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Entschied Verrat den Zweiten Weltkrieg? Vom Einfluß der Spionage auf die politischen und militärischen Ereignisse | APuZ 25/1968 | bpb.de

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APuZ 25/1968 Entschied Verrat den Zweiten Weltkrieg? Vom Einfluß der Spionage auf die politischen und militärischen Ereignisse

Entschied Verrat den Zweiten Weltkrieg? Vom Einfluß der Spionage auf die politischen und militärischen Ereignisse

Alfred Schickel

Dreiundzwanzig Jahre nach Kriegsende ist die Erforschung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs in vollem Fluß. Sachkenner berechnen die über dieses Thema veröffentlichten Arbeiten auf über 90 000 Titel — und täglich kommen weitere Beiträge hinzu. Während sich die Diskussion der Fachhistoriker an diesem oder jenem strittigen Problem entzündete und immer wieder neue Erkenntnisse brachte, wuchs im Schatten des wissenschaftlichen Meinungsstreits eine Literatur besonderer Art heran. Ihr alleiniges Anliegen ist es, NS-Deutschland von jeder Verantwortlichkeit für Kriegsausbruch und Kriegsausgang freizusprechen. Dieses Bestreben bringen sie zum Teil bereits in den Titeln ihrer Publikationen zum Ausdruck Unbekümmert um die große Fragwürdigkeit einer solchen petitio principii, die sie wissenschaftlich weitgehend disgualifiziert, operieren sie mit gefälligen Halbwahrheiten und streuen diese mit ganz bestimmten politischen Absichten unter die größtenteils kritiklose Masse. Unter dem Vorwand einer Ehrenrettung Deutschlands suchten und suchen sie einen Sündenbock,, der für das „Großdeutsche Reich" Hitlers den Krieg verloren hat. Sie sahen und fanden ihn im Verräter.

Zufrieden mit ihrer „Entdeckung" gehen sie seither mit der Behauptung hausieren, daß Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte, wenn nicht durch den erfolgten Verrat alle Anstrengungen des deutschen Soldaten zunichte gemacht worden wären. Mit großer Beflissenheit berichten sie von Spionagefällen im Krieg oder zitieren aus Memoiren gewese-ner Agenten, um ihre „These" zu untermauern. Oft genügt ihnen schon der Hinweis auf den Titel der einen oder anderen Publikation, um sich in ihrer Behauptung bestätigt zu fühlen. Mit Vorliebe nehmen sie daher Autoren wie Pierre Accoce — Pierre Quet oder G. R. Jordan in die Bibliographie ihrer Bücher auf, ohne zu prüfen, ob die Überschriften ihrer Elaborate der Wahrheit entsprechen oder nur dem Sensationsbedürfnis dienen Reißerische Titel wie „Der Krieg wurde in der Schweiz gewonnen" oder „Sowjets siegen durch Spione" mit denen die Verfasser nur leichtgläubige Leser anlocken wollen, werden als wissenschaftliche Ergebnisse ausgegeben. Widerlegungen oder Selbstkorrekturen dieser Sensationsliteraten werden bewußt übergangen. So konstruierten diese „Revisionisten" unseres Geschichtsbildes, wie sie sich selbst gelegentlich nennen, bewußt eine neue Dolchstoßlegende. Hauptquellen für ihre tendenziösen Folgerungen sind zu einem Teil aus dem Zusammenhang gerissene Aussagen führender Militärs zum anderen Ted die reichhaltige Spionageliteratur. Mit beiden Arten von Zeugnissen gilt es, sich auseinanderzusetzen, will man die Spreu willkürlicher Interpretationen vom Weizen der geschichtlichen Wahrheit scheiden.

Abgesehen von der erkennbaren Tendenz der benützten Sekundärliteratur und unbeschadet der Tatsache, daß sich in Spionagebüchern nur allzuoft Wahrheit mit Dichtung vermischt und daß jeder frühere Agent sein Wirken eher überbewertet als untertreibt, soll hier zunächst untersucht werden, was im Zweiten Weltkrieg an die Kriegsgegner Deutschlands verraten wurde. Veröffentlichungen aus jüngster Zeit scheinen dazu angetan, einige irrige Vorstellungen zu erwecken und darin die Bildung einer zweiten Dolchstoßlegende zu fördern. So schreibt Wilhelm von Schramm in seinem neuesten Buch „Verrat im Zweiten Weltkrieg", daß ein „permanenter Verrat militärischer Geheimnisse aus Deutschland stattgefunden hat" Oscar Reile geht in seinem jüngsten Werk noch einen Schritt weiter und meint:

„Der Schaden, den die Spionagegruppen . . .

Deutschland insgesamt zugefügt haben, ist unübersehbar. Die Meldungen erleichterten Stalin und seinen Generälen, die Gesamtlage Deutschlands richtig zu beurteilen und jeweils die notwendigen militärischen Maßnahmen zu treffen . .

Der kritische Leser wird in dem Satze Schramms nicht so ohne weiteres eine Bestätigung für die Behauptung, daß Deutschland den Zweiten Weltkrieg durch Verrat verloren habe, erblicken, sondern die Schrammsche Formulierung genau und wörtlich nehmen. Er wird auf den Zusammenhang sehen und feststellen, daß der Autor nur von bestimmten Agenten spricht.

Rudolf Rössler

Schramms Hauptaugenmerk gilt dem als „Lucy" bekanntgewordenen Spion Rudolf Rössler. Von ihm sagt er: „. . . 1941 sind seine Geheiminformationen für Moskau noch spärlich und ohne erkennbaren Einfluß auf die kriegerischen Ereignisse: erst vom Spätjahr 1942 fließen sie reichlicher und tragen zur Wende des Rußlandkrieges bei." Selbst bei dieser präzisen Aussage darf man den einschränkenden Inhalt nicht übersehen. Da ist zunächst nur die Rede, daß Rösslers Spionagetätigkeit „zur Wende des Rußlandkrieges beigetragen hat", über Wichtigkeit und Größe des Beitrages läßt sich Schramm nicht aus. In dieser Vorsicht unterscheidet er sich wohltuend von Reile, welcher zu wissen glaubt, wie und wann die Spione der Sowjetunion zum Siege verhalfen Schramm bringt in seiner Formulierung letztlich doch auch noch eine Unterordnung der Agententätigkeit Rösslers unter andere wichtigere Faktoren des Krieges zum Ausdruck, wenn er nur von einem Beitrag spricht. Aber auch diese These vom „Beitrag zur Wende" muß von Schramm noch untermauert und bewiesen werden. Der Leser seines Buches wartet jedoch vergebens auf die Beweisführung. Statt ihrer macht der Verfasser eine wichtige Einschränkung seiner vorherigen Behauptung, wenn er wenig später zugibt, „daß Moskau aucn ratsche Informationen von Rössler erhielt" Und was Moskau an richtigen Informationen bekam, war nicht immer operativ verwertbar, besonders dann nicht, wenn sich die Sowjets auf fünf bis sechs Tage alte Tagesberichte aus Berlin oder aus dem Führerhauptquartier stützen mußten, auf Nachrichten also, die durch nachfolgende Ereignisse überholt und damit strategisch wie taktisch wertlos waren. Uber die Mitteilungen Rösslers an die Zentrale in Moskau und die Qualität seiner Meldungen urteilt Schramm schließlich selbst skeptisch: „Was in ihnen steht, ist von höchst unterschiedlichem Wert und Wahrheitsgehalt . . ." Reile, eher zur Überbewertung als zur Unterschätzung der Spionage und ihrer Auswirkungen neigend, zweifelt auch diese vorsichtige positive Beurteilung der Agententätigkeit Rösslers durch Schramm an, wenn er zu bedenken gibt: „Der Wortlaut dieser Funksprüche (Lucys) ist durch Aktenmaterial oder durch Berichte von Behörden, die Einblick in den Sachverhalt hatten, niemals bestätigt worden. Auch beweiskräftige Unterlagen sind bisher nicht veröffentlicht worden."

Für die Sowjets, die über Rössler sogar von der deutschen Geheimen Staatspolizei (Gestapo) „Informationen", allerdings gezielte Falschmeldungen, also sogenanntes Spielmaterial, erhielten, war der Agent allmählich so uninteressant, daß sie ihn und sein ganzes Netz in der Schweiz im Herbst 1943 „absterben" ließen. Als Grund für das sowjetische Desinteresse an Rösslers weiterer Mitarbeit gibt Reile an, „daß die Moskauer Zentrale der GRU (, Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenje'= . Vierte Abteilung'des Generalstabes der Roten Armee) den Meldungen , Lucys'niemals so recht traute" Rösslers „Beiträge zur Wende des Rußlandkrieges" können also nicht allzu bedeutend gewesen sein. Dieser Folgerung scheint das entgegenzustehen, was Alexander Foote in seinem „Handbuch für Spione" zu berichten weiß.

Alexander Foote

Alexander Foote, von Herkunft Engländer, diente Rössler in der Agentengruppe „Rote Drei" als Funker. Nach seinem Uberwechseln im Sommer 1947 in das Lager des Westens veröffentlichte er sein „Handbuch" und ließ sich dann als Privatmann irgendwo in England nieder. Auffallend ist, daß er in seinem Buch keine einzige Funkmeldung im Wortlaut bringt, obwohl er nach eigener Aussage viele nach Moskau übermittelt haben muß. Was er an Dokumentarischem nicht vorweisen kann, will er durch phantasievolle Kombinationen ausgleichen. Dabei bietet er dem Leser auch Erzählungen wie diese an: „. . . Lucy . . . war der wichtigste Schauspieler in diesem sonderbaren Drama, aber er trat nie ins Rampenlicht. Seine Mitspieler sind nur undeutlich zu sehen und können nur verschwommen beschrieben werden, ihre Namen sind unbekannt und sogar die Rolle, die sie spielten, ist dunkel geblieben. , Lucy', der sich gemütlich in der neutralen Schweiz vergraben hatte, hielt in seiner Hand die Fäden, die zu den drei Ober-kommandos in Deutschland führten, und konnte Informationen auch aus anderen deutschen Behörden liefern. Woher er diese Nachrichten bezog und auf welchen Wegen sie zu ihm gelangten, das blieb sein Geheimnis ..."

Dem Leser von Footes Buch bleibt es ein Geheimnis, wie gemütlich Rössler (Lucy) es sich machen und trotzdem der Moskauer Zentrale alles berichten konnte, was diese von ihm haben wollte. Rössler natte nach Footes Darstellung mindestens einmal am Tag einen ausgiebigen Funkverkehr sowohl mit seinem Verbindungsmann im deutschen Hauptquartier in Berlin als auch mit Moskau durchführen müssen Unerklärlich ist dabei nur, daß die Peilstationen und beweglichen Peilzüge der militärischen Abwehr einen solchen intensiven Funkverkehr nie geortet haben, obwohl sie den Funkverkehr der „Roten Drei“ zuletzt genau kannten und fortlaufend beobachteten.

Mit Bezug auf die sehr vagen und zweifelhaften Angaben Footes wird in diesem Zusammenhang auch immer ein „Verräter im Führerhauptquartier" genannt. Was diese erfundene oder tatsächliche Figur betrifft, so ließen sich bis zum heutigen Tag noch keine überzeugenden Beweise für ihre wirkliche Existenz erbringen. Das stellt auch Schramm fest, wenn er schreibt: „Ein Verrat von Dokumenten der Obersten Führung auf deutscher Seite hat sich indessen bisher nicht nachweisen lassen." Reile, wie Schramm früher selbst in höhere Stäbe kommandiert und damit erfahren aus eigener Anschauung, hat für diese auf Footes Berichte stützende Vermutung nur die sarkastische Bemerkung übrig: „Die deutschen Unter-quellen , Lucys', die , großen Verräter', müssen nach Footes Darstellung nur so geflitzt sein, um ja keine Möglichkeit zum Verrat der eigenen Soldaten vorübergehen zu lassen."

