I. Die Scheu vor dem Unseriösen
Mit etwas so Anrüchigem, Unseriösem und auch schwer Greifbarem wie politischen Skandalen assoziiert man eher die alte These, Politik sei ein schmutziges Geschäft, als das Gefühl, daß hier irgendein Ansatz für Bildungswerte stecken könne. Vor der Untersuchung derartiger Zusammenhänge ist zu fragen, warum Sozialwissenschaften und Pädagogik das politische Phänomen Skandal bisher weitgehend außer acht gelassen haben. Danach soll eine allgemeine Definition des politischen Skandals und eine Systematik der verschiedenen Möglichkeiten, die ein Skandal an Erkenntniswert über den Zustand des politischen Gemeinwesens bietet, Hinweise geben für die funktionale Bildungswirkung und für mögliche intentionale Bildungswerte. Entsprechend dieser sozio-politischen bzw. politisch-pädagogischen Fragestellungen bleiben Skandale außer Betracht, die sich in rein gesellschaftlichen, künstlerischen, sportlichen oder anderen nicht-politischen Bereichen des Gemeinwesens ereignen. Angesichts der Tatsache, daß Skandale aus der Geschichte und Zeitgeschichte nur in Ausnahmefällen noch im heutigen Bewußtsein relevant sind, wurden für etwa notwendige Illustrationen überwiegend Beispiele aus der Entwicklung der Bundesrepublik herangezogen.
Zwar haben einzelne Vorfälle, vom Skandal um das Halsband der Marie Antoinette bis zur Spiegel-Affäre, immer wieder das Interesse von Wissenschaftlern gefunden
Dieser Aufsatz ist der leicht gekürzte Vorabdruck eines Beitrages für das „Hamburger Jahrbuch für Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik", hrsg. v. Heinz-Dietrich Ortlieb und Bruno Molitor (Veröffentlichungen der Akademie für Wirtschaft und Politik und des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs), 13. Jahr, Tübingen 1968. Der Vorabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und des Verlages J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). Vielleicht liegt im Ausdruck „Skandalogie" ein Hinweis, warum die Sozialwissenschaften dieses Thema bisher nicht analysiert haben. Er bezeichnet etwas Unseriöses; also kann die Beschäftigung damit auch auf den abfärben, der mit einem Material umgeht, das eigentlich in den Bereich des Journalismus, vor allem der Sensationspresse zu gehören scheint. Als weiteres Hindernis erweist sich, daß zum Wesen von Skandalen und Affären etwas Halbdunkles, Unsicheres gehört. Hier ist kein „Aus-den-Quellen" -Arbeiten möglich, wenn man nicht „chroniques scandaleuses" im Illustriertenstil produzieren will.
Wenn eine Theorie des politischen Skandals bisher von den Sozialwissenschaften ausgespart worden ist, so sollte man dennoch annehmen, daß dieses Phänomen wenigstens von der Pädagogik, besonders von der Didaktik der politischen Bildung, behandelt worden wäre — einfach, weil Skandale häufig im politischen Leben geschehen, jeweils Millionen interessieren, und man deshalb im Unterricht nicht daran vorbeigehen könnte. Somit würde aus der Bildungspraxis die Forderung nach einer systematischen Analyse durch die Wissenschaft kommen. Wenn man allerdings in Rechnung stellt, daß in der deutschen Bildungstradition die Kontakte zwischen Schule und Universität schon immer sehr unterentwikkelt waren — gelegentlich auch zum Nachteil der Universität —, nimmt es nicht wunder, daß kein solcher Anstoß erfolgt ist. So bleibt auch in der Pädagogik der politische Skandal meistens unbeachtet
Die eine Möglichkeit, auf Störung der Bildungsarbeit durch Skandale zu reagieren, schildert z. B. Paul Röhrig
Das Ausweichen vor dem Skandal, indem man sich gegenüber der Wirklichkeit auf die Vermittlung der „Wahrheit" beschränkt oder indem man die politische Bildung bei fragwürdigen Vorbildern für unmöglich erklärt, basiert auf einem bestimmten Verhältnis von der Interdependenz politischer Praxis und Bildung. Repräsentativ hat das schon am 22. Januar 1955 der Deutsche Ausschuß für das Erziehungs-und Bildungswesen in seinem „Gutachten zur politischen Bildung und Erziehung"
ausgesprochen
Aber die politische Erziehung des Volkes im ganzen geschieht wesentlich durch die Politik selbst. Deshalb werden die Bemühungen um politische Erziehung scheitern, wenn nicht die Politiker sich der erzieherischen Wirkungen bewußt sind, die im Guten wie im Schlechten von ihrem Handeln ausgehen." Angesichts der Krisenerscheinungen 1967 kommentierte einer der angesehendsten und engagiertesten Politologen diese These
Ehe gefragt wird, was für Folgen es nat, wenn Skandale in der Bildung außer Betracht gelassen werden, ist ein Blick auf Wesen und allgemeine Bedeutung dieses Phänomens notwendig.
