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Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischer Entscheidungsprozeß | APuZ 21/1968 | bpb.de

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APuZ 21/1968 Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischer Entscheidungsprozeß

Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratischer Entscheidungsprozeß

Winfried Stesfani

Die Geburtsstunde des Bundesstaates ist zugleich die Geburtsstunde der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit. Als sich das amerikanische Volk in den Jahren 1787— 1789 eine geschriebene Verfassung gab, die die Errichtung eines Bundesstaates konzipierte, wurde erstmals die Einsetzung eines Obersten Gerichtshofes (Supreme Court) vorgesehen, zu dessen vornehmlichster Aufgabe es gehören sollte, bei einem Kompetenzkonflikt zwischen Bund und Einzelstaaten dem Willen der Bundesverfassung verbindlich Geltung zu verschaffen. Diesem historischen Vorbild sind eine Reihe späterer bundesstaatlicher Konzeptionen — wie die Österreichs, der Schweiz, in Deutschland die der Weimarer Republik und vor allem die der Bundesrepublik, in den Commonwealth-Ländern die Australiens und Kanadas — in mehr oder weniger enger Anlehnung gefolgt

In den USA stellte sich jedoch bereits frühzeitig die prinzipielle Frage, ob sich nach der gegebenen Verfassung die Kontroll-und Entscheidungsbefugnisse der Bundesgerichte lediglich auf Akte der Einzelstaaten erstrecken oder ob ihr auch Bundesakte unterworfen sind. Konkret gesprochen: Verfügt der Supreme Court der USA, dessen Mitglieder vom Präsidenten mit Zustimmung des Senats auf Lebenszeit ernannt werden, über die Befugnis, Gesetze, die vom „demokratisch" gewählten Kongreß verabschiedet wurden, bei einem anhängigen Streitfall daraufhin zu überprüfen, ob sie mit der Verfassung vereinbar sind und widrigenfalls ganz oder teilweise für nichtig und darauf beruhende Exekutivakte für rechtsunwirksam erklären zu können?

Im berühmten Streitfall Marbury v. Madison vom Jahre 1803 hat der Supreme Court den entscheidenden Präzedenzfall geschaffen und sich auch dieses Normenkontrollrecht zugesprochen, obgleich die amerikanische Bundesverfassung die zugrunde liegende Kompetenz-frage bis heute nicht unmißverständlich geklärt hat. Chief Justice Marshall begründete im Falle Marbury v. Madison die Ansicht des Gerichts mit dem Argument, daß sich das Normenkontrollrecht (judicial review) des Supreme Court gegenüber Bundesakten zwingend aus der Logik der Verfassung ergebe. Die Verfassung, die ebenso die Quelle aller Befugnisse und Pflichten des Kongresses wie der des Präsidenten und der Gerichtsbarkeit sei, gehe als höherrangiges Recht dem Gesetzesrecht vor. Es gehöre zu den verfassungsmäßigen Pflichten des Gerichts, im Konfliktsfalle dem höherrangigen Recht verbindlich Geltung zu verschaffen.

Obwohl sich diese Auffassung nach langen und teilweise erbittert geführten Auseinandersetzungen durchgesetzt hat und im heutigen demokratischen Regierungssystem der USA als akzeptierter Verfassungsgrundsatz gilt, wird sie dennoch auch und gerade in der Gegenwart immer wieder mit wechselnder Intensität sowohl prinzipiell wie hinsichtlich ihrer konkreten Auswirkungen zur Diskussion gestellt Und das ist gut und notwendig. Da es bei diesen Diskussionen um Grundfragen des demokratischen Selbstverständnisses geht, sollten sie nie für abgeschlossen erklärt werden.

I. Der Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeil.

Die gegenwärtigen amerikanischen Diskussionen zur Rolle des Supreme Court im demokratischen Entscheidungsprozeß der USA beziehen sich keineswegs lediglich auf die mangelhafte Präzision der geschriebenen Bundesverfassung. Sie können vielmehr zugleich aul ein reiches Erfahrungsmaterial zurückgreifen, das die nun fast 180jährige Gerichtstätigkeit produzierte — ein Material, das nicht nur Entscheidungen und deren politische Auswirkungen sowie den reichen Schatz an Urteilsbegründungen der Gerichtsmehrheit umfaßt, vielmehr auch jene zahlreichen Voten der in der Minderheit verbliebenen Richter, die in mitunter höchst scharfkritischer und belehrender Sprache öffentlich dartun, warum es ihnen nicht möglich war, sich der Mehrheitsentscheidung des Gerichts anzuschließen. Gerade diese vielzitierten abweichenden Richtervoten spielen in der amerikanischen Verfassungsdiskussion eine sehr bedeutsame Rolle und tragen zu deren Lebendigkeit und Fruchtbarkeit wesentlich bei

