphänomen gelten, als durch sie der Bestand der Gesellschaft, überhaupt in Frage gestellt wird.

Die auf der Skala der sozialen Deformation dem Extrem der Antisozialität vorgelagerte, insofern also noch mit Elementen der Sozialität vermischte Mißbildung menschlich-gesellschaftlichen Lebens ist die Unsozialität. Sie berührt sich mit dem, was eingangs als Asozialität aufgewiesen wurde. Unsozial verhält sich, wer die Gesellschaft in ihrem Bestand zwar nicht grundsätzlich gefährdet, aber sie doch insofern aufs schwerste belastet, als er nur unter Aufsicht, wenn nicht sogar nur durch Zwang den Ansprüchen eines geordneten gesellschaftlichen Lebens zu entsprechen fähig ist. Das Insgesamt der unter dem weit gefaßten Namen der Fürsorge ins Leben gerufenen Maßnahmen ist die Reaktion auf die Gegebenheiten der Unsozialität und zugleich Ausdruck der Hoffnung, das verbliebene Minimum an Sozialität in den Typen des Landstreichers, des Süchtigen, des Arbeitsunwilligen usw. zu aktivieren.

Von dieser Unsozialität unterscheidet sich wesentlich die soziologisch verstandene Asozialität. Zunächst und vor allem bleibt festzuhalten, daß dieser Begriff keinerlei Bezug zum Komplex jenes gerade genannten Fürsorgewesens besitzt. Sein Bedeutungsgehalt resultiert vielmehr aus einer bestimmten gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstellation. Im Hinblick auf diese ist es unerläßlich, den gerade umschriebenen Begriff der Sozialität klar erfaßt und unablässig vor Augen zu haben. Es sei deshalb noch einmal wiederholt: Sozial heißt eine Erscheinung dann, wenn eine Personen-mehrzahl nach Maßgabe gemeinsam geteilter Wertüberzeugungen miteinander verbunden ist. Ein in Gemeinsamkeit erkannter, bejahter und immer wieder aufs neue realisierter Wert ist es also, der ein Zusammen stiftet, das man eine soziale Gesellschaft nennen kann. Gesellschaft in einem positiven Sinn ist somit nur dasjenige menschliche Verbundensein, das eine Mehrzahl von Personen dergestalt zusammenbindet, daß das eine Lebensziel von den vielen geteilt wird und Verbindlichkeit besitzt. Das gilt grundsätzlich für das Ganze einer Gesellschaft wie für die Vielzahl der sich in ihr entfaltenden und zu eben dieser Gesellschaft zusammenschließenden sozialen Gestalten.

Vor dem Hintergrund dieser in ihrem Wesen wertmäßig sozialen Gesellschaft mag verständlich werden, was der soziologische Begriff der Asozialität meint. Er bezeichnet, in einem dezidierten Sinn das Phänomen der individualistischen Auflösung der sozialen Wertgeltung. Nicht also wird die Verbindlichkeit der Werte überhaupt in Frage gestellt oder gar geleugnet. Diese werden nach wie vor respektiert. Was sich ändert, ist vielmehr dies: daß die soziale Geltungsgrundlage der Werte aufgehoben wird zugunsten ihrer nur individuellen Gültigkeit. Das einzelne Gesellschaftsmitglied nimmt für sich in Zuständigkeit, was im Falle der sozialen Gesellschaft Recht eben dieser Gesellschaft ist. Nicht mehr die durch einen Wert verbundene Personenmehrzahl entscheidet darüber, ob dieser als solcher und überhaupt weiterhin gelten und das Zusammenleben bestimmen soll, sondern das sich auf sich selbst stellende Individuum. Natürlich ist eine solche Entscheidung nur dadurch möglich, daß das Individuum aus der Sozialgestalt, der es angehört, gleichsam heraustritt, sich autonom dem ihm ursprünglichen Sozialzusammenhang von außen gegenüberstellt und seinen Wertgehalt einer Prüfung unterwirft.

Diese individualistische Strukturierung läßt das gesellschaftliche Leben insofern in ein prekäres Stadium treten, als das soziale Dasein nicht mehr durch einen vorgegebenen, weil von den vielen von vornherein geteilten Sinnzusammenhang ausgezeichnet ist, sondern nunmehr abhängt von der Zustimmung der einzelnen, wobei diese Zustimmung jederzeit verweigert werden kann. Die Folge der Beanspruchung dieses Rechts kommt einer permanenten Bedrohung der Sozialität, die Folge der Ausübung dieses Rechts kommt dem Vollzug der inneren Auflösung der sozialen Gesellschaft in eine asoziale gleich. Asozialität im soziologischen Sinne kann damit definiert werden als diejenige Befindlichkeit einer Gesellschaft, die sich auszeichnet durch einen sozialen Wert-und damit Sinnverlust, was zur Folge hat, daß die soziale Existenz nur mehr ein bloß faktisches und vereinzeltes Nebeneinander auszubilden im Stande ist, so daß die Gesellschaft gleichsam den Charakter einer dinghaft gewordenen Gemengelage erhält, die bar jedes einsehbaren Sinnes als naturhaft-gesetzliches und insofern apersonales Geschehen erscheint

Asoziale und sogenannte pluralistische Gesellschaft

Offensichtlich umreißt diese Definition zugleich nichts weniger als den Zustand, in dem sich unsere Gesellschaft weitgehend befindet. Sie ist weithin zu einer asozialen Gesellschaft geworden. Es verwundert deshalb auch nicht, wenn man die Thematik des vielfältigen soziologischen Erkenntnisbemühens in die Frage kleiden kann: Wie ist Gesellschaft möglich? Offenkundig hat die Asozialität ein Ausmaß erreicht, daß menschlich-soziales Leben von vornherein nicht mehr gewährleistet erscheint. Aber natürlich ist die Frage, wie Gesellschaft möglich sei, schon allemal von der Einsicht bestimmt, daß jede Art produktiver soziologischer Erkenntnis am Urphänomen der sozialen Gesellschaft orientiert bleiben muß. Insofern unterscheidet sie sich von nicht wenig verbreiteten soziologischen Denkweisen, die aus einem oberflächlichen Erkenntnisbemühen, wenn nicht sogar aus voller Absicht den bestehenden krisenhaften Zustand nicht zur Kenntnis nehmen bzw. sich gegenüber der Einsicht in die tiefgreifende Asozialität der Gegenwartsgesellschaft verweigern. Gesellschaft erscheint dann simpel als etwas Vorhandenes, das irgendwie funktioniert. Die zu ihrer Erfassung benötigten Vokabeln sind rasch entwik-

kelt.

Einer der verbreitetsten Begriffe, der sich seit rund einem Jahrzehnt zur globalen Kennzeichnung des gesellschaftlichen Lebens der Gegenwart durchgesetzt hat, ist der Begriff der pluralistischen Gesellschaft. In charakteristischer Weise ist dieser Begriff, so wie er in der Regel verwendet wird, nicht in Korrespondenz mit dem positiven Begriff der Sozialität entwickelt worden, sondern von jener von einer Voreingenommenheit nicht ganz freien Soziologie, sofern man ihn nicht überhaupt einem sozialwissenschaftlichen Dilettantismus zurechnen muß. Wäre der Begriff des Pluralismus im Hinblick auf den sozialen Wertcharakter der Gesellschaft konzipiert, dann drückte er nichts anderes aus, als daß die Vielzahl sozialer Gestalten, in die sich eine jede entwickelte Gesellschaft differenziert, um einer optimalen Wert-verwirklichung willen in einem produktiven Wetteifer miteinander liegen. Der positive Pluralismusbegriff, den es nicht nur auch gibt, sondern der allein einer um wirklichkeitsgültige Einsichten bemühten Soziologie entspricht, benennt somit den Reichtum der in der ganzen Breite bis hin zu den unscheinbarsten Formen des sozialen Lebens entfalteten sozialen Wer-le. Von diesem Bedeutungsgehalt ist der geläufige Pluralismusbegriff weit entfernt. Ganz eindeutig ist er angesichts der Asozialität der Gegenwartsgesellschaft von einem soziologischen Denken gebildet, das die soziale Destruktion als solche nicht erfassen kann oder will und deshalb genötigt ist, die ja unabweisbare Problematik sozialer Gestaltbildung umzudeuten in die Gegebenheit einer gesellschaftlichen Vielfalt. Im geläufigen Pluralismus-begriff liegt insofern eine Verschleierung, wenn nicht gar Leugnung der asozialen Verfaßtheit der gegenwärtigen Gesellschaft vor. Als solcher vermittelt der Begriff des Pluralismus somit keine Erkenntnis, sondern erweist sich als ein ideologisches Instrument, das vorzüglich geeignet ist, ein schlechtes soziales Gewissen zu beschwichtigen, indem diesem gesagt wird, die Gegenwartsgesellschaft sei ja gar nicht asozial, sondern vielfältig.