Richard Sorge

Eine weitaus größere Rolle in der Spionage für die Sowjetunion spielt der vormalige Korrespondent der „Frankfurter Zeitung", Dr. Richard Sorge. Ihn hielten die Sowjets sogar einer seltenen posthumen Ehrung wert, als sie ihn im November 1964 mit dem Titel „Held der Sowjetunion" auszeichneten. Damit erfuhr er eine einmalige Aufwertung. Entsprechend vielfältig ist die über ihn erschienene Literatur. Die umfassendste Würdigung dieses Spions gab bisher das Autorenpaar F. W. Deakin und G. R. Storry in dem Buch „Richard Sorge — Die Geschichte eines großen Doppelspiels" Wohl sehr unter dem Eindruck der ungewöhnlichen Ehrung durch Moskau stehend, vertreten die beiden Verfasser die Auffassung, daß es sich bei Richard Sorge in der Tat um einen sehr wichtigen, wenn nicht gar kriegsentscheidenden Agenten gehandelt haben muß. Ihnen folgt Reile, der von Sorge gleich zu Beginn seines Kapitels über Sorge und dessen Spionagegruppe „Hirse" schreibt: „Dr. Richard Sorge gehört zu den Gestalten der Geschichte der Spionage, deren Arbeit außerordentliche Wirkungen erzielt haben."

Welche Arbeit hat Sorge für Deutschlands Kriegsgegner besorgt? Neben Mitteilungen über lokale Planungen der Japaner gegen die UdSSR, welche die deutschen Belange weder direkt noch indirekt berührten, unterrichtete er Moskau im Sommer 1939 über die Zielsetzung des deutsch-japanischen Bündnisses und befreite durch seine Meldungen den Kreml von der Sorge über eine mögliche deutsch-japanische Allianz gegen die Sowjetunion. Der im November 1936 vom Deutschen Reich mit Japan abgeschlossene Antikomitern-Pakt ließ die sowjetischen Befürchtungen über die Absichten der deutsch-japanischen Verhandlungen durchaus real erscheinen. Sorge konnte die sowjetische Führung durch seine Funksprüche beruhigen. Er informierte Moskau über die ablehnende Haltung des japanischen Kabinetts zu den deutschen Vorschlägen, England im fernen Osten anzugreifen, und teilte dabei gleichzeitig mit, daß Deutschland keine feindlichen Absichten gegenüber der UdSSR hege. Sorge sagt später über sich und seinen Nachrichtendienst: „Durch mich erfuhr die Sowjetunion, daß England das Objekt des geplanten Bündnisses sei — nicht die Sowjetunion. Also schlossen die Russen ihren Pakt mit Deutschland."

Nimmt man Sorge beim Wort und ihn so wichtig wie er sich selbst, dann wäre der eigentliche Wegbereiter für das später auch für Deutschland verhängnisvolle, weil den Ausbruch des Weltkrieges mit ermöglichende Hitler-Stalin-Bündnis vom August 1939. Diese Version jener dramatischen Vorgänge vor dem deutschen Einmarsch in Polen steht im krassen Gegensatz zu allen bisherigen wissenschaftlichen Deutungen Sie kann wohl nur als ein bezeichnendes Beispiel von Selbstüberschätzung eines Spions genommen werden. Einen Beweis für seine ebenso gewagte wie selbstgefällige These vermochte Sorge jedenfalls nicht zu erbringen. Seine Biographen Deakin und Storry schweigen dazu ebenso wie Reile. Sorges Behauptung, die Sowjets hätten ihre geheimen Verhandlungen mit dem Deutschen Reich abgebrochen, wenn die den Japanern von Deutschland vorgeschlagene Allianz gegen die UdSSR gerichtet gewesen wäre ist nicht nur reine Spekulation, sondern ließe sich mit größerer Berechtigung auch umkehren und die Auffassung vertreten, daß die Sowjetunion dann erst recht ein vitales Interesse gehabt haben müßte, den drohenden Ring um sich durch einen Pakt mit dem Deutschen Reich zu sprengen.

Einen ersten Höhepunkt der Spionagetätigkeit Richard Sorges gegen Deutschland brachte das Jahr 1941. Im Frühjahr sammelte Sorge alle Nachrichten, die mit einem geplanten deutschen Angriff auf Rußland in Zusammenhang standen, um sie dann in einem Bericht über die Vorbereitungen der deutschen Armee an Moskau zu liefern. Er teilte dem sowjetischen Geheimdienst mit, daß „der Krieg gegen die Sowjetunion bereits beschlossen war" Darüber hinaus setzte er die Sowjets davon in Kenntnis, daß Hitler die Absicht habe, die Korn-kammer der Ukraine zu besetzen und mit ein bis zwei Millionen russischer Kriegsgefangener den Mangel an Arbeitskräften in Deutschland zu beheben Diesen wichtigen Mitteilungen läßt Sorge schließlich auch noch den inzwischen ermittelten Angriffstermin folgen; er meldet nach Moskau, daß der Angriff der Deutschen Wehrmacht am 20. Juni beginnen sollte und daß die Vorbereitungen hierfür bereits abgeschlossen seien. In einem Funkspruch berichtet er, daß 170 bis 190 Divisionen an der deutschen Ostgrenze zusammengezogen seien und daß es weder ein Ultimatum noch eine förmliche Kriegserklärung geben würde. Am 15. Mai 1941 gab Sorge den genauen Tag des deutschen Angriffs nach Moskau durch: den 22. Juni.

So sehr die von Sorge nach Moskau gefunkten Nachrichten auf Tatsachen beruhten, so sehr hing ihr Wert doch von der entscheidenden Frage ab, ob und wie sich die Sowjets die ihnen zugespielten Geheiminformationen zunutze gemacht haben. Aus den vorliegenden Unterlagen geht nicht hervor, daß die Sowjets die ihnen von Sorge übermittelten Nachrichten strategisch oder taktisch gegen Deutschland ausgewertet haben. Wir haben im Gegenteil davon Kenntnis, daß die sowjetische Führung trotz ihrer zur Verfügung stehenden Informationen keine nennenswerten Abwehrmaßnahmen gegen den avisierten Einfall Hitlers trafen. Der britische Historiker John Erickson von der University of Manchester schreibt in seinem Buch „The Soviet High Command“ über die Kriegsvorbereitungen der Sowjetunion 1940/41: „Agenten ... lieferten ... Informationen. Alles wurde unverzüglich nach Moskau und persönlich an Berija geleitet, der aber nur irgendeinen Routinebefehl gab, wie etwa , Beobachtung verstärken'..."

Zu diesen Agenten gehörte neben Richard Sorge auch der schon genannte Rudolf Rössler aus der Schweiz, dessen präzisen Angaben die Sowjets ebenfalls keinen Glauben schenkten. John Erickson schreibt über die Bewertung von Nachrichtenmaterial durch Moskau: „Keinen Zweifel kann es darüber geben, daß sehr viele Informationen über deutsche Vorbereitungen zu Stalin, an die Rote Armee und zum NKWD gelangt waren. . . . Noch blieben die Truppen bei ihrer normalen Routine, und auch an ihrer politischen Unterweisung wurde nichts geändert. Die Front und die Streitkräfte erhielten keine ungewöhnlichen Befehle. Erst in den allerletzten Stunden eines Friedens, der mit jeder Minute fragwürdiger wurde, kam das Oberkommando der Roten Armee zu der Auffassung, ein Angriff stehe bevor ..." Am 21. Juni 1941 gegen 24. 00 Uhr erhielten Vizeadmiral F. E. Oktjabrski und sein Stabschef, Konteradmiral I. D. Jelisejew, in Sewastopol vom Marinekommissariat den Befehl zu „erhöhter Bereitschaft". Zur gleichen Zeit schickte Marschall Timoschenko Warntelegramme an die Stäbe der Militärdistrikte mit dem Befehl, sich für eine in der Morgendämmerung des anbrechenden 22. Juni erwartete deutsche Offensive bereitzuhalten

So konnte Erickson über die Kriegsvorbereitungen der Sowjetunion abschließend feststellen: „Der Roten Armee blieben etwa 180 Minuten, um sich auf den Zusammenprall mit der furchtbarsten Kampfmaschine der Welt vorzubereiten."

Sorge und Rössler hatten sich also vergebens bemüht, die Sowjetführung vor einer deutschen Invasion zu warnen. Max Klausen, ein enger Mitarbeiter Richard Sorges, berichtete von der großen Enttäuschung, die Sorge und seine Spionagegruppe „Hirse“ über die für sie unfaßbare, weil gleichgültige Haltung Moskaus empfanden: „Wir erwarteten jede Stunde neue Anweisungen, Rückfragen und vor allem auch diplomatische und militärische Aktionen der sowjetischen Regierung. Wir waren uns der Bedeutung dieser Meldung bewußt. Doch wir erhielten keine Antwort. Als der Krieg wirklich begann, war Richard (d. i. Sorge) wütend. Verzweifelt fragte er: Warum hat Stalin nicht reagiert?'"

In Sorges bitteren Worten drückt sich bereits die ganze Vergeblichkeit seiner ansonsten überaus erfolgreichen Spionagetätigkeit aus, die dann durch die nachfolgenden Ereignisse vollauf bestätigt wurde, als die deutschen Armeen einen nur mangelhaft vorbereiteten sowjetischen Gegner trafen und die eilig zusammengezogenen russischen Armeen in groß-angelegten Kesselschlachten ausschalteten. Hätte man in der Moskauer Zentrale, dem NKWD und dem GRU Richard Sorge und seinen frühzeitigen Nachrichten Gehör geschenkt, wären der Roten Armee Niederlagen von dem erlebten Ausmaß höchstwahrscheinlich erspart geblieben. Da keine Veranlassung besteht, anzunehmen, daß die sowjetische Regierung wider besseres Wissen gehandelt und Millionen russischer Soldaten mutwillig geopfert hat, bleibt nur die Annahme, daß man bei den verantwortlichen Staatsmännern und Militärs die durch Spionage oder Verrat erlangten Informationen bei weitem nicht so wichtig nahm und so hoch veranschlagte, wie man es heutzutage gern tut.

Dieser Umstand scheint auch bei der Bewertung der weiteren Agententätigkeit Richard Sorges wichtig. Es fällt schwer, anzunehmen, daß Sorge für diese von Stalin und seinen Männern nachweislich nicht ernst genommenen Meldungen hinterher zum Helden der Sowjetunion ernannt worden sei, will man in dieser Ehrung nicht eine bloße politische Aktion gegen den seit Chruschtschows Entstalinisierungsrede in Acht und Bann getanen sowjetischen Diktator sehen.

Sorges bedeutendster und von vielen Deutschen — in Ermangelung besseren Wissens — als entscheidend angesehener Verrat an Deutschland ist seine Meldung nach Moskau, daß sich Hitlers Verbündeter Japan nicht in den deutsch-sowjetischen Krieg einschalten werde. Diese Mitteilung Sorges gründete sich auf den Beschluß der Kaiserlichen Konferenz vom 2. Juli 1941, der Sowjetunion gegenüber neutral zu bleiben. Durch die Kenntnis dieses japanischen Neutralitätsbeschlusses war der UdSSR die Möglichkeit gegeben, ihre zur Verteidigung der Ostgrenze stationierte ostsibirische Armee abzuziehen und gegen Deutschland einzusetzen. Daraus hätte sich unter Umständen die Chance ergeben, das bisher Deutschland sich zuneigende Kriegsglück zugunsten Rußlands zu wenden.