Die deutsche Diskussion unserer Tage über Rolle und Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik verläuft demgegenüber bereits unter den genannten drei Gesichtspunkten — Eindeutigkeit des Verfassungstextes, Entscheidungsvolumen und öffentliche Richtervoten — in einem erheblich andersgearteten Kontext Das Grundgesetz hat sich in unmißverständlicher Sprache für eine Verfassungsgerichtsbarkeit mit extrem umfassenden Kompetenzen, einschließlich einer weitreichenden konkreten und abstrakten Normenkontrolle, entschieden. Das seit 1951 in zwei Senaten tätige Bundesverfassungsgericht — das im Gegensatz zum US-Supreme Court speziell als Verfassungsgericht mit erst-und letztinstanzlicher Entscheidungsbefugnis konzipiert wurde und insoweit auf Bundesebene eine Monopolstellung innehat — kann zwar bis heute bereits auf eine recht umfangreiche und materiell höchst bedeutsame Rechtsprechung zurückblik-ken. Verständlicherweise vermag sie sich jedoch weder ihrem Umfange noch ihrer Erfahrungspraxis nach mit der des Supreme Court zu messen. Und schließlich blieb auch das Bundesverfassungsgericht dem Prinzip des anonymen Richtervotums treu: Abweichende Richtervoten können wohl zu den „geheimen" Akten gelegt werden, veröffentlicht wird jedoch nur das Votum des Gerichts.

Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu denjenigen Staaten, in denen (nach Mosler)

„seit dem Zweiten Weltkrieg der Gedanke der Verfassungsgerichtsbarkeit einen Aufschwung nahm, der bis dahin außerhalb der realisierbaren Möglichkeit gelegen hatte" G). Dieser Aufschwung war vor allem durch jene Länder bewirkt worden, die nach den bitteren Erfahrungen totalitären Machtmißbrauches danach strebten, eine rechtsstaatlich gesicherte Demokratie zu errichten: Österreich, das mit der Wiedereinsetzung des Verfassungsgerichts seine republikanische Verfassung der Vorkriegszeit wiederherstellte, Italien, Japan und seit 1949 mit den umfassendsten Konsequenzen die Bundesrepublik Deutschland.

Andere Länder folgten, unter ihnen Zypern und die Türkei. Selbst ein kommunistischer Staat machte sich mit dem Gedanken der Verfassungsgerichtsbarkeit vertraut: Die neue Bundesverfassung Jugoslawiens vom April 1963 sieht die Einsetzung eines Verfassungsgerichts vor, das partiell sogar über weitgehendere Kompetenzen verfügt als das deutsche Bundesverfassungsgericht. Es kann im Gegensatz zu allen anderen genannten Verfassungsgerichten unter bestimmten Umständen auch ohne Antrag dritter, allein von sich aus tätig werden 7).

Diesen triumphalen Siegeszug der Verfas-sungsgerichtsbarkeit im modernen demokratischen Rechtsstaat hat bisher niemand in höheren Lobestönen besungen als der österreichische Rechtsgelehrte Rene Marcic, der sein 1963 erschienenes Buch „Verfassung und Verfassungsgericht" mit den Worten ausklingen läßt: „Das Verfassungsgericht ist Hüter der Verfassung, Wächter aller Rechtswege, Hirte der Rechtsgenossen, die einen Staatsverband bilden. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist Hut des Vorrangs der Verfassung, sie ist die Mitte des Gegenwartsstaates, weil sie die Haupt-und Grundwerte verwirklicht, denen die Menschen sich verschrieben haben: Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Gemeinwohl, Herrschaft des Rechts, Vorherrschaft der Verfassung — und Friede, der bloß als Werk des Rechts gesichert ist." Und Marcic schließt, „sie ist, um William E. Gladstone als Zeugen zu führen, die wunderbarste Tat, die zu irgendeiner Zeit ’ menschlichen Hirnen entsprungen ist", wobei er im Glorifizierungseifer allerdings übersieht, daß Gladstones Aussage sich nicht auf die Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern auf die amerikanische Verfassung schlechthin bezog Heinz Laufer faßte diese Thesen in der Kurzformel zusammen: Verfassungsgerichtsbarkeit sei „die Vollendung der rechtsstaatlichen Demokratie"

Friedrich Gieses Feststellung, die Verfassungsgerichtsbarkeit gelte heute als Krönung des Rechtsstaates formuliert unstreitig die herrschende Auffassung. Welche Problematik liegt jedoch in der These, nicht nur der Rechtsstaat, sondern auch die Demokratie gelange erst in jenen Regierungssystemen zur Vollendung, welche Verfassungsgerichtsbarkeit praktizieren? Aus der Fülle sich aufdrängender Probleme seien drei Fragenkomplexe herausgegriffen: Erstens das Spannungsverhältnis zwischen Mehrheitsherrschaft und Minderheitsrechten; zweitens die Kontroverse um die These vom Verfassungsgericht als „Hüter der Verfassung"; drittens die aktuelle Erörterung der spezifischen Problematik öffentlicher Richtervoten und deren Bedeutung für den demokratischen Willensbildungsund Entscheidungsprozeß. Diese drei Fragenkomplexe sollen im Folgenden vor allem im Blick auf die Funktion und Wirksamkeit des Bundesverfassungsgerichts im Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland erörtert werden.