II. Zur Definition politischer Skandale
„Skandal, so scheint es, ist die selbstverständlichste Sache von der Welt. Man braucht darüber kein Wort mehr zu verlieren." So schließt Schütze
Der Definitionsversuch hält sich deshalb an den Skandal als den präzisesten der drei Begriffe. Scandalon ist im Griechischen ursprünglich das Stellholz an einer Falle, die zuklappt, wenn jenes berührt wird. Daraus entwickelten sich vage Bedeutungen wie Anstoß, Ärgernis erregen bzw. nehmen. So findet sich der Begriff häufig in der Bibel und heute noch im Sprachgebrauch der katholischen Kirche, wenn z. B. Papst Paul VI. in seiner Enzyklika „Popu-lorum Progressio" zur Situation der Entwicklungsländer vom „Skandal schreiender Ungerechtigkeit" spricht
Daraus ergibt sich für den heutigen Sprachgebrauch folgende Definitionsmöglichkeit: Ein politischer Skandal (oder ein Fall, eine Affäre) ist das Bekanntwerden eines unerwarteten, überraschenden Verhaltens von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, das bei einem Teil der Bürger Ärgernis oder Entrüstung erregt. Je größer der Anteil der Entrüsteten ist, desto stärker ist der Intensitätsgrad des Skandals, woraus allerdings noch nicht auf die reale Bedeutung des auslösenden Tatbestandes zu schließen ist. Weiterhin kann man feststellen: Der Uberraschungs-und Ärgernis-Effekt ist umgekehrt proportional zu der Wahrscheinlichkeit, mit der man das entsprechende Ereignis erwarten konnte.
Zum politischen Skandal als einem über-rächenden, Ärgernis erregenden Vorgang gehören mindestens drei Faktoren: Erstens der unerwartete Tatbestand, zweitens jemand, der diesen Tatbestand publik macht, und drittens Bürger, die ihn als Ärgernis empfinden. Außerdem ist eine Voraussetzung unumgänglich: Ein Mindestmaß an Meinungsund Pressefreiheit. Diktaturen zeigen nach außen hin stets ein „sauberes", skandalfreies Bild, wenn man von gesteuerten Skandalen wie z. B.der Röhm-Affäre 1934 oder den unterdrückten Skandalen um Prominente des Regimes ab-sieht, wobei dann anstelle von Skandal-Diskussionen Gerüchte und „Flüsterwitze" entstehen. Gegenüber scheinbar diktatorischer Geschlossenheit liegt das Wesen einer demokratischen Gesellschaft nicht zuletzt im offenen Austragen von Konflikten. Insofern ist der politische Skandal nichts anderes als Teil der allgemeinen politischen Kategorie „Konflikt" zwischen Machtträgern bzw. Machtgruppen.
Allerdings ist der Skandal auf der Skala der politischen Konfliktformen schwer einzuordnen. Er gehört weder klar zu den geregelten Konfliktformen, etwa der Debatte oder einem Streit vor dem Bundesverfassungsgericht, noch gehört er eindeutig zu den ungeregelten Konfliktformen wie etwa eine spontane Volks-erhebung. Unbestritten ist er jedoch Teil des politischen Lebens.