Um diesen Charakter des geläufigen Pluralismusbegriffs zu bestätigen, mag es erlaubt sein, eine Untersuchung vorzustellen, die sich die Bestimmung dieses Begriffs ausdrücklich zur Aufgabe macht. Unter den vorliegenden Arbeiten fällt unsere Wahl auf eine von Professor Dr. Hugo Staudinger unter dem Titel „Schule und pluralistische Gesellschaft" vorgelegte Studie, die über jene Bestimmung hinaus eine Reihe von Schlußfolgerungen für die Gestaltung des Schulwesens in der pluralistischen Gesellschaft zieht und insofern als erziehungssoziologische Arbeit unser besonderes Interesse beanspruchen kann Zugleich ist damit die Disposition der folgenden Überlegungen gekennzeichnet, die sich in einem ersten Schritt der Würdigung des Pluralismus-begriffs und in einem zweiten der Analyse des Zusammenhanges von Schule und pluralistischer Gesellschaft widmen werden.

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Seiner nicht ohne Scharfsinn durchgeführten Untersuchung stellt Staudinger bekenntnishafte Worte voran: Verfolge man die Diskussion über die Gestaltung des Schulwesens, so könne man unschwer feststellen, daß in ihr immer wieder das Stichwort von der pluralistischen Gesellschaft falle, die, so heiße es, „als der entschiedene Widersacher echter Bildungsarbeit" anzusehen wäre. Das sei völlig falsch, denn man müsse sich doch darüber klar sein, „daß der Pluralismus unserer Gesellschaft in einer engen Korrelation zu unserer freiheitlichen Staats-und Gesellschaftsordnung steht", weshalb man, so ist zu lesen, „sicher eindeutig sagen" könne, „daß eine Gesellschaft geistig profilierter, freier und mündiger Menschen zwar nicht denknotwendig, aber doch geschichtlich-faktisch heute pluralistisch sein wird" 8). Insofern deswegen alle Absichten einer Überwindung des Pluralismus als fragwürdig gelten müssen, sei es das Gebot der Stunde, sich seine Lebensform zu eigen zu machen. Im Dienst dieser These steht das Bemühen Staudingers, den Pluralismus des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens durch vier Merkmale zu kennzeichnen. Unbeschadet der Frage, ob durch sie eine erschöpfende Charakterisierung erreicht wird, seien diese vier Merkmale im folgenden vorgestellt.

Pluralität von Interessengruppen Zum ersten heißt es: „Unsere Gesellschaft ist gekennzeichnet durch eine Pluralität von Interessengruppen." 9) Natürlich weiß Staudinger selbst, daß bei einem auch von ihm weit gefaßten Begriff von Interessengruppen jede entfaltete Gesellschaft eine Vielzahl solcher Gruppen aufweist und insofern „pluralistisch" ist. Er drückt das so aus, daß er davon spricht, daß eine jede Gesellschaft „strukturiert" sei, „d. h., daß sie aus einer Vielzahl von Individuen und Gruppen besteht" Natürlich ist das soziologisch höchst dilettantisch ausgedrückt, aber das Gemeinte kann man erahnen. Es soll gesagt sein, daß das zu einer Gesamtgesellschaft sich ausformende soziale Leben kein Chaos darstellt, sondern ein Insgesamt von zueinander wohlgeordneten sozialen Gestalten.

Wenn es aber so ist, worin ist dann die Eigentümlichkeit des Pluralismus der Gegenwartsgesellschaft zu erblicken? Auf diese Frage gibt Staudinger eine doppelte Antwort. Er sagt zum ersten: „Die Interessengruppen" — soziologisch gesprochen also gewisse soziale Gestalten im Gesamtzusammenhang des gesellschaftlichen Lebens — „früherer Zeiten haben — zumindest in der Regel — auch das Wohl des Ganzen um des Ganzen willen bejaht. Viele unserer heutigen Interessengruppen dagegen neigen dazu, das Wohl des Ganzen allenfalls nur noch deshalb und insoweit zu bejahen, wie es eine notwendige Voraussetzung dafür ist, daß die Interessen der eigenen Gruppe maximal gesichert werden." Projiziert man diese Aussage auf den Wertekanon, der in einer sozialen Gesellschaft von allen sozialen Gestalten, die diese bilden, bejaht und gelebt wird, dann besagt sie, daß in der Gesellschaft der Gegenwart der gesamtgesellschaftlich bedeutende Wertkosmos — also das Wohl des Ganzen — seinen Charakter als gestaltbildende Maxime verloren hat. Gruppen-oder sogar einzelindividualistische Werte sind an die Stelle solcher getreten, die den Gesamtzusammenhang begründen. Die Folge ist eine Auflösung der Sozialität des gesellschaftlichen Lebens als eines Ganzen, dessen Zusammenhang nur noch insoweit gewahrt bleibt, als er sich für die Verwirklichung partikularistischer Ziele als unverzichtbar erweist. Pluralität gibt sich damit zum ersten Male als Asozialität zu erkennen.

Die zweite Antwort auf die Frage, was die Interessengruppen der Gegenwartsgesellschaft von denen früherer Zeiten unterscheidet, gibt zur selben Schlußfolgerung Anlaß. Staudinger schreibt: „Die Interessengruppen früherer Zeiten waren überwiegend personal geprägt: der Mensch als Person gehörte zu einer Gilde, Zunft oder Bruderschaft. Die Gemeinschaft war prinzipiell für alle seine Nöte und Sorgen mitzuständig. Die Interessengruppen der Gegenwart sind überwiegend real orientiert: die Berufsverbände, Fachschaften, Verbraucherverbände" usw. „sind jeweils nur für ganz bestimmte Sachinteressen zuständig." Die Prüfung dieser zutreffenden Einsicht wird einsetzen an der Differenz, die die eine von der anderen Art der sozialen Gestalten unter-scheidet. Wird man gegenüber der soziologischen Unbeholfenheit Milde walten lassen, die die beiden Vergesellungsformen dadurch voneinander abhebt, daß die eine personal und die andere real strukturiert sei, so als hätten soziale Personalität und soziale Realität in einem sachlogischen Zusammenhang etwas miteinander zu tun bzw. stünden beide gar in einem definierten Gegensatz zueinander, so ist das, was gemeint ist, unschwer zu begreifen. Personale Geprägtheit der sozialen Gestalt meint die vollmenschliche Erfüllung in einem Zusammen. Sie verwirklicht sich im geglückten Ausgleich zwischen der Befriedigung materieller und vitaler Lebensbedürfnisse und dem diese durchdringenden Lebenssinn auf der Grundlage eines als gemeinsam anerkannten Lebensschicksals. Demgegenüber bedeutet die Zugehörigkeit zu einer modernen Interessengruppe nicht mehr als eine partielle Beanspruchung und Entfaltungsmöglichkeit des Menschen als Sozialwesen. Die Folge ist, daß dieser sich in eine Summe sozialer Partizipationen aufspaltet. Die zeitgenössische empirische Soziologie hat zur Kennzeichnung dieses Phänomens den geläufig gewordenen Begriff des seine sozialen Rollen spielenden Menschen geprägt. Das entscheidende Problem bleibt dabei, daß es das Individuum ist, das nicht nur über Art, Intensität und Zahl der Partizipationen befindet, sondern auch die Integration der Vielzahl der sozialen Rollen zur einen sozialen Existenz vollziehen muß. Ursache der Vergesellung ist insofern nicht die die Individualität ins Dasein rufende Gesellschaft, sondern umgekehrt, das seine sozialen Ziele setzende Individuum. Damit zeigt sich abermals der soziale Minimalismus in Gesinnung und Tat, der eine asoziale Gesellschaft auszeichnet.

