Die Geburtsstunde des Bundesstaates ist zugleich die Geburtsstunde der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit. Als sich das amerikanische Volk in den Jahren 1787— 1789 eine geschriebene Verfassung gab, die die Errichtung eines Bundesstaates konzipierte, wurde erstmals die Einsetzung eines Obersten Gerichtshofes (Supreme Court) vorgesehen, zu dessen vornehmlichster Aufgabe es gehören sollte, bei einem Kompetenzkonflikt zwischen Bund und Einzelstaaten dem Willen der Bundesverfassung verbindlich Geltung zu verschaffen. Diesem historischen Vorbild sind eine Reihe späterer bundesstaatlicher Konzeptionen — wie die Österreichs, der Schweiz, in Deutschland die der Weimarer Republik und vor allem die der Bundesrepublik, in den Commonwealth-Ländern die Australiens und Kanadas — in mehr oder weniger enger Anlehnung gefolgt
In den USA stellte sich jedoch bereits frühzeitig die prinzipielle Frage, ob sich nach der gegebenen Verfassung die Kontroll-und Entscheidungsbefugnisse der Bundesgerichte lediglich auf Akte der Einzelstaaten erstrecken oder ob ihr auch Bundesakte unterworfen sind. Konkret gesprochen: Verfügt der Supreme Court der USA, dessen Mitglieder vom Präsidenten mit Zustimmung des Senats auf Lebenszeit ernannt werden, über die Befugnis, Gesetze, die vom „demokratisch" gewählten Kongreß verabschiedet wurden, bei einem anhängigen Streitfall daraufhin zu überprüfen, ob sie mit der Verfassung vereinbar sind und widrigenfalls ganz oder teilweise für nichtig und darauf beruhende Exekutivakte für rechtsunwirksam erklären zu können?
Im berühmten Streitfall Marbury v. Madison vom Jahre 1803
Obwohl sich diese Auffassung nach langen und teilweise erbittert geführten Auseinandersetzungen durchgesetzt hat und im heutigen demokratischen Regierungssystem der USA als akzeptierter Verfassungsgrundsatz gilt, wird sie dennoch auch und gerade in der Gegenwart immer wieder mit wechselnder Intensität sowohl prinzipiell wie hinsichtlich ihrer konkreten Auswirkungen zur Diskussion gestellt
I. Der Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeil.
Die gegenwärtigen amerikanischen Diskussionen zur Rolle des Supreme Court im demokratischen Entscheidungsprozeß der USA beziehen sich keineswegs lediglich auf die mangelhafte Präzision der geschriebenen Bundesverfassung. Sie können vielmehr zugleich aul ein reiches Erfahrungsmaterial zurückgreifen, das die nun fast 180jährige Gerichtstätigkeit produzierte — ein Material, das nicht nur Entscheidungen und deren politische Auswirkungen sowie den reichen Schatz an Urteilsbegründungen der Gerichtsmehrheit umfaßt, vielmehr auch jene zahlreichen Voten der in der Minderheit verbliebenen Richter, die in mitunter höchst scharfkritischer und belehrender Sprache öffentlich dartun, warum es ihnen nicht möglich war, sich der Mehrheitsentscheidung des Gerichts anzuschließen. Gerade diese vielzitierten abweichenden Richtervoten spielen in der amerikanischen Verfassungsdiskussion eine sehr bedeutsame Rolle und tragen zu deren Lebendigkeit und Fruchtbarkeit wesentlich bei
Die deutsche Diskussion unserer Tage über Rolle und Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik verläuft demgegenüber bereits unter den genannten drei Gesichtspunkten — Eindeutigkeit des Verfassungstextes, Entscheidungsvolumen und öffentliche Richtervoten — in einem erheblich andersgearteten Kontext
Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu denjenigen Staaten, in denen (nach Mosler)
„seit dem Zweiten Weltkrieg der Gedanke der Verfassungsgerichtsbarkeit einen Aufschwung nahm, der bis dahin außerhalb der realisierbaren Möglichkeit gelegen hatte" G). Dieser Aufschwung war vor allem durch jene Länder bewirkt worden, die nach den bitteren Erfahrungen totalitären Machtmißbrauches danach strebten, eine rechtsstaatlich gesicherte Demokratie zu errichten: Österreich, das mit der Wiedereinsetzung des Verfassungsgerichts seine republikanische Verfassung der Vorkriegszeit wiederherstellte, Italien, Japan und seit 1949 mit den umfassendsten Konsequenzen die Bundesrepublik Deutschland.