F W. Deakin und G. R. Storry sehen einen solchen Kausalzusammenhang für gegeben an und sprechen Richard Sorge das Hauptver-B dienst am Scheitern des deutschen Rußlandfeldzuges zu Auch Reile ist der Meinung, daß Sorges Mitteilung entscheidend dazu beigetragen hat, daß die deutschen Armeen die Winterschlacht 1941/42 verloren haben Eine ähnliche Bedeutung mißt Schramm dem Funkspruch Sorges zu, wenn er schreibt: „Die Russen hatten den Kulminationspunkt der deutschen Angriffskraft abgewartet. Daß sie mit frischen Truppen zurückschlagen konnten, verdankten sie freilich auch ihrem Meister-spion Richard Sorge in Japan."

Die Gründe für die Entscheidung der Sowjetunion

Wenn auch die geschichtlichen Ereignisse diese Ansichten zu bestätigen scheinen, ihre Richtigkeit ist damit aber noch nicht erwiesen. Schramm, Reile, Deakin und Storry gehen von der Hypothese aus, daß sich die sowjetische Führung allein von den Nachrichten Richard Sorges in ihren militärischen Operationen leiten ließ. Sie lassen dabei die durchaus reale Möglichkeit außer acht, daß sich die Männer im Kreml in ihren Entscheidungen in erster Linie von der veränderten internationalen Lage bestimmen ließen. Wie wenig sich jedoch die politische und militärische Führung der Sowjetunion von Sorges Nachrichtendiensten beeinflussen ließ, wurde an der Nichtbeachtung seiner durchaus zutreffenden Meldungen über den deutschen Angriffstermin deutlich. Aus welchem Grunde sollte sie sich jetzt hundertprozentig auf Spionagemeldungen verlassen? Diese Frage vergessen Schramm, Reile, Storry und Deakin sich zu stellen, bevor sie ihre Folgerungen aus den bekanntgewordenen Verratsfällen ziehen. Sie setzen offenbar ohne Einschränkung voraus, daß sich ein Spion durch den Nachweis der Richtigkeit seiner früheren Meldungen für alle Zukunft unbedingte Glaubwürdigkeit erworben hat. Daß eine durch die hinterher eingetretenen Geschehnisse bestätigte Nachricht aber noch keineswegs einem Agenten eine solche Glaubwürdigkeit einbringt, hat der für Deutschland tätige Spion „Cicero" erfahren müssen, als er trotz eindrucksvoller Beweise für die Echtheit seiner Mitteilungen bei den deutschen Stellen keinen Glauben für seine wichtigen und zutreffenden Nachrichten fand

Statt auf die stets fragwürdigen Informationen eines Verräters die gesamte Konzeption zu gründen, zog es die UdSSR vor, realeren und vor allem kontrollierbareren Gegebenheiten den Ausschlag für ihre Entscheidungen zu geben. So lieferte ihr die veränderte Weltlage hinreichend viele Anhaltspunkte, um an einem wahrscheinlichen Angriff Japans auf Rußland zu zweifeln.

Seit dem 7. Dezember 1941, also im gleichen Monat, da die sowjetische Winteroffensive begann, befand sich Japan im Kriegszustand mit den USA. Diese Entwicklung zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen dem Kaiserreich und den Vereinigten Staaten war seit den wirtschaftlichen Maßnahmen der USA gegen die japanischen Guthaben in den Vereinigten Staaten im Juli 1941 abzusehen und damit die Richtung der japanischen Kriegsunternehmen für die Zukunft festgelegt. Das wußten auch die US-Politiker und Militärs und richteten ihre strategischen Planungen 1941 danach aus Daß das Inselreich nicht an einem Mehrfrontenkrieg interessiert sein konnte, durfte die sowjetische Führung mit einiger Berechtigung annehmen. Ein weiterer wichtiger Sicherheitsfaktor für die russische Entscheidung, die ostsibirische Armee nach dem Westen zu verlegen und gegegen Hitlers Armeen einzusetzen, war der am 13. April 1941 abgeschlossene sowjetisch-japaniche Neutralitätsvertrag. Dieser Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion verschaffte dem fernöstlichen Kaiserreich die erforderliche Rückendeckung für die Expansion im pazifischen Raum und gab ihm damit freie Hand für den kaum vermeidbaren Krieg gegen die Vereinigten Staaten. Japans oberste politische und militärische Führung hätte allen Geboten der Vernunft zuwidergehandelt, hätte sie unter Bruch des eben erst geschlossenen Neutralitätspaktes die Sowjetunion doch angegriffen und sich damit einen weiteren Gegner, dazu noch im Rücken, zugezogen. Auf die politische und militärische Vernunft bauend und der Vertragstreue der Japaner vertrauend, konnte Rußland seine fernöstliche Grenze weitgehend von Truppen entblößen und diese ihrer im schweren Abwehrkampf stehenden Westfront zuführen, wie dies dann auch geschehen ist. Der Ratschläge eines Sorge und seiner Spionagegruppe bedurfte sie bei diesen Überlegungen und Operationen wohl erst ganz zuletzt, wenn überhaupt.

Reile, Deakin, Storry und Schramm sowie alle, die in Richard Sorge einen kriegsentscheidenden Spion sehen, überbewerten die Wichtigkeit und die Konsequenzen seiner Nachrichten; sie ignorieren darüber hinaus auch völlig den russisch-japanischen Nichtangriffspakt und die klar erkennbaren Kriegsziele der Japaner. Die Enge und Einseitigkeit ihrer Betrachtungsweise tut ihrer Argumentation großen Abbruch, so daß ihre Behauptung, Sorge habe den deutsch-russischen Krieg durch seine Spionage-tätigkeit zugunsten der Sowjetunion beeinflußt, nicht mehr länger als stichhaltig gelten kann. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß Richard Sorge und sein „Hirse" -Agentenring in Tokio zwar viele und wichtige Geheimnisse an die Sowjetunion bis zu seiner Verhaftung am 18. Oktober 1942 verraten, jedoch nie die notwendige Beachtung und daher in keinem Falle nachgewiesenermaßen entscheidenden Einfluß auf den deutsch-russischen Krieg genommen hat.

Sorges Ernennung zum „Helden der Sowjetunion" kann sich daher nicht auf die Effektivität seiner Spionagetätigkeit gründen, sondern dürfte viel eher als eine posthume Rehabilitirung des bis zu seinem Tode auch von Moskau verdächtigten Spions anzusehen sein

In das Kapitel Spionage für die Sowjetunion gehören noch drei Gruppen, von denen die „Rote Kapelle" die weitaus bekannteste ist Die beiden anderen Agentenringe firmieren mit zum Teil gleicher Personenbesetzung als die „Gruppe Schulze-Boysen" und „Die Rote Drei". Uber die Mitarbeiter der Gruppen schreibt Oscar Reile: „Die Mitglieder der drei Kreise waren radikal-sozialistisch, zum Teil rein kommunistisch eingestellt. Sie lehnten den Nationalsozialismus ab, weil er nach ihrer Auffassung die Fortsetzung des kapitalistischen Wirtschaftssystems darstellte und den wahren Sozialismus nicht verwirklichen konnte, überdies glaubten sie, Deutschland könne nur in enger Zusammenarbeit mit der Sowjetunion existieren. Bemerkenswert ist besonders, daß sich unter den Festgenommenen 20 Prozent Berufssoldaten, Beamte und Staatsangestellte und 21 Prozent Künstler, Journalisten und Schriftsteller, aber nur 13 Prozent Arbeiter und Handwerker befanden."

Die Gruppe Schulze-Boysen

Die Gruppe Schulze-Boysen hat nach Schramms Worten „sehr viel, aber noch nicht Entscheidendes verraten” Als Quelle für den von ihr begangenen Verrat gilt der Gestapo-Bericht vom 22. Dezember 1942. In ihm zählt der Chef der Sicherheitspolizei und SD eine Vielzahl von Meldungen auf, die der von den Sowjets „Coro" genannte Harro Schulze-Boysen nach Moskau durchgab. Danach soll er u. a. Mitteilungen gemacht haben über die Stärke der deutschen Luftwaffe bei Beginn des Krieges mit der Sowjetunion, über die monatliche Produktion der deutschen Flugzeugindustrie in der Zeit von Juni bis Juli 1941, über die Treibstofflage in Deutschland, über den von der deutschen Armee beabsichtigten Angriff auf Maikop, über die örtliche tage des deutschen Hauptquartiers, über die serienmäßige Herstellung von Flugzeugen in den besetzten Gebieten, über die Konzentration chemischer Kampfstoffe in Deutschland, über die Verluste der deutschen Fallschirmspringer auf Kreta, über das Vorhandensein einer wichtigen Lastwagenreparaturwerkstatt in Iverlo/Finnland, über die einsatzfähigen Flugzeuge der deutschen Luftwaffe im Herbst 1941, über die Verteilung der deutschen Luftwaffe an der Ostfront und über geplante deutsche Truppen-bewegungen den Dnjepr abwärts

Dieser nur in Auszügen gegebene Verratskatalog scheint geeignet, die These vom „großen Verrat" im Zweiten Weltkrieg erneut zu bestätigen. Soweit die Tatsache festgestellt werden soll, daß verraten wurde, vermag man auch nicht so ohne weiteres zu widersprechen, wenngleich darauf hingewiesen werden muß, daß uns Ablichtungen der erbrachten Beweisstücke fehlen, unser Wissen also nur auf den Mitteilungen Dritter beruht. Nimmt man aber trotzdem die Angaben des Gestapo-Berichts als zutreffend an, bleibt immer noch zu unterscheiden zwischen der einfachen Tatsache des begangenen Verrats und der viel wichtigeren Frage nach der Nutzbarmachung des Verrats durch den Feind. Erst die Auswertung des Verrats durch den Kriegsgegner macht ihn für die uns gestellte Grundfrage, ob Verrat den Zweiten Weltkrieg entschieden habe, relevant. Ob und wie sich die Sowjetführung der ihr durch Verrat zugespielten Informationen bediente, kann heute nur noch aus der Gegenüberstellung der verratenen Geheimnisse mit der damals tatsächlich gegebenen Kriegs-und Front-lage geschlossen werden. Die deutsche wie die sowjetische Fachliteratur schweigen sich hierüber aus. Die jeweiligen Akteure neigen in ihren Memoiren dagegen immer mehr dazu, eine erlittene Niederlage mit dem Erfolg der feindlichen Spionage zu erklären bzw. zu entschuldigen.

Zu der Zeit, als der Oberleutnant der Reserve Harro Schulze-Boysen, zuletzt in der Attachegruppe des Reichsluftfahrtministeriums tätig, am 30. August 1942 am Tor seiner Berliner Dienststelle verhaftet wurde, seine Gruppe also den Sowjets nicht mehr nachrichtendienstlich nützlich sein konnte, waren die deutschen Armeen in Rußland zur Sommeroffensive angetreten und hatte die Heeresgruppe A in einem Vorstoß den Elbrus erreicht. Die russische Gegenoffensive im Winter 1942/43 mit ihren Erfolgen bei Stalingrad als etwaige Folge der Spionagetätigkeit der Gruppe „Coro" (Schulze-Boysen) oder der „Roten Drei" bzw.der „Roten Kapelle" zu deuten, wäre eine fahrlässige Eigenmächtigkeit.