Pluralität von Hoheitsträgern Das zweite Merkmal unserer Gesellschaft als einer pluralistischen bestimmt Staudinger wie folgt: „Unsere Gesellschaft ist gekennzeichnet durch eine Pluralität von einander nicht oder zumindest nicht in jeder Hinsicht untergeordneten Hoheitsträgern." Was dieser Satz meint, wird durch die gewählten Beispiele deutlich. So sei das staatlich verfaßte Leben unserer Gesellschaft gekennzeichnet durch eine Trennung von Staat und Kirche; charakteristisch sei die Gewaltenteilung zwischen Regierung, Gesetzgebung und Rechtsprechung; nicht zuletzt zeichne sich unser Staat durch seine föderalistische Struktur aus. Die Frage, wie diese verschiedenen Träger politischer Macht sich zu einem wohlgeordneten Ganzen zusammenfügen, beantwortet Staudinger mit dem Hinweis, daß vom Insgesamt dieser Ver-gesellungen ein über ihnen stehendes Recht als verbindlich angenommen werden müsse. Genau hier aber stellen sich entscheidende rechtlich-soziale Probleme. Die staatswissenschaftliche Diskussion verhandelte und verhandelt sie unter dem Stichwort der Polykratie, das den Wildwuchs von Hoheitsträgern benennt, der notwendig eine Auflösung der staatlich geeinten Gesellschaft bewirkt, wenn diese sich solchermaßen pluralistisch differenziert. Staudinger selbst urteilt völlig zutreffend, wenn er sagt: „Eine auf diesem Prinzip beruhende Ordnung ist ständig in Gefahr, in ein Chaos zu entarten." Dem ist nichts hinzuzufügen.

Pluralität von Weltanschauungen Uber das dritte Merkmal heißt es: „Unsere Gesellschaft ist gekennzeichnet durch einen Pluralismus der Weltanschauungen." Wohl wissend, daß eine jede entfaltete Gesellschaft eine Mehrzahl von Weltanschauungen kennt und insofern „pluralistisch" genannt werden kann, hat Staudinger alle Veranlassung, den für die Gegenwartsgesellschaft spezifischen weltanschaulichen Pluralismus genauer festzulegen. So folgt jener allgemeinen Kennzeichnung der Hinweis auf den Unterschied zwischen einst und jetzt. Wir lesen: „In den antiken Reichen gab es trotz allem auch einen amtlichen Staatskult, an dem sich die Vertreter der verschiedenen , Weltanschauungen'beteiligten, ja sogar beteiligen mußten ... Und in Preußen und in anderen vergleichbaren Staaten gab es trotz alles weltanschaulichen Pluralismus'doch eine Art von , amtlicher'Religion. Die anderen Religionen wurden . toleriert'. Das bedeutet trotz aller Weite und Großzügigkeit, die zuweilen herrschte: sie wurden nur toleriert. Bei uns dagegen gibt es einen Pluralismus von in jeder Hinsicht gleich anerkannten und gleichberechtigten Weltanschauungen." Ohne Zweifel ist das richtig gesehen. Was man jedoch vermißt, ist die soziologische Konsequenz aus diesem Sachverhalt. Sie lautet schlicht, daß für unser soziales Leben die ihrem Wesen nach die Gesellschaft transzendierende und insofern vom Geiste her prägende christliche Religion ihre gestaltbil-dende Kraft im herkömmlichen Sinn verloren hat. An ihre Stelle ist eine Vielzahl von gleichberechtigten Weltanschauungen getreten, die dem Grundsatz nach als gesellschaftsimmanente Gestaltungsmächte gelten müssen. Hieraus folgt wiederum zweierlei: Zum ersten wird angesichts der Vielzahl von Weltanschauungen das Individuum freigesetzt, sich die Lebenssinngebung und die mit dieser verbundene soziale Moral frei wählen und mit anderen teilen zu können. Das solchermaßen seinem Sinn nach prinzipiell vieldeutig gewordene soziale Leben ist nur noch unter größten Anstrengungen fähig, eine geist-bestimmte gesellschaftliche Kulturgestalt auszubilden, worin sich die zweite Konsequenz ausdrückt. Was als Kultur allein realisierbar erscheint, ist nicht mehr als ein erster Schritt über den naturgebundenen Lebenszusammen-hang hinaus und kann wohl am besten durch die Formel eines ökonomischen bzw. technologischen Humanismus umschrieben werden. In diesem Sinne heißt Pluralität der Weltanschauungen gruppenmäßige, wenn nicht individuelle Beliebigkeit gegenüber dem geistig-kulturellen Leben der Gesellschaft, dem nur noch der Minimalismus wohl materialistisch zu nennender Sinndominanten eigentümlich ist.

Pluralität der sogenannten staatstragenden Gruppen Der Darstellung des vierten Merkmals unserer Gesellschaft als einer pluralistischen schickt Staudinger die Bemerkung voraus, daß den gesetzlichen Normen, die das staatlich verfaßte Leben regulieren, sogenannte Grundüberzeugungen voraufliegen. Diejenigen Individuen und Gruppen, die sich für die Verbindlichkeit von Grundüberzeugungen einsetzen und damit die Rechtsnormen garantieren, nennt Staudinger staatstragend. Diesen Zusammenhang vor Augen, stellt er die Frage nach dem Verhältnis von Staatsvolk und Grundüberzeugungen in der Gesellschaft der Gegenwart. Seine Antwort lautet wie folgt: „Es gibt in unserer Gesellschaft keine staatstragende Gruppe, die für alle Grundüberzeugungen unserer verfassungsmäßigen Rechtsordnung voll eintritt. Statt dessen gibt es eine Pluralität von Interessen-und Weltanschauungsgruppen, die in ihrer Gesamtheit die Funktion der staats-tragenden Gruppe erfüllen. Jede von ihnen ist repräsentativer Träger bestimmter von Gruppe zu Gruppe wechselnder Grundüberzeugungen, wobei es geradezu unbegrenzte Variationsmöglichkeiten und Überschneidungen gibt."