II. Mehrheitsherrschaft und Minderheitsrechte

Die These, Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie, insbesondere gerichtliche Normenkontrolle und demokratischer Entscheidungsprozeß, seien miteinander vereinbar, ja sie bedingten (und potenzierten) einander, setzt ein bestimmtes Demokratieverständnis voraus. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Frage, welche prinzipielle Bedeutung dem Postulat der Mehrheitsherrschaft zugesprochen wird. Gilt es nicht nur als maßgebliches Verfahrensprinzip des Entscheidungsprozesses, sondern als essentielles Definitionsmerkmal der Herrschaftsform (Demokratie gleich Volksherrschaft im Sinne von absoluter Mehrheitsherrschaft), so sind Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratie miteinander schlechthin unvereinbar. Das Postulat absoluter Mehrheitsentscheidung impliziert die Identität von Gesetzgeber und Verfassungsgeber. Wird hingegen eindeutig zwischen „Verfassungsgesetzgeber" und „einfachem Gesetzgeber" (pouvoir constituant und pouvoir constitue) sowie zwischen höherrangigen und niederen Normen unterschieden — verbunden mit der Forderung, daß die höheren Normen (Verfassung) im Konfliktsfalle den niederen (Gesetze) unbe-dringt vorgehen, und die höheren Normen nur einer qualifizierten Mehrheit (in der Regel einer Zwei-Drittel-Mehrheit, der sogenannten „verfassungsändernden Mehrheit") zur Disposition stehen —, so wird damit das strenge Prinzip absoluter Mehrheitsentscheidung aufgegeben. Denn eine Zwei-Drittel-Mehrheit kann nur dann entscheiden, falls die Minderheit auf ein entsprechendes Minimum beschränkt bleibt. Beträgt diese Minderheit demnach mehr als ein Drittel der erforderlichen Stimmen, so verfügt sie über das Entscheidungsresultat. De facto liegt hier demnach ein Fall von „Minderheitsherrschaft" vor. Daran ändert auch der Einwand wenig, diese Minderheit könne zwar mit ihrem Vetorecht der Mehrheit wirksam den Entscheidungserfolg streitig machen, nicht hingegen selbst Entscheidungen erzwingen. Denn tatsächlich hat sich im vorliegenden Falle die Minderheit der Mehrheit gegenüber politisch durchgesetzt, indem sie die Mehrheit daran hinderte, den Status quo zu ändern

Ein Volk, das seine Verfassung nach den skizzierten Grundsätzen ausrichtet und deren Konsequenzen respektiert, wendet sich damit gegen das Postulat absoluter Mehrheitsherrschaft. Es bekennt sich vielmehr zur primären Geltung des Prinzips politischer Gleichheit und damit zum Grundsatz des Minderheitsschutzes Begreift man — gleichsam als orientie-rungswirksame Fiktion — die Verfassung als Manifestation des „strategischen Volkswillens" und die Entscheidungen des Gesetz-gebers als Äußerungen des „taktischen Volkswillens" so besagt dies, daß der strategische Volkswille dem taktischen, sich im Gesetzgebungsprozeß aktualisierenden Volkswillen unter Berufung auf das Postulat politischer Gleichheit den Respekt vor Minderheitsinteressen abverlangt. Politische Gleichheit (und das damit verbundene Recht zur Opposition) laßt sich nur dann realisieren, wenn die in der Minderheit Verbleibenden hinsichtlich der Wahrnehmung ihrer politischen Wirkungsmöglichkeiten nicht völlig zur Disposition einer Gesetzgebungsmehrheit stehen. Im entscheidenden Konfliktsfall zwischen dem Postulat politischer Gleichheit und dem Anspruch absoluter Verbindlichkeit von Mehrheitsentscheidungen kommt demnach der politischen Gleichheit letztlich das ausschlaggebende Gewicht zu. Eine entsprechende Problematik kennzeichnet das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Ordnung, Person und Gemeinwesen, Rechtsstaat und Demokratie. Zu dieser Problematik, speziell der Antinomie und Synthese der Begriffsinhalte Rechtsstaat und Demokratie, haben u. a. Bäumlin und Kägi grundlegendes ausgesagt

Hinsichtlich der bisher skizzierten Problematik hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eindeutige Grundentscheidungen getroffen: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden", heißt es in Art. 20, Abs. 3 GG. Diese „verfassungsmäßige Ordnung" — in ihrem Kernbereich definiert als „freiheitlich demokratische Grundordnung" — konzipiert kein bloßes Organisationskonzept, sie postuliert vielmehr eine wertgebundene Ordnung. Ausgehend von der Deklaration der Unantastbarkeit menschlicher Würde und dem Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten formuliert das GG einen Grundrechtskatalog, welcher sowohl die gesetzgebende und vollziehende als auch die rechtsprechende Gewalt als unmittelbar geltendes Recht bindet (Art. 1 GG) — ein revolutionärer Akt in der deutschen Verfassungsgeschichte.

