Sozialität und Asozialität im Verständnis der Soziologie
Es gibt einen zwar durchaus nicht zur Zufriedenheit definierten, aber doch immerhin geläufigen Begriff der Asozialität. An repräsentativer Stelle heißt es: „Nach dem augenblicklichen Sprachgebrauch wird als asozial bezeichnet, wer auf Grund seiner Persönlichkeitsstruktur die berechtigten Belange seiner Umwelt fortdauernd wesentlich beeinträchtigt, indem er sich in das dem Kulturstand seines Volkes entsprechende Gemeinschafts-, Arbeitsund Familienleben böswillig oder anlagebedingt nicht einordnet und so die Mindestanforderungen des Zusammenlebens nicht erfüllt. Er wird seiner Umgebung zur ständigen Last und stellt sich außerhalb der zu fordernden Ordnung.
Zu unterscheiden von diesen gemeinschaftsfremden, charakterlich meist passiven Asozialen sind die gemeinschaftsfeindlichen Antisozialen, die willensstarken, kriminellen Typen, sowie die Unsozialen, die als Arbeitgeber und Vorgesetzte den Untergebenen gegenüber ihre wirtschaftliche Macht ungebührlich ausnutzen und berechtigte Forderungen nicht erfüllen. Zwischen den einzelnen Typen bestehen fließende Übergänge.
Zu den Asozialen rechnet man Arbeitsscheue, Hochstapler, Landstreicher, Stadtbummler, Krankheitssimulanten, gewisse Trinker-und Spielertypen, Fürsorgeschmarotzer, Dirnen und Zuhälter, bestimmte Gruppen von säumigen Nährpflichtigen. Ihnen allen ist gemeinsam die mangelhafte oder fehlende Bindung an Heimat, Familie und Beruf."
In der Tat gibt diese Umschreibung das geläufige Verständnis des Begriffes der Asozialität wieder, wie sie auch den geläufigen Gebrauch der Begriffe der Unsozialität und der Antisozialität zum Ausdruck bringt. Dabei fällt auf, daß diese Begriffe nicht eigentlich dem Erkenntniszusammenhang der Soziologie angehören. Der Hinweis auf die Persönlichkeitsstruktur, die die Asozialität bewirke, verweist vor allem auf die Erkenntnisabsicht der Psychologie, näherhin die der Sozialpsychologie. Nicht weniger operieren mit ihnen theoretisch aber auch die wissenschaftliche Sozialpolitik, die Kriminologie und die Sozialpädagogik. In praktischer Hinsicht gehören sie dem Fürsorgewesen bzw.der Strafrechtspflege an.
In charakteristischer Ähnlichkeit und Unterscheidung gibt es aber auch einen soziologischen Begriff des Asozialen, des Unsozialen und des Antisozialen. Freilich ist die gegenwärtige Soziologie an der durch sie bezeichneten Thematik aus hier nicht zu erörternden Gründen wenig interessiert. Aus diesem Grunde muß das soziologische Verständnis der Asozialität, der Unsozialität und der Antisozialität als durchaus ungeläufig gelten. So besteht aller Anlaß, diese Begriffe in ihrer soziologischen Bedeutung zu fixieren und sie von ihrem herkömmlichen Verständnis klar abzuheben.
Ausgangspunkt eines jeden Bestimmungsversuches hat der Begriff des Sozialen zu sein. Wie die Anschauung der Gesellschaft lehrt, verhält sich sozial, wer mit anderen Menschen verbunden ist und dieser Verbundenheit einen Wert beimißt. Sozialität besagt somit wertge-bundenes Zusammensein. Natürlich ist die Soziologie, die es wesentlich als ihre Aufgabe anzusehen hat, die durch ihre Werthaftigkeit als soziale konstituierte Vergesellung zu verstehen, sich darüber im klaren, daß das gesellschaftliche Leben durchaus nicht immer im genannten Sinn sozial ist. Es gibt auch die Verfehlung, Verkehrung und absichtliche Auflösung sozialer Werte und damit die Auflösung von sinnbestimmtem sozialem Leben. Zu deren Erfassung hat die sinnverstehende Soziologie die Begriffe des Asozialen, des Unsozialen und des Antisozialen ausgebildet
Der denkbar intensivste Angriff auf das soziale Zusammen von Menschen liegt vor im Falle der Antisozialität. Antisozial verhält sich, wer nicht etwa nur in einem moralischen Anarchismus die Umwertung aller sozialen Werte anstrebt, sondern wer sich vielmehr gegen die mitmenschliche Existenz überhaupt wendet. Der reine Fall ist der Mörder, sei es als einzelner, sei es als Massenmörder, der selbst vor der physischen Liquidation des Lebens nicht zurückschreckt. Antisozialität darf insofern als ein Grenzphänomen gelten, als durch sie der Bestand der Gesellschaft, überhaupt in Frage gestellt wird.