Versucht man die Konsequenz zu fixieren, die sich für eine auf diese Weise staatlich geeinte Gesellschaft ergibt, dann heißt diese: Daß deren Existenz sich nicht auf einen innerlich gebundenen Konsensus aller gründet, sondern durch ein Ausbalancieren der partiell geltenden Grundüberzeugungen autrechterhalten wird. Insofern ist die Gesellschaft nicht ausgezeichnet durch eine stabile Struktur, sondern durch einen Zustand, den man labiles Gleichgewicht nennen kann. Daß sich diese Labilität der Geltungsgrundlage der Rechtsnormen auf deren Verbindlichkeit überträgt, steht außer Frage. Die einschneidendsten Folgen ergeben sich hieraus für den Garanten dieser Normen, den Staat. Die Erfüllung seiner Funktion, das Leben der Gesellschaft im inneren abschließend zu ordnen und nach außen in letzter Zuständigkeit zu schützen, kann nicht mehr als in einem sozialen Prinzip begründet gelten, sondern muß als Resultante permanenter Kompromisse der ihn tragenden Gruppen begriffen werden. Man mag diese Entmachtung des Staates als seine Demokratisierung begrüßen. Die Kehrseite dieser genossenschaftlichen Herrschaftsausübung, die ja der Sinn der Demokratie ist, ist freilich die, daß der Konflikt der staatstragenden Gruppen konstitutiv ist, da — um es mit den Worten Staudingers zu sagen — „eine allgemeine materiale Einigung" über jene Grundüberzeugungen und damit über die Geltungsgrundlagen der Rechtsnormen „in unserer Gesellschaft prinzipiell nicht möglich" ist. Damit erweist sich auch von dieser Seite her das staatlich geeinte gesellschaftliche Leben von innen her als bedroht. Der zentral um die Erkenntnis der Konsequenzen für die soziale Struktur bemühte Ausweis der vierfach als pluralistisch gekennzeichneten Gegenwartsgesellschaft ist damit an sein Ende gekommen. Das Resultat kann bündig formuliert werden: Was sich als Vielfalt des sozialen Lebens auslegt, ist keineswegs eine solche in einem positiven Sinn, sondern muß als Kennzeichnung einer innerlich gefährdeten, wenn nicht bereits individualistisch in Auflösung geratenen, also asozialen Gesellschaft verstanden werden, wobei der Begriff des Pluralismus diese Gefährdung bzw. Auflösung nicht eigentlich benennt, sondern verschleiert und insofern ideologischer Natur ist. Der Untersuchung Staudingers weiter folgend, soll es nun unsere Aufgabe sein, die Folgen aufzuzeigen, die sich aus einer weitgehend asozial verfaßten Gesellschaft für die Gestaltung des Schulwesens ergeben.

Die Schule in der sogenannten pluralistischen Gesellschaft

Ausgangspunkt der darauf hinzielenden Erkenntnis hat die allgemeine soziologische Einsicht zu sein, daß die Gegenwartsgesellschaft im Hinblick auf ihren Entfaltungszustand nicht einfach, sondern komplex ist. Komplexität besagt, daß nicht nur die sich gleichsam überlagernden sozialen Grundgestalten Familie, Gemeinde und Staat voll entwickelt sind, sondern daß gewissermaßen aus diesen heraus und dann neben ihnen eine prinzipiell unabgeschlossene Vielzahl besonderer sozialer Gestalten ausgebildet ist. Im ganzen dieser sozialen Lebensformung ist auch das Erziehungswesen als ein sozialer Gestaltzusammenhang entfaltet. Innerhalb seiner besitzt das öffentliche Schulwesen, dem unsere Aufmerksamkeit gehört, besondere Bedeutung.

Ohne Frage gilt von diesem Schulwesen, daß es seine eigene soziale Lebensform entwickelt. Vergleichbar etwa mit dem Gestaltungsbereich der Wirtschaft, der sich im Laufe der modernen Sozialgeschichte in immer stärkerem Maße verselbständigt und dabei jene autonomen Sozialgestalten hervortreibt, die wir Betriebe heißen, bildet auch das Schulwesen einen in sich gefügten Zusammenhang aus und erstrebt die Autonomie der Gestaltung des schulisch-erzieherischen Lebensraumes. Anders freilich als die Wirtschaft ist die Schule in unserer Gesellschaft insonderheit mit den sozialen Grund-gestalten Familie, konfessionelle Gemeinde und Staat verbunden geblieben. Der Grund hierfür ist vor allem darin zu erblicken, daß die Frage, wer denn ein Recht zu erziehen besitze, im allgemeinen keineswegs zugunsten der professionellen Erzieher beantwortet wird. Die ihnen überantwortete Aufgabe, so heißt es, gründe sich wesentlich auf eine Delegation. Ein ursprüngliches Erziehungsrecht besäßen allein die sozialen Grundgestalten. Sie seien es, die aus Gründen einer gesteigerten Erzie-hungseffiziens die Schulen ins Leben riefen und den Erzieher mit einer besonderen Funktion beauftragten. Welches Ergebnis eine Soziologie der Erziehung über Sinn und effektive Gestaltungsleistung des als ursprünglich ausgelegten Erziehungsrechts von Familie, konfessioneller Gemeinde und Staat und eines als abgeleitet begriffenen Erziehungsrechtes der Schule auch immer erbringen mag, so ist doch angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse damit zu rechnen, daß es hauptsächlich jene vier Interessenten sind, die einen Erziehungswillen artikulieren und insofern auf die Gestaltung des Schulwesens Einfluß nehmen, nämlich die Elternschaft, religiöse bzw. weltanschauliche Gruppierungen, die Institutionen des staatlich-öffentlichen Lebens und die professionellen praktisch und theoretisch tätigen Pädagogen. Von ihren Intentionen gilt nun, daß diese der Lebensform der pluralistischen Gesellschaft unterworfen sind. Was das heißt, soll im folgenden aufgewiesen werden. Blicken wir fürs erste auf die Familie bzw. die Eltern.

Schule und Familie Im soziologischen Sinn muß die Familie als eine individual strukturierte Sozialgestalt gelten. Dies ist insofern der Fall, als Eltern nicht irgendwelche, sondern jeweils ihre Kinder haben. Für die Legitimation der Erziehung, das sogenannte Elternrecht, ergibt sich daraus, daß dieses grundsätzlich nur im Hinblick auf die eigenen Kinder gilt. Kommt es zur Herausbildung eines besonderen Schulwesens, das Kinder zahlreicher Familien in sich zusammenfaßt, wie das gegenwärtig der Fall ist, so hat die Schule mit entsprechend vielfältigen Vorstellungen und Intentionen hinsichtlich der Formen und Gehalte des schulischen Lebens zu rechnen. Das wäre dann nicht weiter problematisch, wenn die Absichten der vielen Eltern sozial konform wären. Genau an dieser Stelle aber macht sich der herrschende gesellschaftliche Pluralismus geltend. Lapidar formuliert Staudinger den Sachverhalt: „Die Eltern gehören verschiedenen Interessengruppen, verschiedenen Weltanschauungsgruppen und verschiedenen mehr oder weniger staatstragenden Gruppen an. Es ist also von vornherein nicht zu erwarten, daß sich ihr Erziehungswille auf einen einzigen Nenner bringen läßt." Die Folgen dieses unaufhebbar widersprüchlichen Erziehungswillens bleiben nicht aus. Mindestens drei Konsequenzen sind ohne weiteres erkennbar. So bedeutet zum ersten eine pluralistische Einflußnahme auf die Erziehungsziele der Schule die Verwirklichung lediglich eines erzieherischen Minimalprogramms. Dies einfach deshalb, weil die Zeris-senheit in den Sinnfragen nur eine Übereinkunft über Zweckmäßigkeiten gestattet. Die Schule wird damit in die Rolle eines Instituts gedrängt, in dem lediglich die Fähigkeiten des überlebens ausgebildet werden. Nun läßt sich die Frage nach dem Sinn dieses überlebens nur gewaltsam unterdrücken. Stellt sich die Schule dieser Frage, dann ist sie angesichts des diffusen Elternwillens genötigt, die Beantwortung in ihre eigene Regie zu übernehmen. Eben darin liegt die zweite Konsequenz. Sie drückt sich konkret darin aus, daß praktische wie theoretische Pädagogen die Rolle eines Anwalts der Interessen des Kindes wahrnehmen und diesen Anspruch dem erzieherisch kraftlos gewordenen Elternwillen entgegenstellen. Die Folge ist eine gesteigerte Autonomie der Schule. Sie wächst in dem Maße, in dem sich auf sie eine genuine Erziehungsfunktion verlagert. Ihren Funktionsverlust wohl bemerkend, reagieren die „eigentlich" Erziehungsberechtigten mit der Klage und dem Vorwurf eines ausufernden Pädagogismus. Die dritte Konsequenz, die sich aus dem amorphen Erziehungswillen der Eltern ergibt, erstreckt sich auf deren Verhältnis zum Erziehungsrecht der religiösen bzw. weltanschaulichen Gemeinden und dem des Staates. Es liegt auf der Hand, daß je weniger sich ein einheitlicher Elternwille zu artikulieren vermag, die Schule dem Gestaltungswillen jener Gemeinden bzw.dem des Staates anheimiällt.

