Ein Drittel der Menschheit wird heute im Namen von Marx regiert. Diese Tatsache muß man stets vor Augen haben, wenn man vom Kommunismus oder vom Sowjetstaat spricht. Der Kommunismus ist die größte politische Bewegung der Gegenwart, und die in letzter Zeit in Mode gekommene Neigung, vom „zweifellos endgültigen", „unumkehrbaren" Zerfall oder der Entartung des Weltkommunismus zu sprechen, ist nichts anderes als naive Selbstberuhigung. Auch eine oberflächliche Kenntnis der Geschichte des Kommunismus genügt, um einzusehen, daß die kommunistische Bewegung bis jetzt aus jeder noch so endgültigen Spaltung gefestigt hervorgegangen ist. Man denke nur an die Spaltung der russischen Sozialisten in Bolschewik! und Menschewiki im Jahre 1903, die den modernen Kommunismus überhaupt erst ermöglichte, an die bis zum Mord gehende Kluft zwischen Stalin und Trotzki in den zwanziger Jahren, die nicht der Anfang vom Ende, sondern nur das Vorspiel zum Stalinismus war, zur maximalen Entfaltung der Macht des Sowjetstaates. Was die Konflikte auf der internationalen Ebene angeht, so sollte man sich die deutsche Erfahrung vergegenwärtigen: Karl Radek, der in den zwanziger Jahren die „Flamme der Revolution" nach Deutschland trug, wurde in den dreißiger Jahren in einem Schauprozeß als „Spalter" abgeurteilt — dennoch ist in den vierziger Jahren das Ulbricht-Regime entstanden.
Statt uns in nutzlose Betrachtungen über den „endgültigen Zerfall" des Weltkommunismus zu verlieren, sollten wir versuchen, ihn als geschichtliches Phänomen zu erfassen, das heißt vor allem seinen geschichtlichen Standort zu bestimmen. Dazu müssen wir drei Fragen beantworten:
2. Verfolgt der Kommunismus von heute noch das von Marx vorgezeichnete Programm? 3. Hat sich Marx’ These bestätigt, der „Kapitalismus erzeuge seine eigenen Totengräber" und deshalb werde die Zukunft der Menschheit dem Kommunismus gehören?
Diese Fragestellung ergibt sich aus folgenden Überlegungen. Seit der moderne Kommunismus (wir verstehen darunter den Marxismus-Leninismus) besteht, erheben seine Anhänger den Anspruch, den Gang der Geschichte zu beherrschen. Friedrich Engels formulierte das 1883 in seiner Totenrede für Marx folgendermaßen: „Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte (den historischen Materialismus [d. Vers. ] ), die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, daß die Produktion der unmittelbaren Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnitts die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben und aus der sie daher auch erklärt werden — nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt." 1) Marx selbst hat sich freilich nicht für den Vater der materialistischen Geschichtsauffassung gehalten. In seinem Brief an Weydemeyer vom 5. März 1852 schrieb er: „Was mich betrifft, so gehört mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir di
Als sein Verdienst empfand Marx die Ausarbeitung der Theorie vom unvermeidlichen Sieg des Kommunismus. Er schreibt im gleichen Brief: „Was ich neu tat, war nachzuweisen, 1. daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte Entwicklungsphasen der Produkt-tion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet." 3)
Es wäre unfair und schädlich, die Leistung von Marx (und besonders Engels) in der Gestaltung dessen, was man die materialistische Geschichtsauffassung nennt, geringzuschätzen. Die olt recht tiefen Einblicke in den Gang der Geschichte lassen viele Menschen auch das politische Programm bejahen. In Wirklichkeit aber ergibt sich das Programm des Kommunismus gar nicht aus der Theorie des Historischen Materialismus. Wahrscheinlich hat Marx gewußt, daß beide Phänomene nicht identisch sind, und gerade darum sein Verdienst um die kommunistische Theorie unterstrichen, sie somit als den eigentlichen Marxismus hingestellt.
Was ist „materialistische Geschichtsauffassung"?
Der „Historische Materialismus" ist nichts anderes als die Lehre von der Initiativrolle der Produktivkräfte in der Gestaltung der Produktionsverhältnisse — das heißt der Arbeitsteilung, letzten Endes der sozialen Struktur der Gesellschaft und ihrer Ideen — und von der direkten Abhängigkeit der Eigentumsverhältnisse von der Entwicklung der Produktiv-kräfte.
Entgegen dem weitverbreiteten Vorurteil versteht man also unter Produktivkräften keineswegs nur die „Maschinerie", sondern auch die Menschen, die Entwicklung der Wissenschaft und die Verbreitung der erworbenen Kenntnisse.
Die offizielle sowjetische Definition des Begriffs „Produktivkräfte" lautet: „Produktionsinstrumente; mit deren Hilfe materielle Güter produziert werden, Menschen, die diese Produktionsinstrumente in Bewegung setzen und die Produktion der materiellen Güter dank einer gewissen Produktionserfahrung und Arbeitsiertigkeit bewerkstelligen — alle diese Elemente zusammen bilden die Produktiv-kräfte der Gesellschaft" 4).
Im nachstalinschen „Philosophischen Wörterbuch" werden die Produktivkräfte ähnlich definiert. Es wird betont: „Die Hauptproduktivkräfte der Gesellschaft sind die Produzenten, die arbeitenden Menschen, die die Produktionsinstrumente ständig verbessern . . ., ihre Produktionserfahrung bereichern, die Produktivität der Arbeit erhöhen." 5)
Der Grundgedanke des Historischen Materialismus, das „Gesetz der menschlichen Geschichte", ist also die These, daß die Verände-rung der Menschen, der Produktionsinstrumente, der Produktionserfahrung oder der Produktionsfertigkeit zwangsläufig die soziale Struktur der betreffenden Gesellschaft ändert — und wenn sich die Struktur verändert, verändern sich auch die Ideen, die staatlichen Einrichtungen und nicht zuletzt die Eigentumsverhältnisse.
Diese Gedanken sind längst Allgemeingut. Ein Beispiel ist das in den gewiß nicht marxistischen USA kursierende Schlagwort von der zweiten industriellen Revolution infolge der Verwendung von Computern oder von der Annäherung der (wohlbemerkt politischen) Systeme infolge der Industrialisierung der Sowjetunion und der Verbürgerlichung ihrer Gesellschaft. Das ist reiner ökonomischer Determinismus, wie ihn wohl selbst Marx als zu mechanisch abgelehnt hätte.
Wir können also unsere erste Frage mit Ja beantworten: Die Initiativrolle der Produktiv-kräfte in der sozialen Entwicklung wurde allgemein akzeptiert, wenn man auch nicht immer dazu sagt, daß das Marxismus ist.
Abschaffung des Privateigentums
Marx verstand unter der „klassenlosen Gesellschaft" vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, die Aufhebung des privaten, bürgerlichen Eigentums. Er und Engels schrieben im „Kommunistischen Manifest": „Die Abschaffung bisheriger Eigentumsverhältnisse ist nichts den Kommunismus eigentümlich Bezeichnendes. Alle Eigentumsverhältnisse waren einem beständigen geschichtlichen Wechsel, einer beständigen geschichtlichen Veränderung unterworfen . . . Was den Kommunismus auszeichnet, ist . . . die Abschaffung des bürgerlichen Eigentums. Aber das moderne bürgerliche Eigentum ist der letzte und vollendetste Ausdruck der Erzeugung und Aneignung der Produkte, die auf Klassengegensätzen, die auf der Ausbeutung der einen durch die anderen beruht. In diesem Sinn können die Kommunisten ihre Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen."
Daß für Marx die Aufhebung des Privateigentums und die klassenlose Gesellschaft identisch waren, ist aus der Sicht des Historischen Materialismus logisch: Für ihn waren die Eigentumsverhältnisse „nur ein juristischer Ausdruck" für die Produktionsverhältnisse, für die Arbeitsteilung.