III. Zur gesellschaftlichen Bedeutung politischer Skandale
Die Definition des politischen Skandals sagt noch nichts über seine Bedeutung für die Gesellschaft, wenn man von der erwähnten Interdependenz zwischen Skandalen und Pressefreiheit absieht. Auch die umfangreiche, historisch-beschreibende Literatur über einzelne berühmte Skandale hilft hier nicht weiter. Sie kann allerdings Bausteine liefern zu einer Anatomie
Wenn man nun auf der Suche nach der Bedeutung politischer Skandale für das Gemeinwesen systematisiert, Vordergründiges und Nebensächliches wegläßt und darüber hinaus derartige Systemati sich bewußt bleibt, daß -sierung nicht die ganze vielseitige Wirklichkeit erfassen kann, dann ergeben sich für die gesellschaftliche Funktion politischer Skandale und damit für ihren Erkenntniswert vier Grundmuster. Im folgenden werden diese Grundmuster mit einigen Beispielen illustriert; dabei ist zu bedenken, daß jeder politische Skandal mehrere Aspekte hat, häufig also unter mehr als nur ein Grundmuster zu rubrizieren ist, und daß er neben den gesellschaftlichen auch die hier nicht zu behandelnden individuellen Aspekte der politischen Macht-konkurrenz enthält. Als ein zugegebenermaßen grober Raster für das Erfassen der Bedeutung seien im folgenden vier gesellschaftliche Funktionen politischer Skandale skizziert. 1. Politische Skandale können bisher nicht offen sichtbare Spannungen zwischen Personen bzw. Gruppen innerhalb einer Institution oder zwischen Institutionen offenbar werden lassen. In solchen Fällen haben Skandale eine Art Signalfunktion, indem sie latente Spannungen oder Konflikte, wie sie durch Persönlichkeiten oder Strukturverschiebungen entstanden sind, öffentlich anzeigen. Beispiele für diese Signalfunktion sind die zahlreichen Skandale, wie sie um die Institution des Wehrbeauftragten seit seiner ersten Besetzung 1959 beinahe regelmäßig entstanden sind. Bisher ist es olfensichtlich weder dem Bundestag noch den drei Amtsinhabern gelungen, für diese Institution den entsprechenden Ort zwischen Legislative und Exekutive zu finden. Ähnliche Spannungen und Unsicherheiten zeigen sich auf größerer Ebene bei der Bundeswehr, als 1966 die Starfighter-Affäre, der Rücktritt des Generals Trettner wegen des OTV-Erlasses und kleinere Skandale, z. B. vor dem Verteidigungsausschuß, öffentlich anzeigten, daß es schon länger eine latente Bundeswehrkrise gegeben hatte. Erst diese Vorfälle führten zur längst fälligen der den Diskussion über Ort Bundeswehr in der Demokratie, Führungsprobleme, Kampfauftrag, Rolle in der NATO, geeignete Bewaffnung und ähnliches. Auch manche der Skandale aus dem Bereich des Auswärtigen Amtes gehören in diese Rubrik, etwa der spektakuläre Abgang des Moskauer Botschafters Kroll im März 1962 oder die Affäre um den Grafen Huyn im November 1965. Neben persönlichen Fragen bildeten in diesen beiden Beispielen vor allem unterschiedliche Konzeptionen, einmal im Verhältnis zur Sowjetunion, das andere Mal im Verhältnis zu Frankreich, den eigentlichen Anlaß für Spannungen, die sich dann — für die Mehrheit der Bürger überraschend — in Affären entluden und somit ein Signal gaben, dahinterliegende Fragen zu klären. 