Schule und Religion bzw. Weltanschauung Hat Staudinger seine Untersuchung über den Zusammenhang von pluralistischem Eltern-willen und Gestaltung der Schule weit genug vorangetrieben, um aus ihm die nötigen Folgerungen ziehen zu können, so gelangt seine Analyse des schulischen Gestaltwollens der religiösen bzw. weltanschaulichen Gemeinden in der pluralistischen Gesellschaft über eine erste Problemformulierung leider nicht hinaus. Außer dem keineswegs überzeugend begründeten Hinweis darauf, daß die Religionsgemeinschaften ein ursprüngliches Erziehungsrecht besäßen, findet sich lediglich die Bemerkung, „daß es in der Bundesrepublik nicht nur eine Religionsgemeinschaft gibt, sondern zwei große christliche Konfessionen, von denen die eine außerdem noch in sich stark differenziert ist, und daß zudem auch nicht-christliche Gruppen bestehen", wodurch sich „eine Komplikation ergibt" Die Dürftigkeit dieser Aussage erscheint um so krasser, als im Hinblick auf den schulischen Gestaltungswillen der Religionsgemeinschaften nicht etwa nur die Religionssoziologie deren steigende Ohnmacht registriert, sondern diese auch von berufenen Sprechern der christlichen Konfessionen erkannt ist und formuliert wird. Zitieren wir dazu nur einen von ihnen, nämlich den katholischen Theologen Karl Rahner. Nach seiner Ansicht ist unsere Gesellschaft längst zu einem „Heidenland mit christlicher Vergangenheit und christlichen Restbeständen" geworden. In diesem Sinne bestimmt die Soziologie die Kultur der Gegenwart als grundsätzlich profan und überdies als in sich höchst diffus. So wird eine um ein realistisches Urteil bemühte Erkenntnis jenen oben bereits zitierten Satz Staudingers ernst nehmen, daß unsere Gesellschaft durch „einen Pluralismus von in jeder Hinsicht gleich anerkannten und gleichberechtigten Weltanschauungen" ausgezeichnet sei, um daraus zu folgern, daß das öffentliche Schulwesen, um das es hier geht, durch eine Vielzahl von untereinander nicht vereinbaren Sinndominanten bestimmt ist, es sei denn, daß Ökonomismus und Technologie mit ihrem individualistischen Rationalismus und Leistungsstreben als auch die Schule formende soge-nannte Industriekultur sich bereits definitiv durchgesetzt haben. In dieser Rücksicht erscheint die konfessionelle Schule in der Tat als ein christlicher Restbestand.

Schule und Staat Der dritte Interessent an der Schule ist der Staat. Die Frage stellt sich, ob von ihm ein sinnbestimmtes Gestaltwollen erwartet werden kann, eine Schulpolitik also, die mehr ist als die finanzielle und administrative Gewährleistung eines Unterrichtsbetriebes. Staudinger äußert sich hierzu ein wenig ausführlicher. Ausgangspunkt der Überlegungen, so meint er, müsse die Auseinandersetzung mit der These sein, nach der der Staat das Recht besitze, in letzter Instanz das Erziehungswesen zu gestalten. Diese Auffassung, so heißt es, beruhe auf einer falschen Prämisse. Denn „es wird diskussionslos vorausgesetzt, daß der Staat als der . letzte Repräsentant der Gesamtheit'selbst nicht pluralistisch ist. Wie sich bei der Kennzeichnung der pluralistischen Gesellschaft unserer Zeit ergeben hat, ist jedoch bei uns auch der Staat durch Pluralismus gekennzeichnet: Er wird nicht von einer in ihren Grundüberzeugungen konformen Gruppe getragen und repräsentiert, sondern eine Pluralität von Interessen-und Weltanschauungsgruppen erfüllt in ihrer Gesamtheit die Funktion der staatstragenden Gruppe. Ihr Erziehungswille ist daher keineswegs konform. Der in der Verfassung und Rechtsordnung verankerte Pluralismus der Hoheitsträger kompliziert die Lage noch zusätzlich." Angesichts dieser nach Interessenlagen, Weltanschauungen und Hoheitsträgerschaften höchst diffusen Verfaßt heit des Sozialgebildes Staat fragt es sich, wie dieser überhaupt gestalt-bildend auf die Schule einwirken kann. Und da ein Konsensus darüber besteht, daß die jeweils regierende partiell-staatstragende Gruppe den ihr eigenen Willen allein nicht durchsetzen darf, da dies eine totalitäre Ausübung von Herrschaft wäre, liegt die Forderung nahe, daß der Staat auf jede aktive Gestaltung des Schulwesens verzichten und bestenfalls subsidiär tätig werden sollte. Auf dieses Postulat antwortet Staudinger jedoch mit dem Hinweis auf das staatliche Erziehungsrecht auch in einer pluralistischen Gesellschaft. Es heißt: „Ein Rückzug des Staates auf eine rein subsidiäre Position im Erziehungswesen würde also, um es ganz hart auszusprechen, die Vernachlässigung einer seiner Aufgaben bedeuten." So stehen sich elementares Erziehungsrecht und ein konstitutiv diffuses Gestaltwollen gegenüber. Staudinger zieht hieraus den einzig möglichen Schluß, wenn er schreibt, daß „der Staat somit vor geradezu unlösbaren Problemen" steht. In der Praxis bedeutet diese Unlösbarkeit den Verzicht auf die Formulierung eines sinnvollen, insbesondere politischen Erziehungsprogramms und die Beschränkung auf eine bloße Administration der Schule.

Schule und Lehrerschaft Durch jenen Verzicht wird nun auch staatlicherseits jenem vierten Interessenten, der professionellen Erzieheischaft, eine entscheidende Funktion übertragen. Vermögen die Erzieher ihr aber gerecht zu werden? Die Frage stellt sich also, ob diese im Stande sind, die Negativität des staatlichen pluralistischen Gestaltwollens und darüber hinaus den ja nicht minder diffusen Erziehungswillen der Eltern und den der religiösen bzw. weltanschaulichen Gruppierungen zu überwinden. Recht zwiespältig und auch nicht sonderlich klar heißt es dazu bei Staudinger: „Die Schule hat zwar kein eigenständiges Erziehungsrecht, sondern muß von Eltern, Staat und Religionsgemeinschaftten legitimiert sein; aber die Schule ist nicht nur eine Institution, über die die jeweiligen legitimen Erzieher frei verfügen können, sondern sie ist zugleich ein Personengefüge, das nicht aus willenlosen Funktionären, sondern aus freien Menschen besteht. Dieses freie Personengefüge erhält durch die polare Relation Lehrer—Schüler seinen besonderen Charakter. Dabei hat der Lehrer bei der Aktivierung der personalen Relation das entscheidende Gewicht. Aber auch dieser Lehrer selbst ist wieder ein Glied der pluralistischen Gesellschaft und gehört jeweils ganz bestimmten Interessengruppen, Weltanschauungsgruppen und partiell-staatstragenden Gruppen an." Offensichtlich spricht diese Problemformulierung zwei Fragen an, nämlich zum ersten das Verhältnis des Erziehungsrechts der drei sozialen Grundgestalten zum Erziehungsrecht des sozialen Gestaltzusammenhanges, den wir Schulwesen nennen. Zum anderen liegt eine Aussage über die Erzieherschaft vor, nämlich daß diese nicht minder durch den Pluralismus geprägt sei als das übrige gesellschaftliche Leben. Müssen wir die erste Frage, also die nach der sich in unserer Gesellschaft theoretisch und praktisch autonom setzenden Pädagogik auf sich beruhen lassen, so muß aus der Feststellung, daß auch die Erzieherschaft pluralistisch denke und handele, die Konsequenz gezogen werden. Sie lautet nicht anders als in den vor-aufgegangenen Fällen, nämlich daß von einem ganzheitlich-sinnbestimmten Erziehungswillen der Lehrerschaft nicht gesprochen werden kann. Unter den Erziehern wird sich insofern nur ein Konsensus über Schulung und Unterrichtung ausmachen lassen.