Die Gründe für die deutschen Niederlagen

über Ursachen und Verantwortung für die deutschen Niederlagen schreibt der Dozent für Zeitgeschichte an der Universität Bonn, Hans-Adolf Jacobsen, in einer scharfsinnigen Analyse: „Nach allem, was wir wissen, besteht kein Zweifel — sehen wir einmal von den Leistungen und den großen Erfolgen der Roten Armee ab —, daß Hitler als oberster Befehlshaber der Wehrmacht und zugleich Oberbefehlshaber des Heeres den größten Teil der Verantwortung für diese sowohl politisch wie militärisch schwerwiegende Katastrophe um die Jahreswende 1942/43 trägt; nicht zuletzt auch deshalb, weil nur er allein den Gesamtüberblick über alle Verhältnisse besaß."

Neben den großen Leistungen und Erfolgen der Roten Armee, die man als Ergebnis großer Einsatzbereitschaft und Tapferkeit jedes einzelnen Rotarmisten gelten lassen sollte, wäre noch ergänzend zu Jacobsens Ursachen-Katalog die seit Juli 1941 laufende US-Hilfeleistung an die Sowjetunion zu erwähnen. Immerhin erhielten die Sowjets von den USA vom Juli 1941 bis zum Kriegsende u. a. 427 284 Last-kraftwagen, 135 000 Maschinengewehre aller Kaliber, 14 880 Flugzeuge und über 13 000 Panzer. Diese Waffen und Kriegsmaterialien dürften ohne Zweifel mehr zur Kriegsentscheidung beigetragen haben als Richard Sorges „Hirse" -Ring, die Gruppe Schulze-Boysen, die „Rote Drei“ oder auch die „Rote Kapelle" mit ihren nur zum Teil beachteten Geheiminformationen.

Die „Rote Kapelle" stellte zwar ein ausgedehntes Spionagenetz dar, in dem eine große Zahl deutscher Personen, unter ihnen auch zahlreiche Mitglieder altbekannter und adeliger Familien, für die Sowjetunion arbeiteten und das zeitweise über mehr als hundert Geheimsender im Reichsgebiet und in den besetzten Westgebieten Geheiminformationen nach Moskau funkte; ihre Tätigkeit wurde aber mit der Verhaftung von über 70 Personen im Spätherbst 1942 unterbunden. Ihr führender Kopf, Harro Schulze-Boysen, wurde bereits im August des gleichen Jahres unschädlich gemacht.

Das von ihnen der Moskauer Zentrale übermittelte Nachrichtenmaterial ist zwar sehr umfangreich, es blieb aber auf das Kriegsgeschehen ohne entscheidenden Einfluß. Die großen Erfolge der sowjetischen Gegenangriffe seit dem Winter 1942/43 können von ihm kaum glaubhaft abhängig gemacht werden. Die russischen Gegenschläge steigern sich in ihrer Wucht vielmehr zeitlich parallel mit der Erhöhung der amerikanischen Kriegshilfelieferungen. Während die oben genannten Spionage-gruppen allesamt im Jahre 1942 ausgehoben und damit für Deutschland unschädlich gemacht worden waren, transportierten die USA vom Sommer 1941 an auf 2583 Schiffen über 15 Millionen Tonnen Kriegsmaterial und kriegswichtige Güter zur Unterstützung ihres Verbündeten in die Sowjetunion.

Ein weiteres Moment, das nicht ohne Einfluß auf die Entwicklung des Rußlandfeldzuges geblieben sein dürfte, ist die Ausrufung des „Großen Vaterländischen Krieges" durch Stalin. Mit seinem Appell an die patriotischen Gefühle der Russen mobilisierte der sowjetische Diktator die psychologischen Kräfte seines 200-Millionen-Volks. Hitlers und seiner Helfershelfer verfehlte Rassen-und Besatzungspolitik mit ihren unmenschlichen Deportationen und Exekutionen mehrte die innere Widerstandskraft der Russen gegen den Aggressor. Die ersten Auswirkungen bekamen die deutschen Soldaten in Gestalt der Partisanen bald zu spüren. Henri Michael berichtet in der Dokumentation „Der Zweite Weltkrieg", daß es in der Sowjetunion 1 500 000 Partisanen gegeben hat, die über 300 000 Deutsche getötet und 300 Nachschubzüge zum Entgleisen gebracht haben sollen Welche Ereignisse und Kräfte also die eigentliche Wende im Rußlandfeldzug herbeigeführt haben, dürfte nun auf der Fland liegen.

Das deutsch-sowjetische Kräfteverhältnis

Dazu muß man noch bedenken, daß sich das militärische Kräfteverhältnis an der deutschen Ostfront schon zu Beginn der russischen Gegenoffensive „Stalingrad" am 19. /20. November 1942 stark zugunsten der Sowjetunion verschoben hatte. Die Rote Armee konnte seit Herbst 1942 ihre Schlagkraft mit der spürbaren Steigerung der sowjetischen Rüstungsproduktion erheblich erhöhen. Im Jahre 1943 erzeugte die sowjetrussische Kriegswirtschaft rund 20 000 schwere und mittlere Panzer, 4000 Geschütze mit Selbstfahrlafetten und 3500 leichte Panzerfahrzeuge, d. h. rund das Vierfache des Jahres 1941. Auf dem Gebiet der PanzerProduktion hatten die Sowjets mit dem mittelschweren Tank vom Typ „T 34" den besten Panzer des Krieges zur Verfügung und vermochten Ende 1943 auch dem deutschen „Tiger" -Panzer wirksam mit dem schweren „Stalin" -Panzer zu begegnen. Zu dieser beachtenswert erhöhten Waffenproduktion kam dann noch das fast unerschöpflich scheinende sowjetische Menschen-Reservoir, welches im März 1943 zu folgender Frontlage führte: Den insgesamt 159 deutschen Divisionen an der Ostfront standen rund 600 gleichstarke sowjetische Verbände gegenüber. Im wichtigen Süd-abschnitt mußten die deutschen Armeen nach der Niederlage bei Stalingrad eine Front von 700 Kilometern mit knapp 32 Divisionen gegen 341 sowjetische Verbände halten, was unter Berücksichtigung der zahlenmäßig geringeren Stärke der einzelnen sowjetrussischen Verbände immerhin noch ein Verhältnis von 1 : 7 ergab.

Alfred Philippi und Ferdinand Heim stellen dazu in ihrer Studie „Der Feldzug gegen Sowjetiußland 1941— 1945" zusammenfassend fest: „Trotz des glimpflichen Ausgangs der großen Winterschlacht war die Gesamtbilanz erschreckend: Eine starke deutsche Armee und 4 Armeen der Verbündeten, im ganzen an die 40 Divisionen, waren verlorengegangen und mehrere andere Armeen hatten schwere personelle und materielle Einbußen erlitten, die angesichts der Gesamtsituation Deutschlands fast unersetzlich waren. Der Ostfront fehlten im März 1943 470 000 Mann ..."

Angesichts dieser Sachlage fallen auch die Spionagedienste, die Alexander Foote, Rudolf Rössler und Alexander Rado in der Gruppe „Die Rote Drei" geleistet haben, ebensowenig ins Gewicht wie der Verrat, den die Gruppe „Arvid" und die Gruppe „Arier" für die Sowjetunion betrieben haben.

Paul Thümmel

In letzter Zeit wurde die Spionagetätigkeit eines gewissen Paul Thümmel sehr hochgespielt, von dem Der Spiegel behauptete, er sei einer „der erfolgreichsten Spione ..., die jemals deutsche Staats-und Wehrmachtsgeheimnisse auskundschafteten und an fremde Mächte Weitergaben"

Paul Thümmel, der „Spion mit drei Gesichtern", wie ihn Rudolf Ströbinger in seinem Buch „A-54" nennt war Träger des Goldenen Parteiabzeichens der NSDAP und Vertrauensmann der deutschen Abwehrstellen in Dresden und Prag. In dieser Eigenschaft verstand er es, sich Zugang zu wichtigen Staats-und Kriegsgeheimnissen zu verschaffen. Diese spionierte er aus und gab sie an Deutschlands Gegner weiter. So funkte er bereits Ende 1940 an seinen Verbindungsmann nach London, daß es in der ersten Hälfte des Monats Mai 1941 zum Überfall auf die Sowjetunion kommen werde.

Ströbinger bemerkt zu dieser erstaunlichen Leistung Thümmels: „Diese Mitteilung (daß Hitler-Deutschland die UdSSR im Mai 1941 angreifen werde) erhielt London eine Woche nach der Unterschrift Hitlers unter die Direktive Nr. 21, Fall Barbarossa. Früher als mancher deutsche General sie durchlesen konnte."

Der Respekt vor so erfolgreicher Spionagearbeit kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie für den Kriegsverlauf weitgehend bedeutungslos, weil ohne Folgen blieb. Was Richard Sorge so sehr enttäuschte, war auch dem Verrat Paul Thümmels beschieden: er und seine vorzüglichen Informationen blieben unbeachtet. Dieser Vergeblichkeit verfielen fast alle Spionagemeldungen Paul Thümmels. So informierte er bereits im März 1939 den tschechoslowakischen Geheimdienst über die Pläne Hitlers, die Rest-Tschechoslowakei völlig zu zerschlagen, und zeigte die bevorstehende Besetzung Böhmens und Mährens an; diese erfolgte wenig später, am 15. März 1939, ohne auf nennenswerte Schwierigkeiten zu stoßen. Der Verrat Paul Thümmels war ohne Folgen für Deutschland geblieben.

In den ersten Tagen des Monats August 1939 funkte Thümmel die Meldung nach London, daß der deutsche Angriff auf Polen vorbereitet werde. Er teilte dazu ergänzend mit, daß das deutsche Oberkommando plane, in den bevorstehenden Kämpfen mit Polen mindestens Divisionen einzusetzen. Für den Fall, daß Frankreich in den Krieg einträte, sei vorgesehen, an der Westgrenze nicht sofort zum Angriff anzutreten, sondern nur einstweilen die deutschen Befestigungen des Westwalls zu verteidigen.

Wie wir heute aus den erhaltenen Unterlagen wissen, trafen die Angaben Thümmels weitgehend zu. Deutschland hatte für den Angriff auf Polen 46 Infanterie-Divisionen, 4 2/3 motorisierte Divisionen und 3 200 Panzer-Kampfwagen sowie weitere 4 Leichte Divisionen und 7 Panzerdivisionen bereitgestellt 50).

Die Mitteilung über das Verhalten der deutschen Armee im Westen entsprach Hitlers „Weisung Nr. 1 für die Kriegführung" vom 31. August 1939, in der es u. a. hieß: „. . . 3. Im Westen kommt es darauf an, die Verantwortung für die Eröffnung der Feindseligkeiten eindeutig England und Frankreich zu überlassen. Geringfügigen Grenzverletzungen ist zunächst rein örtlich entgegenzutreten. ... Die deutsche Westgrenze ist zu Lande an keiner Stelle ohne meine ausdrückliche Genehmigung zu überschreiten. Zur See gilt das gleiche für alle kriegerischen oder als solche zu deutenden Handlungen. Die defensiven Maßnahmen der Luftwaffe sind zunächst auf die unbedingte Abwehr feindlicher Luftangriffe an der Reichs-grenze zu beschränken. ... 4. Eröffnen England und Frankreich die Feindseligkeit gegen Deutschland, so ist es Aufgabe der im Westen operierenden Teile der Wehrmacht, unter möglichster Schonung der Kräfte die Voraussetzungen für den siegreichen Abschluß der Operationen gegen Polen zu erhalten. ... Den Befehl zum Beginn von Angriffshandlungen behalte ich mir in jedem Fall vor. Das Heer hält den Westwall. . ."