Die auf der Skala der sozialen Deformation dem Extrem der Antisozialität vorgelagerte, insofern also noch mit Elementen der Sozialität vermischte Mißbildung menschlich-gesellschaftlichen Lebens ist die Unsozialität. Sie berührt sich mit dem, was eingangs als Asozialität aufgewiesen wurde. Unsozial verhält sich, wer die Gesellschaft in ihrem Bestand zwar nicht grundsätzlich gefährdet, aber sie doch insofern aufs schwerste belastet, als er nur unter Aufsicht, wenn nicht sogar nur durch Zwang den Ansprüchen eines geordneten gesellschaftlichen Lebens zu entsprechen fähig ist. Das Insgesamt der unter dem weit gefaßten Namen der Fürsorge ins Leben gerufenen Maßnahmen ist die Reaktion auf die Gegebenheiten der Unsozialität und zugleich Ausdruck der Hoffnung, das verbliebene Minimum an Sozialität in den Typen des Landstreichers, des Süchtigen, des Arbeitsunwilligen usw. zu aktivieren.
Von dieser Unsozialität unterscheidet sich wesentlich die soziologisch verstandene Asozialität. Zunächst und vor allem bleibt festzuhalten, daß dieser Begriff keinerlei Bezug zum Komplex jenes gerade genannten Fürsorgewesens besitzt. Sein Bedeutungsgehalt resultiert vielmehr aus einer bestimmten gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstellation. Im Hinblick auf diese ist es unerläßlich, den gerade umschriebenen Begriff der Sozialität klar erfaßt und unablässig vor Augen zu haben. Es sei deshalb noch einmal wiederholt: Sozial heißt eine Erscheinung dann, wenn eine Personen-mehrzahl nach Maßgabe gemeinsam geteilter Wertüberzeugungen miteinander verbunden ist. Ein in Gemeinsamkeit erkannter, bejahter und immer wieder aufs neue realisierter Wert ist es also, der ein Zusammen stiftet, das man eine soziale Gesellschaft nennen kann. Gesellschaft in einem positiven Sinn ist somit nur dasjenige menschliche Verbundensein, das eine Mehrzahl von Personen dergestalt zusammenbindet, daß das eine Lebensziel von den vielen geteilt wird und Verbindlichkeit besitzt. Das gilt grundsätzlich für das Ganze einer Gesellschaft wie für die Vielzahl der sich in ihr entfaltenden und zu eben dieser Gesellschaft zusammenschließenden sozialen Gestalten.
Vor dem Hintergrund dieser in ihrem Wesen wertmäßig sozialen Gesellschaft mag verständlich werden, was der soziologische Begriff der Asozialität meint. Er bezeichnet, in einem dezidierten Sinn das Phänomen der individualistischen Auflösung der sozialen Wertgeltung. Nicht also wird die Verbindlichkeit der Werte überhaupt in Frage gestellt oder gar geleugnet. Diese werden nach wie vor respektiert. Was sich ändert, ist vielmehr dies: daß die soziale Geltungsgrundlage der Werte aufgehoben wird zugunsten ihrer nur individuellen Gültigkeit. Das einzelne Gesellschaftsmitglied nimmt für sich in Zuständigkeit, was im Falle der sozialen Gesellschaft Recht eben dieser Gesellschaft ist. Nicht mehr die durch einen Wert verbundene Personenmehrzahl entscheidet darüber, ob dieser als solcher und überhaupt weiterhin gelten und das Zusammenleben bestimmen soll, sondern das sich auf sich selbst stellende Individuum. Natürlich ist eine solche Entscheidung nur dadurch möglich, daß das Individuum aus der Sozialgestalt, der es angehört, gleichsam heraustritt, sich autonom dem ihm ursprünglichen Sozialzusammenhang von außen gegenüberstellt und seinen Wertgehalt einer Prüfung unterwirft.
Diese individualistische Strukturierung läßt das gesellschaftliche Leben insofern in ein prekäres Stadium treten, als das soziale Dasein nicht mehr durch einen vorgegebenen, weil von den vielen von vornherein geteilten Sinnzusammenhang ausgezeichnet ist, sondern nunmehr abhängt von der Zustimmung der einzelnen, wobei diese Zustimmung jederzeit verweigert werden kann. Die Folge der Beanspruchung dieses Rechts kommt einer permanenten Bedrohung der Sozialität, die Folge der Ausübung dieses Rechts kommt dem Vollzug der inneren Auflösung der sozialen Gesellschaft in eine asoziale gleich. Asozialität im soziologischen Sinne kann damit definiert werden als diejenige Befindlichkeit einer Gesellschaft, die sich auszeichnet durch einen sozialen Wert-und damit Sinnverlust, was zur Folge hat, daß die soziale Existenz nur mehr ein bloß faktisches und vereinzeltes Nebeneinander auszubilden im Stande ist, so daß die Gesellschaft gleichsam den Charakter einer dinghaft gewordenen Gemengelage erhält, die bar jedes einsehbaren Sinnes als naturhaft-gesetzliches und insofern apersonales Geschehen erscheint
Asoziale und sogenannte pluralistische Gesellschaft
Offensichtlich umreißt diese Definition zugleich nichts weniger als den Zustand, in dem sich unsere Gesellschaft weitgehend befindet. Sie ist weithin zu einer asozialen Gesellschaft geworden. Es verwundert deshalb auch nicht, wenn man die Thematik des vielfältigen soziologischen Erkenntnisbemühens in die Frage kleiden kann: Wie ist Gesellschaft möglich?
kelt.