Gewährleistet der Pluralismus die „Bildungsschule" oder ermöglicht er nicht mehr als die „Ausbildungsschule''?

Blickt man zusammenfassend auf die vierfache Erziehungsintention, in deren Schnittpunkt die Schule liegt, und ist man um eine realistische Würdigung der Konsequenzen ihres pluralistischen Charakters bemüht, so heißt diese: daß* es das Schicksal der Schule der Gegenwartsgesellschaft ist, nicht Bildungs-, sondern nur Ausbildungsschule zu sein, um ein Begriffspaar von Staudinger zu übernehmen. Ausbildungsschule, das heißt soviel wie Stätte der Ertüchtigung für das Leben im Sinne seiner zweck-rationalen Bewältigung. Bildung als Befähigung zu maximaler Wertverwirklichung im sozialen Leben muß als unmöglich geworden gelten. Staudinger selbst sieht diese unausweichliche Folge ganz klar, wenn er schreibt: „Wenn man die Dinge durchüberlegt, zeigt sich auch hier wieder, daß die grundlegenden Schwierigkeiten nicht bei der Gestaltung und Durchführung des Ausbildungsprogramms, sondern des Bildungsprogramms liegen. Angesichts dieser Gesamtsituation könnte es . .. als letzter Ausweg erscheinen, daß man versucht, die Schule von der Bildungsaufgabe zu . entlasten'und von ihr nur die Durchführung eines reinen Ausbildungsprogramms zu fordern."

Die Untersuchung Staudingers hat damit ihren kritischen Höhepunkt erreicht. Wie erinnerlich, nahm die Analyse ihren Ausgang damit, daß sie erstens die Klagen über die pluralistische Verfaßtheit unserer Gesellschaft aufgriff und als unbegründet zurückwies. Ihnen gegenüber konstatierte sie zweitens, „daß eine Gesellschaft geistig profilierter, freier und mündiger Menschen . . . heute pluralistisch sein wird" daß also die Lebensgestaltung in der Gegenwartsgesellschaft auf pluralistische Weise ein Optimum sozialer Existenzentfaltung bedeute. Der Erhärtung dieser These gilt die Staudingersche Untersuchung. Fragen wir, ob sie dieses Ziel zu erreichen vermochte, dann ist eindeutig verneinend zu antworten. Die Analyse des Pluralismus im allgemeinen und seine Konsequenzen für die Gestaltung des Schulwesens im besonderen haben die Fragwürdigkeit, wenn nicht Unmöglichkeit der Ausprägung eines geistig profilierten, freien und mündigen sozialen Menschentums in einer pluralistischen Gesellschaft aufgewiesen. Pluralismus erwies sich als Inbegriff gerade mangelnder sozialer Geistigkeit, Verstrickung des einzelnen in sogenannte reale Interessen und Verwirklichung lediglich eines sozialen Wertminimums. Liegt in diesem Resultat auch eine erfreuliche Entideologisierung des Pluralismus-begriffes, so ist man doch nicht wenig darüber überrascht, daß Staudinger auf Grund des von ihm selbst erstellten Ergebnisses seine eingangs aufgestellte These nicht, widerruft. Bliebe er folgerichtig, dann müßte er den Schluß formulieren, daß eine pluralistisch verfaßte Gesellschaft die Verwirklichung von geistiger Profiliertheit, Freiheit und Mündigkeit im allgemeinen sozialen Leben wie im besonderen Falle der Schule gerade nicht ermöglicht. In einem expliziten Sinne geschieht jedoch nichts dergleichen.

Indessen ist der Staudingersehen Arbeit der Widerspruch nicht entgangen, der den Pluralismus bald als Gewährleistung, bald als Verhinderung einer sinnvollen sozialen Daseins-gestaltung begreift 27a). Die Einsicht in ihn artikuliert sich in der Diskussion über die pluralistische Deformation der Schule zu einer bloßen Ausbildungsstätte. Beflügelt von einem erzieherischen Ethos stemmt sich Staudinger gegen die sich aus einer pluralistisch verfaßten Gesellschaft ergebende Konsequenz der Eliminierung der Bildungsaufgaben aus der Schule.

Er schreibt: „Diesen Ausweg gibt es nicht. Denn es ist zwar durchaus sinnvoll und oft geradezu notwendig, bei theoretischen Erwägungen zwischen Ausbildungs-und Bildungsprogramm zu unterscheiden, in der praktischen Schulerziehung aber bilden beide eine unlösbare Einheit. Eine reine Ausbildungsschule ist also . .. von der pädagogischen Praxis her geradezu widernatürlich. Außerdem wäre eine solche Schule, in der man sich bemüht, alles auf bloße Ausbildung zu beschränken, nicht etwa eine gewissermaßen wertneutrale Aus-bildungsstätte zur Ergänzung der Bildungsarbeit anderer Erzieher, sondern eine solche Anstalt würde ein so starkes destruktives Gegengewicht gegen jede andere aut Bildung abzielende Erziehungsarbeit darstellen, daß Eltern, Staat und Kirchen, sofern sie die Dinge durchschauen und sich ihrer Verantwortung bewußt sind, nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hätten, die Jugend vor einer solchen Ausbildungsstätte zu bewahren."

Natürlich ist diese Aussage in nahezu allen Details höchst problematisch. So wäre zu fragen, ob der theoretischen Unterscheidung von Bildung und Ausbildung nicht auch eine solche in der Praxis entsprechen kann; zu fragen wäre nach dem Grund, aus dem eine reine Ausbildungsschule erzieherisch widernatürlich sei; zu fragen wäre nach den Modalitäten, wie Eltern, Staat und Kirchen in der Gesellschaft der Gegenwart, also der pluralistischen, einer Bildungsaufgabe gerecht werden könnten, usw. Wichtiger als eine Verständigung über diese Fragen erscheint indessen die Würdigung der allgemeinen Intention, die jene Aussage bestimmt. Sie muß wohl dahingehend ausgelegt werden, daß Staudinger glaubt, an einer sinnbestimmten Gestalt der Schule festhalten zu müssen, da allein sie über die Ausbildung hinaus jene Bildung bzw. Erziehung garantiere, die auf die Formung der menschlichen Existenz im ganzen hinziele.

über die soziale Gesellschaft als einer pluralistischen

übernimmt man einmal Staudingers Meinung trotz ihrer offenkundigen Problematik, über die an dieser Stelle nicht verhandelt werden kann daß die Schule kein eigenständiges Erziehungsrecht besitze, also zu der von ihm als unverzichtbar erklärten Bildung aus sich heraus gar nicht legitimiert sei, dann ist die Schule zu dieser Bildung nur dann in der Lage, wenn die Erziehungsberechtigten einen Erziehungswillen ausbilden und auch durchsetzen, der das Schulwesen mehr sein läßt als eine bloße Ausbildungsstätte. Die Vorausetzung hierfür ist keine geringere, als daß die Eltern, die verschiedenen religiösen bzw. weltanschaulichen Gruppierungen und die Einrichtungen des Staates den pluralistisch-diffusen und deswegen nur zur Formulierung eines minimalistischen Ausbildungsprogramms befähigten Erziehungswillen überwinden und vordringen zu einem Konsensus über menschliche Lebenswerte, die das Dasein vom Geiste her erfüllen und prägen. Im Effekt bedeutet eine solche Übereinkunft nichts anderes als die Überwindung des Pluralismus im Sinne des asozialen gesellschaftlichen Lebens. Eine Erörterung des Zusammenhanges zwischen der auf Bildung bzw. Erziehung angelegten und diese auch verwirklichenden Schule und der Gesellschaft muß deshalb diese wesentlich als soziale Gesellschaft begreifen. Und tatsächlich tut Staudinger dies auch in seinen abschließenden Bemerkungen. Verwirrenderweise behält er zur Kennzeichnung jenes Zusammenhanges jedoch den Namen des Pluralismus bei. Notwendig wandelt sich damit dessen Sinn, insofern dieser jetzt ins Positive gewendet wird.