2. Eine andere Funktion politischer Äußerungen oder Handlungen, die als Skandal empfunden werden, liegt darin, daß plötzlich offenbar wird, wie gegen geschriebene oder ungeschriebene Normen, gegen Spielregeln oder Rollen-erwartungen verstoßen worden ist. Skandale dieses Grundmusters wirken als politische Kontrolle. Zu diesem Typ gehören die Korruptionsskandale, etwa mit der Leihwagenaffäre beginnend. An ihr läßt sich abstrahieren, wie eine durch Krieg-und Nachkriegszeit unsicher gewordene Bürokratie wieder eine Amtsauffassung suchte, die sich dann im „Kugelschreiber-Erlaß" des Bundesinnenministeriums niederschlug. Der „Glocke" -Skandal im Hamburger Untersuchungsgefängnis 1966, wo ein Häftling zu Tode geprügelt worden war, mit den Anschluß-Skandalen im Kölner „Klingelpütz" und andernorts zeigen politische Skandale in ihrer Kontrollfunktion der Staatsverwaltung besonders deutlich. Ähnliches gilt für die Arbeit der Geheimdienste, die ihrem Wesen nach öffentlicher Kontrolle entzogen sind. Bei der Entführung des französischen Oberst Argoud aus Bayern 1963, bei der Abhöraffäre im selben Jahr oder bei der „Rückführung" von Süd-Koreanern aus der Bundesrepublik 1967 machten erst Skandale klar, daß Prinzipien des Rechtsstaates verletzt worden sind. Skandale wie jene um den Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Otto John, oder den Bundestagsabgeordneten Kurt Frenzel erhielten ihre Brisanz durch den überraschenden Verstoß gegen die Rollenerwartungen, die die Öffentlichkeit von Männern in derartigen Positionen hegte. Die Entrüstung der Bürger wirkte jeweils als Kontrolle, und zwar unabhängig von den rechtlichen Sanktionen für den Verstoß gegen Gesetze. Ähnliche Kontrollwirkung durch spontane Entrüstung ist bei Äußerungen Verantwortlicher zu beobachten, wenn sie gegen politische Spielregeln oder den politischen Stil verstoßen, von Kurt Schumachers Zwischenruf „Bundeskanzler der Alliierten" im Bundestag 1949 bis zu der als Skandal empfundenen, überraschenden Abwertung des Bundespräsidenten Heuss durch Bundeskanzler Adenauer im politischen Krisenjahr 1959
In diesen dritten, korrigierenden Funktionsbereich gehören auch jene Skandale, die daraus entstehen, daß von Personen oder Institutionen mit einem gewissen Maß an Autorität öffentlich überraschend Tabus berührt werden. Beispiel dafür ist etwa der Sturm, den die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zur Oder-Neiße-Frage entfesselte. Hierher gehören auch die Folgen scheinbar unpolitischer Aktionen wie Rolf Hochhuths Schauspiel „Der Stellvertreter", das die diplomatisch abwartende Haltung von Papst Pius XII. während der Vernichtung der Juden im Dritten Reich schilderte, womit Hochhuth ein Tabu berührte, was von vielen Ka-tholiken als Skandal empfunden wurde
Zwar dienen auch die anderen erwähnten Skandaltypen oft dem Machtkampf und der Meinungsbildung der Wähler. Im Unterschied zur vierten Gruppe liegt den anderen Skandalen jedoch ein mehr oder weniger großes tatsächliches Ärgernis zugrunde. Dieser Unterschied zwischen den drei obigen Grundmustern und der vierten Gruppe wird auch nicht davon berührt, daß das überraschende Ärgernis in den ersten Fällen von jeweiligen politischen Gegnern oder von bestimmten Massenmedien aufgebauscht bzw. dramatisiert wird.
Für die vierte Gruppe, also die reinen Manipulierungs-Skandale, sei als Beispiel jene Affäre erwähnt, die Konrad Adenauer im Bundestagswahlkampf 1953 entfesselte, als er den SPD-Kandidaten Schroth und Scharley unterstellte, sie erhielten Geld aus der DDR. Daß gar kein Anlaß für einen Skandal vorlag, stellte sich nach der Wahl heraus. Im Bundestag zur Rede gestellt, registrierte Adenauer schmunzelnd den wahrscheinlichen Stimmen-gewinn durch diese Affäre. Auch wenn man berücksichtigt, daß im Wahlkampf mit harten Bandagen gekämpft zu werden pflegt, ist es für die Verankerung demokratischer Spielregeln im Bewußtsein der Gesellschaft nicht unwichtig, daß die Rechtfertigung des Kanzlers von relativ wenigen als Skandal empfunden wurde.