Marx und Engels gingen bei der Beurteilung der Zukunftstendenzen von der Voraussetzung aus, daß die Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte die Spaltung der Gesellschaft in zwei feindliche Klassen zur Folge haben wird.
So schrieben sie im „Kommunistischen Manifest": „In den früheren Epochen der Geschichte finden wir . . . eine mannigfaltige Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen . . . Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeosie und Proletariat."
Daraus ist logischerweise zu folgern: Wenn es keine Arbeitsteilung mehr gibt, dann ist auch eine besondere rechtliche Stellung des Kapitalisten, das heißt des Produktionsleiters, über-flüssig und muß mit Hilfe einer „Diktatur des Proletariats" beseitigt werden.
Bereits in ihrer ersten gemeinsamen Schrift „Deutsche Ideologie" (1845/46) prophezeiten Marx und Engels dementsprechend: . in der kommunistischen Gesellschaft, wo ... die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt", werde ein jeder imstande sein, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie (er) gerade Lust (hat), ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden."
Auch später, in der Zeit des „vollausgereiften Marxismus", legte Marx in der „Kritik des Gothaer Programms" (1875) eindeutig fest, daß der Übergang zum Kommunismus das Verschwinden der Arbeitsteilung voraussetzt: „In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit . . . verschwunden ist . . ., erst dann kann . . . die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen."
Engels verschwendet, in seinem „Anti-Düh-ring" viele Worte, um die „kindliche Vorstellung des Herrn Dühring" zu widerlegen, „als könne die Gesellschaft Besitz ergreifen von der Gesamtheit der Produktionsmittel, ohne . . . vor allem die alte Teilung der Arbeit abzuschaffen."
Die Wirklichkeit war allerdings anders. Am 25. Oktober (7. November) 1917 entstand ausgerechnet im halbfeudalen Rußland die erste „Diktatur des Proletariats". Weitere dreizehn kamen im Verlauf der nächste fünfzig Jahre hinzu. Sie alle bekennen sich — ungeachtet ihrer sonstigen Meinungsverschiedenheiten — zu Marx als ihrem geistigen Vater. Lenin bezeichnete schon 1902, noch bevor sich der Bolschewismus als besonderes Phänomen herausgebildet hatte, das „Kommunistische Manifest" als „Evangelium der internationalen Sozialdemokratie"
Auch 59 Jahre später, 1961, erklärten sich die russischen Kommunisten im Dritten Programm der KPdSU nachdrücklich als Erben von Marx und Engels: „Der Sozialismus, dessen Unvermeidlichkeit Marx und Engels wissenschaftlich vorausgesagt hatten, der Sozialismus, für dessen Aufbau Lenin den Plan entworfen hatte, ist in der Sowjetunion zur realen Tatsache geworden."
Uber alle Zeiten hinweg haben sich die Kommunisten zum Kernpunkt des Programms, zur Aufhebung des Privateigentums bekannt. Im Kommunistischen Manifest hatte es geheißen: „Die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände. In allen diesen Bewegungen heben sie die Eigentumsfrage .. . als die Grundfrage der Bewegung hervor."
Stellvertretend für alle offiziellen Stellungnahmen wollen wir die drei Programme der russischen Kommunisten zitieren.
Im Ersten aus dem Jahre 1903 heißt es: „Die sozialistische Revolution des Proletariats wird die Teilung der Gesellschaft in Klassen dadurch beseitigen, daß sie das Privateigentum an den Produktionsund Umlaufmitteln durch das gesellschaftliche Eigentum ersetzt ..."
Und im Zweiten Parteiprogramm von 1919: „Die bürgerliche Republik, selbst die demokratischste . . . blieb (bis zur Revolution von 1917) faktisch infolge des Bestehens des Privateigentums an Boden und anderen Produk-tionsmitteln eine Diktatur der Bourgeoisie . .
An einer anderen Stelle heißt es: „Der Sozialismus hat der Herrschaft des Privateigentums an den Produktionsmitteln, dieser Ursache der Spaltung der Gesellschaft in sich befehdende Klassen, für alle Zeiten ein Ende gemacht."
Kontinuität von Marx bis Tito
Auch von den nichtrussischen Kommunisten liegen entsprechende Zeugnisse vor. Im November 1957 schrieben die Parteiführer der kommunistisch regierten Staaten in einer gemeinsamen Deklaration: „Die Erfahrungen der UdSSR und anderer sozialistischer Länder haben bestätigt, daß die Prozesse der sozialistischen Revolution und des sozialistischen Aufbaus sich auf eine Reihe von Hauptgesetzmäßigkeiten beziehen, die allen Ländern ... gemeinsam sind ... Diese gemeinsamen Gesetzmäßigkeiten sind: . .. die Abschaffung des kapitalistischen Eigentums .. ., die allmähliche sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft . . ."
In dem Programm des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens steht: „Das neue sozialistische System zeichnet sich vor allem durch die Vergesellschaftlichung der Produktionsmittel aus, das heißt durch die Aufhebung des kapitalistischen Privateigentums an diesen Mitteln."
Die Kontinuität der Ziele von Marx bis Chruschtschow und Tito läßt sich nicht leugnen. Auf eine besondere Untersuchung der Politik Maos kann man verzichten, denn es ist hinreichend bekannt, daß der Grundgedanke seiner „Volkskommunen" die totale Aufhebung des Privateigentums ist, auch an Gütern, die dem einzelnen in kommunistischen Staaten sonst noch bleiben (Geflügel, eigener Herd usw.).
Auch in der Praxis haben sich die Kommunisten konsequent an Marx'Vermächtnis gehalten. Sie haben keine Mühe gescheut, sind vor keinen Opfern, seien es eigene oder fremde, zurückgeschreckt, es zu verwirklichen. Das läßt sich an der Geschichte der Sowjetmacht beobachten.
Die gewaltsame Neugestaltung der Eigentumsverhältnisse war das erste, was die Bolschewik! nach ihrer Machtergreifung in Angriff nahmen. In der Nacht zum 26. Oktober (8. November) 1917 gaben sie das Dekret über Grund und Boden heraus, wonach „das Eigentum der Gutsbesitzer auf Grund und Boden unverzüglich aufgehoben" wurde
Das Eigentum der Bauern blieb zunächst verschont. Die echte „sozialistische Gesellschaft", die vollständige Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln, kam zehn Jahre später. Inzwischen hatte Stalin die Macht übernommen. Was er in den Jahren von 1927 bis 1937 veranstaltete, war eine zweite bolschewistische Revolution, eine soziale Umwälzung, die ihrem Ausmaß und ihren Folgen nach der ersten durchaus ebenbürtig war. Stalin hat zwanzig Jahre später darüber geschrieben: „Das war eine Revolution, die die alte bürgerliche Wirtschaftsordnung im Dorf liquidiert und die neue, sozialistische Ordnung geschaffen hat."
Die zweite bolschewistische Revolution erzwang vor allem die entschädigungslose Enteignung aller „Kulaken". Auch alle anderen Bauern wurden enteignet — sie wurden in den Kolchosen zusammengefaßt, in denen sie von nun an zu arbeiten hatten. Das erwies sich sehr bald als eine Katastrophe für das Land, als systematische Zerstörung blühender Wirtschaftszweige. Die schrecklichste Folge war eine Hungersnot, in der zahlreiche Fälle von Kanibalismus bekannt wurden.
Stalin hatte den Sozialismus in einem Land und angesichts der drohenden Gefahr von Hitlerdeutschland unter Zeitdruck aufbauen müssen. Die anderen kommunistischen Staaten haben die Bauern etwas langsamer und schonender enteignen können — enteignet wurden sie aber in allen Volksdemokratien bis auf Jugoslawien und Polen, auf die wir später zu sprechen kommen.
Auch in der letzten Zielsetzung, dem Aufbau des Kommunismus, bleiben die Kommunisten dem Vermächtnis ihrer Lehrer treu. Das Dritte Programm der KPdSU schließt mit den Worten: „Die Partei verkündet feierlich: Die heutige Generation der Sowjetmenschen wird im Kommunismus leben."