Das Grundgesetz bleibt aber nicht dabei stehen. Indem es in Art. 79 GG diese in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze (d. h. die Grundrechtsbindung und die freiheitlich demokratische Grundordnung, die zusammengenommen gleichsam das Allerheiligste der demokratisch rechtsstaatlichen Verfassung ausmachen) der Verfassungsänderung entzieht, macht es das Grundgesetz insoweit dem Verfassungsgeber selbst unmöglich, dem einzelnen wie der Minderheit die entscheidenden Freiheitsund Mitwirkungsrechte vorzu-enthalten — ein revolutionärer Akt in der Verfassungsgeschichte überhaupt.

III. Zur Diskussion um den „Hüter der Verfassung"

Wer aber soll nun der „Hüter" dieser anspruchsvollen Verfassung sein? Wer soll vor allem dem Gesetzgeber wehren, wenn dieser — gewollt oder ungewollt — den Grundentscheidungen der Verfassung und ihren Rege-hingen nicht entspricht und sie verletzt? Letztlich ist dazu niemand anderes als das „Volk" selbst berufen. Jeder Bürger sollte sich demnach seiner Pflicht, als „Hüter der Verfassung" zu fungieren (insbesondere bei seiner Stimmabgabe in den Wahlen), bewußt sein. Das Volk ist der oberster Hüter seiner Verfassung.

Damit ist das aufgeworfene Problem indes noch nicht gelöst. Es bleibt die zentrale Frage nach dem Repräsentativ-Organ, das im Auftrage der Volkes innerhalb des staatlichen Ordnungsgefüges die Funktionen eines Ver-fassungswahrers und -hüters auszuüben hätte. Grundsätzlich ist sicherlich jede staatliche Institution hierzu verpflichtet, vor allem die obersten Verfassungsorgane; nach dem Grundgesetz also der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung, der Bundespräsident und das Bundesverfassungsgericht Welche der genannten Instanzen ist jedoch auf Grund ihrer Struktur und Kompetenzen zur Wahrnehmung der „Hüter" -Funktion besonders qualifiziert?

Diese Frage nach dem obersten Hüter der Verfassung unter den staatlichen Organen hatte bereits in der Weimarer Republik zu heiß umstrittenen Auseinandersetzungen geführt. Im Jahre 1927 bezeichnete der Staatsgerichtshof des Deutschen Reiches sich selbst als „Hüter der Verfassung" Diesem Anspruch hielt damals Carl Schmitt die These entgegen, die Justiz sei hierzu völlig ungeeignet. Indem er Recht und Politik als zwei konträre Wesensbereiche definierte und den Tatbestand außer acht ließ, daß jeder Gestaltungsakt sowohl einen rechtlichen als auch einen politischen Aspekt umschließt, das heißt, daß jeder Akt ebenso die Frage nach der Rechtmäßigkeit wie die nach der Zweckmäßigkeit impliziert, warnte Schmitt vor der „Expansion der Justiz auf eine vielleicht nicht mehr justiziable Materie". Denn eine solche „Expansion" würde „nicht etwa eine Juridifizierung der Politik, sondern eine Politisierung der Justiz" zur Folge haben, bei welcher „die Politik nichts zu gewinnen und die Justiz alles zu verlieren hätte" Schmitt erachtete den Reichtspräsidenten als am besten für die Hüterfunktion qualifiziert. Als Reichskanzler Hitler im August 1934 auch das Amt des Reichspräsidenten übernahm, empfand er sich als „wahrer Hüter der Verfassung". Weder Recht noch Politik hatten dabei etwas gewonnen, sie hatten alles verloren.