Der mehr oder weniger aus der Luft gegriffene Skandal zu Manipulierungszwecken ohne ein wirkliches Ärgernis als Grundlage ist seltener, als jene glauben, die Skandale als Symptom für die These von der Politik als dem schmutzigen Geschäft nehmen. Diese Tatsache ist gar nicht so überraschend. Wenn man als Wesenselement des Skandals das überraschende Ärgernis nimmt, so kann dieses nur breitere Entrüstung erregen und damit politische Folgen haben, wenn der Anlaß trotz der Überraschung noch im Rahmen des Vorstellbaren bleibt. Die erwähnte Wahlkampf-Behauptung hätte in einer gut informierten Gesellschaft eigentlich gar nicht wirken können, weil die betreffende Oppositionspartei seit 1945 so agiert hatte, daß man ihr zwar damals alles mögliche vorwerfen konnte, nur nicht, daß sie ein Werkzeug der Kommunisten sei. Für die These, daß ein Skandal nur dann entsteht, wenn ein gewisses Minimum der Bürger den Anlaß für möglich hält, sei noch ein Beispiel erwähnt. Der „Spiegel" hat einmal versucht, um Adenauer auf Grund von dessen angeblichen Aktien-Manipulationen aus seiner Kölner Zeit einen Skandal zu entfesseln. Es gab keinen Skandal, weil Freunde und Gegner Adenauers ihm alles zuzutrauen bereit waren, nur nicht unrechtmäßige Bereicherung.
In Form dieser vier Gruppen bieten politische Skandale offensichtlich nicht unbedeutende Aufschlüsse über den Zustand des Gemeinwesens. Ihre Signal-, Kontrolloder Koordinierungsfunktionen können, wenn sie entsprechend ausgenommen werden, jene Konflikt-theorie untermauern, die besagt: „Eine flexible Gesellschaft profitiert vom Konflikt, weil solches Verhalten, indem es die Normen schaffen und modifizieren hilft, ihre Kontinuität unter veränderten Bedingungen garantiert. Ein solcher Mechanismus zur Wiederanpassung von Normen steht starren Systemen kaum zur Verfügung; indem sie den Konflikt unterdrücken, verdecken sie ein nützliches Warnsignal und erhöhen so die Gefahr eines katastrophalen Zusammenbruchs aufs äußerste."
Die Voraussetzung der „flexiblen Gesellschaft" ist allerdings gar nicht stark genug zu betonen, wie die deutschen Erfahrungen im Zusammenhang mit politischen Skandalen beweisen. Im Wilhelminischen Reich wurden sie zugunsten einer vermeintlichen Harmonie und Ordnung in den erwähnten drei Funktionen kaum ernst genommen. Beispielsweise ist relativ wenigen klargeworden, daß die Daily-Telegraph-Affäre 1908 das Ende des persönlichen Regimes des Kaisers bedeutete. Nicht zuletzt dieses Außerachtlassen der Information durch Skandale hat den plötzlichen und für Millionen überraschenden Zusammenbruch 1918 sowie das Entstehen der Dolchstoß-Legende erleichtert. In der Weimarer Republik dagegen war das politische Leben von Skandalen beherrscht, angefangen von jenem, den Helferich 1920 gegen Erzberger entfesselte, bis zu dem für ostelbische Großgrundbesitzer gefährlichen Osthilfe-Skandal, zu dessen Unterdrückung ihnen ein Kanzler Hitler willkommen war
Nach der — mit den erwähnten Ausnahmen — äußerlich „skandalfreien" NS-Diktatur entwik-kelte sich in der Bundesrepublik neben relativ größerer Offenheit und Flexibilität auch der notwendige Konsensus, wobei dieser gelegentlich, z. B. im Kalten Krieg der fünfziger Jahre, sogar über das erforderliche Minimum hinausging. Mit der Spiegel-Affäre 1962 als Höhepunkt konnten Skandale leichter als bisher in der deutschen Geschichte die erwähnten drei integrierenden Funktionen wahrnehmen. Das lag u. a. an der verantwortungsbewußteren parlamentarischen und außerparlamentarischen Opposition (Massenmedien), an der lange Zeit relativ schwachen oder verbotenen antiparlamentarischen Opposition und an einer nicht zuletzt durch das Bundesverfassungsgericht bedingten anderen Einstellung der Justiz.