Einer der verbreitetsten Begriffe, der sich seit rund einem Jahrzehnt zur globalen Kennzeichnung des gesellschaftlichen Lebens der Gegenwart durchgesetzt hat, ist der Begriff der pluralistischen Gesellschaft. In charakteristischer Weise ist dieser Begriff, so wie er in der Regel verwendet wird, nicht in Korrespondenz mit dem positiven Begriff der Sozialität entwickelt worden, sondern von jener von einer Voreingenommenheit nicht ganz freien Soziologie, sofern man ihn nicht überhaupt einem sozialwissenschaftlichen Dilettantismus zurechnen muß. Wäre der Begriff des Pluralismus im Hinblick auf den sozialen Wertcharakter der Gesellschaft konzipiert, dann drückte er nichts anderes aus, als daß die Vielzahl sozialer Gestalten, in die sich eine jede entwickelte Gesellschaft differenziert, um einer optimalen Wert-verwirklichung willen in einem produktiven Wetteifer miteinander liegen. Der positive Pluralismusbegriff, den es nicht nur auch gibt, sondern der allein einer um wirklichkeitsgültige Einsichten bemühten Soziologie entspricht, benennt somit den Reichtum der in der ganzen Breite bis hin zu den unscheinbarsten Formen des sozialen Lebens entfalteten sozialen Wer-le. Von diesem Bedeutungsgehalt ist der geläufige Pluralismusbegriff weit entfernt. Ganz eindeutig ist er angesichts der Asozialität der Gegenwartsgesellschaft von einem soziologischen Denken gebildet, das die soziale Destruktion als solche nicht erfassen kann oder will und deshalb genötigt ist, die ja unabweisbare Problematik sozialer Gestaltbildung umzudeuten in die Gegebenheit einer gesellschaftlichen Vielfalt. Im geläufigen Pluralismus-begriff liegt insofern eine Verschleierung, wenn nicht gar Leugnung der asozialen Verfaßtheit der gegenwärtigen Gesellschaft vor. Als solcher vermittelt der Begriff des Pluralismus somit keine Erkenntnis, sondern erweist sich als ein ideologisches Instrument, das vorzüglich geeignet ist, ein schlechtes soziales Gewissen zu beschwichtigen, indem diesem gesagt wird, die Gegenwartsgesellschaft sei ja gar nicht asozial, sondern vielfältig.
Um diesen Charakter des geläufigen
eine Delplelnidite DesLIIIIIIIuII 9 uel —egelwdi-sene--a-als einer pluralistischen
Seiner nicht ohne Scharfsinn durchgeführten Untersuchung stellt Staudinger bekenntnishafte Worte
Seiner nicht ohne Scharfsinn durchgeführten Untersuchung stellt Staudinger bekenntnishafte Worte voran: Verfolge man die Diskussion über die Gestaltung des Schulwesens, so könne man unschwer feststellen, daß in ihr immer wieder das Stichwort von der pluralistischen Gesellschaft falle, die, so heiße es, „als der entschiedene Widersacher echter Bildungsarbeit" anzusehen wäre. Das sei völlig falsch, denn man müsse sich doch darüber klar sein, „daß der Pluralismus unserer Gesellschaft in einer engen Korrelation zu unserer freiheitlichen Staats-und Gesellschaftsordnung steht", weshalb man, so ist zu lesen, „sicher eindeutig sagen" könne, „daß eine Gesellschaft geistig profilierter, freier und mündiger Menschen zwar nicht denknotwendig, aber doch geschichtlich-faktisch heute pluralistisch sein wird" 8). Insofern deswegen alle Absichten einer Überwindung des Pluralismus als fragwürdig gelten müssen, sei es das Gebot der Stunde, sich seine Lebensform zu eigen zu machen. Im Dienst dieser These steht das Bemühen Staudingers, den Pluralismus des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens durch vier Merkmale zu kennzeichnen. Unbeschadet der Frage, ob durch sie eine erschöpfende Charakterisierung erreicht wird, seien diese vier Merkmale im folgenden vorgestellt.
Pluralität von Interessengruppen Zum ersten heißt es: „Unsere Gesellschaft ist gekennzeichnet durch eine Pluralität von Interessengruppen." 9) Natürlich weiß Staudinger selbst, daß bei einem auch von ihm weit gefaßten Begriff von Interessengruppen jede entfaltete Gesellschaft eine Vielzahl solcher Gruppen aufweist und insofern „pluralistisch" ist. Er drückt das so aus, daß er davon spricht, daß eine jede Gesellschaft „strukturiert" sei, „d. h., daß sie aus einer Vielzahl von Individuen und Gruppen besteht"
Wenn es aber so ist, worin ist dann die Eigentümlichkeit des Pluralismus der Gegenwartsgesellschaft zu erblicken? Auf diese Frage gibt Staudinger eine doppelte Antwort. Er sagt zum ersten: „Die Interessengruppen" — soziologisch gesprochen also gewisse soziale Gestalten im Gesamtzusammenhang des gesellschaftlichen Lebens — „früherer Zeiten haben — zumindest in der Regel — auch das Wohl des Ganzen um des Ganzen willen bejaht. Viele unserer heutigen Interessengruppen dagegen neigen dazu, das Wohl des Ganzen allenfalls nur noch deshalb und insoweit zu bejahen, wie es eine notwendige Voraussetzung dafür ist, daß die Interessen der eigenen Gruppe maximal gesichert werden."