Andere Länder folgten, unter ihnen Zypern und die Türkei. Selbst ein kommunistischer Staat machte sich mit dem Gedanken der Verfassungsgerichtsbarkeit vertraut: Die neue Bundesverfassung Jugoslawiens vom
Diesen triumphalen Siegeszug der Verfas-sungsgerichtsbarkeit im modernen demokratischen Rechtsstaat hat bisher niemand in höheren Lobestönen besungen als der österreichische Rechtsgelehrte Rene Marcic, der sein 1963 erschienenes Buch „Verfassung und Verfassungsgericht" mit den Worten ausklingen läßt: „Das Verfassungsgericht ist Hüter der Verfassung, Wächter aller Rechtswege, Hirte der Rechtsgenossen, die einen Staatsverband bilden. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist Hut des Vorrangs der Verfassung, sie ist die Mitte des Gegenwartsstaates, weil sie die Haupt-und Grundwerte verwirklicht, denen die Menschen sich verschrieben haben: Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Gemeinwohl, Herrschaft des Rechts, Vorherrschaft der Verfassung — und Friede, der bloß als Werk des Rechts gesichert ist."
Friedrich Gieses Feststellung, die Verfassungsgerichtsbarkeit gelte heute als Krönung des Rechtsstaates
II. Mehrheitsherrschaft und Minderheitsrechte
Die These, Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie, insbesondere gerichtliche Normenkontrolle und demokratischer Entscheidungsprozeß, seien miteinander vereinbar, ja sie bedingten (und potenzierten) einander, setzt ein bestimmtes Demokratieverständnis voraus. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Frage, welche prinzipielle Bedeutung dem Postulat der Mehrheitsherrschaft zugesprochen wird. Gilt es nicht nur als maßgebliches Verfahrensprinzip des Entscheidungsprozesses, sondern als essentielles Definitionsmerkmal der Herrschaftsform (Demokratie gleich Volksherrschaft im Sinne von absoluter Mehrheitsherrschaft), so sind Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie miteinander schlechthin unvereinbar. Das Postulat absoluter Mehrheitsentscheidung impliziert die Identität von Gesetzgeber und Verfassungsgeber. Wird hingegen eindeutig zwischen „Verfassungsgesetzgeber" und „einfachem Gesetzgeber" (pouvoir constituant und pouvoir constitue) sowie zwischen höherrangigen und niederen Normen unterschieden — verbunden mit der Forderung, daß die höheren Normen (Verfassung) im Konfliktsfalle den niederen (Gesetze) unbe-dringt vorgehen, und die höheren Normen nur einer qualifizierten Mehrheit (in der Regel einer Zwei-Drittel-Mehrheit, der sogenannten „verfassungsändernden Mehrheit") zur Disposition stehen —, so wird damit das strenge Prinzip absoluter Mehrheitsentscheidung aufgegeben. Denn eine Zwei-Drittel-Mehrheit kann nur dann entscheiden, falls die Minderheit auf ein entsprechendes Minimum beschränkt bleibt. Beträgt diese Minderheit demnach mehr als ein Drittel der erforderlichen Stimmen, so verfügt sie über das Entscheidungsresultat. De facto liegt hier demnach ein Fall von „Minderheitsherrschaft" vor. Daran ändert auch der Einwand wenig, diese Minderheit könne zwar mit ihrem Vetorecht der Mehrheit wirksam den Entscheidungserfolg streitig machen, nicht hingegen selbst Entscheidungen erzwingen. Denn tatsächlich hat sich im vorliegenden Falle die Minderheit der Mehrheit gegenüber politisch durchgesetzt, indem sie die Mehrheit daran hinderte, den Status quo zu ändern
Ein Volk, das seine Verfassung nach den skizzierten Grundsätzen ausrichtet und deren Konsequenzen respektiert, wendet sich damit gegen das Postulat absoluter Mehrheitsherrschaft. Es bekennt sich vielmehr zur primären Geltung des Prinzips politischer Gleichheit und damit zum Grundsatz des Minderheitsschutzes
Hinsichtlich der bisher skizzierten Problematik hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eindeutige Grundentscheidungen getroffen: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden", heißt es in Art. 20, Abs. 3 GG. Diese „verfassungsmäßige Ordnung" — in ihrem Kernbereich definiert als „freiheitlich demokratische Grundordnung" — konzipiert kein bloßes Organisationskonzept, sie postuliert vielmehr eine wertgebundene Ordnung. Ausgehend von der Deklaration der Unantastbarkeit menschlicher Würde und dem Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten formuliert das GG einen Grundrechtskatalog, welcher sowohl die gesetzgebende und vollziehende als auch die rechtsprechende Gewalt als unmittelbar geltendes Recht bindet (Art. 1 GG) — ein revolutionärer Akt in der deutschen Verfassungsgeschichte.