Im übrigen sind die Abgrenzungen zwischen Skandalen und allgemeineren Krisensymptomen fließend. Das zeigt sich an der jüngsten Entwicklung der Bundesrepublik. Was 1965 mit einer Kette kleinerer Skandale an der Freien Universität Berlin begann und anfangs nur hochschulpolitische Fragen zu berühren schien (Fall Krippendorf), aber keine entsprechenden Korrekturen in der überkommenen Hochschulstruktur erreichte, und dann in den Zwischenfällen beim Schah-Besuch im Sommer 1967 andere Dimensionen annahm, das sprengt inzwischen schon die Kategorie des politischen Skandals. Die geringer gewordene Offenheit unseres Herrschaftssystems (Große Koalition), seine 1966/67 vorübergehend geschrumpfte wirtschaftliche Effizienz (Rezession) und die Unklarheit über unsere Stellung im veränderten weltpolitischen Kraftfeld (Vietnam, NATO-Krise) äußern sich zwar gelegentlich auch in politischen Skandalen („Ravensburger Depesche" 1968), überwiegend jedoch in anderen Krisensymptomen, die nun nicht mehr als Einzelfall beiseite zu schieben sind wie ein politischer Skandal.
Im Zusammenhang mit unserer engeren Problemstellung ist vor der Antwort auf die Frage nach einem möglichen Bildungswert politischer Skandale noch zu untersuchen, welche ungewollten Bildungswirkungen diese auf die Bürger ausüben.
IV. Zur funktionalen Bildungswirkung politischer Skandale
Im Wesen des politischen Skandals liegt sein Uberraschungseffekt, sein Emotionen hervorrufendes Ärgernis und die Tatsache, daß abstraktes politisches Geschehen hier personifiziert erscheint. Daraus ergibt sich eine gewisse Beeinflussung und Politisierung der Bürger, und zwar ganz unabhängig von allen Intentionen politischer Bildung. In allen Gesellschaften ist der Kreis der ernsthaft an Politik Interessierten relativ klein. Was Bertrand de Jouvenel
„Die Spiegel-Affäre erwies sich als politischer Unterricht."
Grundsätzlich stimmt also die These von Schütze: „Sobald der Angeschuldigte, vor dem Skandal flüchtend oder vom Skandal bedrängt, im Gebäude des ordentlichen Gerichts eingetroffen ist, ist der Skandal beendet."
V. Zum intentionalen Bildungswert politischer Skandale
Voraussetzung für eine derartige Aufgabe ist allerdings eine politische Anthropologie, die demokratischen Vorstellungen entspricht. Die eingangs zitierte These des Deutschen Ausschusses für das Erziehungsund Bildungswesen, wonach politische Bildungsbemühungen ohne die erzieherische Wirkung der handelnden Politiker scheitern müssen, ist für diese Aufgabe kaum die geeignete Grundlage. Denn zum Wesen der Demokratie gehört auch die Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen und ein entsprechendes Mißtrauen gegen die Machtinhaber mit all den daraus folgenden Kontrollmechanismen, die eine demokratische Ordnung relativ kompliziert erscheinen lassen. Aus dieser anthropologischen Sicht ist die Hoffnung auf lupenreine politische Vor-und Leitbilder für die Bildungsarbeit vergeblich. Dennoch besteht zwischen politischer Praxis und politischer Bildung ein dialektisches Verhältnis. Es erscheint also trotz allem notwendig und sinnvoll, die handelnden Politiker immer wieder an ihre volkspädagogische Aufgabe und Verantwortung zu erinnern. Die Vertrauenskrise in der Bundesrepublik. 1967/1968 mit dem Anwachsen radikaler Aktionen beruht wohl nicht zuletzt auf der Tatsache, daß die politisch Verantwortlichen diese Aufgabe 24 aus den Augen verloren hatten, also sich bei den Bürgern zuwenig glaubhaft um Autorität bemühten.