Die zweite Antwort auf die Frage, was die Interessengruppen der Gegenwartsgesellschaft von denen früherer Zeiten unterscheidet, gibt zur selben Schlußfolgerung Anlaß. Staudinger schreibt: „Die Interessengruppen früherer Zeiten waren überwiegend personal geprägt: der Mensch als Person gehörte zu einer Gilde, Zunft oder Bruderschaft. Die Gemeinschaft war prinzipiell für alle seine Nöte und Sorgen mitzuständig. Die Interessengruppen der Gegenwart sind überwiegend real orientiert: die Berufsverbände, Fachschaften, Verbraucherverbände" usw. „sind jeweils nur für ganz bestimmte Sachinteressen zuständig."
Pluralität von Hoheitsträgern Das zweite Merkmal unserer Gesellschaft als einer pluralistischen bestimmt Staudinger wie folgt: „Unsere Gesellschaft ist gekennzeichnet durch eine Pluralität von einander nicht oder zumindest nicht in jeder Hinsicht untergeordneten Hoheitsträgern."
Pluralität von Weltanschauungen Uber das dritte Merkmal heißt es: „Unsere Gesellschaft ist gekennzeichnet durch einen Pluralismus der Weltanschauungen."
Pluralität der sogenannten staatstragenden Gruppen Der Darstellung des vierten Merkmals unserer Gesellschaft als einer pluralistischen schickt Staudinger die Bemerkung voraus, daß den gesetzlichen Normen, die das staatlich verfaßte Leben regulieren, sogenannte Grundüberzeugungen voraufliegen. Diejenigen Individuen und Gruppen, die sich für die Verbindlichkeit von Grundüberzeugungen einsetzen und damit die Rechtsnormen garantieren, nennt Staudinger staatstragend. Diesen Zusammenhang vor Augen, stellt er die Frage nach dem Verhältnis von Staatsvolk und Grundüberzeugungen in der Gesellschaft der Gegenwart. Seine Antwort lautet wie folgt: „Es gibt in unserer Gesellschaft keine staatstragende Gruppe, die für alle Grundüberzeugungen unserer verfassungsmäßigen Rechtsordnung voll eintritt. Statt dessen gibt es eine Pluralität von Interessen-und Weltanschauungsgruppen, die in ihrer Gesamtheit die Funktion der staats-tragenden Gruppe erfüllen. Jede von ihnen ist repräsentativer Träger bestimmter von Gruppe zu Gruppe wechselnder Grundüberzeugungen, wobei es geradezu unbegrenzte Variationsmöglichkeiten und Überschneidungen gibt."
Versucht man die Konsequenz zu fixieren, die sich für eine auf diese Weise staatlich geeinte Gesellschaft ergibt, dann heißt diese: Daß deren Existenz sich nicht auf einen innerlich gebundenen Konsensus aller gründet, sondern durch ein Ausbalancieren der partiell geltenden Grundüberzeugungen autrechterhalten wird. Insofern ist die Gesellschaft nicht ausgezeichnet durch eine stabile Struktur, sondern durch einen Zustand, den man labiles Gleichgewicht nennen kann. Daß sich diese Labilität der Geltungsgrundlage der Rechtsnormen auf deren Verbindlichkeit überträgt, steht außer Frage. Die einschneidendsten Folgen ergeben sich hieraus für den Garanten dieser Normen, den Staat. Die Erfüllung seiner Funktion, das Leben der Gesellschaft im inneren abschließend zu ordnen und nach außen in letzter Zuständigkeit zu schützen, kann nicht mehr als in einem sozialen Prinzip begründet gelten, sondern muß als Resultante permanenter Kompromisse der ihn tragenden Gruppen begriffen werden. Man mag diese Entmachtung des Staates als seine Demokratisierung begrüßen. Die Kehrseite dieser genossenschaftlichen Herrschaftsausübung, die ja der Sinn der Demokratie ist, ist freilich die, daß der Konflikt der staatstragenden Gruppen konstitutiv ist, da — um es mit den Worten Staudingers zu sagen — „eine allgemeine materiale Einigung" über jene Grundüberzeugungen und damit über die Geltungsgrundlagen der Rechtsnormen „in unserer Gesellschaft prinzipiell nicht möglich"
Die Schule in der sogenannten pluralistischen Gesellschaft
Ausgangspunkt der darauf hinzielenden Erkenntnis hat die allgemeine soziologische Einsicht zu sein, daß die Gegenwartsgesellschaft im Hinblick auf ihren Entfaltungszustand nicht einfach, sondern komplex ist. Komplexität besagt, daß nicht nur die sich gleichsam überlagernden sozialen Grundgestalten Familie, Gemeinde und Staat voll entwickelt sind, sondern daß gewissermaßen aus diesen heraus und dann neben ihnen eine prinzipiell unabgeschlossene Vielzahl besonderer sozialer Gestalten ausgebildet ist. Im ganzen dieser sozialen Lebensformung ist auch das Erziehungswesen als ein sozialer Gestaltzusammenhang entfaltet. Innerhalb seiner besitzt das öffentliche Schulwesen, dem unsere Aufmerksamkeit gehört, besondere Bedeutung.