Folglich bürgt die Erfahrung eines halben Jahrhunderts dafür, daß die Kommunisten konsequent und mit erstaunlicher Ausdauer gerade jene Ziele verfolgen, die ihnen Marx und Engels vor über hundert Jahren gesetzt haben. Man muß das besonders betonen, weil heute mancher die taktischen Schwankungen der kommunistischen Politik für eine Veränderung der Natur des Kommunismus oder gar für eine Abkehr seiner Führer hält, so etwa einzelne Liberalisierungsmaßnahmen oder die Verbürgerlichung der Sowjetgesellschaft.
Wo endet der Kommunismus?
Um es vorweg zu sagen: Wir kennen kein Kriterium, um festzustellen, an welchem Punkt sich Kommunismus in Nichtkommunismus verwandelt. Es hat in der Geschichte noch keinen Sturz einer kommunistischen Regierung gegeben. Der Volksaufstand in der Zone im Sommer 1953 oder die Ungarische Revolution vom Herbst 1956 sind — vom kommunistischen Standpunkt aus gesehen — mit den Niederlagen und dem Rückzug der Roten Armee vor den anrückenden Weißen Truppen in der ersten Hälfte des Russischen Bürgerkrieges zu vergleichen. Dafür haben wir aber einen Maßstab, um festzustellen, ob die Grenze des Zulässigen (vom kommunistischen Standpunkt aus) noch nicht überschritten ist, ob die im Augenblick gemachten Konzessionen etwa eine Verwandlung der kommunistischen Diktatur in ein nichtkommunistisches System einleiten. Diesen Maßstab liefern uns die Erfahrungen mit Lenins Neuer Ökonomischer Politik (NEP) in den Jahren 1921— 1927. Die NEP war eine ausgesprochene Verzweiflungstat. Während des Bürgerkriegs war die Agrarproduktion Rußlands um die Hälfte gesunken. Nach einer furchtbaren Dürre im Jahre 1921 kam es zu einer Hungersnot, die schrecklicher war als die schlimmste der Zarenzeit. Am Ende des Bürgerkriegs standen zwei Drittel aller Unternehmen still; die Produktion der Schwerindustrie war auf ein Siebtel der Vorkriegsleistung herabgesunken
Unter dem Druck dieser verzweifelten Lage entschloß sich Lenin für die NEP. Um den Produktionswillen der Bauern zu heben, wurde nur eine relativ geringe Landwirtschaftssteuer erhoben. Man versprach sich zu Recht eine baldige Steigerung der Agrarerzeugung. Gleichzeitig veränderte sich die soziale Struktur auf dem Dorf: Den Bauern ging es wirtschaftlich schon bald wieder besser. Die Mittelbauern stellten einen immer größer werdenden Teil der Landbevölkerung
In dieser Zeit gab es praktisch keinen „Eisernen Vorhang", vor allem was die geistigen Kontakte zwischen der kommunistischen und der nichtkommunistischen Welt angeht. Dennoch konnte Stalin Ende der zwanziger Jahre die NEP beenden und den „Stalinismus" beginnen. Er konnte es, weil die entscheidenden Kommandostellen im Staat in den Händen der kommunistischen Funktionäre geblieben waren.
Die geschichtliche Erfahrung zeugt also davon, daß sogar die Reprivatisierung der Hälfte aller Industrieunternehmen und eine völlig private Landwirtschaft noch keine Wesensänderung des Systems bedeuten muß, wenn die entscheidenden Schaltstellen in den Händen der Kommunisten bleiben. Und von einer solchen Liberalisierung kann heute noch nirgends die Rede sein.
Diese Erfahrung macht auch die Sonderfälle Polen und Jugoslawien verständlich. In beiden Staaten ist die Macht in Händen von Männern, die ohne jeden Zweifel an den Grundsätzen des Kommunismus festhalten. Zu schroffe Maßnahmen beim „Aufbau des Sozialismus" hätten beim polnischen Volk, das wie kein anderes in Europa eine jahrhundertalte Tradition des Widerstandes — bis 1914 gegen die Russen, im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen — hat, heftige Reaktionen hervorgerufen; deshalb sind solche Maßnahmen vom kommunistischen Standpunkt aus auch nicht gerechtfertigt. Da Polen geographisch zwischen der UdSSR und der DDR liegt, ist eine direkte Unterstützung der polnischen Kommunisten-gegner durch den Westen nicht möglich. Die polnischen Kommunisten können es sich daher leisten, langsam vorzugehen.
In Jugoslawien ist die Lage umgekehrt. Jugoslawien hat offene Grenzen zum Westen. Der Westen könnte deshalb sehr viel zur Unterstützung jugoslawischer Widerständler tun. Zudem steht eine Nachfolgekrise bevor: Tito ist 76 Jahre alt. Unter solchen Umständen war es vom jugoslawischen und vom allgemein-kommunistischen Standpunkt aus zweckmäßig, zunächst einmal nur die Volksdemokratie in Sozialistische Republik umzubenennen (obgleich das nicht dem Sinn entspricht, denn „Sozialismus" setzt die Kollektivierung der Landwirtschaft voraus) und mit der Kollektivierung zu warten, bis sich die Nachfolger etabliert haben.
Wir wollen hier nicht die Lage in den einzelnen kommunistischen Ländern untersuchen. Mit diesen beiden Beispielen sollte nur gezeigt werden, daß die von den Kommunisten durchgeführten Offensiven und Rückzüge, Attacken und Umgehungen und die Modifizierung von Programmpunkten politische Manöver bleiben, solange sie an ihrem Ein-Punkt-Programm, der Aufhebung des Privateigentums, festhalten. Nach allen Erfahrungen dient jedes Manöver der Kommunisten, auch jeder Rückzug, diesem Ziel.
Wir haben unsere beiden ersten Fragen mit Ja beantworten müssen. Der Historische Materialismus, die These von der Initiativrolle der Produktivkräfte bei der sozialen und damit politischen Entwicklung hat die Prüfung durch die Zeit bestanden; die Kommunisten von heute verfolgen genau das Ziel, das Marx vor mehr als hundert Jahren aufgestellt hat. Wie steht es nun mit der dritten Frage: Hat sich Marx'These, der Kapitalismus produziere seine eigenen Totengräber und die Zukunft der Menschheit werde daher dem Kommunismus gehören, bestätigt oder sieht es so aus, als würde sie sich bestätigen?
Schwerpunkt in Entwicklungsländern
Marx hatte bekanntlich ein einprägsames Schema von der Weltgeschichte entwickelt: von der Sklavenhalterordnung zum Feudalismus, vom Feudalismus zum Kapitalismus, vom Kapitalismus zum Kommunismus als der Vollendung der Menschheitsgeschichte.
Heute werden 14 Staaten im Namen von Marx regiert; davon waren nur zwei Industriestaaten, als sie kommunistisch wurden: die SBZ und die CSSR. Die Herkunft der kommunistischen Diktatur ist nicht in allen Fällen gleich: in Bulgarien, Polen, Rumänien und Ungarn, aber auch in der SBZ und der Tschechoslowakei waren die Sowjettruppen ausschlaggebend. Die Mongolei ist zwar nicht von den Sowjets erobert worden, aber die kommunistische Infiltration war dort so stark, daß man die kommunistische Revolution als das Ergebnis einer Einmischung von außen betrachten kann.
Echte, also vor allem auf die innen-und außen-politische Entwicklung des Landes zurückzuführende kommunistische Diktaturen sind bis jetzt in Rußland, Albanien, Jugoslawien, China, Nordkorea, Nordvietnam und auf Kuba entstanden. Darunter ist kein einziges hoch-entwickeltes Land.