Sich von seiner Analyse des Pluralismus als kaschierendem Inbegriff asozialer gesellschaftlicher Verfaßtheit radikal distanzierend, bezeichnet der Begriff der pluralistischen Gesellschaft nun ein Maximum an Wertintentionen und Wertverwirklichungen, das auszubilden für die vielen Sozialgestalten, die zu einer sozialen Gesellschaft verbunden sind, charakteristisch ist. Kann man nicht gerade sagen, daß dieser so unterschiedliche Begriffsgebrauch zur Klarheit der Staudingerschen Untersuchung beiträgt, so bleibt doch festzustellen, daß diese an ihrem Ende doch noch den Anschluß an eine produktive soziologische Denkweise findet. Was diese auszeichnet, ist nicht zuletzt ein positiver Begriff von Sozialität, wie er eingangs aufgewiesen wurde. Mit ihm korrespondiert der positive Begriff des Pluralismus, der auch unserer kritischen Würdigung der Untersuchung Staudingers zugrunde lag. Nur mit seiner Hilfe war es ja überhaupt möglich, die Negativität des geläufigen Pluralismusbegrif-les auszumachen und das sich in ihm aussprechende korrumpierte Wertbewußtsein, das sich als ein solches notwendig in ein ideologisches wandelt, zu erkennen und zu formulieren, um damit die Voraussetzung für seine Überwindung zu schaffen. Eben darin manifestiert sich im übrigen der Sinn der Soziologie, daß sie den ständig drohenden Abfall der sozialen Gesellschaft von sich selbst erkennt und ihm dadurch entgegenwirkt. In der Einleitung des von ihm herausgegebenen Handbuches der Soziologie hat Werner Ziegenfuss diese Aufgabe der Soziologie, der gesellschaftlichen Asozialität durch deren Erkenntnis entgegenzuwirken, denkbar klar ausgesprochen und damit die bloß Tatsachen registrierende, sich als Soziologie mißverstehende und mißverstandene empirische Sozialforschung, die, mit der Asozialität unserer Gesellschaft durchaus konform, dem allgemeinen Bewußtsein eben dadurch als die soziologische Erkenntnisweise schlechthin er-scheint, auf den ihr zukommenden Platz verwiesen. Es heißt: „Wenn es stimmte, daß der Mensch nunmehr , zum ersten Mal im Lauf der Geschichte auf dieser Erde nur noch sich selbst gegenübersteht’, ihm also ein innerer Auf-blick zu einem höheren Wesen und von daher eine verbindliche Gemeinsamkeit fehlte, die das bloße , Gegenüber’ aufhebt, dann gäbe es wohl noch . Gesellschaft’, aber diese wäre ohne jeden Ansatz zu einer produktiven sozialen Fortgestaltung über sich selbst als jeweils im Dasein Stehendes und sich , Vernut-zendes'hinaus. Ihr Zusammenstimmen bliebe formal, äußerlich und schematisch, auch wenn die-Verhaltensweisen und das Ausdruck-gebaren einem beliebig zu bestimmenden , Leitbild'nachgeformt und angepaßt würden. In jedem Falle wird bei einer rein immanenten Betrachtungsweise der gesellschaftlichen Existenz der Ansatz zur produktiven Wertverwirklichung, die immer das Gegebene transzendiert, aufgehoben. Dabei wird zugleich die aus der Antinomik der Werte stammende Dialektik einer im Prinzip pluralistischen Gesellschaft aufgehoben, ohne die es keine menschliche Entscheidungsfreiheit gibt, und damit auch keine Moral und kein Recht. Es gilt dann tatsächlich, daß ein , Mensch ohne Uniform .. . ’ heute bereits den Eindruck des Unwirklichen, das nicht mehr dazugehört, macht. Eine. von innen her uniformierte Gesellschaft ist in keinem Fall mehr im wertmäßigen Sinn . sozial'."

Für eine Soziologie, die das soziale Leben von der Verwirklichung letztlich gesellschaftstranszendenter Werte her begreift, ist sozialer Pluralismus somit nichts anderes als der Inbegriff eines produktiven Wetteifers der zu einer Gesellschaft verbundenen zahlreichen sozialen Gestalten, die miteinander um die maximale Sinnerfüllung der sozialen Existenz ringen. Die Manifestation der solchermaßen beanspruchten Fähigkeiten des Menschen ist nicht weniger als die Realisierung jener ihm allein würdigen Lebensform, die wir menschliche Kultur nennen. Die Möglichkeit und darüber hinaus die im sozialen Gewissen erkannte Verpflichtung dieser Realisierung hat Staudinger vor Augen, wenn er mit dem Blick auf die Schule sagt, daß die Entscheidung zugunsten einer bloßen Ausbildungsschule „der pluralistischen Struktur unserer Gesellschaft in keiner Weise gerecht" wird. „Denn eine pluralistische Gesellschaft ist eben gerade nicht durch eine einförmige Unprofiliertheit ausgezeichnet! Wenn wir unsere Schulen mit einem derart nivellierten Minimalprogramm gestalten, so würden wir geradezu von der Erziehung her die Ablösung unserer lebendigen und spannungsreichen pluralistischen Gesellschaft durch eine Einheitsgesellschaft vorbereiten. Hier liegt eine höchst akute, im allgemeinen aber viel zu wenig beachtete Gefahr für unsere gesamte Gesellschaft."

Im Sinne dieser auf eine Bewahrung und Förderung der Sozialität der Gesellschaft hinzielenden soziologischen Denkweise heißt es abschließend: Wie schon „festgestellt wurde, macht , ein ständiges Ringen um objektiv vertretbare Grundüberzeugungen . . . einen wesentlichen Teil gerade der abendländischen Geschichte aus'. Dieser Kampf begann bereits im alten Griechenland, in dem sich Philosophen und Politiker um Erkenntnis der Wahrheit und um die rechte Gestaltung des Staates in gleicher Weise mühten. Er wurde — durch die Offenbarung gewissermaßen um eine völlig neue Dimension erweitert — im Mittelalter und in der Neuzeit fortgesetzt. Und er prägt auch heute die geistigen Auseinandersetzungen der Welt." In diesen müssen wir „— und dafür ist die Gestaltung des Schulwesens geradezu der Prüfstein — entschlossen den lebendigen, auf Gedeih und Verderb der Wahrheit verschriebenen Geist Europas in uns wach-halten. Eine Gesellschaft, die ... in einer vermeintlich . abgeklärten'Resignation das zuweilen harte Ringen , um objektiv vertretbare Grundüberzeugungen . . .'aufgäbe, hätte sich als europäische Gesellschaft zugleich selbst aufgegeben."

Da diese soziologische Erkenntnis Gültigkeit beanspruchen kann, brauchen wir nur noch darauf hinzuweisen, daß die Erkenntnis eines, das gesellschaftsgestaltende Handeln jedoch ein anderes ist. Vielleicht darf man hoffen, daß die, die die Begabung und das Amt zu handeln besitzen, ihre Folgerungen aus den Einsichten in die Struktur einer sozialen Gesellschaft ziehen, die die Soziologie erkennt und formuliert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Walter Baumeister, Art. Asozialität, in: Görresgesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. I, Freiburg/Brsg. 1957«, Sp. 627 f.

  2. Vgl. etwa Werner Ziegenfuss, Wesen und Formen der Soziologie, in: Werner Ziegenfuss (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956, S. 202.