Das Grundgesetz bleibt aber nicht dabei stehen. Indem es in Art. 79 GG diese in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze (d. h. die Grundrechtsbindung und die freiheitlich demokratische Grundordnung, die zusammengenommen gleichsam das Allerheiligste der demokratisch rechtsstaatlichen Verfassung ausmachen) der Verfassungsänderung entzieht, macht es das Grundgesetz insoweit dem Verfassungsgeber selbst unmöglich, dem einzelnen wie der Minderheit die entscheidenden Freiheitsund Mitwirkungsrechte vorzu-enthalten — ein revolutionärer Akt in der Verfassungsgeschichte überhaupt.
III. Zur Diskussion um den „Hüter der Verfassung"
Wer aber soll nun der „Hüter" dieser anspruchsvollen Verfassung sein? Wer soll vor allem dem Gesetzgeber wehren, wenn dieser — gewollt oder ungewollt — den Grundentscheidungen der Verfassung und ihren Rege-hingen nicht entspricht und sie verletzt? Letztlich ist dazu niemand anderes als das „Volk" selbst berufen. Jeder Bürger sollte sich demnach seiner Pflicht, als „Hüter der Verfassung" zu fungieren (insbesondere bei seiner Stimmabgabe in den Wahlen), bewußt sein. Das Volk ist der oberster Hüter seiner Verfassung.
Damit ist das aufgeworfene Problem indes noch nicht gelöst. Es bleibt die zentrale Frage nach dem Repräsentativ-Organ, das im Auftrage der Volkes innerhalb des staatlichen Ordnungsgefüges die Funktionen eines Ver-fassungswahrers und -hüters auszuüben hätte. Grundsätzlich ist sicherlich jede staatliche Institution hierzu verpflichtet, vor allem die obersten Verfassungsorgane; nach dem Grundgesetz also der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung, der Bundespräsident und das Bundesverfassungsgericht
Diese Frage nach dem obersten Hüter der Verfassung unter den staatlichen Organen hatte bereits in der Weimarer Republik zu heiß umstrittenen Auseinandersetzungen geführt. Im Jahre 1927 bezeichnete der Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches sich selbst als „Hüter der Verfassung"
Die Verfasser des Grundgesetzes haben sich auch aus diesen Erfahrungen heraus für ein anderes „Hüteramt" entschieden. Sie schufen ein Bundesverfassungsgericht, das im Rahmen seiner Kompetenzen mit der Funktion eines „obersten Verfassungshüters" betraut wurde
Das Bundesverfassungsgericht ist damit im Rahmen seiner weitreichenden Kompetenzen, insbesondere dank seines umfassenden Nor-menkontrollrechts, in den politischen Prozeß eingeflochten. Es fungiert insoweit de facto als eine politische Gewalt, als Teilhaber am politischen Entscheidungsprozeß. Seine Teilhabe ist allerdings keineswegs ungebunden und völlig eigenem Ermessen überlassen. Vielmehr haben sich auch die Verfassungsrichter bei einer anhängigen Streitsache prinzipiell allein mit der Frage der verfassungsgewollten Rechtmäßigkeit und nicht mit der der politischen Zweckmäßigkeit zu befassen. Alle Rechtsentscheidungen tragen aber auf mehr oder weniger bedeutsame Weise zur Regulierung sozialer Konflikte und Interessengegensätze bei. Es ist daher unvermeidlich, daß derartige Entscheidungen — je nach Sachlage mit unterschiedlicher Erheblichkeit — mit politischen Konsequenzen verbunden sind. Für keine Art von Streit-entscheidungen gilt dies so uneingeschränkt wie für verfassungsrechtliche. Sie tangieren in besonderem Ausmaße das öffentliche Interesse.