Heute wird von niemandem mehr bestritten, daß der Schwerpunkt der kommunistischen Bewegung in den Entwicklungsländern liegt. S. G. Strumilin, einer der führenden Sowjet-theoretiker, schrieb 1961 in seinem Artikel „Die Welt in zwanzig Jahren": „Erst vor einem halben Jahrhundert haben viele den Eindruck gehabt, daß die hochentwickelten kapitalistischen Länder am nächsten zum Über-gang zur sozialistischen Methode der gesellschaftlichen Wirtschaft stehen. Die geschichtliche Erfahrung hat diese Ansichten durchaus nicht bestätigt. . ."
Marx und Engels hatten gelehrt: „Mit der Entwicklung der großen Industrie wird . . . unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich."
Für sie war es selbstverständlich, daß zuerst die Großindustrie und dann die kommunistische Bewegung kommt — das ergab sich aus ihrer historisch-philosophischen Konzeption. Als sie das „Kommunistische Manifest" 1848 schrieben, waren ihre Schlußfolgerungen durchaus begründet. Der mechanische Webstuhl, die Dampfmaschine und der Dampfhammer hatten zunächst einmal eine Riesenarmee von Arbeitslosen geschaffen. 1842 fiel in England jeder elfte Einwohner der öffentlichen Armenpflege zur Last. Es hatte in fast regelmäßigen Abständen immer wieder Wirtschaftskrisen gegeben. Bei dieser Entwicklung konnte der Gedanke an eine kommunistische Revolution durchaus einer sachlichen wissenschaftlichen Analyse entstammen.
In der zweiten Hälfte und vor allem am Ende des 19. Jahrhunderts ließ die Wirklichkeit Marx im Stich und richtete sich nicht mehr nach seiner Prognose. Bildlich könnte man sagen, daß seine Geschichtsauffassung im Jahre 1867 den Anschluß an den Stand der Entwicklung der Produktivkräfte verloren hat, als nämlich die Schreibmaschine erfunden und zur Grundlage jener Schicht der Angestellten (und Manager) wurde, die einwandfrei Arbeitnehmer, aber gewiß keine Proletarier sind. Die „Maschinerie" hat die Arbeiter nicht zu einem „bloßen Zubehör der Maschine" herabgewürdigt, sie hat eine ganze Hierarchie von verschiedenen und schwer erlernbaren Berufen und damit eine mannigfache Abstufung der gesellschaftlichen Stellungen hervorgebracht, deren charakteristischster Zug die Vielfalt ist. Genaugenommen wurde das „Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte", die These von der Initiativrolle der Produktivkräfte, bei der Gestaltung auch der politischen Ideen durch die Entwicklung, die der Kapitalismus nach dem Tode Marx'nahm, durchaus bestätigt, wenn auch nicht zugunsten der Kommunisten. Marx hatte sich geirrt bei der Beurteilung der Entwicklungstendenzen der kapitalistischen „Basis", und so ging auch die geistige Entwicklung der Massen andere Wege. In keinem hochentwickelten Land hat bisher eine kommunistische Revolution gesiegt (die Existenz der kommunistischen Parteien läßt sich sowohl aus den Überbleibseln des Feudalismus als auch aus außenpolitischen Faktoren ableiten). Je höher der Kapitalismus in einem Land entwickelt ist, um so schwächer ist dort die kommunistische Bewegung — siehe die USA, England, die Schweiz, Deutschland oder Japan. Man kann also zu Recht sagen, daß der Kapitalismus seine Totengräber, wie es Marx gemeint hat, nicht produziert.
Nun dürfte es nach dem Sinn des Historischen Materialismus eigentlich gar keinen Kommunismus mehr geben, denn die Veränderung der Ursachen muß eine entsprechende Veränderung der Folgen nach sich ziehen. Aber es gibt den Kommunismus — daran ist nicht zu rütteln. Und bevor wir den zweiten und schicksalträchtigen Teil unserer Frage beantworten, ob die Zukunft der Menschheit dem Kommunismus gehört, müssen wir erkunden, was der moderne Kommunismus wirklich ist. Woher kommt er? Warum hat er seinen Schwerpunkt in den Entwicklungsländern? Ist das Zufall oder ist es eine Gesetzmäßigkeit? Welchen Platz nimmt er in der Geschichte der Menschheit ein?
Wir werden uns zunächst vergegenwärtigen, was die Kommunisten in den fünfzig Jahren ihrer Herrschaft in Rußland getan haben, wobei wir, dem Gebot der adäquaten Argumente folgend, nur die wichtigsten Aufgaben berücksichtigen wollen — die Tagesereignisse sind in diesem Zusammenhang uninteressant.
Was haben die Sowjets geschaffen?
Es waren im ganzen vier Aufgaben: Sie haben 1. die alte Führerschicht, den zaristischen Adel, beseitigt, 2. die Bauern durch die Kollektivierung der Landwirtschaft und die „Entkulaki-sierung" enteignet, 3. eine moderne Industrie geschaffen und 4. eine neue Führerschicht, die sowjetische Intelligenz, hervorgebracht. Man könnte eine fünfte große Aufgabe nennen, den Sieg im Zweiten Weltkrieg und die Errichtung eines Systems von Satelliten. Aber das ist in unserem Sinn ein Tagesereignis: Es ist keine Besonderheit eines kommunistischen Staates, gegen einen anderen Staat Krieg zu führen und zu gewinnen. Dagegen werden die oben skizzierten vier Aufgaben in der einen oder anderen Form von allen kommunistischen Diktaturen gelöst.
Wenn wir die Vorgänge eins, drei und vier in ihrer reinen Form betrachten — Entmachtung der feudalen, mit Landbesitz und Hofdienst verbundenen Adelsschicht und Aufstieg einer neuen Führerschicht, deren Existenzgrundlage die moderne Industrie ist —, so erkennen wir, daß das gleiche überall in der Welt beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus geschieht. Der geschichtliche Standort des modernen Kommunismus ist also irgendwo zwischen Feudalismus und Kapitalismus. Wir werden uns einen Lotsen durch die Klippen der Geschichte rufen, der den Kapitalismus sehr kritisch und scharf beobachtet hat: Karl Marx.
Der Wissenschaftler Marx war nicht, wie oft behauptet wird, vom Haß auf den Kapitalismus geblendet. Im „Kommunistischen Manifest" finden wir sogar ein Lob auf den Kapitalismus, das in der Feststellung gipfelt: „Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen."
Dabei konnte er gar nicht wissen, was die Bourgeoisie im Laufe der nächsten hundert Jahre noch alles schaffen würde, er konnte weder die Waschmaschine noch den Computer voraussehen.
Völlig wertfrei ist auch die marxistische Definition des Kapitalismus. Nach der im nach-stalinschen sowjetischen Lehrbuch für politische Ökonomie wiedergegebenen marxistisch-leninistischen Auffassung ist Kapitalismus „die höchste Stufe der Warenproduktion, auf der auch die Arbeitskraft Ware wird. Mit der Verwandlung der Arbeitskraft in eine Ware erhält die Warenproduktion allgemeinen Charakter. Die kapitalistische Produktion beruht auf der Lohnarbeit, und das Dingen des Arbeiters durch den Kapitalisten ist nichts anderes als Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft: der Arbeiter verkauft seine Arbeitskraft, der Kapitalist kauft sie."
Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation
Bei der Untersuchung der Genesis des modernen Kapitalismus hat Marx den Begriff „Frühkapitalismus" eingeschoben, die Periode der „sogenannten ursprünglichen Akkumulation", der er das 24. Kapitel seines Buches „Das Kapital" widmet.
Seine Definition lautet: „Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist . . . nichts als der historische Scheidungsprozeß von Produzenten und Produktionsmitteln. Er erscheint als ursprünglich, weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet."
An einer anderen Stelle sagt er: „. . . die Expropriation der großen Volksmasse von Grund und Boden und Lebensmitteln und Arbeitsinstrumenten, diese furchtbare und schwierige Expropriation der Volksmasse bildet die Vorgeschichte des Kapitals"
Der Gedanke an den „historischen Scheidungsprozeß von Produzenten und Produktionsmitteln" ist für uns besonders interessant. Marx erläutert ihn schon auf der nächsten Seite: „Historisch epochemachend in der Geschichte der ursprünglichen Akkumulation sind alle Umwälzungen, die der sich bildenden Kapitalistenklasse als Hebel dienen; ... die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage (!) des ganzen Prozesses."