  3. Zur näheren Charakterisierung einer asozial verfaßten Gesellschaft vgl. etwa Werner Ziegenfuss, Der soziologische Gestaltbegriff, in: Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschatt, Bd. 106 (1950), wo es S. 224 heißt: In einer solchen Gesellschaft existieren die Menschen nicht mehr „in geschlossenen Lebenskreisen, sondern vielmehr in der überwiegenden Zahl in ständig wechselnden und nur einen jeweils winzigen Teil ihres Wesens und Denkens einnehmenden Gruppierungen. Die einzelnen Berührungsweisen mit der Mitwelt eröffnen fast immer nur gleichsam flüchtige Durchblicke auf ein in begrenzter Hinsicht Sinnvolles, und selbst dort, wo in Familien und Berufsgemeinschaften noch ein engerer Zusammenhang gewahrt bleibt, realisiert sich dieser in einer immer bunteren und immer weniger ganzheitlich zu verstehenden Mannigfaltigkeit von untereinander kaum verbundenen einzelnen Begegnungen und Akten des Zusammenwirkens, in Konferenzen und Besprechungen, in spezialisierten Arbeitsvollzügen und wenn auch in ihrer Auswirkung noch so weittragenden Beschlüssen und Maßnahmen. Die Gesamtheit aller gesellschaftlichen Bezüge und Akte tritt, wenn der einzelne sie sich überhaupt schon einmal zu vergegenwärtigen sucht, nur als ein diffuses Wirrsal von Details vor seinen Blick, und die Vielzahl von Mitmenschen, die sich in wachsender Fremdheit um ihn herumbewegt, wird ihm zur bloßen . Masse'. Dieser vermag er sich nicht mehr gleichsam von . innen'her verstehend zu nähern, sondern sie verharrt in einer kompakten Objektivität von nahezu dinglichem Charakter vor seinem geistigen Auge."

  4. Vgl. hierzu etwa Heinrich Popitz, Soziale Normen, in: Europäisches Archiv für Soziologie, 1961, Nr. 2, S. 198.

  5. Der Pluralismusbegriff hat einen nicht unerheblichen Bedeutungswandel durchlaufen, der wenigstens erwähnt sein soll. Seinen Ursprung, von dem sich das heutige Verständnis so gut wie vollständig gelöst hat, besitzt er in der Politischen Wissenschaft des beginnenden 20, Jahrhunderts, die ihn zur Kennzeichnung der neu heraufgekommenen intermediären staatlichen Vergesellungen prägte. Vgl. zu diesem Phänomen etwa Wolfgang Jahrow, Art. Pluralismus, in: Friedrich Karrenberg (Hrsg.), Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart 19655, Sp. 971: „Den Rang einer politischen Theorie erhielt der Pluralismus, als es am Ende des 19. Jahrhunderts in der reifenden industriellen Massengesellschaft zu Spannungen zwischen den überkommenen Herrschaftsstrukturen und dem gesellschaftlichen Prozeß kam. In dem Raum zwischen Staat und Individuum in stärkerem bildeten sich immer Maße organisierte gesellschaftliche Gruppen, die Einfluß auf die staatliche Willensbildung zu nehmen versuchten. Ähnlich wie es von Seiten des individualistischen Liberalismus geschah, bestritten die Theoretiker des Pluralismus dem autoritär-bürokratischen Obrigkeitsstaat das Recht, gleichsam als höchste Instanz alle Macht auf sich zu konzentrieren und forderten die prinzipielle Gleichwertigkeit des Staates und der innerstaatlichen gesellschaftlichen Verbände. Ihre Kritik richtete sich jedoch auch gegen jene radikaldemokratische Tendenzen, die, von Rousseau kommend, Sondergemeinschaften als Verfälschung des Gememschaftswillens bezeichneten." — Als wichtigste Beiträge zur Analyse dieses Pluralismus müssen gelten: Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde., Berlin 1868/1913; F. W. Maitland, Art. Introduction, in: O. v. Gierke, Political Theories of the Middle Ages, Cambridge 1900; Leon Duguit, Les Transformations du Droit Public, Paris 1913; Maurice Hauriou, Theorie de l’Institution et de la Fondation, Paris 1925; Gaetano Mosca, Elementi di Scienza Politika, zuerst 1895, endgültige Fassung Bari 1939; auf der Grundlage von William James, A Pluralistic Universe, von 1909 bietet die umfassendste Theorie des Pluralismus wohl Harold J. Laski, A Grammar of Politics, London 1925; für Deutschland beendet die Diskussion Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931.

  6. Vgl. Art. Pluralism, in: Encyclopaedia of Social Sciences, New York 1951; Ernst Fraenkel, Art. Pluralismus, in: Ernst Fraenkel und Karl Dietrich Bracher (Hrsg.), Staat und Politik, Fischer Lexikon Bd. 2, Frankfurt/M 1957; Goetz Briefs, Art. Pluralismus, in: Görresgesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. VI, Freiburg/Brsg. 19616; Otto Heinrich von der Gablentz, Der Staat in der pluralistischen Gesellschaft, in: H. D. Ortlieb (Hrsg.), Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik, 4. Jahr, Tübingen 1959; W. Kornhauser, The Poli-tics of Mass Society, London 1960; Helge Pross, Zum Begriff der Pluralistischen Gesellschaft, in: Max Horkheimer (Hrsg.), Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag, Frankfurt/M. 1963; Joachim Matthes, Gesellschaftspolitische Konzeptionen im Sozialhilferecht (darin die Abschnitte: Die Theorie vom gesellschaftlichen Pluralismus sowie Exkurs über den philosophischen und politischen Pluralismus-Begriff), Stuttgart 1964; Karl Hosl, Pluralismus und pluralistische Gesellschaft, Salzburg 1967.

  7. Vgl. neben Staudinger auch: Karl Erlinghagen, Die Schule in der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg-Basel-Wien 1964.

  8. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 8.

  9. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 8.

  10. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 8

  11. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 8 f.

  12. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 9.

  13. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 10.

  14. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 10.

  15. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 10.

  16. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 12.

  17. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 14.

  18. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a, O., S. 16.

  19. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O„ S. 21.

  20. Zitiert nach: Konfessionsschulen. Auf dem Rückzug, in: Der Spiegel. Das Deutsche NachrichtenMagazin, 21. Jg , Nr. 20 vom 8. 5. 1967, S. 67.

  21. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 18.

  22. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 18 f.

  23. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 19.

  24. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Ge Seilschaft, a. a. O., S. 21.

  25. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 21.

  26. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 7.

  27. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 21 f.

  28. Die Prüfung der These von der Uneigenständigkeit der Erzieher bzw.des Erziehungswesens steht dringend an. Unter den vorliegenden erziehungssoziologischen Beiträgen könnte vielleicht Ralf Dahrendorfs Ansatz besonders erwägenswert sein, wie er ihn etwa im Abschnitt: In der pädagogischen Provinz, in seinem Werk: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 341 ff., entwickelt hat.

  29. Werner Ziegenfuss, Art. Einleitung, in: Werner Ziegenfuss (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956, S. XXII.

  30. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 22.

  31. Hugo Staudinger, Schule und pluralistische Gesellschaft, a. a. O., S. 23.

Weitere Inhalte

Heinrich Stieglitz, Diplom-Kaufmann, Dr. rer. pol., Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Vechta/Oldb., geboren am 14. 3. 1932 in Hindenburg/Schles. Buchveröffentlichungen: Der soziale Auftrag der freien Berufe. Ein Beitrag zur Kultursoziologie der industriellen Gesellschaft, Köln-Berlin 1960; Soziologie und Erziehungswissenschaft. Wissenschaftstheoretische Grundzüge ihrer Erkenntnisstruktur und Zusammenarbeit, im Erscheinen begriffen. Verschiedene Aufsätze zur Gesellschaftsphilosophie, zur Allgemeinen, zur Berufs-und Erziehungssoziologie.