Rechtliche Konfliktregelung erweist sich demgemäß als eine spezielle, rational humanisierte Form politischer Konfliktregelung. Je gravierender die Machtkonflikte sind, die im Gewände von Rechtskonflikten zur Entscheidung anstehen, desto deutlicher wird das potentielle Spannungsverhältnis zwischen Zweckmäßigkeit und Rechtmäßigkeit zu einem politischen Problem. Wer von der Zweckmäßigkeit und „Richtigkeit" seiner Handlungen überzeugt ist, wird im Streitfall deren Rechtmäßigkeit möglicherweise anders beurteilen als derjenige, der auf Grund seiner konträren Interessen
Position die behauptete Zweckmäßigkeit und Sachnotwendigkeit, vehement bestreitet. Es ist keineswegs immer leicht, die Grenze zwischen Zweckmäßigkeit und Rechtmäßigkeit eindeutig zu ziehen. Gerade bei gewichtigen Machtkon-flikten — und es sind in der Regel solche, mit denen sich ein Verfassungsgericht zu befassen hat — stehen die Bundesverfassungsrichter in einer hohen Verantwortung. Oft genug läßt sich solch ein Fall kaum allein auf Grund logischer Deduktionen und durch Anwendung präziser Rechtskategorien entscheiden, sondern verlangt nach folgenreicher Wertabwägung.
Wohl hat ein Verfassungsgericht prinzipiell über die Rechtmäßigkeit und nicht über die politische Zweckmäßigkeit einer anhängigen Streitsache zu befinden. Das besagt jedoch nicht, daß es völlig darauf verzichten kann und darf, die politischen Folgen seiner Entscheidungen zu bedenken und hinreichend in Rechnung zu stellen.
Das Bundesverfassungsgericht ist sich dieser Problematik offensichtlich deutlicher bewußt als dies — einigen seiner Verlautbarungen nach — beim Staatsgerichtshof der Weimarer Republik der Fall war. In einer Urteilsbegründung vom 17. Dezember 1927 erklärte der Staatsgerichtshof, er begreife sich als „ein Gericht, das über verfassungsrechtliche Streitigkeiten nach Rechtsgrundsätzen zu entscheiden hat. Die Ergebnisse, zu denen er auf Grund des von ihm anzuwendenden objektiven Rechts gelangt, hat er auszusprechen, ohne die politischen Folgen seines Spruches in Betracht ziehen zu dürfen."
Der erste Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hermann Höpker-Aschoff, bekannte demgegenüber bei seiner Ansprache zur Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts am 28. September 1951: „Das Bundesverfassungsgericht muß sich bei seinen Entscheidungen der politischen Folgen seiner Entscheidungen bewußt bleiben ... und darf auch der Frage nicht ausweichen, ob nicht durch seine Entscheidungen ein gesetzloser Zustand herbeigeführt werden kann, der eine Gefahr für die* freiheitlich demokratische Grundordnung des Staates bedeutet."
Der Verfassungsrichter muß nicht nur ein qualifizierter Rechtskenner sein, er sollte sich auch als Staatsmann erweisen und bewähren. Dabei hat allerdings — wie der jetzige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Gebhard Müller, bei seiner Amtseinführung im Jahre 1959 hervorhob — gerade der Richter als Staatsmann zu bedenken, daß „der Satz fiat justitia, pereat mundus'zu vieldeutig und zu gefährlich ist, als daß er nicht durch die Erkenntnis ersetzt werden müßte: si fit justitia, vivit mundus"
Zu den schwierigen Aufgaben des Verfassungsgerichts gehört es, im Blick auf die Sicherung und Förderung der freiheitlich demokratischen Grundordnung die je gegebenen und im Verfassungswandel immer wieder in neuen Konstellationen aufbrechenden Spannungen zwischen Rechtssatz und Wirklichkeit verringern zu helfen, den Grundrechten Neuland zu erschließen (wobei sich der Gleichheitssatz als Kernproblem erweist), den demokratischen Entscheidungsprozeß offenzuhalten, den sozialen Frieden sichern zu helfen und damit sowohl als Bewahrer wie Gestalter der Rechtsordnung im Gemeinwesen integrierend zu wirken.