Fünfzig Seiten weiter schreibt er: „Worauf kommt die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals, das heißt seine historische Genesis, hinaus? Soweit sie nicht unmittelbare Verwandlung von Sklaven und Leibeigenen in Lohnarbeiter, also bloßer Formwechsel ist, bedeutet sie nur die Expropriation der unmittelbaren Produzenten, das heißt die Auflösung des auf einer Arbeit beruhenden Privateigentums."
Nach den Beobachtungen, die uns Marx hinterlassen hat, ist also die (zumindest teilweise) Aufhebung des Privateigentums, die Expropriation der unmittelbaren Produzenten, einer der wichtigsten Wesenszüge, die Grundlage der ursprünglichen Akkumulation, die Grundlage des Frühkapitalismus.
Die zweite Besonderheit des Frühkapitalismus ist nach Marx die aktive Rolle der Staatsmacht bei der Kapitalbildung. Er schreibt darüber: „Die verschiedenen Momente der ursprünglichen Akkumulation verteilen sich nun .. . namentlich auf Spanien, Portugal, Holland, Frankreich und England . . . Alle aber benutzen die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz."
Es ist unschwer festzustellen, daß die oben angeführten drei Grundzüge des Frühkapitalismus, wie Karl Marx ihn sah — die Enteignung des unmittelbaren Produzenten, die aktive Rolle der Staatsmacht bei der Akkumulation des Kapitals und der Nicht-Warencharakter der Arbeitskraft —, auf die sowjetische Wirklichkeit zutreffen.
Marx beginnt sein Kapitel über die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals" mit einigen spöttischen Bemerkungen an die Adresse der Volkswirtschaftler, die den ganzen Prozeß zu idyllisch, als „reines Ergebnis von Fleiß und Sparsamkeit" darstellen, und sagt: „In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle."
Uber die Methoden der Enteignung schrieb Marx: „Die Expropriation der unmittelbaren Produzenten wird mit schonungslosestem Van-dalismus und unter dem Trieb der infamsten, schmutzigsten, kleinlichst gehässigsten Leidenschaften vollbracht."
Diese Bemerkung trifft durchaus zu auf die stalinistische Wirklichkeit. Man vergegenwärtige sich nur das berüchtigte Gesetz vom 7. August 1932, das die Todesstrafe für den Diebstahl von Getreide von den (Kolchos-) Feldern vorsah. Dieses Gesetz war in erster Linie gegen die hungernden Bauern gerichtet, wurde aber später auf jeglichen Diebstahl von Staatseigentum ausgedehnt. Als die Bauern versuchten, einen Teil ihrer Produktion zu verstecken, setzte man den Denunzianten 25 0/0 des Entdeckten als Judaslohn aus. Durch das Gesetz vom 7. April 1935 wurde die Todesstrafe ausdrücklich auf Jugendliche vom zwölften Lebensjahr an ausgedehnt. Den Richtern, die für die Kinder mildernde Umstände suchten, wurde durch eine Anordnung vom 7. Juli 1935 befohlen, die Strafe auch dann zu verhängen, wenn die strafbare Handlung nicht vorsätzlich begangen wurde
Daß die zweite Besonderheit des Frühkapitalismus, die aktive Teilnahme des Staates am Aufbau der Industrie, auch auf das Sowjet-system zutrifft, bedarf keiner Erörterung. Der Staat trat praktisch als der einzige Unternehmer auf.
Zur dritten von Marx beobachteten Besonderheit, daß in der „Vorgeschichte des Kapitals" die Arbeitskraft zwar zur Herstellung von Waren verwendet wird, selbst aber nicht als Ware auftritt, also nicht frei verkauft werden kann, ist folgendes zu sagen. Die Frage vom Kauf und Verkauf der Arbeitskraft ist aufs engste mit der Gewerkschaftsbewegung ver-knüpft. Lenin hatte lange vor der Revolution gegen den „Trade-Unionismus", gegen die „Nur-Gewerkschafterei" gewettert, gegen jene Kräfte innerhalb der Arbeiterbewegung, die das Aushandeln der bestmöglichen Arbeitsbedingungen für die Arbeiter hier und jetzt (und nicht den Sturz des Zaren) als ihr vornehmstes Ziel ansahen
Nach der Machtergreifung und dem Sieg im Bürgerkrieg entwickelte sich innerhalb der Partei eine „Arbeiteropposition" mit dem Bestreben, für die Arbeiter bessere Lebens-und Arbeitsbedingungen zu erkämpfen. Bereits der X. Parteitag der KPdSU (1921) hat solche „syndikalistischen" Gedanken als mit der Parteizugehörigkeit unvereinbar erklärt.
Mit der Industrialisierung (1928) kam der „außerökonomische Zwang", das Bestreben des Arbeitgebers, also des Staates, die Industrie mit möglichst billigen Arbeitskräften zu versorgen, voll zur Geltung. 1931 hatte Stalin seine „Sechs Bedingungen des Sieges" verkündet, von denen die erste lautete: „Die Arbeitskraft in organisierter Weise, durch Verträge mit den Kollektivwirtschaften anwerben . . . das ist die Aufgabe"
Den Kommentar dazu können wir wiederum Marx entnehmen: „So wurde das von Grund und Boden gewaltsam expropriierte, verjagte und zum Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht ..."
Schließlich sei noch an die regelrechte Sklavenarbeit, an die Arbeit der Häftlinge (und später Kriegsgefangenen) während der Akkumulation des Kapitals in der Sowjetunion erinnert.
Sowjetische Besonderheiten
So viele Parallelen Marx’ Beobachtungen des Frühkapitalismus im Sowjetsystem auch haben, es gibt einige Besonderheiten, die es nicht erlauben, die „Diktatur des Proletariats" einfach dem Frühkapitalismus gleichzusetzen.
Der Privatbesitz ist „exkommuniziert"
Die Stellung des Privatbesitzes im Sowjetsy-stem läßt sich zwar formell, aber kaum sachlich durch den Hinweis auf das Verbot des Privat-besitzes an Produktionsmittel beschreiben. Einerseits geht das Verbot wesentlich weiter, denn beim Übergang zum Kommunismus soll auch das persönliche Eigentum verschwinden. Andererseits werden immer wieder partei-amtliche Zugeständnisse an die allgemein menschliche Freude am Besitz gemacht, immer wieder wird materieller Anreiz geboten für die Lösung wirtschaftlicher und manchmal auch politischer und militärischer Aufgaben. In jeder Periode der Liberalisierung kommen wieder Leute zu Eigentum, aber es wird immer wieder in verschiedenen Formen und unter verschiedenen Vorwänden enteignet. Da der Status des Privateigentums in der Sowjetunion für einen „privatkapitalistisch" denkenden Westeuropäer oft unbegreiflich ist, wollen wir ihn an einem Beispiel vorführen. In den Jahren 1954/55 unternahm Chruschtschow eine große Aktion zur Erschließung von Neuland in verschiedenen Teilen der Sowjetunion, vor allem in Kasachstan. Es beteiligten sich zumeist Jungkommunisten daran. Im Herbst berichtete 1962 die „Komsomolskaja Prawda", was daraus geworden war: „Vieh, Gemüsegärten, Truhen . . . Ekelhaft. Es waren so richtige Jungens gekommen, man kann sagen hemdsärmelig. Sie spielten Fußball, machten Wandzeitungen. Und jetzt, sieh mal an, sie haben keine Zeit, sie müssen die Zäune (um die eigenen Häuser [d. Vers. ] ) flicken . . . Da gibt es kein Neuland mehr (hier im Sinne von Front, offizielle Heldenlegende). Nur noch Dorfdumpfheit . . . Der Virus des Individualismus, des unbändigen . Eigentumskults'hat viele angesteckt. . . . Die besten Züge der Neuland-Lebensart verwischen sich ..."