Pädagogen, die den Konflikt als fundamentalen Prozeß des politischen Gemeinwesens erkannt haben, tragen diesem Menschenbild längst Rechnung. Dennoch haben auch sie politische Skandale weitgehend außer Betracht gelassen, weil es andere didaktisch aufschlußreiche Konfliktformen zur Behandlung in der politischen Bildung gibt. Diese Praxis ist verständlich, zumal die Sozialwissenschaften bisher keine Hilfsmittel für die Behandlung dieses politischen Phänomens geliefert haben. Andererseits trägt der Pädagoge durch dieses Nichtbehandeln ungewollt zur oft beklagten Realitätsferne der politischen Bildung, zur Diskrepanz zwischen den Vorstellungen von der Politik und der politischen Wirklichkeit bei und bereitet damit oft unbewußt den Boden für Ideen einer „perfekten", also diktatorischen Ordnung. Außerdem kann er Autorität und Glaubwürdigkeit bei seinen Hörern einbüßen, weil diese ja in der erwähnten Form durch die Massenmedien politisch vor„gebil-det" sind.
Was hilft aus diesem Dilemma? Soll man historisch-politische „Chroniques scandaleuses" im Illustriertenstil behandeln, weil das menschlich interessant und spannend ist? Hier geht offensichtlich vor lauter Interessiertheit der politische Bildungsgehalt verloren. Immerhin könnte man sich in den Geschichts-und Zeitgeschichtsbüchern etwas mehr von den großen politischen Skandalen wünschen, die damals die Menschen erregt haben. Wie will man beispielsweise das Verhalten der Menschen in der Weimarer Republik verstehen, wenn man viel über den Notstandsartikel 48, aber nichts über die Barmatund Sklarek-Skandale weiß? So bleibt eigentlich nur die Möglichkeit, in der politischen Bildung, die ja das Hier und Heute sowie die Zukunft behandelt und — im Gegensatz zur streng historischen Bildung — höchstens aus heutigem Blickwinkel die Vergangenheit heranzieht, politische Skandale als Einstieg, als Anreiz zu benutzen. Damit würde vor allem das bereits durch die Massenmedien geweckte Interesse fruchtbar gemacht werden. Wie aber soll es weitergehen, wenn man bei gegenwärtigen oder jüngstvergangenen politischen Skandalen relativ wenig, zumeist noch umstrittene und ungesicherte Tatsachen vortragen kann, da ja zum Wesen des Skandals auch häufig jene Prise von Geheimnissen, Behauptungen und Dementis, Emotionen und Aufbauschungen gehört — also alles Dinge, die mit Wissenschaftlichkeit und Objektivität kaum etwas gemein haben! Verletzt nicht die Behandlung politischer Skandale im Unterricht die „in der Schule gebotene Neutralität"
Hinzu kommt eine Sorge über die politische Bildung, wie man sie vor allem bei manchen Geschichtslehrern findet. In ihrem Sinne hat Werner Klose zu bedenken gegeben: „Daß der Lehrer mehr wissen soll als seine Schüler, galt bisher als selbstverständlich. Hier hat man sich darüber hinweggesetzt. Die . Gemeinschaftskunde'gibt erstmals in der Geschichte des deutschen Gymnasiums dem Dilettantismus freie Bahn."
Grundsätzlich kann der Pädagoge in der politischen Bildung — im Gegensatz zu anderen Fächern — nicht immer „recht" haben, weil sein Fach auf die Gegenwart und Zukunft gerichtet ist. Wenn er sich nicht nur auf Institutionenkunde beschränkt, gibt es hier keine Patentlösungen, sondern offene Fragen, mögliche Alternativen, unterschiedliche Prioritäten — eben sehr viel Umstrittenes. Das macht die Aufgabe so schwierig, bedingt aber auch den besonderen Reiz dieses Faches.
Der Bereich des politischen Skandals ist nach meinen Erfahrungen ein geeignetes Beispiel für diese besondere politische Bildungsarbeit. Voraussetzung ist, daß es gelingt, aus dem jeweiligen Skandal mit seiner Fülle von Einzelheiten, Widersprüchen, Nebenlinien, Unklarheiten, Vordergründigkeiten usw. das herauszuarbeiten, was dahintersteckt, was wesentlich ist. Das ist nicht einfach. Denn bei fast jedem Skandal wirken mehrere persönliche und sachliche Probleme zusammen. Aber auch in anderen Bereichen ist der Pädagoge zur Auswahl, zum Exemplarischen gezwungen. Diese Notwendigkeit entkräftet auch den Vorwurf, die Behandlung derartiger Konflikt-themen, wie politische Skandale, führe zu ähnlich unverbindlicher Plauderei wie die häufig kritisierte „Zeitungskunde".