Es ist die aus geschichtlicher Erfahrung resultierende Grundentscheidung für eine rechts staatliche Demokratie, die die Verfasser des Grundgesetzes veranlaßte, ein Richtergremium mit dieser Aufgabenfülle zu betrauen. Dieses Richtergremium unterliegt jedoch nicht nur einer funktionsimmanenten Kontrolle, indem es seine Entscheidungen in rechtlich relevanter Form zu fällen und zu begründen hat. Es unterliegt auch demokratischen Kontrollen, die das unabhängige Richtergremium daran hindern sollen, sich auf Grund seiner Kompetenzfülle und mangels notwendiger Selbstbeschränkung als Superlegislative zu etablieren. Die Kontrolle erfolgt einmal dadurch, daß die geschriebene Verfassung — etwa im Falle allzu kühner Interpretation vieldeutiger Verfassungsbestimmungen seitens des Bundesverfassungsgerichts — mit entsprechend qualifizierter Mehrheit geändert bzw. präzisiert werden kann. Diesem Zweck soll zum anderen auch das Recht demokratisch kontrollierter Richter-ernennung sowie die dem einfachen Gesetzgeber zustehende Möglichkeit dienen, weitreichende Regulierungsbefugnisse auf dem Wege der Verfassungsgerichts-Gesetzgebung wahrzunehmen. Auf Grund dieser Befugnisse können u. a. Größe, Struktur, Verfahrensweisen und gewisse Kompetenzen des Gerichts (in der Bundesrepublik z. B. die Entscheidungsbefugnis über Verfassungsbeschwerden)
Vor allem aber findet die Verfassungsgerichtsbarkeit im entscheidenden Konfliktsfalle ihre Grenzen an der Bereitschaft der übrigen Teilhaber des demokratischen Entscheidungsprozesses, den Gerichtsentscheidungen die gebührende Beachtung zu zollen. Denn Glanz und Elend der Verfassungsgerichtsbarkeit in einer Demokratie sind letztlich bestimmt durch die Autorität, die das Gericht auf Grund der Über-Zeugungsfähigkeit seiner Entscheidungen im Gemeinwesen zu gewinnen vermag.
IV. Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratisches Informationsverlangen
Das Bundesverfassungsgericht genießt in der Bundesrepublik zweifellos ein sehr hohes Maß an Autorität. Seine Entscheidungen zum Grundgesetz bilden den wichtigsten Kommentar zur bestehenden Rechtsordnung
Dennoch ist es eine sehr ernsthafte Frage, ob der Glanz hoher Autorität, der das Bundesverfassungsgericht umgibt, nicht teuer erkauft ist, weil für ihn ein Preis gezahlt wird, der in einer entwickelten Demokratie, will sie ein Gemeinwesen mündiger Bürger sein, nicht ohne schwerwiegende Bedenken entrichtet werden sollte. Die Redewendungen „die da in Bonn" und „ja, wenn Karlsruhe nicht wäre" verweisen auf die Problematik. Steht doch dahinter letztlich die grobe Pauschalformel: in Bonn wird mehr oder weniger schmutzige Politik gemacht, in Karlsruhe hingegen wird dem reinen Recht gedient. Politik und Recht sind wesensverschieden; die Politik ist allein in Bonn, das Recht allein in Karlsruhe beheimatet.