Es wird hier nicht von einem Verstoß gegen die sowjetischen Gesetze gesprochen. Auch die Größe des Eigentums ist kein Maßstab für seine Exkommunizierung und gegebenenfalls Enteignung. Die Tatsache des Besitzes wird als verwerflich vorgestellt und vor allem der Wille, zu besitzen. Das ist keine russische Besonderheit. In Rotchina propagiert man die Verwerflichkeit des Privateigentums noch nachdrücklicher und grotesker.
Diese „Exkommunizierung" des Privateigentums dient selbstverständlich dazu, es immer wieder zu enteignen und deshalb immer wieder neue Mittel zur Akkumulation des Kapitals zu sichern. Da aber im „klassischen" Früh-kapitalismus der persönliche Besitz geradezu der Maßstab aller Werte ist, muß man für die kommunistische Form einen anderen Ausdruck gebrauchen.
Die Akkumulation des Kapitals geht Hand in Hand mit einer generellen Ablösung der alten Führungsschicht
Zwar beobachten wir bei jeder Industrialisierung eine soziale Umschichtung, aber normalerweise ist damit nicht die vollständige Enteignung und physische Vernichtung der alten Führerschicht verbunden. Die praktisch vollständige alten Liquidation Führerschicht und die Schaffung einer neuen Aristokratie sind Züge, die alle kommunistischen Diktaturen gemeinsam haben.
Die alte Führerschicht muß jedoch nicht unbedingt im Verlauf oder infolge einer kommunistischen Revolution beseitigt werden, wie es in Rußland, Bulgarien, in Kuba, in Rumänien, der SBZ und vielleicht auch in der Mongolei der Fall war. In Polen, der Tschechoslowakei und Jugoslawien wurde sie durch Hitler-Deutschland vernichtet (in Polen im Verein mit Stalin), in Albanien durch Italien, in China durch einen langen Bürgerkrieg und den Krieg mit Japan dezimiert, in Nordkorea haben die Japaner und in Nordvietnam die Franzosen die Bildung einer stabilen Führerschicht erst gar nicht zugelassen.
Daher ist für alle kommunistischen Länder die rasche Bildung einer neuen Führerschicht charakteristisch.
Die Verbindung von Aufhebung des Privateigentums und beschleunigter Industrialisierung
Lenin schrieb bereits 1920, es gelte, „die Massen mitzureißen: gehen wir an die Arbeit, und in zehn bis zwanzig Jahren werden wir ganz Rußland, das industrielle wie das landwirtschaftliche, elektrisch machen ..."
Stalin erklärte zu Beginn seiner Karriere auf dem XIV. Parteitag im Dezember 1925: „Unser Land aus einem Agrarland in ein Industrieland zu verwandeln, das imstande ist, aus eigener Kraft die notwendige Produktionsausrüstung zu erzeugen, darin besteht das Wesen, die Grundlage unserer Generallinie."
Wir wissen heute, daß Stalin recht hatte. Zehn Jahre später ließ Hitler seine Armeen marschieren mit dem erklärten Ziel, das „riesige Reich im Osten" zu zerschlagen. Aber dieser außenpolitische Aspekt gehört in unserem Sinn zur „Tagespolitik", denn der Gedanke an die Rückständigkeit Rußlands und daran, sie — wenn nötig — durch eine Revolution zu überwinden, läßt sich bis in die Zeit des russisch-japanischen Krieges und sogar noch weiter zurückverfolgen.
Die kommunistische Diktatur hat in der Geschichte Rußlands bis jetzt die Aufgabe gelöst, die in den „klassischen" hochentwickelten Ländern der Frühkapitalismus gelöst hat: sie sicherte die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals.
Der Ersatz-Frühkapitalismus
In dieser kommunistischen ursprünglichen Akkumulation des Kapitals lassen sich drei charakteristische Züge des „klassischen" Früh-kapitalismus finden: die Enteignung des unmittelbaren Produzenten, die aktive Unterstützung der Akkumulation des Kapitals durch den Staat und der Nicht-Warencharakter der Arbeitskraft. Aber sie sind grotesk hypertro-phiert: die Enteignung geht weiter als sonst, der Staat hat das Monopol in der Wirtschaft, und das Verbot, die Arbeitsbedingungen auszuhandeln, geht bis zur Betriebshörigkeit der Arbeiter und bis zur Sklaverei.
Auch bei den sozialen und ökonomischen Prozessen dieser Periode ist eine Hypertrophie klar zu erkennen. Soziale Umschichtungen sind für jeden Übergang vom Feudalismus zum charakteristisch, nicht Kapitalismus aber die völlige Beseitigung der alten Führungsschicht. In dieser Zeit steigen immer neue Kräfte nach oben, aber sie ergänzen lediglich die alte Führerschicht, und zudem erfolgt der Aufstieg normalerweise im Laufe einiger Generationen. Der Kommunismus stampft innerhalb einer Generation eine ganz neue Führer-
Schicht aus dem Boden. Seine Industrialisierung geht wesentlich schneller (und viel teurer) vor sich als die „klassische". Mit anderen Worten: Der moderne Kommunismus als politisch-ökonomisches System ist eine Form des Frühkapitalismus, dessen geschichtlicher Standort am besten als Ersatz-Frühkapitalismus beschrieben werden kann. Diese Interpretation des modernen Kommunismus, die Theorie des Ersatz-Frühkapitalismus, macht vor allem die Verlagerung in die rückständigen Länder begreiflich. Hier steht das Problem der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals im Vordergrund, und die vom Kommunismus geforderte totale Aufhebung des Privateigentums ist ein zwar grausames, aber ein effektives Mittel dazu. So nimmt es weiter nicht wunder, wenn der Kommunismus bei diesen Völkern Anklang findet, zumal er — wenn er siegt — seinen Anhängern eine glänzende Karriere verspricht.
Die Theorie des Ersatz-Frühkapitalismus hilft uns, drei komplizierte soziologische Probleme zu verstehen, die bei der wissenschaftlichen Analyse des modernen Kommunismus auftauchen, nämlich: a) die Frage nach den Beziehungen zwischen dem Kommunismus und der Arbeiterschaft; b) die Frage nach der sozialen Basis des modernen Kommunismus; c) die Zukunft des Kommunismus.
Zum ersten Punkt ist folgendes zu sagen: Für Marx und Engels waren Kommunismus und Arbeiterbewegung noch identisch gewesen. Für Lenin waren es zwei verschiedene Erscheinungen. Er ging bei allen seinen strategischen Entscheidungen davon aus, daß die Arbeiterbewegung, wenn sie sich frei entwikkelt, nicht kommunistisch wird. So stellte er bereits vor der Jahrhundertwende mit bemerkenswerter Sachlichkeit fest: „Für den Kampf um die Verbesserung ihrer Lage, und nur für diesen Kampf bedürfen die Arbeiter durchaus nicht der Sozialisten (hier und in folgenden = Kommunisten [d. Vers. ] ). In allen Ländern wird man Arbeiter finden, die den Kampf um die Verbesserung ihrer Lage führen, aber nichts vom Sozialismus wissen oder sich sogar feindlich zu ihm verhalten."
Lenin ging es gar nicht darum, ob sich die Arbeiter am kommunistischen Kampf aktiv beteiligen oder nicht, denn er meinte: „. . . die Teilnahme der Arbeiterklasse am politischen Kampf oder selbst an der politischen Revolution macht ihre Politik noch keineswegs zur sozialdemokratischen Politik."