Der Verfasser hat in einer besonderen Arbeit
Auch der Einwand, es gäbe für derartige Bildungsarbeit kein methodisch-didaktisch auf-bereitetes Material, ist nicht stichhaltig. Wenn man in der Materialfrage eine Trennung in Lesebuch und Grammatik vornimmt, dann liefern die großen politischen Tages-und Wochenzeitungen, mit denen sich ein Pädagoge des Faches Sozialkunde sowieso informiert halten muß, mehr als nur Tatsachen und Lese-stoff. Hier findet er Kommentare, die den jeweiligen Skandal analysieren, Hintergründe, Vergleichbares und Grundsätzliches behandeln, also damit schon Elemente der Grammatik liefern. Die Einordnung des Einzelfalles in das Koordinatensystem des politischen Gemeinwesens ist sowieso notwendig — gleichgültig, ob ein Skandal oder eine Institution behandelt werden —, falls die Bildungsarbeit nicht unkoordinierte Stoffanhäufung bleiben soll.
Politische Skandale, zu deren Wesen das Ärgernis eines mehr oder weniger großen Teiles der Öffentlichkeit gehört, bieten als Katalysator politischer Bildungsarbeit noch einen Vorteil. Ihre Behandlung rollt die Fragen der Demokratie als Herrschafts-und Lebensform von der „Besorgnisseite" her auf
Der Besorgnis-Aspekt bietet noch einen anderen didaktischen Vorteil. Bei der beliebten Methode, freiheitliche mit diktatorischen Herrschaftsformen zu vergleichen, hilft der Skandal-Aspekt mit seinen gesellschaftlichen Funktionen, die in Diktaturen andere und bisher keineswegs wirksamere Form der Konflikt-regelung darzustellen. Die erwähnten unterdrückten oder manipulierten Skandale aus dem Dritten Reich bieten ein Beispiel, wie es in den sogenannten guten Zeiten dieser Ära hinter der Fassade von Ordnung und Sauberkeit wirklich aussah
Es könnte scheinen, als ob politische Skandale zwar ein Ärgernis sind, aber dennoch beinahe idealen Bildungswert hätten. Demgegenüber ist zu wiederholen, daß Skandale nur eine Form politischer Konflikte sind und daß die Behandlung anderer Konfliktformen, wie Streik, Parlamentsdebatte, Prozeß vor dem Bundesverfassungsgericht usw., wahrscheinlich besseren Bildungswert besitzt und außerdem einfacher ist. Wenn man jedoch davon ausgeht, daß pölitische Skandale in einer offenen Gesellschaft kaum ganz zu vermeiden sind und daß sie wegen ihres sensationellen, menschlichen Aspektes über die Massenmedien auch bei den sonst nicht politisch Interessierten eine relativ große Bildungswirkung haben, dann kann der Pädagoge an ihnen einfach nicht vorbeigehen, weil die Vermittlung von abstrakten Werten gegen die Bildungswirkung des politischen Geschehens und seinen Niederschlag in den Massenmedien auf die Dauer fruchtlos bleiben wird. Er ist gezwungen, nicht nur vertiefend und abstrahierend, sondern manchmal „ausgleichend" oder auch „gegensteuernd" zu arbeiten
Schließlich seien zum Bildungswert bei der Behandlung politischer Skandale noch zwei Aspekte genannt, die mit den erwähnten gesellschaftlichen Grundfunktionen politischer Skandale Zusammenhängen. Der eine Wert scheint darin zu liegen, daß hier nicht auf das Vorbild der politisch Handelnden gewartet wird, wie es die eingangs erwähnte These des Deutschen Ausschusses für das Erziehungsund Bildungswesen nahelegen könnte. Der Ausschuß hatte allerdings eingangs seiner Schlußthese festgestellt: „Politische Jugend-erziehung ist die Voraussetzung guter Politik."