Ohne Frage gilt von diesem Schulwesen, daß es seine eigene soziale Lebensform entwickelt. Vergleichbar etwa mit dem Gestaltungsbereich der Wirtschaft, der sich im Laufe der modernen Sozialgeschichte in immer stärkerem Maße verselbständigt und dabei jene autonomen Sozialgestalten hervortreibt, die wir Betriebe heißen, bildet auch das Schulwesen einen in sich gefügten Zusammenhang aus und erstrebt die Autonomie der Gestaltung des schulisch-erzieherischen Lebensraumes. Anders freilich als die Wirtschaft ist die Schule in unserer Gesellschaft insonderheit mit den sozialen Grund-gestalten Familie, konfessionelle Gemeinde und Staat verbunden geblieben. Der Grund hierfür ist vor allem darin zu erblicken, daß die Frage, wer denn ein Recht zu erziehen besitze, im allgemeinen keineswegs zugunsten der professionellen Erzieher beantwortet wird. Die ihnen überantwortete Aufgabe, so heißt es, gründe sich wesentlich auf eine Delegation. Ein ursprüngliches Erziehungsrecht besäßen allein die sozialen Grundgestalten. Sie seien es, die aus Gründen einer gesteigerten Erzie-hungseffiziens die Schulen ins Leben riefen und den Erzieher mit einer besonderen Funktion beauftragten. Welches Ergebnis eine Soziologie der Erziehung über Sinn und effektive Gestaltungsleistung des als ursprünglich ausgelegten Erziehungsrechts von Familie, konfessioneller Gemeinde und Staat und eines als abgeleitet begriffenen Erziehungsrechtes der Schule auch immer erbringen mag, so ist doch angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse damit zu rechnen, daß es hauptsächlich jene vier Interessenten sind, die einen Erziehungswillen artikulieren und insofern auf die Gestaltung des Schulwesens Einfluß nehmen, nämlich die Elternschaft, religiöse bzw. weltanschauliche Gruppierungen, die Institutionen des staatlich-öffentlichen Lebens und die professionellen praktisch und theoretisch tätigen Pädagogen. Von ihren Intentionen gilt nun, daß diese der Lebensform der pluralistischen Gesellschaft unterworfen sind. Was das heißt, soll im folgenden aufgewiesen werden. Blicken wir fürs erste auf die Familie bzw. die Eltern.
Schule und Familie Im soziologischen Sinn muß die Familie als eine individual strukturierte Sozialgestalt gelten. Dies ist insofern der Fall, als Eltern nicht irgendwelche, sondern jeweils ihre Kinder haben. Für die Legitimation der Erziehung, das sogenannte Elternrecht, ergibt sich daraus, daß dieses grundsätzlich nur im Hinblick auf die eigenen Kinder gilt. Kommt es zur Herausbildung eines besonderen Schulwesens, das Kinder zahlreicher Familien in sich zusammenfaßt, wie das gegenwärtig der Fall ist, so hat die Schule mit entsprechend vielfältigen Vorstellungen und Intentionen hinsichtlich der Formen und Gehalte des schulischen Lebens zu rechnen. Das wäre dann nicht weiter problematisch, wenn die Absichten der vielen Eltern sozial konform wären. Genau an dieser Stelle aber macht sich der herrschende gesellschaftliche Pluralismus geltend. Lapidar formuliert Staudinger den Sachverhalt: „Die Eltern gehören verschiedenen Interessengruppen, verschiedenen Weltanschauungsgruppen und verschiedenen mehr oder weniger staatstragenden Gruppen an. Es ist also von vornherein nicht zu erwarten, daß sich ihr Erziehungswille auf einen einzigen Nenner bringen läßt."