Sachbegründeter Argwohn und kritische Wachsamkeit sind allen staatlichen Organen, allen Machthabern gegenüber wohl angebracht. Das sollte auch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht gelten. Uber Bonn wird die Öffentlichkeit vergleichsweise gut unterrichtet. Die dort wirkenden Akteure sind bekannt, ihre Handlungen unterliegen weitgehend öffentlicher Kontrolle, die unterschiedlichen Auffassungen, die konträren Entscheidungspositionen werden deutlich gemacht. Sollte diese öffentliche Präsentation, dieses Sich-stellen-Müssen nicht auch und besonders von einer Instanz verlangt werden, die in so eminenter Weise am politischen Prozeß beteiligt ist, so grundlegend auf ihn einwirkt, wie das beim Verfassungsgericht in seiner Eigenschaft als „Hüter der Verfassung" der Fall ist? Beruht nicht der Respekt einer Instanz gegenüber, deren Amtsinhaber fast völlig unbekannt sind und deren interne Entscheidungskontroversen unter Ausschluß der Öffentlichkeit registriert werden, letztlich auf einer höchst fragwürdigen, gerade im Krisenfall möglicherweise wenig zuverlässigen Autoritätsgläubigkeit? Der Richter lediglich „la bouche des lois"? Recht und Robe als Symbole vollkommener Neutralität? Das Verfassungsgericht (in seiner Symbolfunktion als „pouvoir neutre") das republikanische Surrogat der Krone? Wird ohne hinreichende Vertrautheit mit einer Institution und ihrer Problematik die Wahrnehmung einer effektiven, rational motivierten Kontrolle nicht sehr erschwert? Muß sich nicht ein — aller Unkenntnis zum Trotz — allzu willig und unkritisch gezollter Respekt gegenüber dem Bundesverfassungsgericht als bedenklich erweisen?
In der vergleichenden Betrachtung gerade dieser Fragen wird der bedeutsame Unterschied zwischen der Position und Rolle des Supreme Court im amerikanischen Regierungssystem und der Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts im System der Bundesrepublik besonders augenscheinlich.
Der Supreme Court hat „selbstverständlich" seinen Sitz in Washington, direkt dem Kongreß gegenüber. Die Richter sind weiten Kreisen der Bevölkerung wohl bekannt. Sie haben sich bei jeder Gerichtsentscheidung öffentlich zu bekennen und das Recht, ihre zustimmenden oder abweichenden Voten öffentlich zu begründen. Sie machen damit deutlich und schärfen Einsicht und Bewußtsein dafür, daß auch Rechtsprechung Menschenwerk ist, daß gerade der Verfassungsrichter oft genug zwischen Alternativen zu wählen hat, die sowohl hinsichtlich ihrer Rechtsbegründung wie in der Darlegung ihrer jeweils als möglich antizipierten politischen Folgewirkungen höchsten Respekt abverlangen.
Der Supreme Court hat auf Grund dieser Verfahrensweise (Veröffentlichung sämtlicher Richtervoten einschließlich ihrer Begründungen) seine Autorität nicht geschmälert, sondern im Bewußtsein der Bürger gefestigt. Er hat Entscheidungen von weitreichender, ja gelegentlich von geradezu revolutionärer Bedeutung gefällt. So seit dem Zweiten Weltkrieg vor allem im Bereich bürgerrechtlicher und politischer Grundrechtssicherungen; sei es ein-11 stimmig wie im berühmten Falle Brown v. Board of Education of Topeka im Jahre 1954 und 1955
In beiden Fällen, sowohl im Brown Case als auch bei den Entscheidungen zur Wahlkreiseinteilung, hatte das Gericht seine bis dahin befolgte Rechtsprechung revidiert. Im Brown Case vom Jahre 1954 erklärte der Supreme Court die seit 1896
Der Supreme Court hat bei seinen Entscheidungen auch Krisen keineswegs gescheut und schärfste Kritik in Kauf genommen. Seine Macht und Autorität hat er dabei jedoch nicht eingebüßt — was beispielsweise die Reaktion der amerikanischen Öffentlichkeit auf Präsident Roosevelts „court packing plan" im Jahre 1937 bewies
Wie stellt sich demgegenüber die angeschnittene Problematik in der Bundesrepublik dar? Das Bundesverfassungsgericht hat seinen Sitz im „stillen und ruhigen Karlsruhe", wie Giese lobend hervorhebt
V. öffentliche Mehrheitsvoten und demokratischer Entscheidungsprozeß