Die Verfasser des Grundgesetzes haben sich auch aus diesen Erfahrungen heraus für ein anderes „Hüteramt" entschieden. Sie schufen ein Bundesverfassungsgericht, das im Rahmen seiner Kompetenzen mit der Funktion eines „obersten Verfassungshüters" betraut wurde Während Schmitt einen unmittelbar vom Volk gewählten und mit hohen politischen Machtbefugnissen ausgestatteten Politiker zum Hüter inthronisieren wollte, hat das Grundgesetz einer weit weniger demokratisch anmutenden Lösung den Vorzug gegeben. Die Hüterfunktion wurde einem auf recht komplizierte Weise zu bestellenden, jeweils in Vierjahresabständen nur partiell zu ergänzenden Gremium übertragen, für dessen Amtsübernahme sich nur eine äußerst schmale Bevölkerungsschicht zu qualifizieren vermag: Als Kandidaten kommen lediglich die Personen in Frage, die das 40. Lebensjahr vollendet haben, zum Bundestag wählbar sind und die Befähigung zum Richteramt besitzen (§ 3 BVerfGG). Also nur Angehörige einer bestimmten Berufsgruppe. Dieses heute 16 Richter umfassende, in zwei Senaten mit je 8 Richtern tagende und entscheidende Gremium verfügt im demokratischen System der Bundesrepublik über das Monopol, nach Eingang eines entsprechenden Antrages mit verbindlicher Entscheidungsgewalt strittige Staatsakte daraufhin zu überprüfen, ob sie mit der Verfassung vereinbar seien. Der eine Entscheidung initiierende Antrag kann, je nach Sachlage, von einem einzelnen Bürger oder einer Gemeinde (Verfassungsbeschwerde), einem Richter, einer Länderregierung, der Bundesregierung, dem Bundestag oder der parlamentarischen Opposition (ein Drittel der Mitglieder des Bundestages) ausgehen

Das Bundesverfassungsgericht ist damit im Rahmen seiner weitreichenden Kompetenzen, insbesondere dank seines umfassenden Nor-menkontrollrechts, in den politischen Prozeß eingeflochten. Es fungiert insoweit de facto als eine politische Gewalt, als Teilhaber am politischen Entscheidungsprozeß. Seine Teilhabe ist allerdings keineswegs ungebunden und völlig eigenem Ermessen überlassen. Vielmehr haben sich auch die Verfassungsrichter bei einer anhängigen Streitsache prinzipiell allein mit der Frage der verfassungsgewollten Rechtmäßigkeit und nicht mit der der politischen Zweckmäßigkeit zu befassen. Alle Rechtsentscheidungen tragen aber auf mehr oder weniger bedeutsame Weise zur Regulierung sozialer Konflikte und Interessengegensätze bei. Es ist daher unvermeidlich, daß derartige Entscheidungen — je nach Sachlage mit unterschiedlicher Erheblichkeit — mit politischen Konsequenzen verbunden sind. Für keine Art von Streit-entscheidungen gilt dies so uneingeschränkt wie für verfassungsrechtliche. Sie tangieren in besonderem Ausmaße das öffentliche Interesse.

Rechtliche Konfliktregelung erweist sich demgemäß als eine spezielle, rational humanisierte Form politischer Konfliktregelung. Je gravierender die Machtkonflikte sind, die im Gewände von Rechtskonflikten zur Entscheidung anstehen, desto deutlicher wird das potentielle Spannungsverhältnis zwischen Zweckmäßigkeit und Rechtmäßigkeit zu einem politischen Problem. Wer von der Zweckmäßigkeit und „Richtigkeit" seiner Handlungen überzeugt ist, wird im Streitfall deren Rechtmäßigkeit möglicherweise anders beurteilen als derjenige, der auf Grund seiner konträren Interessen

Position die behauptete Zweckmäßigkeit und Sachnotwendigkeit, vehement bestreitet. Es ist keineswegs immer leicht, die Grenze zwischen Zweckmäßigkeit und Rechtmäßigkeit eindeutig zu ziehen. Gerade bei gewichtigen Machtkon-flikten — und es sind in der Regel solche, mit denen sich ein Verfassungsgericht zu befassen hat — stehen die Bundesverfassungsrichter in einer hohen Verantwortung. Oft genug läßt sich solch ein Fall kaum allein auf Grund logischer Deduktionen und durch Anwendung präziser Rechtskategorien entscheiden, sondern verlangt nach folgenreicher Wertabwägung.

Wohl hat ein Verfassungsgericht prinzipiell über die Rechtmäßigkeit und nicht über die politische Zweckmäßigkeit einer anhängigen Streitsache zu befinden. Das besagt jedoch nicht, daß es völlig darauf verzichten kann und darf, die politischen Folgen seiner Entscheidungen zu bedenken und hinreichend in Rechnung zu stellen.

Das Bundesverfassungsgericht ist sich dieser Problematik offensichtlich deutlicher bewußt als dies — einigen seiner Verlautbarungen nach — beim Staatsgerichtshof der Weimarer Republik der Fall war. In einer Urteilsbegründung vom 17. Dezember 1927 erklärte der Staatsgerichtshof, er begreife sich als „ein Gericht, das über verfassungsrechtliche Streitigkeiten nach Rechtsgrundsätzen zu entscheiden hat. Die Ergebnisse, zu denen er auf Grund des von ihm anzuwendenden objektiven Rechts gelangt, hat er auszusprechen, ohne die politischen Folgen seines Spruches in Betracht ziehen zu dürfen." In dieser Formulierung eine ungeschminkte Neufassung der alten Maxime fiat justitia, pereat mundus.