Schule und Religion bzw. Weltanschauung Hat Staudinger seine Untersuchung über den Zusammenhang von pluralistischem Eltern-willen und Gestaltung der Schule weit genug vorangetrieben, um aus ihm die nötigen Folgerungen ziehen zu können, so gelangt seine Analyse des schulischen Gestaltwollens der religiösen bzw. weltanschaulichen Gemeinden in der pluralistischen Gesellschaft über eine erste Problemformulierung leider nicht hinaus. Außer dem keineswegs überzeugend begründeten Hinweis darauf, daß die Religionsgemeinschaften ein ursprüngliches Erziehungsrecht besäßen, findet sich lediglich die Bemerkung, „daß es in der Bundesrepublik nicht nur eine Religionsgemeinschaft gibt, sondern zwei große christliche Konfessionen, von denen die eine außerdem noch in sich stark differenziert ist, und daß zudem auch nicht-christliche Gruppen bestehen", wodurch sich „eine Komplikation ergibt"
Schule und Staat Der dritte Interessent an der Schule ist der Staat. Die Frage stellt sich, ob von ihm ein sinnbestimmtes Gestaltwollen erwartet werden kann, eine Schulpolitik also, die mehr ist als die finanzielle und administrative Gewährleistung eines Unterrichtsbetriebes. Staudinger äußert sich hierzu ein wenig ausführlicher. Ausgangspunkt der Überlegungen, so meint er, müsse die Auseinandersetzung mit der These sein, nach der der Staat das Recht besitze, in letzter Instanz das Erziehungswesen zu gestalten. Diese Auffassung, so heißt es, beruhe auf einer falschen Prämisse. Denn „es wird diskussionslos vorausgesetzt, daß der Staat als der . letzte Repräsentant der Gesamtheit'selbst nicht pluralistisch ist. Wie sich bei der Kennzeichnung der pluralistischen Gesellschaft unserer Zeit ergeben hat, ist jedoch bei uns auch der Staat durch Pluralismus gekennzeichnet: Er wird nicht von einer in ihren Grundüberzeugungen konformen Gruppe getragen und repräsentiert, sondern eine Pluralität von Interessen-und Weltanschauungsgruppen erfüllt in ihrer Gesamtheit die Funktion der staatstragenden Gruppe. Ihr Erziehungswille ist daher keineswegs konform. Der in der Verfassung und Rechtsordnung verankerte Pluralismus der Hoheitsträger kompliziert die Lage noch zusätzlich."
Schule und Lehrerschaft Durch jenen Verzicht wird nun auch staatlicherseits jenem vierten Interessenten, der professionellen Erzieheischaft, eine entscheidende Funktion übertragen. Vermögen die Erzieher ihr aber gerecht zu werden? Die Frage stellt sich also, ob diese im Stande sind, die Negativität des staatlichen pluralistischen Gestaltwollens und darüber hinaus den ja nicht minder diffusen Erziehungswillen der Eltern und den der religiösen bzw. weltanschaulichen Gruppierungen zu überwinden. Recht zwiespältig und auch nicht sonderlich klar heißt es dazu bei Staudinger: „Die Schule hat zwar kein eigenständiges Erziehungsrecht, sondern muß von Eltern, Staat und Religionsgemeinschaftten legitimiert sein; aber die Schule ist nicht nur eine Institution, über die die jeweiligen legitimen Erzieher frei verfügen können, sondern sie ist zugleich ein Personengefüge, das nicht aus willenlosen Funktionären, sondern aus freien Menschen besteht. Dieses freie Personengefüge erhält durch die polare Relation Lehrer—Schüler seinen besonderen Charakter. Dabei hat der Lehrer bei der Aktivierung der personalen Relation das entscheidende Gewicht. Aber auch dieser Lehrer selbst ist wieder ein Glied der pluralistischen Gesellschaft und gehört jeweils ganz bestimmten Interessengruppen, Weltanschauungsgruppen und partiell-staatstragenden Gruppen an."
Gewährleistet der Pluralismus die „Bildungsschule" oder ermöglicht er nicht mehr als die „Ausbildungsschule''?
Blickt man zusammenfassend auf die vierfache Erziehungsintention, in deren Schnittpunkt die Schule liegt, und ist man um eine realistische Würdigung der Konsequenzen ihres pluralistischen Charakters bemüht, so heißt diese: daß* es das Schicksal der Schule der Gegenwartsgesellschaft ist, nicht Bildungs-, sondern nur Ausbildungsschule zu sein, um ein Begriffspaar von Staudinger zu übernehmen. Ausbildungsschule, das heißt soviel wie Stätte der Ertüchtigung für das Leben im Sinne seiner zweck-rationalen Bewältigung. Bildung als Befähigung zu maximaler Wertverwirklichung im sozialen Leben muß als unmöglich geworden gelten. Staudinger selbst sieht diese unausweichliche Folge ganz klar, wenn er schreibt: „Wenn man die Dinge durchüberlegt, zeigt sich auch hier wieder, daß die grundlegenden Schwierigkeiten nicht bei der Gestaltung und Durchführung des Ausbildungsprogramms, sondern des Bildungsprogramms liegen. Angesichts dieser Gesamtsituation könnte es . .. als letzter Ausweg erscheinen, daß man versucht, die Schule von der Bildungsaufgabe zu . entlasten'und von ihr nur die Durchführung eines reinen Ausbildungsprogramms zu fordern."