Hier kommen wir zur zweiten Frage nach der sozialen Basis des modernen Kommunismus. Die Sozialgeschichte des zaristischen Rußland läßt unschwer jene soziale Kraft erkennen, die den Kommunismus getragen hat. Es sind die sogenannten Rasnotschinzy gewesen, „Leute von allerlei Rang", offiziell als „gebildete Nichtadlige" registriert, im Alltag einfach „Intelligentsia" genannt
Der vor einem Jahr verstorbene Fedor Stepun, selbst dieser Schicht zugehörig, hat sie treffend beschrieben: „Um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts begann sich im Schoße der Gesellschaft ein eigenartiges Gebilde herauszukristallisieren. Kein neuer Stand . . ., eher schon ein freier Bund . .. Diesen Bund nennen wir Orden der russischen Intelligenz . .. Nicht zu der Führung, die ständig zwischen Gefängnis, Exil und Emigration schwebte, wohl aber zur Armee des Ordens gehörten von den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts an so ziemlich alle Volksschullehrer, Landärzte, Agronomen, Genossenschaftler, Geometer, Studenten und alle qualifizierten Arbeiter mit den Buchdruckern und Metallarbeitern an der Spitze."
Der Terminus existenzlose Intelligenz trifft den Sachverhalt am besten, denn es waren Menschen, die zwar eine wesentliche geistige Potenz darstellten, die aber im zaristischen Rußland keine Existenzgrundlage hatten. Sie hätten nur dann eine Stellung im Staatsleben erringen können, wenn die Vormachtstellung des Erbund Dienstadels gebrochen worden wäre.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts können wir einen ständigen Kampf der existenzlosen, revolutionären Intelligenz gegen die Selbstherrschaft beobachten. Er griff im Laufe der Zeit zu immer schärferen Mitteln. Im Anfang ver-suchte man noch, die führenden Schichten aufzuklären. Daraus entwickelte sich die Propaganda unter den Gebildeten, dann unter den Bauern und schließlich den Arbeitern. Bei der Anwendung von Gewaltmitteln gab es eine ähnliche Eskalation: Vom dilletantischen Versuch der Dekabristen, der aufgeklärten Gardeoffiziere, durch Staatsstreich die Selbst-herrschaft zu brechen, geht ein direkter Weg zum großangelegten Terror, zu den Versuchen, Bauernaufstände anzuzetteln, zur Mobilisierung der Arbeiter in der bolschewistischen Roten Garde.
Lenins „Partei neuen Typs", seine „Organisation der Berufsrevolutionäre", war der Höhepunkt dieser Entwicklung. Durch ihre Propaganda, die alle Bevölkerungsschichten erreichte, bereitete sie systematisch Massen-aufstände und schließlich den Bürgerkrieg vor. Lenin zählte sich zu der existenzlosen und revolutionären Intelligenz und fühlte sich als Vollstrecker ihres Willens. Ganz am Anfang seiner Karriere schrieb er in seinem wohl wichtigsten Buch „Was tun?" (1902) klar und unmißverständlich: „Die Lehre des Sozialismus ist. .. (im Westen [d. Vers. ] ) aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klasse, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden ..."
Lenin war sich durchaus bewußt, der Führer der verhinderten Bourgeois zu sein, der „neuen Klasse". Er hat diesen Terminus Jahrzehnte vor dem Jugoslawen Milovan Djilas geprägt. 1920 schrieb er in seinem Buch „Der Linksradikalismus, eine Kinderkrankheit im Kommunismus": „Die Diktatur des Proletariats ist der aufopferungsvollste und schonungsloseste Krieg der neuen Klasse gegen einen mächtigeren Feind . . ."
Die Zukunft des modernen Kommunismus
Jeder Frühkapitalismus ist, wie es schon Marx erkannt hat, eine „Vorgeschichte des Kapitals". Früher oder später muß er dem Voll-kapitalismus weichen, jener Wirtschaftsordnung, die die Kommunisten mit erstaunlicher Wertfreiheit die „höchste Stufe der Warenproduktion, auf der auch die Arbeitskraft Ware wird", nennen. In diesem, dem einzig wissenschaftlichen Sinne gehört die Zukunft des modernen Kommunismus dem Kapitalismus. Die Führer Sowjetrußlands und anderer kommunistischer Länder, die eine entsprechende Stufe der Wirtschaftsentwicklung erreicht haben, können es nicht verhindern, daß früher oder später auch ihr Machtbereich jene „höchste Stufe der Warenproduktion" erreichen wird, auf der „auch die Arbeitskraft Ware" wird.
Mit der Entwicklung der modernen Industrie wird jeder Wirtschaftsführung auf die Dauer nichts anderes übrigbleiben, als zur Marktwirtschaft überzugehen und den Warencharakter der Arbeitskraft anzuerkennen, das heißt den Menschen zu erlauben, über die Arbeitsbedingungen zu verhandeln und sich die nach der Marktlage besten Arbeitsbedingungen auszusuchen. Man kann diese Feststellung mit großer Bestimmtheit machen, weil das Problem des Einbaus marktwirtschaftlicher Elemente in die Planwirtschaft schon seit über zehn Jahren in der Sowjetunion und in den anderen, auf ähnlicher Entwicklungsstufe stehenden kommunistischen Staaten besteht. Es wurde sogar schon gefordert, die Arbeitskraft als Ware anzuerkennen.
Dieses Problem konnte bis heute nicht gelöst werden. Dabei kann jedoch in der Sowjetunion von einem Übergang zur reinen Marktwirtschaft keine Rede sein. Im Gegenteil, nach Chruschtschows Sturz ist das Stalinsche System der Industrieführung durch Fachministerien, das als „Industriereform" deklariert wurde, wiedererstanden. Obwohl die Betriebsleiter größere Vorschlagsrechte haben, werden die Entscheidungen, vor allem über die Preisfestsetzung, von den überbetrieblichen Instanzen getroffen.
Sollten die Sowjetführer eines Tages den Betriebsleitern tatsächlich das Recht einräumen müssen, so zu arbeiten „wie die Privat-kapitalisten", also vor allem die Produktionspläne nach der entsprechenden Marktlage aufzustellen und die Preise selbst festzusetzen, dann wird die Kommunistische Partei die Kontrolle über die Wirtschaft nicht mehr aufrechterhalten können. Das wäre dann zwar der Zusammenbruch der „Diktatur des Proletariats", aber ein Triumpf des Historischen Materialismus, denn Friedrich Engels hat in seinem „Anti-Dühring" scharf die These kritisiert: „Die kapitalistische Produktionsweise (Marktwirtschaft, d. Vers.) ist ganz gut und kann bestehen bleiben, aber die kapitalistische Verteilungsweise (Verteilung durch Kauf und Verkauf, d. Vers.) ist vom Übel und muß verschwinden". Er wies nach, daß sie unsinnig ist, denn bei Aufrechterhaltung der Warenzirkulation und des Geldumlaufs werde sich die Akkumulation des Geldes, des Kapitals, in den Händen der erfolgreichen Geschäftemacher (auch wenn sie „nur" Leiter staatlicher Fabriken sind) mit keinem Mittel verhindern lassen. Diese Leute würden sich über kurz oder lang „in Beherrscher der Produktionsmittel (verwandeln), mögen diese auch noch jahrelang dem Namen nach als Eigentum der Wirtschafts-und Handelskommune (als Gemein-eigentum also, d. Vers.) fungieren"
Karl Marx hat die Veränderungen der innenpolitischen Situation innerhalb des Frühkapitalismus glänzend beobachtet. Er liefert uns in seinem „Kapital" den Kommentar zum Über-gang von den Stalinschen Schauprozessen und Massensäuberungen zu Chruschtschows Gesetzen zürn Schutze des Staatseigentums, zur „individuellen" Erschießung von Bürgern wegen Diebstahl von Staatseigentum, Fälschung von Abrechnungen . und ähnlichem: „Um dieselbe Zeit, wo man in England aufhörte, Hexen zu verbrennen, fing man dort an, Banknoten-fälscher zu hängen."