Trotz der geradezu verblüffenden Richtigkeit der Angaben Thümmels haben sie doch keine erkennbaren und vor allem keine erfolgreichen Reaktionen Polens, Frankreichs oder Englands hervorgerufen. Paul Thümmel hatte wieder sehr viel, aber alles vergeblich verraten. Im Verratsregister Paul Thümmels finden sich noch weitere Beispiele wirkungslos gebliebener Spionagefälle. So teilte er dem britischen Geheimdienst Plan und Termin des deutschen Angriffs auf Dänemark und Norwegen mit, wie er im deutschen Oberkommando unter dem Decknamen „Weserübung''festgelegt worden war

In den ersten Februartagen des Jahres 1940 meldete Thümmel den genauen Angriffsplan der deutschen Armeen gegen Frankreich mit der sogenannten Rochade-Bewegung entlang der Maginot-Linie an die Alliierten. Der französische Generalstab und sein für Spionage zuständiges , Deuxieme Bureau’ schenkten jedoch diesen völlig zutreffenden Nachrichten Thümmels keinen Glauben Abgesehen von einigen mehr oder minder ins Gewicht fallenden Konsequenzen seines Verrats, wie etwa der Warnung vor einer geplanten Entführung des Herzogs von Windsor durch Männer des Sicherheitsdienstes (SD), ist Paul Thümmel — einer der „erfolgreichsten und gefährlichsten Spione, der sogar noch den Fall Richard Sorge überschattet" — auch zugleich ein Musterbeispiel dafür, wie Spionage zwar ausgiebig betrieben wurde, aber zum größten Leidwesen der Agenten nicht zur entsprechenden militärischen und politischen Auswertung gelangte und daher auf das Kriegsgeschehen ohne Einfluß bleiben mußte.

Seine Festnahme am 20. März 1942 setzte einer möglichen folgenreicheren Spionage-tätigkeit ohnehin ein Ende.

Der Spion „Werther"

In den Abhandlungen über Spionage im Zweiten Weltkrieg tauchte in letzter Zeit immer häufiger ein Name auf, der zu den phantasievollsten Vorstellungen über seine Wirksamkeit verleitete: „Werther".

Diesem „Werther", in dem das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel" in nicht ganz überzeugender Kombination einen Rittmeister namens Dr. Wilhelm Scheidt entdeckt haben will werden Mitteilungen an die Kriegsgegner, besonders an die Sowjetunion, zugeschrieben wie diese: „Zwischen 1. Juni 1942 und 1. März 1943 über 170 000 Offiziere und Soldaten deutscher Panzerwaffe gefallen, verwundet, vermißt, erkrankt; das sind siebzig Prozent des Bestandes der Panzerdivisionen im Juni 1942."

Darüber hinaus wird von ihm behauptet, daß er fast täglich Nachrichtenmaterial an den Feind lieferte. Existenz und Tätigkeit dieses „Werther" wird dann auch noch durch eine Bemerkung Generaloberst Halders zu beweisen versucht, in der sich der ehemalige Generalstabschef über mangelnde Geheimhaltung beklagt: „Nahezu alle deutschen Angriffshandlungen wurden unmittelbar nach ihrer Planung im Oberkommando der Wehrmacht, noch ehe sie auf meinem Schreibtisch landeten, dem Feind durch Verrat eines Angehörigen des OKW bekannt. Diese Quelle zu verstopfen, ist während des ganzen Krieges nicht gelungen."

Obgleich Halder keine konkreten Beispiele für seine Pauschalbehauptung anzuführen vermag, scheint in seinen Worten zunächst die Figur des „Verräters im Führerhauptquartier" wie-der vor uns hinzutreten. Bei der Überprüfung einzelner von „Werther" übermittelter Nachrichten fallt jedoch auf, daß diese durchaus schwerwiegende Fehler, enthielten. So meldete „Werther" am 6. April 1943 unzutreffend nach Moskau, daß die 1. Gebirgsdivision im schweren Abwehrkampf am unteren Kuban und vor der Straße Krymskaja-Noworossijsk stehe; in Wirklichkeit befand sich diese Division zur fraglichen Zeit in Serbien. Am 2. Mai 1943 ließ er über Rössler nach Moskau funken, Generalfeldmarschall Bock habe sein Hauptquartier bei Baranowitschi bezogen. Tatsächlich aber war Bock bereits zehn Monate vorher — am 13. Juli 1942 — von seinem Kommando zurückgetreten. Weitere Beispiele für nachweisliche Falschmeldungen ließen sich anfügen. Die unrichtigen Informationen fielen gelegentlich sogar in Moskau auf und lösten Rückfragen aus. So funkte die Moskauer Zentrale an ihre Verbindungsleute in der Schweiz u. a.: „Information von Werther über Zusammensetzung der Armeegruppen A und B ruft große Bedenken hervor. . . . Werther teilt mit, daß Gruppe A unter Kommando Küchlers 25 oder 24 Divisionen hat. Soweit uns bekannt ist, hat diese Gruppe aber nicht weniger als 41 Divisionen. Außerdem existieren Inf. Div. 33, 41, 117, 243, 543 und 19. mot. Div. überhaupt nicht in der deutschen Armee. Divisionen 83 und 267. Inf. mot. Division und die 8. und 12. Panzerdivision befinden sich nicht in der Gruppe A, sondern, soweit uns bekannt ist, auf anderen Fronten."

Am folgenden Tage, dem 6. Februar 1943, beschwerte sich Moskau weiter über die unrichtigen Angaben „Werthers": „Werther teilt mit, daß Gruppe B unter Kommando Kluge 33 Divisionen hat; uns ist aber sicher bekannt, daß Gruppe B nicht weniger als 91 Divisionen hat. Auch sind wir der Meinung, daß von Werther angegebene Inf. Div. 37, 236, 701 und 70 niemals im Bestände der Wehrmacht waren. Uns ist auch bekannt, daß Inf. Div. 12, 61, 161, 162 nicht in der Gruppe B, sondern auf anderen Fronten sind.“

Vergleicht man die von „Werther" gemachten Angaben mit den Tatsachen, so stellt man fest, daß sie nicht nur nicht der Wahrheit entsprechen, sondern nach einer bestimmten Richtung hin falsch sind: sie untertreiben die Stärke der deutschen Einheiten. So unterstanden der Armeegruppe A (= Heeresgruppe Nord) nicht 24 oder 25 Divisionen, sondern 60 Divisionen, also mehr als doppelt soviel als „Werther" angibt. Ähnlich steht es mit „Werthers" Meldung, nach welcher die Armeegruppe B (= Heeresgruppe Mitte) nur 33 Divisionen umfaßt haben soll, in Wirklichkeit aber 80 Divisionen, also fast dreimal so stark war.

Bei solchem Sachverhalt liegt die Annahme nahe, daß „Werther", wenn er überhaupt existiert haben sollte, ein Agent der deutschen Abwehr war und als solcher den Sowjets falsche Informationen, also sogenanntes Spielmaterial lieferte. Damit scheidet er aber als „Verräter im Führerhauptquartier" aus und kann nicht für deutsche Niederlagen im Ostfeldzug verantwortlich gemacht werden.

Wilhelm von Schramm zweifelt dagegen grundsätzlich an der wahren Existenz „Werthers" alias „Scheidt" und meint, daß er nur eine Fiktion sei: „Werther ist Schall und Rauch. Er ist kein Landesverräter aus Fleisch und Blut. Das müssen wir heute feststellen, und zwar vor allem nach der Gesamtanalyse der erfaßten Funksprüche."

Schramm schließt mit dieser Feststellung nicht expressis verbis aus, daß aus dem Oberkommando der Wehrmacht und dem OKH Verrat geübt wurde, doch weist er ausdrücklich darauf hin, daß dieser Verrat keineswegs kriegs-entscheidende Bedeutung gehabt haben kann. Die bisher behandelten Spionagefälle und der Blick auf die jeweilige politische Weltlage mit den Vergleichen der beiderseitigen Truppen-und Materialstärken lassen uns Schramm in diesem Punkte vorbehaltlos zustimmen.

Ursachen für die Niederlagen im Osten

Die von Hans Frießner und Paul Carell in ihren Büchern immer wieder hergestellte Kausalbeziehung zwischen Verrat und Niederlage im Rußlandfeldzug ist aus den dargelegten Gründen eine willkürliche und im Widerspruch zu den Tatsachen stehende Kombination. Sie sollte im Interesse der historischen Wahrheit aufgegeben werden.

Generaloberst Frießners „Verratene Schlachten" in Rumänien mögen zwar die Niederlage Deutschlands beschleunigt herbeigeführt, nie aber erst bedingt haben, da im Jahre 1944 ein deutscher Sieg nicht mehr in Betracht kommen konnte. Frießner darf in seinen Überlegungen auch nicht außer acht lassen, daß die Partisanentätigkeit hinter der deutschen Front das ihre beigetragen hat, um den Sowjets günstige Ausgangspositionen für ihre geplanten Aktionen zu ermöglichen. Stalin gedenkt der Partisanen hinter den deutschen Linien mit den Worten: „ . . . und ihr, unsere ruhmreichen Partisanen und Partisaninnen, die ihr die rückwärtigen Einrichtungen und Dienste der deutschen Eindringlinge zerstört. ..."

Diese Partisanen, deren erfolgreichster und bedeutendster auf dem Balkan der heutige Marschall und Staatschef Tito ist, beschränkten sich nicht nur auf Sabotageakte hinter der deutschen Front, sondern standen auch im regen Funkverkehr mit den Russen, indem sie alles an Nachrichten durchgaben, was sie in Erfahrung bringen konnten. Diese Nachrichtenübermittlung durch Partisanen gehört aber nicht zum Kapitel „Verrat im Zweiten Weltkrieg", sondern stellt eine besondere Art der Kriegführung im rückwärtigen Frontgebiet dar. Ihrer bediente sich übrigens auch Deutschland, wie die Existenz und Einsätze der sogenannten „Brandenburger" beweisen Die Erfolge der britischen Commands und SAS-Einheiten, der amerikanischen Rangers und der deutschen Brandenburger wogen sich — abgesehen von unterschiedlichem Blutzoll — im großen und ganzen gegenseitig auf. Sie brachten ihren jeweiligen Auftraggebern nur eng begrenzte Vorteile in diesem oder jenem Frontabschnitt

Die Partisanen-und Untergrundbewegungen in kommunistischen Ländern bzw. in Westeuropa haben dagegen der deutschen Wehrmacht empfindlichen Schaden zugefügt und erhebliche Kräfte gebunden, die dann an der Front fehlten.

Die von Paul Carell in seiner Serie der Illustrierten „Kristall" erstmals aufgestellte und dann in seinem gleichnamigen Buch „Verbrannte Erde" wiederholte Behauptung, daß der russische Sieg 1943 im Kursk-Bogen, der die letzte deutsche Offensive „Zitadelle" in diesem Frontabschnitt zum Scheitern brachte, durch den Verrat des genauen Angriffstermins ermöglicht worden sei, ist inzwischen von berufener Seite widerlegt worden. General Heusinger, zu jener Zeit Chef der Operationsabteilung im Generalstab und in dieser Eigenschaft bestinformierter Mann über diesen Fall, sagte zu Carells Kombination: „Jeder Laie mußte sich sagen, daß die Deutschen versuchen werden, diese nach Westen vorspringende Blase abzukneifen. Des Verrats bedurfte es da gar nicht." Ein Blick auf den Frontverlauf im März 1943 bestätigt Heusingers Worte augenscheinlich.