Der erste Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hermann Höpker-Aschoff, bekannte demgegenüber bei seiner Ansprache zur Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts am 28. September 1951: „Das Bundesverfassungsgericht muß sich bei seinen Entscheidungen der politischen Folgen seiner Entscheidungen bewußt bleiben ... und darf auch der Frage nicht ausweichen, ob nicht durch seine Entscheidungen ein gesetzloser Zustand herbeigeführt werden kann, der eine Gefahr für die* freiheitlich demokratische Grundordnung des Staates bedeutet."

Der Verfassungsrichter muß nicht nur ein qualifizierter Rechtskenner sein, er sollte sich auch als Staatsmann erweisen und bewähren. Dabei hat allerdings — wie der jetzige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Gebhard Müller, bei seiner Amtseinführung im Jahre 1959 hervorhob — gerade der Richter als Staatsmann zu bedenken, daß „der Satz fiat justitia, pereat mundus'zu vieldeutig und zu gefährlich ist, als daß er nicht durch die Erkenntnis ersetzt werden müßte: si fit justitia, vivit mundus" Besteht doch, wie Müller weiter ausführte, die schwierigste Aufgabe und größte Verantwortung des Verfassungsrichters darin, „die rechte Mitte, den Ausgleich zwischen den Notwendigkeiten des Gemeinwohls und dem Schutz der Einzelpersönlichkeit, zwischen den das politische Leben bewegenden Kräften und Institutionen und unverrückbaren rechtlichen Vorschriften und Ordnungen zu finden."

Zu den schwierigen Aufgaben des Verfassungsgerichts gehört es, im Blick auf die Sicherung und Förderung der freiheitlich demokratischen Grundordnung die je gegebenen und im Verfassungswandel immer wieder in neuen Konstellationen aufbrechenden Spannungen zwischen Rechtssatz und Wirklichkeit verringern zu helfen, den Grundrechten Neuland zu erschließen (wobei sich der Gleichheitssatz als Kernproblem erweist), den demokratischen Entscheidungsprozeß offenzuhalten, den sozialen Frieden sichern zu helfen und damit sowohl als Bewahrer wie Gestalter der Rechtsordnung im Gemeinwesen integrierend zu wirken.

Es ist die aus geschichtlicher Erfahrung resultierende Grundentscheidung für eine rechts staatliche Demokratie, die die Verfasser des Grundgesetzes veranlaßte, ein Richtergremium mit dieser Aufgabenfülle zu betrauen. Dieses Richtergremium unterliegt jedoch nicht nur einer funktionsimmanenten Kontrolle, indem es seine Entscheidungen in rechtlich relevanter Form zu fällen und zu begründen hat. Es unterliegt auch demokratischen Kontrollen, die das unabhängige Richtergremium daran hindern sollen, sich auf Grund seiner Kompetenzfülle und mangels notwendiger Selbstbeschränkung als Superlegislative zu etablieren. Die Kontrolle erfolgt einmal dadurch, daß die geschriebene Verfassung — etwa im Falle allzu kühner Interpretation vieldeutiger Verfassungsbestimmungen seitens des Bundesverfassungsgerichts — mit entsprechend qualifizierter Mehrheit geändert bzw. präzisiert werden kann. Diesem Zweck soll zum anderen auch das Recht demokratisch kontrollierter Richter-ernennung sowie die dem einfachen Gesetzgeber zustehende Möglichkeit dienen, weitreichende Regulierungsbefugnisse auf dem Wege der Verfassungsgerichts-Gesetzgebung wahrzunehmen. Auf Grund dieser Befugnisse können u. a. Größe, Struktur, Verfahrensweisen und gewisse Kompetenzen des Gerichts (in der Bundesrepublik z. B. die Entscheidungsbefugnis über Verfassungsbeschwerden) vom Parlament mit einfacher Mehrheit bestimmt und revidiert werden

Vor allem aber findet die Verfassungsgerichtsbarkeit im entscheidenden Konfliktsfalle ihre Grenzen an der Bereitschaft der übrigen Teilhaber des demokratischen Entscheidungsprozesses, den Gerichtsentscheidungen die gebührende Beachtung zu zollen. Denn Glanz und Elend der Verfassungsgerichtsbarkeit in einer Demokratie sind letztlich bestimmt durch die Autorität, die das Gericht auf Grund der Über-Zeugungsfähigkeit seiner Entscheidungen im Gemeinwesen zu gewinnen vermag.