Das ist eine sehr wichtige Beobachtung Marx': Weder die Hexenverbrennungen im frühkapitalistischen England noch die Schauprozesse und Säuberungen der Stalinzeit waren reine Willkürakte: beide Male waren die Delinquenten zwar nicht dessen schuldig, wessen sie angeklagt waren, aber sie waren durchaus schuldig vom Standpunkt des Regimes, sei es, weil sie Widerstand leisteten, sich von Verpflichtungen drückten oder einfach Werte besaßen, die ein Stärkerer für die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals haben wollte. Mit der allmählichen Entwicklung auf die Marktwirtschaft hin wird das gefährlichste Verbrechen die Fälschung der Bilanz — sei es im „klassischen" Frühkapitalismus Banknotenfälschung oder im Ersatz-Frühkapitalismus Fälschung von Abrechnungen.
Drei Bedingungen für eine kommunistische Revolution
Indem wir den modernen Kommunismus als eine bestimmte Form, als den Ersatz-Frühkapitalismus identifizieren, entwerfen wir ein neues und vielleicht genaueres Bild der weltgeschichtlichen Entwicklung als Marx. Die Produktivkräfte spielen auch nach unserer Erkenntnis die Initiativrolle in der gesamten Entwicklung. Gegen die Begriffe „Sklavenhalterordnung", „Feudalismus" und „Kapitalismus" ist nichts einzuwenden, wohl aber bedarf der Begriff „Frühkapitalismus" einer genaueren Analyse.
Jedes Land muß die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals durchlaufen, bevor es zum modernen Industriestaat wird, denn die Industrieunternehmen müssen aufgebaut werden, bevor sie mit der Massenproduktion beginnen können. Die Art der ursprünglichen Akkumulation kann jedoch wesentlich variieren. Normalerweise, das heißt in den meisten Fällen, vollzieht die alte Führungsschicht den Über-gang von der feudalen zur kapitalistischen (Industrie-) Gesellschaft und wird dabei durch neue, von unten kommende Kräfte ergänzt.
Wo aber die alte Führungsschicht aus Unfähigkeit oder wegen äußerer Einwirkungen den Übergang nicht bewältigen kann, da entsteht die zweite, die kommunistische Form des Frühkapitalismus, der „Ersatz-Frühkapitalismus". Der Kommunismus übernimmt somit in der Geschichte der einzelnen Völker eine Rolle, die unter normalen Umständen der Frühkapitalismus spielt: Er sichert die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals. Der Ersatz-Frühkapitalismus kann in einer spezifischen, durch drei Merkmale gekennzeichneten Situation entstehen: 1. Das Land muß eine Entwicklungsstufe erreicht habe, auf der entscheidende Bevölkerungsschichten (nicht unbedingt die Mehrheit) die Überwindung der Rückständigkeit durch innen-oder außenpolitische Umstände für eine vordringliche nationale Aufgabe halten. 2. Die alte Führungsschicht muß außerstande sein, diese Aufgabe zu lösen, weil sie entwe-der entartet (wie in Rußland) oder dezimiert (wie in China oder Jugoslawien) ist.
3. Es müssen Menschen da sein, die eine neue Führungsschicht bilden können: die existenz-lose Intelligenz.
Fehlt eine dieser Bedingungen, weil entweder eine Industriealisierung noch nicht möglich oder die alte führende Schicht alle von unten kommenden Kräfte absorbiert oder die Industrialisierung bereits zu weit fortgeschritten ist, dann kann zwar eine kommunistische Bewegung entstehen, aber sie hat kaum Aussicht auf Erfolg, es sei denn, daß ihr eine ausländische Macht Hilfe leistet.
Die letzte der anfangs gestellten Fragen, die noch unbeantwortet ist, ob Marx recht behält mit seiner Prophezeiung, die Zukunft der Menschheit gehöre dem Kommunismus, müssen wir verneinen. Wenn wir uns noch einmal die Definition des Kapitalismus als der höchsten Stufe der Warenproduktion vergegenwärtigen, so können und müssen wir sagen, daß das Ende des Kapitalismus zunächst überhaupt nicht abzusehen ist. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß die Verteilung von Gütern durch Kauf und Verkauf aus dem System heraus in Frage gestellt wird.
Noch weniger kann aus der Logik des Kapitalismus das Recht der Arbeiter, ihre Arbeitskraft nach frei vereinbarten Bedingungen zu verkaufen, beschränkt werden. Auch aus dem kommunistischen, dem ersatz-frühkapitalistischen Raum kommt unüberhörbar die Forderung nach dem Übergang zur Marktwirtschaft, das heißt zum Vollkapitalismus. Wir haben daher keinen Grund, an die Aufhebung des Marktes als Folge der Weiterentwicklung des Kapitalismus zu denken.
Auch all das, was man oft als „grundlegende Änderung" des Kapitalismus ansieht, als Zeichen dafür, daß sich der Kapitalismus, der das Studienobjekt von Marx war, in etwas ganz Neues verwandelt hat, scheint eher der emotionell-traditionellen Auflehnung gegen das Wort Kapitalismus als einer Analyse seiner Entwicklungstendenz zu entspringen. (So etwa die Arbeitsund Sozialgesetzgebung, die fast totale Versicherung in allen Lebensbereichen, die radikale Erhöhung des Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten in den hochentwickelten Ländern, das merkliche Verschwinden der klassen-und gesellschaftlichen Grenzen u. a. m.)
Diese Faktoren sind alle ein direkter Ausdruck der „höchsten Entwicklungsstufe der Waren-produktion". Arbeits-und Sozialgesetzgebung sind direkte, erhöhter Lebensstandard indirekte Folgen der Verwandlung der Arbeitskraft in Ware, des Rechts der Arbeitnehmer, die Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Damit sich der Lebensstandard erhöhen kann, muß sich natürlich auch die Arbeitsproduktivität erhöhen. Aber auch diese Fähigkeit des Kapitalismus hat Marx erkannt: Er prophezeite ja seinen Untergang, weil er „zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt"
Damit soll nicht gesagt sein, daß die hochentwickelten Länder keine innen-und außen-politischen Probleme haben. Diese liegen jedoch mehr auf dem Gebiet der Beziehungen zwischen den Völkern als auf dem Gebiet der Wirtschaftsbeziehungen.
Die Erkenntnis, daß der moderne Kommunismus kein postkapitalistisches Phänomen ist, zeigt, daß ihm die Zukunft bestimmt nicht gehört. Sie ist aber auch eine Warnung an die Gegenwart. Der Kommunismus entsteht nicht zufällig. Er ist nicht entstanden, weil ein paar deutsche Generalstäbler Lenin aus der Schweiz nach Petrograd geschleust haben, und er ist nicht entstanden, weil die Soldaten des Diktators Trujillo den kleinen Rebellenführer Fidel Castro nicht rechtzeitig erschossen haben. Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, von der Agrarzur Industriegesellschaft ist heute in vielen Ländern fällig, und ihnen allen hat der Kommunismus einiges zu bieten: ein grausames, aber wirksames Mittel zur Über-windung ihrer Rückständigkeit. Es ist nicht der einzige Weg, den diese Länder gehen können. Sie werden ihn bestimmt nicht gehen, wenn die Verwandlung in Industriestaaten allmählich unter Ausnützung der vorhandenen Führungsschicht und schneller Absorbierung der neuen erfolgt, wenn man verhindert, daß jene existenzlose Intelligenz entsteht, die die eigentlich tragende Kraft des modernen Kommunismus ist.
Aber es muß auch mit allem Ernst gesagt werden: Alle Entwicklungsländer, die diese Aufgaben nicht lösen können, werden kommunistisch werden, und zwar nicht aufgrund der Intrigen Moskaus, Pekings oder Havannas, sondern wegen ihrer eigenen sozialen Entwicklung.
Die „Dritte Welt" ist das Schlachtfeld in dem historischen Ringen zwischen Demokratie und Kommunismus, und die großen Repräsentanten sind heute Indien und China. Wenn es Indien gelingt, ohne Kommunismus den Anschluß an die moderne Industriegesellschaft zu finden, dann wird sein Weg zum Vorbild werden. Gelingt es nicht, dann werden viele Länder dem Beispiel Chinas (und Rußlands) folgen.