Die Spionage für die Westmächte

Wie bei der Untersuchung des Verrats Paul Thümmels bereits angedeutet wurde, gab es auch Spionage für die Westmächte. Olav Herfeldt behandelt in seinem Buch „Schwarze Kapelle" einige Verratsfälle Die zum Teil romanhafte Darstellung mindert zwar den Wert seiner Publikation für die vorliegende Untersuchung, sie rührt jedoch an die hieb-und stichfeste Tatsache, daß den Westalliierten von Deutschen wichtige Fakten aus der Kriegsplanung mitgeteilt wurden. Als Quelle für die an die Westmächte gelieferten Nachrichten gilt Admiral Canaris. Er setzte als Chef der Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht und besonders als Gegner Hitlers und seiner Politik alles daran, um den Kriegsausbruch zu verhindern und später, als er bereits vom Zaune gebrochen war, seinen Fortgang möglichst bald zu beenden. Reile, in der Abteilung Canaris’ tätig, schreibt über seinen früheren Chef und seine Einstellung: „Die Suche nach Mitteln und Wegen, den seiner Ansicht nach sinnlosen Krieg möglichst bald zu beenden, nahm einen großen Teil der Arbeitskraft des Admirals in Anspruch. Canaris war hierbei von dem heißen Bemühen geleitet, unnötiges Blutvergießen und die Vernichtung kultureller Werte zu verhüten."

In dieser Absicht unternahm der deutsche Abwehrchef bereits im Winter 1939/40 Sondierungen, um die Verhandlungsbereitschaft der Engländer und Franzosen zu erkunden. Gleichzeitig suchte er die Befehlshaber der einzelnen Heeresgruppen und Armeen auf, um ihnen darzulegen, welche großen Blutopfer eine Offensive im Westen fordern würde. Während er bei den Generälen keinen Erfolg hatte, gelang es ihm im Frühjahr 1940 durch einen Mittels-* mann, den Münchner Anwalt Dr. Josef Müller, Verbindung mit Papst Pius XII. aufzunehmen. Er konnte den Pontifex dafür gewinnen, Friedensgespräche mit Vertretern der britischen Regierung aufzunehmen. Obwohl die englische Seite nicht abgeneigt war, auf die vermittelnde Tätigkeit des Papstes einzugehen, stellte sie dennoch eine Bedingung, die Canaris nicht erfüllen konnte: die Beseitigung des NS-Regimes und die Verhinderung des deutschen Angriffs im Westen. So scheiterten diese ersten Bemühungen um einen Verhandlungsfrieden. Canaris setzte nun seine Kraft darein, bislang neutral gebliebene Staaten wie die skandinavischen und die Benelux-Länder vor einem geplanten deutschen Überfall zu warnen. So ließ er über seinen Verbindungsmann Robert Golder in Rom dem Attache bei der norwegischen Botschaft in Rom, Harald Gustavson, einen Tag vor der deutschen Besetzung Norwegens den Plan der deutschen Invasion mitteilen. Uber die Reaktion des so benachrichtigten norwegischen Diplomaten berichtet Herfeldt: „Diese Deutschen glaubten wohl, daß er genauso dumm wäre wie seine englischen Kollegen. Erst vor wenigen Tagen hatte er gehört, wie jene sogenannte deutsche Opposition Lord Osborne und die Engländer an der Nase herumgeführt hatte. . . . Der Attache zerknüllte den Zettel mit der Invasionsnachricht in seiner Hand. ... Er warf den Zettel in den Papierkorb. . . . Und damit fand keine siebenundzwanzig Stunden später die deutsche Invasion auf Norwegen ungehindert und überraschend statt."

Nach Beginn dieser als „Weserübung" bezeichneten Operation am 9. April 1940 setzte Hitler den Angriffstermin auf Frankreich, den sogenannten „Fall Gelb", auf den 10. Mai 1940 fest. Canaris läßt durch denselben Mittelsmann auch dieses Datum den Westmächten zur Kenntnis bringen. Golder sucht im Auftrag des deutschen Abwehrchefs die belgische Botschaft auf und übermittelte die von Berlin empfangene Nachricht. Diesmal wird zwar die Meldung nach Brüssel weitergegeben, doch bleibt sie dort als unglaubwürdig unbeachtet liegen. Zehn Tage später erfolgte der deutsche Angriff und traf auf ein überrumpeltes und größten-teils nur äußerst mangelhatt vorbereitetes Belgien. Auch dieser spektakuläre Verratsfall blieb ohne Wirkung. Canaris fand bei den Gegnern Deutschlands genausowenig Gehör wie mit seinen ausgezeichneten Lagebeurteilungen bei Hitler.

Die Haltung Italiens 1943

Es bleibt als letzter bedeutender Verratsfall noch der Versuch Italiens, im Jahre 1943 ohne Wissen und Einverständnis Deutschlands, seines Bundesgenossen, aus dem Krieg auszuscheiden. Das Geschehen verdient insofern noch besondere Beachtung, als sich nach dem Kriege namhafte Persönlichkeiten der Alliierten zum versuchten Übertritt Italiens zu den Westmächten äußerten und dabei die Bedeutung dieses Vorgangs sehr hoch veranschlagten.

So meinte General Eisenhower später, daß die Italiener durch ihr Abrücken von Deutschland und ihre Unterstützung der Alliierten den britischen und amerikanischen Truppen bei ihrer Landung in Italien zum Siege verhelfen hätten. Feldmarschall Alexander, der britische Oberkommandierende im Mittelmeerraum, vertrat die Ansicht, daß die Invasion der Alliierten katastrophal geendet wäre, wenn die Italiener den Waffenstillstand vom 3. September 1943 nicht unterschrieben und die italienischen Einheiten bei der Landung der alliierten Truppen im Gebiet, von Nettuno die Deutschen unterstützt hätten. Worum ging es bei diesem „Verrat auf italienisch", wie Peter Tompkins sein Buch über den Austritt Italiens aus dem Zweiten Weltkrieg betitelt?

Nach der Absetzung Mussolinis durch den König und seine Gefangennahme vor der königlichen Villa am 25. Juli 1943 bemühte sich die neu gebildete italienische Regierung unter Marschall Badoglio, möglichst bald aus dem Krieg auszuscheiden. Da man mit Recht eine deutsche Invasion gegen diese Absicht fürchtete, nahmen die Italiener hinter dem . Rücken ihrer deutschen Bundesgenossen mit den Alliierten Verbindung auf und pflegten Geheimverhandlungen über den Abschluß eines Waffenstillstandsvertrages. Botschaftsrat D'Ajeta, der italienische Unterhändler in Lissabon, erklärte sich bereit, den Briten und Amerikanern die deutsche Schlachtordnung in Italien mit Namen, Stärke und Bestimmungsort jeder einzelnen deutschen Einheit zu übergeben. Zur gleichen Stunde war ein Abgesandter der italienischen Regierung zum deutschen Außenminister Ribbentrop unterwegs, um diesem zu versichern, daß Italien das Bündnis mit dem Deutschen Reich einhalte und keinerlei Geheimverhandlungen mit den alliierten Kriegs-gegnern führe. Im Laufe der weiteren Geheim-kontakte wurden die Angloamerikaner über die Standorte mehrerer deutscher Divisionen in Italien informiert; dadurch waren sie in die Lage versetzt worden, eine möglichst erfolgreiche Landung ihrer Truppen vorzubereiten.

In diesem Doppelspiel gab zur gleichen Zeit der italienische General Roatta dem deutschen Oberbefehlshaber Kesselring sein Wort als Offizier, daß die italienische Regierung nicht die Absicht habe, mit den Westmächten einen Separatfrieden abzuschließen. Noch am Abend des 8. September, als General Eisenhower bereits um 18. 30 Uhr den mit Italien geschlossenen Waffenstillstandsvertrag über den Rundfunk bekanntgab, versicherte derselbe Gene-19 ral Roatta dem Stabschef Feldmarschall Kessel-rings, General Westphal, diese Meldung sei „eine freche Lüge der britischen Propaganda", um die deutschen Verbündeten noch weiter zu täuschen. Als jedoch der Übertritt Italiens zu den Alliierten offenkundig geworden war, liefen die deutschen Gegenmaßnahmen, der so-genannte „Fall Achse" an mit der Besetzung Roms und der Entwaffnung, Entlassung oder Gefangennahme der italienischen Truppen. Am 22. Januar 1944 landeten schließlich die Alliierten bei Anzio und Nettuno, um die Schlußphase des Krieges im Süden einzuleiten.

Zur gleichen Zeit waren die Vorbereitungen der Roten Armee zum Angriff auf die deutschen Linien in der Ukraine beendet. Auf der britisehen Insel war eine Streitmacht von annähernd einer Million Mann bereit, um in der Normandie zu landen und damit Deutschland eine dritte Front aufzuzwingen. Die Luftherrschaft hatte Deutschland schon seit einem Jahr verloren, und das Reichsgebiet war den alliierten Bomberverbänden offen preisgegeben. Der Krieg war in seinem Ausgang bereits entschieden. Deutschlands Gegner waren sich seit der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 ihres Sieges so sicher, daß der US-Präsident Roosevelt von Deutschland die bedingungslose Kapitulation fordern konnte. Der Übertritt Italiens zu den Alliierten konnte also den Kriegs-ausgang nicht mehr beeinflussen, sondern bestenfalls sein Ende beschleunigt herbeiführen. Die Worte Eisenhowers und Alexanders mit den Hinweisen auf die Folgen des italienischen Umschwenkens für die alliierten Operationen sind entweder nur auf das Landeunternehmen in Italien bezogen oder als eine freundliche Geste gegenüber den damals auf italienischer Seite handelnden Männern gemeint. Als Kriegsentscheidung haben sie den sogenannten „italienischen Verrat" ohnehin nicht betrachtet.

Der Einfluß des Verrats

Welchen Einfluß hatte nun der Verrat im Zweiten Weltkrieg überhaupt auf den Lauf der Geschehnisse genommen?

Fast man alle hier behandelten Spionagefälle zusammen, so muß festgestellt werden, daß den Kriegsgegnern Deutschlands verraten wurde: 1. Der Termin des deutschen Angriffs auf Polen 2. Deutschlands geplante Defensivstellung gegenüber Frankreich während des Polen-feldzuges 3. Der Termin des deutschen Angriffs auf Dänemark 4. Der Termin der deutschen Invasion auf Norwegen 5. Der genaue Angriffsplan der deutschen Armeen gegen Frankreich 6. Das genaue Datum des deutschen Angriffs auf Frankreich 7. Der Termin des deutschen Einmarsches in Rußland 8. Der Entschluß Japans, nicht in den deutsch-russischen Krieg einzugreifen und viele Einzelheiten über Stärke, Pläne und Bewegungen der deutschen Armeen.