IV. Verfassungsgerichtsbarkeit und demokratisches Informationsverlangen

Das Bundesverfassungsgericht genießt in der Bundesrepublik zweifellos ein sehr hohes Maß an Autorität. Seine Entscheidungen zum Grundgesetz bilden den wichtigsten Kommentar zur bestehenden Rechtsordnung Ihm ist es wesentlich zu verdanken, daß das Grundgesetz im Bewußtsein der Bürger weit stärker zur Geltung gelangt, als dies der Weimarer Verfassung jemals gegeben war. Es hat sich bei der Wahrung und Gestaltung der Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik erhebliche Verdienstb erworben.

Dennoch ist es eine sehr ernsthafte Frage, ob der Glanz hoher Autorität, der das Bundesverfassungsgericht umgibt, nicht teuer erkauft ist, weil für ihn ein Preis gezahlt wird, der in einer entwickelten Demokratie, will sie ein Gemeinwesen mündiger Bürger sein, nicht ohne schwerwiegende Bedenken entrichtet werden sollte. Die Redewendungen „die da in Bonn" und „ja, wenn Karlsruhe nicht wäre" verweisen auf die Problematik. Steht doch dahinter letztlich die grobe Pauschalformel: in Bonn wird mehr oder weniger schmutzige Politik gemacht, in Karlsruhe hingegen wird dem reinen Recht gedient. Politik und Recht sind wesensverschieden; die Politik ist allein in Bonn, das Recht allein in Karlsruhe beheimatet.

Sachbegründeter Argwohn und kritische Wachsamkeit sind allen staatlichen Organen, allen Machthabern gegenüber wohl angebracht. Das sollte auch gegenüber dem Bundesverfassungsgericht gelten. Uber Bonn wird die Öffentlichkeit vergleichsweise gut unterrichtet. Die dort wirkenden Akteure sind bekannt, ihre Handlungen unterliegen weitgehend öffentlicher Kontrolle, die unterschiedlichen Auffassungen, die konträren Entscheidungspositionen werden deutlich gemacht. Sollte diese öffentliche Präsentation, dieses Sich-stellen-Müssen nicht auch und besonders von einer Instanz verlangt werden, die in so eminenter Weise am politischen Prozeß beteiligt ist, so grundlegend auf ihn einwirkt, wie das beim Verfassungsgericht in seiner Eigenschaft als „Hüter der Verfassung" der Fall ist? Beruht nicht der Respekt einer Instanz gegenüber, deren Amtsinhaber fast völlig unbekannt sind und deren interne Entscheidungskontroversen unter Ausschluß der Öffentlichkeit registriert werden, letztlich auf einer höchst fragwürdigen, gerade im Krisenfall möglicherweise wenig zuverlässigen Autoritätsgläubigkeit? Der Richter lediglich „la bouche des lois"? Recht und Robe als Symbole vollkommener Neutralität? Das Verfassungsgericht (in seiner Symbolfunktion als „pouvoir neutre") das republikanische Surrogat der Krone? Wird ohne hinreichende Vertrautheit mit einer Institution und ihrer Problematik die Wahrnehmung einer effektiven, rational motivierten Kontrolle nicht sehr erschwert? Muß sich nicht ein — aller Unkenntnis zum Trotz — allzu willig und unkritisch gezollter Respekt gegenüber dem Bundesverfassungsgericht als bedenklich erweisen?

In der vergleichenden Betrachtung gerade dieser Fragen wird der bedeutsame Unterschied zwischen der Position und Rolle des Supreme Court im amerikanischen Regierungssystem und der Stellung und Funktion des Bundesverfassungsgerichts im System der Bundesrepublik besonders augenscheinlich.

Der Supreme Court hat „selbstverständlich" seinen Sitz in Washington, direkt dem Kongreß gegenüber. Die Richter sind weiten Kreisen der Bevölkerung wohl bekannt. Sie haben sich bei jeder Gerichtsentscheidung öffentlich zu bekennen und das Recht, ihre zustimmenden oder abweichenden Voten öffentlich zu begründen. Sie machen damit deutlich und schärfen Einsicht und Bewußtsein dafür, daß auch Rechtsprechung Menschenwerk ist, daß gerade der Verfassungsrichter oft genug zwischen Alternativen zu wählen hat, die sowohl hinsichtlich ihrer Rechtsbegründung wie in der Darlegung ihrer jeweils als möglich antizipierten politischen Folgewirkungen höchsten Respekt abverlangen.