Die Untersuchung Staudingers hat damit ihren kritischen Höhepunkt erreicht. Wie erinnerlich, nahm die Analyse ihren Ausgang damit, daß sie erstens die Klagen über die pluralistische Verfaßtheit unserer Gesellschaft aufgriff und als unbegründet zurückwies. Ihnen gegenüber konstatierte sie zweitens, „daß eine Gesellschaft geistig profilierter, freier und mündiger Menschen . . . heute pluralistisch sein wird"
Indessen ist der Staudingersehen Arbeit der Widerspruch nicht entgangen, der den Pluralismus bald als Gewährleistung, bald als Verhinderung einer sinnvollen sozialen Daseins-gestaltung begreift 27a). Die Einsicht in ihn artikuliert sich in der Diskussion über die pluralistische Deformation der Schule zu einer bloßen Ausbildungsstätte. Beflügelt von einem erzieherischen Ethos stemmt sich Staudinger gegen die sich aus einer pluralistisch verfaßten Gesellschaft ergebende Konsequenz der Eliminierung der Bildungsaufgaben aus der Schule.
Er schreibt: „Diesen Ausweg gibt es nicht. Denn es ist zwar durchaus sinnvoll und oft geradezu notwendig, bei theoretischen Erwägungen zwischen Ausbildungs-und Bildungsprogramm zu unterscheiden, in der praktischen Schulerziehung aber bilden beide eine unlösbare Einheit. Eine reine Ausbildungsschule ist also . .. von der pädagogischen Praxis her geradezu widernatürlich. Außerdem wäre eine solche Schule, in der man sich bemüht, alles auf bloße Ausbildung zu beschränken, nicht etwa eine gewissermaßen wertneutrale Aus-bildungsstätte zur Ergänzung der Bildungsarbeit anderer Erzieher, sondern eine solche Anstalt würde ein so starkes destruktives Gegengewicht gegen jede andere aut Bildung abzielende Erziehungsarbeit darstellen, daß Eltern, Staat und Kirchen, sofern sie die Dinge durchschauen und sich ihrer Verantwortung bewußt sind, nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hätten, die Jugend vor einer solchen Ausbildungsstätte zu bewahren."
Natürlich ist diese Aussage in nahezu allen Details höchst problematisch. So wäre zu fragen, ob der theoretischen Unterscheidung von Bildung und Ausbildung nicht auch eine solche in der Praxis entsprechen kann; zu fragen wäre nach dem Grund, aus dem eine reine Ausbildungsschule erzieherisch widernatürlich sei; zu fragen wäre nach den Modalitäten, wie Eltern, Staat und Kirchen in der Gesellschaft der Gegenwart, also der pluralistischen, einer Bildungsaufgabe gerecht werden könnten, usw. Wichtiger als eine Verständigung über diese Fragen erscheint indessen die Würdigung der allgemeinen Intention, die jene Aussage bestimmt. Sie muß wohl dahingehend ausgelegt werden, daß Staudinger glaubt, an einer sinnbestimmten Gestalt der Schule festhalten zu müssen, da allein sie über die Ausbildung hinaus jene Bildung bzw. Erziehung garantiere, die auf die Formung der menschlichen Existenz im ganzen hinziele.
über die soziale Gesellschaft als einer pluralistischen
übernimmt man einmal Staudingers Meinung trotz ihrer offenkundigen Problematik, über die an dieser Stelle nicht verhandelt werden kann
Sich von seiner Analyse des Pluralismus als kaschierendem Inbegriff asozialer gesellschaftlicher Verfaßtheit radikal distanzierend, bezeichnet der Begriff der pluralistischen Gesellschaft nun ein Maximum an Wertintentionen und Wertverwirklichungen, das auszubilden für die vielen Sozialgestalten, die zu einer sozialen Gesellschaft verbunden sind, charakteristisch ist. Kann man nicht gerade sagen, daß dieser so unterschiedliche Begriffsgebrauch zur Klarheit der Staudingerschen Untersuchung beiträgt, so bleibt doch festzustellen, daß diese an ihrem Ende doch noch den Anschluß an eine produktive soziologische Denkweise findet. Was diese auszeichnet, ist nicht zuletzt ein positiver Begriff von Sozialität, wie er eingangs aufgewiesen wurde. Mit ihm korrespondiert der positive Begriff des Pluralismus, der auch unserer kritischen Würdigung der Untersuchung Staudingers zugrunde lag. Nur mit seiner Hilfe war es ja überhaupt möglich, die Negativität des geläufigen Pluralismusbegrif-les auszumachen und das sich in ihm aussprechende korrumpierte Wertbewußtsein, das sich als ein solches notwendig in ein ideologisches wandelt, zu erkennen und zu formulieren, um damit die Voraussetzung für seine Überwindung zu schaffen. Eben darin manifestiert sich im übrigen der Sinn der Soziologie, daß sie den ständig drohenden Abfall der sozialen Gesellschaft von sich selbst erkennt und ihm dadurch entgegenwirkt. In der Einleitung des von ihm herausgegebenen Handbuches der Soziologie hat Werner Ziegenfuss diese Aufgabe der Soziologie, der gesellschaftlichen Asozialität durch deren Erkenntnis entgegenzuwirken, denkbar