Dieser ansehnliche Katalog von Spionagefällen könnte auf den ersten Blick dazu verleiten, dem Verrat im Zweiten Weltkrieg entscheidenden Anteil am Kriegsausgang zuzuschreiben, weil keine der wichtigen Operationen Deutschlands längere Zeit geheim blieb und gleich nach ihrer Planung den Gegnern übermittelt wurde, in mehreren Fällen sogar von zwei Seiten, also doppelt. Die Alliierten waren über alle wesentlichen Vorhaben und Kriegs-pläne Berlins schon vor deren Ausführung hinreichend informiert. Auf einem anderen Blatte aber steht, ob sie diese Informationen auch strategisch nutzten. Die Antwort auf diese Frage ist allein für unsere Untersuchung, ob Deutschland den Zweiten Weltkrieg durch Verrat verloren hat, von Bedeutung.

Wir stellten fest, daß von den acht oben angeführten schweren Verratsfällen sieben von den Gegnern Deutschlands entweder nicht für wahr-gehalten oder einfach ignoriert worden sind. Im achten Falle, der Meldung Sorges an Moskau, daß Japan nicht in den deutsch-russischen Krieg eintreten werde, ist die Reaktion der Sowjetunion nicht zweifelsfrei als Folge der Sorgeschen Agententätigkeit zu erkennen.

Die kriegsentscheidenden Gründe

Gewichtige Gründe sprechen dafür, daß die sowjetische Führung in erster Linie von weltpolitischen Gesichtspunkten und der veränderten militärischen Lage im Fernen Osten ausging, als sie ihre ostsibirische Armee von der russisch-japanischen Grenze abzog und ihrer Westfront als Verstärkung zuführte. Selbst wenn Sorges Mitteilungen den eigentlichen Anstoß für die russische TruppenVerschiebung gegeben hätte, so war der Krieg auch damals schon durch die zahlenmäßige Übermacht der Alliierten entschieden. Genaugenommen war der Zweite Weltkrieg für das Deutsche Reich bereits verloren, bevor er überhaupt begann. Die Kriegslage war mit dem Einmarsch und Sieg der deutschen Wehrmacht in Polen nur dem äußeren Schein nach für Deutschland günstig. Der Angriff auf Polen brachte Deutschland notwendig die Gegnerschaft Frankreichs und Großbritanniens ein. Mit England traten aber nicht nur die etwa 50 Millionen Briten in den Krieg gegen Deutschland, sondern ein ganzes Weltreich mit annähernd einer halben Milliarde Menschen, hinzu kam die moralische und materielle Unterstützung der Weltmacht USA. Seit dem Jahre 1941, da Hitler die Sowjetunion angriff und den Vereinigten Staaten von Amerika den Krieg erklärte, war das Gleichgewicht der militärischen Kräfte endgültig zuungunsten Deutschlands aufgehoben und damit der Krieg entschieden. Das Deutsche Reich stand seit jenem Jahre einem Weltreich, der größten Landmacht der Erde und der stärksten Industrienation der Welt in einem hoffnungslosen Mehrfrontenkrieg gegenüber.

In Zahlen ausgedrückt heißt das, daß den rund 9 500 000 deutschen und mit Deutschland verbündeten Soldaten 5 090 000 englische, 8 266 000 amerikanische und rund 13 000 000 sowjetische Soldaten gegenüberstanden (= 1 : 2, 7), daß die deutsche Rüstungsindustrie in den Jahren von 1939 bis 1945 etwa 98 000 Flugzeuge verschiedenen Typs produzierte (für sie aber zum Schluß keinen Treibstoff mehr in ausreichendem Maße besaß!), während Großbritannien ca. 87 000 und die Vereinigten Staaten 254 000 Flugzeuge herstellten und gegen Deutschland wirksam zum Einsatz brachten (= 1 : 3, 48).

Wie Lothar Gruchmann in seinem Buch „Der Zweite Weltkrieg" zutreffend hinweist, hatte allein die Rüstungsindustrie der Vereinigten Staaten bereits Ende 1942 die gemeinsame Produktion der drei Verbündeten Deutschland, Italien und Japan erreicht und zwei Jahre später, im Jahre 1944, sogar schon um das Doppelte überflügelt. In einem ähnlichen, für Deutschland ungünstigen Verhältnis standen sich die Produktionszahlen an Panzern gegenüber. Vermochte die deutsche Kriegswirtschaft in den Jahren 1942 und 1943 nicht mehr als insgesamt 29 000 gepanzerte Fahrzeuge verschiedener Klassen zu erzeugen, so brachte es die US-Produktion schon in der Anlaufzeit derselben Jahre auf 53 000 Stück. Mußte die deutsche Rüstungsindustrie wegen der sich ständig vermehrenden Zahl der Kriegs-gegner und ihrer Materialüberlegenheit von Jahr zu Jahr ihre Erzeugung steigern, so war die volle Ausrüstung der amerikanischen Streitkräfte trotz des Krieges im Fernen Osten bereits im Herbst 1943 erreicht und von diesem Zeitpunkt an nur noch die Fiersteilung des laufenden Ersatzes, verbesserter Waffentypen und die Befriedigung unvorhergesehener Sonderbedürfnisse erforderlich. Gruchmann schreibt über den Rüstungsstand der USA Ende 1943: „Um diese Zeit mußte sogar die Panzerproduktion gedrosselt werden (Produktion 1944 nur mehr 17 500 Stück), weil der amerikanisch-englische Bedarf gedeckt war und die Sowjets die Übernahme amerikanischer

Panzer ablehnten, da ihre eigene Panzerproduktion unterdessen befriedigend angelaufen war." 67a)

Auf allen Gebieten stand Deutschland also eine doppelte bis dreifache alliierte Übermacht gegenüber. Dazu kamen noch die oft militärisch widersinnigen Entscheidungen Hitlers, welche die deutsche Schlagkraft weiter empfindlich schwächten Bei einer derartigen Sachlage bedurfte es keines Verrats mehr, um den Krieg eindeutig zu entscheiden.

Die Spionage für Deutschland

Wenn man vom Verrat im Zweiten Weltkrieg spricht, dann darf man nicht vergessen, daß auch die deutsche Abwehr unter der Leitung so befähigter Männer wie Admiral Canaris und General Gehlen und der deutsche Geheimdienst während dieser Zeit nicht untätig blieben.

Paul Leverkuehn berichtet in seinem Buch „Der geheime Nachrichtendienst der Wehrmacht im Kriege" von der erfolgreichen Tätigkeit des deutschen Geheinmdienstes im Zweiten Weltkrieg. Die Erfolgsbilanz der deutschen Spionage reicht von der Aufklärung über Stärke und Planungen der polnischen Armee über die Erkundung der militärischen Maßnahmen der Dänen, Norweger, Belgier, Franzosen und Briten bis zum Funkspiel mit dem getäuschten englischen , Intelligence Service’, in welchem den Briten gefälschtes Material in die Hände gespielt und viele Agenten der Alliierten unschädlich gemacht wurden. Ferner gelang der deutschen Spionage-Abwehr die Ausschaltung von 54 feindlichen Agenten, die Sicherstellung von 15 000 Kilogramm Sprengstoff zur Vorbereitung von Sabotage-Akten, die Beschlagnahme von 3000 Maschinenpistolen, 300 Maschinengewehren, 200 Handgranaten, 75 Sendegeräten und über 500 000 Schuß Munition

Zu diesen Erfolgen der deutschen Nachrichten-und Spionageinformationen sind dann noch die wichtigen Geheiminformationen der Verräter im feindlichen Lager zu rechnen. Zu den bemerkenswertesten Spionen für Deutschland gehört neben dem in den USA operierenden Agenten „Gimpel" der Kammerdiener des britischen Botschafters in Ankara, genannt „Cicero". Er informierte die deutschen Stellen über die Pläne der Alliierten, die Griechenland und die Türkei betrafen. Der deutsche Nachrichtendienst erfuhr durch „Cicero", daß die von Churchill geplante Offensive über Saloniki nicht stattfinden werde, da die Türkei von den Alliierten nicht dazu gebracht werden konnte, 1944 Deutschland den Krieg zu erklären. Die deutsche Armeeführung konnte daher auf einen vorbeugenden Angriff auf die Türkei verzichten und war nicht genötigt, die dafür vorgesehenen 15 Divisionen von der im schweren Abwehrkampf stehenden Ostfront abzuziehen.

Eine der wichtigsten Nachrichten erhielt der deutsche Geheimdienst in der Meldung „Ciceros", daß die geplante alliierte Invasion in Nordfrankreich am 5. Juni 1944 beginnen werde. Der mißtrauische deutsche Spionage-dienst wollte „Cicero" nicht blindlings glauben und forderte zunächst einmal einige „Beweismeldungen", d. h. Nachrichten, die sich vorher auf ihre Richtigkeit kontrollieren lassen. „Cicero" lieferte die verlangten Beweise mit der zutreffenden Mitteilung über den Zeitpunkt der alliierten Bombardierung Sofias.

Aber genau wie Paul Thümmel und Richard Sorge und die vielen anderen Agenten mit ihren hochwichtigen und richtigen Informationen bei ihren jeweiligen Zentralen entweder keinen Glauben oder überhaupt keine Beachtung fanden, vermochte auch „Cicero" trotz der gelieferten Beweise die verantwortlichen deutschen Stellen nicht von der Richtigkeit seiner Mitteilung zu überzeugen

Vorbehalte gegen Spionage

Untersucht man die Gründe für die vorsichtige bis ablehnende Haltung der Verantwortlichen gegenüber den Mitteilungen von Spionen, so findet man auch die zwingende Erklärung für die Frage, warum Verrat nie kriegsentscheidende Bedeutung erlangen kann.

Die stets gegebene Möglichkeit, einem soge-nannten „umgedrehten Agenten", d. h. einem für die eigenen Dienste gewonnenen früheren Feindagenten oder umgekehrt oder „Spielmaterial" der Gegenseite zum Opfer zu fallen, gibt Veranlassung genug, sich in kriegsentscheidenden Operationen nie allein auf Verrat und Spionage zu verlassen. Das Risiko einer gekonnten — und oft genug durchgeführten — Täuschung erscheint einfach zu groß. Keine verantwortungsbewußte Regierung oder Armeeführung wird sich auf ein derartiges unkontrollierbares Vabanque-Spiel einlassen. Die Erfahrungen mit Doppelagenten und die Pannen im Funkverkehr lassen es den zuständigen Stellen angezeigt erscheinen, Spionage und Verrat nie höher zu bewerten als einen hilfreichen Beitrag, eine lokale Operation schneller als sonst möglich zu einem erfolgreichen Ende zu führen.

Gute eigene Planung, Überlegenheit an Menschen und Material, Vorteile durch Raum und Zeit, gesicherte Rüstungsproduktion und Rohstoffzufuhr sind sicherere und bessere Garantien für einen siegreichen Kriegsverlauf als die größte und beste Spionagetätigkeit mit ihren offenkundigen Risiken. Das bewies gerade der Zweite Weltkrieg am deutlichsten. Auf sie vertrauten und bauten die Kriegsgegner Deutschlands, allen voran die Sowjetunion, welche in Richard Sorge bis zum Schluß einen Doppel-agenten fürchtete und ihm daher mit dem nötigen Mißtrauen begegnete. Sorges Erklärung vor den japanischen Untersuchungsbehörden, „sein Ziel sei es gewesen, den Frieden zwischen Japan und der Sowjetunion zu bewahren", vermochte das sowjetische Mißtrauen nicht zu zerstreuen. Erst als erwiesen war, daß Sorge tatsächlich aus Überzeugung nur für den Kommunismus gearbeitet hat, entschloß sich der Kreml zu einer großen posthumen Ehrung, der Ernennung Richard Sorges zum „Helden der Sowjetunion".