Den Minderheitsvoten eines Verfassungsgerichts ist vom demokratischen Willensbil-dungs-und Entscheidungsprozeß her größte Bedeutung beizumessen. Der Verzicht auf ihre Veröffentlichung bedeutet schon insofern einen erheblichen Verlust, als diese Minderheitsvoten beispielhaft einen ersten entscheidenden Beitrag sachverständiger und gegebenenfalls richtungweisender Urteilskritik zu leisten vermögen. Darüber hinaus geht ein wesentlicher; Impuls zur Anleitung einer breiten, sachorientierten öffentlichen Diskussion grundlegender Urteile solange verloren, wie es keine publizierte Minderheitsvoten gibt. In einer Demokratie vermag gerade das Verfassungsgericht eine höchst bedeutsame politische Bildungsfunktion zu erfüllen — mit dem Ziel, das Verfassungsverständnis zu vertiefen und die kritische Verfassungsdiskussion anzuregen. Der Verzicht auf öffentliche Minderheitsvoten kommt einer fragwürdigen Reduzierung der Wirksamkeit dieser Bildungsfunktion gleich
Gegen die Veröffentlichung von Minderheitsvoten wird in der Regel angeführt, sie würden möglicherweise der Autorität und Würde des obersten Gerichtshofes abträglich sein, eine allgemeine Rechtsunsicherheit fördern und die Unabhängigkeit der Richter gefährden; zudem widerspreche dieses Verfahren aller traditionellen deutschen Gerichtspraxis
Denn einmal hat es auch in der deutschen Gerichtsgeschichte durchaus die Veröffentlichung von Minderheitsvoten gegeben, so in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beim Württembergischen Gerichtshof und bei den Badischen Gerichten wie in der Gegenwart beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof
Warum sollte auch für den Richter eines Kollegialgerichts nicht dasselbe gelten wie für einen Amtsrichter, der sich bekanntlich stets als Person zu seinem Urteil sowie dessen Begründung bekennen muß und der sich ebenfalls nicht hinter der Anonymität der Institution „Gericht" zu verbergen vermag? In der Bundesrepublik genügte ein entsprechender Beschluß des Verfassungsgerichts, um die Veröffentlichung in der Minderheit verbliebener Richtervoten und deren Begründungen zuzulassen. Weder das Grundgesetz noch das Bun-desverfassungsgerichtsgesetz stehen einer derartigen Praxis entgegen oder verbieten sie gar
In den USA hat der Supreme Court stets danach gestrebt, notfalls durch verfassungskonforme Interpretation von Gesetzen deren Vereinbarkeit mit der Verfassung sicherzustellen und damit die Mehrheitsentscheidungen des demokratisch bestellten Gesetzgebers zu legitimieren
Ein unmündiges Volk konfrontiert man mit Ergebnissen, ein mündiges verlangt danach, am politischen Willensbildungsund Entscheidungsprozeß in allen seinen Phasen so weit wie möglich beteiligt zu werden. Einem unmündigen Volk gegenüber mag es aus pädagogischen Gründen gerechtfertigt erscheinen, den Eindruck harmonischer Gerichtseinstimmigkeit selbst dann erwecken zu wollen, wenn diese Einstimmigkeit de facto nicht besteht. Einem mündigen Volk sollte man soviel Einsichtsvermögen zutrauen, daß es den Respekt vor der verbindlichen Entscheidung und der Autorität seines Obersten Verfassungsgerichts auch dann nicht verliert, wenn es mit der tatsächlichen Konfliktslage vertraut gemacht wird. In einer Demokratie sollte die Autorität eines Verfassungsgerichts nicht dadurch potenziert werden, daß dem Bürger wesentliche Tatsachen vorenthalten werden und ihm damit die Aneignung wichtigster Einsichten erschwert, wenn nicht verhindert wird.
Trotz aller Beachtung der fundamentalen Unterschiede zwischen amerikanischer und deutscher Rechtsproblematik, Verfassungsstruktur und Tradition scheint mir die Einführung der — rechtlich jederzeit zulässigen — Praxis einer Veröffentlichung abweichender Richtervoten beim Bundesverfassungsgericht dringend notwendig zu sein. Erst wenn sich das Bundesverfassungsgericht als besonders dem Recht verpflichtetes Verfassungsorgan auch der Kritik des Bürgers mit völlig geöffnetem Visier stellt und dennoch seine Autorität zu bewahren, wenn nicht gar zu vermehren vermag, hat es sich als „Hüter der Verfassung" bewährt und seine Stellung und Funktion im politischen Entscheidungsprozeß der Bundesrepublik Deutschland hinreichend demokratisch legitimiert.