klar ausgesprochen und damit die bloß Tatsachen registrierende, sich als Soziologie mißverstehende und mißverstandene empirische Sozialforschung, die, mit der Asozialität unserer Gesellschaft durchaus konform, dem allgemeinen Bewußtsein eben dadurch als die soziologische Erkenntnisweise schlechthin er-scheint, auf den ihr zukommenden Platz verwiesen. Es heißt: „Wenn es stimmte, daß der Mensch nunmehr , zum ersten Mal im Lauf der Geschichte auf dieser Erde nur noch sich selbst gegenübersteht’, ihm also ein innerer Auf-blick zu einem höheren Wesen und von daher eine verbindliche Gemeinsamkeit fehlte, die das bloße , Gegenüber’ aufhebt, dann gäbe es wohl noch . Gesellschaft’, aber diese wäre ohne jeden Ansatz zu einer produktiven sozialen Fortgestaltung über sich selbst als jeweils im Dasein Stehendes und sich , Vernut-zendes'hinaus. Ihr Zusammenstimmen bliebe formal, äußerlich und schematisch, auch wenn die-Verhaltensweisen und das Ausdruck-gebaren einem beliebig zu bestimmenden , Leitbild'nachgeformt und angepaßt würden. In jedem Falle wird bei einer rein immanenten Betrachtungsweise der gesellschaftlichen Existenz der Ansatz zur produktiven Wertverwirklichung, die immer das Gegebene transzendiert, aufgehoben. Dabei wird zugleich die aus der Antinomik der Werte stammende Dialektik einer im Prinzip pluralistischen Gesellschaft aufgehoben, ohne die es keine menschliche Entscheidungsfreiheit gibt, und damit auch keine Moral und kein Recht. Es gilt dann tatsächlich, daß ein , Mensch ohne Uniform .. . ’ heute bereits den Eindruck des Unwirklichen, das nicht mehr dazugehört, macht. Eine. von innen her uniformierte Gesellschaft ist in keinem Fall mehr im wertmäßigen Sinn . sozial'."
Für eine Soziologie, die das soziale Leben von der Verwirklichung letztlich gesellschaftstranszendenter Werte her begreift, ist sozialer Pluralismus somit nichts anderes als der Inbegriff eines produktiven Wetteifers der zu einer Gesellschaft verbundenen zahlreichen sozialen Gestalten, die miteinander um die maximale Sinnerfüllung der sozialen Existenz ringen. Die Manifestation der solchermaßen beanspruchten Fähigkeiten des Menschen ist nicht weniger als die Realisierung jener ihm allein würdigen Lebensform, die wir menschliche Kultur nennen. Die Möglichkeit und darüber hinaus die im sozialen Gewissen erkannte Verpflichtung dieser Realisierung hat Staudinger vor Augen, wenn er mit dem Blick auf die Schule sagt, daß die Entscheidung zugunsten einer bloßen Ausbildungsschule „der pluralistischen Struktur unserer Gesellschaft in keiner Weise gerecht" wird. „Denn eine pluralistische Gesellschaft ist eben gerade nicht durch eine einförmige Unprofiliertheit ausgezeichnet! Wenn wir unsere Schulen mit einem derart nivellierten Minimalprogramm gestalten, so würden wir geradezu von der Erziehung her die Ablösung unserer lebendigen und spannungsreichen pluralistischen Gesellschaft durch eine Einheitsgesellschaft vorbereiten. Hier liegt eine höchst akute, im allgemeinen aber viel zu wenig beachtete Gefahr für unsere gesamte Gesellschaft."
Im Sinne dieser auf eine Bewahrung und Förderung der Sozialität der Gesellschaft hinzielenden soziologischen Denkweise heißt es abschließend: Wie schon „festgestellt wurde, macht , ein ständiges Ringen um objektiv vertretbare Grundüberzeugungen . . . einen wesentlichen Teil gerade der abendländischen Geschichte aus'. Dieser Kampf begann bereits im alten Griechenland, in dem sich Philosophen und Politiker um Erkenntnis der Wahrheit und um die rechte Gestaltung des Staates in gleicher Weise mühten. Er wurde — durch die Offenbarung gewissermaßen um eine völlig neue Dimension erweitert — im Mittelalter und in der Neuzeit fortgesetzt. Und er prägt auch heute die geistigen Auseinandersetzungen der Welt." In diesen müssen wir „— und dafür ist die Gestaltung des Schulwesens geradezu der Prüfstein — entschlossen den lebendigen, auf Gedeih und Verderb der Wahrheit verschriebenen Geist Europas in uns wach-halten. Eine Gesellschaft, die ... in einer vermeintlich . abgeklärten'Resignation das zuweilen harte Ringen , um objektiv vertretbare Grundüberzeugungen . . .'aufgäbe, hätte sich als europäische Gesellschaft zugleich selbst aufgegeben."
Da diese soziologische Erkenntnis Gültigkeit beanspruchen kann, brauchen wir nur noch darauf hinzuweisen, daß die Erkenntnis eines, das gesellschaftsgestaltende Handeln jedoch ein anderes ist. Vielleicht darf man hoffen, daß die, die die Begabung und das Amt zu handeln besitzen, ihre Folgerungen aus den Einsichten in die Struktur einer sozialen Gesellschaft ziehen, die die Soziologie erkennt und formuliert.