Deutschland wurde nicht verraten

Es bleibt daher nach Würdigung aller greifbaren Spionagefälle nur die eine Feststellung: Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg nicht wegen des vielfachen und großen Verrats verloren, sondern aus ganz anderen, oben aufgezeigten Gründen. Die Autoren der Spionagebücher bis hin zu Oscar Reile verfallen bei allem anerkennenswerten Bemühen, objektive Darstellungen zu bringen, doch immer wieder einem psychologisch verständlichen, nichtsdestoweniger doch gefährlichen, weil die Geschichte verfälschenden Fehler: sie ziehen aus den aufgedeckten Verratsfällen eigenmächtig Folgerungen, indem sie den Verrat zur alleinigen Ursache für die deutschen Niederlagen erklären. Daß diese Kausal-verbindung willkürlich bzw. falsch ist, beweist der Verrat Thümmels, der keinen einzigen deutschen Sieg im Westen verhindern half.

Der für die „Verrats-Theorie" gern herangezogene Generaloberst Frießner schreibt in seinem Buche „Verratene Schlachten" aber nicht nur vom Verrat Rumäniens und Ungarns gegen Ende des Krieges, er stellt auch objektiv fest: „Wenn auch soldatischer Geist und gründliche Ausbildung die elementaren Voraussetzungen für eine erfolgreiche Kriegführung sind, so darf doch die Zahl als wichtige Komponente nicht unterschätzt werden. Sonst stimmt die Rechnung nicht, und sie hat im letzten Krieg in keiner Weise gestimmt. Besonders die Ostfrontkämpfer waren das Opfer einer überheblichen und gewissenlosen Unterschätzung des Gegners."

Zur Übermacht an Menschen kam im letzten Krieg noch die absolute zahlenmäßige Überlegenheit an Waffen und Munition, über welche die Gegner Deutschlands verfügten. Hans Frießner schreibt darüber zutreffend: „Was von der Bewertung der Zahl der Kämpfer und ihrem Einsatz gilt, hat auch für die Zahl und Güte der Waffen sowie aller Kampf-und Versorgungsmittel zu gelten. Es wird die Truppe auch bei bester Kampfmoral stets unterlegen bleiben, wenn sie sich einer so überwältigenden Überlegenheit an Menschen und Material gegenübersieht, wie wir es im letzten Krieg erlebt haben. Es nützen aber auch die besten Waffen und das bestausgebildetste Personal nichts, wenn im entscheidenden Augenblick die notwendige Munition fehlt. Auch das war bei uns leider oft der Fall."

So wurde der Krieg nicht, wie viele Sensationsliteraten glauben machen wollen, durch Verrat gewonnen oder verloren, sondern durch Hitlers unverantwortliche Politik, sich mit allen Groß-und Weltmächten anzulegen, und seine folgenreichen schweren militärischen Fehler (Verzettelung der deutschen Kräfte bei Offensiven, sinnloses Hinhalten und Durchhalten in der Verteidigung, ständiges Hineinreden in die Armee-und Truppenführung) sowie durch die Überlegenheit der zahlreichen Kriegsgegner, die kluge Kriegführung der alliierten Heerführer und die Übermacht an Waffen und Munition entschieden. Diese Tatsache würdigt auch der letzte deutsche Wehrmachtsbericht vom 9. Mai 1945, in dem es heißt: „Die Deutsche Wehrmacht ist am Ende einer gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen." Bei dieser Feststellung sollte es auch bleiben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Z. B. H. Härtle, Freispruch für Deutschland, Göttingen 1965, oder U. Walendy, Wahrheit für Deutschland, Vlotho 1965.

  2. Darin folgen sie ihrem Sprachrohr, der „Nationalzeitung" in München.

  3. Accoce-Quet, La Guerre a t gegne en Suisse, Paris 1966.

  4. Accoce-Quet haben manches von ihren Behauptungen inzwischen zurückgenommen.

  5. Vgl. S. 15 f.

  6. Wilhelm v. Schramm, Verrat im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf—Wien 1967, S. 9.

  7. Oscar Reile, Macht und Ohnmacht der Geheimdienste, München—Wels 1968, S. 271.

  8. W. v. Schramm, a. a. O., S. 16.

  9. Vgl. O. Reile, a. a. O., S. 271.

  10. W. Schramm, a. a. O., S. 23.

  11. Ders., ebd. S. 30.

  12. O. Reile, a. a. O., S. 278.

  13. Ders., ebd., S. 280.

  14. Alexander Foote, Handbuch für Spione, Darmstadt 1954.

  15. Vgl. A. Foote, a. a. O.

  16. Ders., ebd.

  17. Vgl. Gert Buchheit, Verräter im Führerhauptquartier, in: Christ und Welt vom 10. März 1967.

  18. W. Schramm, Verrat im Zweiten Weltkrieg, S. 30.

  19. O. Reile, Macht und Ohnmacht der Geheimdienste, S. 279.

  20. F. W. Deakin u. G. R. Storry, Richard Sorge — Die Geschichte eines großen Doppelspiels, München 1965.

  21. O. Reile, a. a. O„ S. 285/86.

  22. Deakin u. Storry, Richard Sorge, S. 246/47.

  23. Vgl. Alan S. Milward, Hitlers Konzept des Blitz-krieges, in: Probleme des Zweiten Weltkriegs, hrsg. v. Andreas Hillgruber, Köln-Berlin 1967, S. 19— 40.

  24. Vgl. Deakin u. Storry, a. a. O., S. 246.

  25. Vgl. Deakin u. Storry, a. a. O., S. 255.

  26. Dies., ebd., S. 255.

  27. John Erickson, Kriegsvorbereitungen der Sowjetunion 1940/41, in: Probleme des Zweiten Weltkrieges, hrsg. v. Andr. Hillgruber, Köln-Berlin 1967, S. 92.

  28. J. Erickson, a. a. O., S. 92— 93.

  29. Vgl. N. P. Wjunenko, Chernomorskii Flöt v Velik Otecest Voine, Moskau 1957, S. 27.

  30. J. Erickson, a. a. O., S 93.

  31. Vgl. Deakin u. Storry, Richard Sorge, S. 257.

  32. Vgl. Deakin u. Storry, a. a. O., S. 425.

  33. Vgl. O. Reile, Macht undOhnmacht der Geheimdienste, S. 286.

  34. W. Schramm, Verrat im Zweiten Weltkrieg, S. 100.

  35. Auf „Ciceros" Verrat wird noch später einzugehen sein.

  36. Vgl. . Maurice Matloff und Edwin M. Snell, Strategische Planungen der USA 1940/41, in: Hillgruber, Probleme des Zweiten Weltkrieges, S. 56 ff.

  37. Gegen Ende der Untersuchung werden wir darauf zurückkommen.

  38. Vgl. W. F. Flicke, Rote Kapelle, München 1958 3.

  39. O. Reile, a. a. O„ S. 262.

  40. W. Schramm, a. a. O., S. 110.

  41. Vgl. Schlußprotokoll des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD IV A 2 — B Nr. 330/42 g. Rs., 22. Dezember 1942 und W. Schellenberg, Memoiren, Köln 1959.

  42. Hans-Adolf Jacobsen, Zur Schlacht von Stalingrad, in: Probleme des Zweiten Weltkriegs, hrsg. v. A. Hillgruber, S. 147.

  43. Vgl. Henri Michael in: Der Zweite Weltkrieg in Bildern und Dokumenten, hrsg. v. H. Dollinger und H. -A. Jacobsen, III. Band, München 1962, S. 181.

  44. Alfred Philippi und Ferdinand Heim, Der Feldzug gegen Sowjetrußland 1941— 1945, Stuttgart 1962, S. 208.

  45. Die Gruppe wurde von Oberregierungsrat Dr. jur. und Dr. phil. Arvid Harnack geleitet.

  46. Sie wurde von Rudolf v. Scheliha, Legationsrat I. Klasse im AA, geführt.

  47. DER SPIEGEL vom 28. 3. 1966, S. 78.

  48. Rudolf Ströbinger, A /54 — Spion mit drei Gesiebtem, München 1966.

  49. Ders., a. a O., S. 183. Der Angriffstermin wurde dann wegen der Ereignisse auf dem Balkan um einige Wochen verschoben. Thümmel hatte das richtige Datum.

  50. Vgl. H. -A. Jacobsen — H. Dollinger, Der Zweite Weltkrieg in Bildern und Dokumenten, I. Bd. München 1962, S. 70.

  51. Dies, ebd., S. 67.

  52. Dieselbe Mitteilung erhalten die betroffenen Staaten auch noch von einem Spion in Rom, lassen sie aber ebenfalls unbeachtet; so wenig gab man auf Spionagemeldungen und Verrat.

  53. Vgl. R. Ströbinger, A/54, S. 153/54.

  54. Ders. ebd., S. 1 (Umschlagseite).

  55. Vgl. DER SPIEGEL, Nr. 4, vom 16. 1. 1967, S. 30 ff.

  56. DER SPIEGEL, ebd., S. 30/31.

  57. DER SPIEGEL, Nr. 4, vom 16. 1. 1967, S. 31. Der gleichen Ausgabe sind auch die zitierten Funksprüche aus Moskau über „Werthers''unzutreffende Meldungen entnommen.

  58. W. Schramm, Verrat, S. 173.

  59. H. Frießner, Verratene Schlachten, Hamburg 1956, und P. Carell, Verbrannte Erde. Schlacht zwischen Wolga und Weichsel, Berlin 1966.

  60. Text in: Der Zweite Weltkrieg, I. Bd., S. 468.

  61. Vgl. Werner Brockdorff, Geheimkommandos des Zweiten Weltkriegs, München 1967.

  62. Vgl dazu Richard Collier, Zehntausend Augen, Stuttgart 1960.

  63. Vgl. Olav Herfeldt, Schwarze Kapelle — Spionagefall Berlin-Vatikan, München 1960.

  64. O. Reile, Macht und Ohnmacht der Geheimdienste, S. 63. Durch diese zutreffende Interpretation der Motive von Admiral Canaris ist gleichzeitig klargestellt, daß es sich beim deutschen Abwehrchef nicht um einen Landesverräter handelte.

  65. O. Herfeldt, a. a. O., S. 222.

  66. Vgl. Peter Tompkins, Verrat auf italienisch — Italiens Austritt aus dem Zweiten Weltkrieg, München-Wien 1967.

  67. Vgl. Lothar Gruchmann, Der Zweite Weltkrieg — Kriegführung und Politik, dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts Band 10, München 1967.

  68. Die verlorene Schlacht um Stalingrad kann als eindringlichster Beweis gelten.

  69. P. Leverkuehn, Der geheime Nachrichtendienst der Wehrmacht im Kriege, Frankfurt 1964.

  70. Ders., ebd., S. 58.

  71. Nähere Einzelheiten können bei Gert Buchheit, Der deutsche Geheimdienst — Geschichte der militärischen Abwehr, München 1966, nachgelesen werden.

  72. Vgl. Elyesa Bazna, Ich war Cicero, ausgezeichnet von Hans Nogly, München 1964.

  73. H. Frießner, Verratene Schlachten, S. 227.

  74. Ders., ebd., S. 227/28.

Weitere Inhalte

Alfred Schickel, Dr. phil., Oberstudienpräfekt und Lehrer für Geschichte und Sozial-kunde in Ingolstadt, geb. am 18. Juni 1933 in Aussig/Elbe, 1959— 1960 Landesvorsitzender der christlich-sozialen Studenten in Bayern, mehrere Veröffentlichungen zu historischen und politischen Fragen.