Der Supreme Court hat auf Grund dieser Verfahrensweise (Veröffentlichung sämtlicher Richtervoten einschließlich ihrer Begründungen) seine Autorität nicht geschmälert, sondern im Bewußtsein der Bürger gefestigt. Er hat Entscheidungen von weitreichender, ja gelegentlich von geradezu revolutionärer Bedeutung gefällt. So seit dem Zweiten Weltkrieg vor allem im Bereich bürgerrechtlicher und politischer Grundrechtssicherungen; sei es ein-11 stimmig wie im berühmten Falle Brown v. Board of Education of Topeka im Jahre 1954 und 1955 oder in Verbindung mit höchst kritischen Minderheitsvoten wie in den politisch folgenschweren Entscheidungen zur Wahlkreiseinteilung (reapportionment) der Jahre 1962 und 1964

In beiden Fällen, sowohl im Brown Case als auch bei den Entscheidungen zur Wahlkreiseinteilung, hatte das Gericht seine bis dahin befolgte Rechtsprechung revidiert. Im Brown Case vom Jahre 1954 erklärte der Supreme Court die seit 1896 für verfassungskonform erachtete These , separate but equal’ — mit der die Rassentrennung in öffentlichen Schulen und sonstigen öffentlichen Einrichtungen legalisiert worden war — nun einstimmig für verfassungswidrig. Diese grundlegende Revision der Gerichtshaltung (um der Rechtssicherheit willen ein relativ seltener Vorgang) war nicht unwesentlich-durch die Überzeugungskraft bisher in der Minderheit verbliebener, publizierter und viel diskutierter Richtervoten bewirkt und langfristig vorbereitet worden. Minderheitsvoten tragen insoweit wesentlich zur Rechtsentwicklung bei. Eine ähnlich bedeutsame Generalrevision bis dahin praktizierter Rechtssprechung ging den Urteilen zur Wahlkreiseinteilung voran. In der sensationellen Entscheidung Baker v. Carr vom Jahre 1962 machte sich die Mehrheit des Supreme Court die bis dahin stets in der Minderheit verbliebene Auffassung zu eigen, derzufolge Fragen der Wahlkreiseinteilung nicht zur Kategorie der „political questions" gehören, das heißt ihrer Natur nach außerhalb der Rechtssprechungskompetenz der Gerichte liegen, sondern als justiziable Streitobjekte zu bewerten sind

Der Supreme Court hat bei seinen Entscheidungen auch Krisen keineswegs gescheut und schärfste Kritik in Kauf genommen. Seine Macht und Autorität hat er dabei jedoch nicht eingebüßt — was beispielsweise die Reaktion der amerikanischen Öffentlichkeit auf Präsident Roosevelts „court packing plan" im Jahre 1937 bewies

Wie stellt sich demgegenüber die angeschnittene Problematik in der Bundesrepublik dar? Das Bundesverfassungsgericht hat seinen Sitz im „stillen und ruhigen Karlsruhe", wie Giese lobend hervorhebt — weit weg vom politisch lärmenden Regierungs-und Parlaments-sitz Bonn, wo es aus sachlichen Gründen eigentlich hingehörte. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts sind fast völlig unbekannt; man würde nahezu jedermann in Verlegenheit bringen, wollte man nach Namen fragen, geschweige denn nach rechts-und verfassungsrelevanten Grundpositionen, die diese Richter jeweils vertreten. Die Richter verbleiben weitgehend in der Anonymität Die Öffentlichkeit wird nur mit denjenigen Auffassungen vertraut gemacht, die das Gerichtsurteil begründen — und sei die entscheidungsnotwendige Gerichtsmehrheit auch noch so knapp. Die möglicherweise gewichtigen Gegenargumente und abweichenden Auffassungen der Minderheit sowie deren Begründungen werden dem Bürger vorenthalten. Bei den SRP-und KPD-Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zum Mandatsverlust als Folge eines Parteiverbots der Jahre 1952 und 1956 zum Beispiel bzw. beim Urteil zur staatlichen Parteienfinanzierung vom Juli 1966 hätten Minderheitsvoten sicherlich bemerkenswerte Argumente anführen und das Verfassungsverständnis wesentlich fördern können.

V. öffentliche Mehrheitsvoten und demokratischer Entscheidungsprozeß

Den Minderheitsvoten eines Verfassungsgerichts ist vom demokratischen Willensbil-dungs-und Entscheidungsprozeß her größte Bedeutung beizumessen. Der Verzicht auf ihre Veröffentlichung bedeutet schon insofern einen erheblichen Verlust, als diese Minderheitsvoten beispielhaft einen ersten entscheidenden Beitrag sachverständiger und gegebenenfalls richtungweisender Urteilskritik zu leisten vermögen. Darüber hinaus geht ein wesentlicher; Impuls zur Anleitung einer breiten, sachorientierten öffentlichen Diskussion grundlegender Urteile solange verloren, wie es keine publizierte Minderheitsvoten gibt. In einer Demokratie vermag gerade das Verfassungsgericht eine höchst bedeutsame politische Bildungsfunktion zu erfüllen — mit dem Ziel, das Verfassungsverständnis zu vertiefen und die kritische Verfassungsdiskussion anzuregen. Der Verzicht auf öffentliche Minderheitsvoten kommt einer fragwürdigen Reduzierung der Wirksamkeit dieser Bildungsfunktion gleich

Gegen die Veröffentlichung von Minderheitsvoten wird in der Regel angeführt, sie würden möglicherweise der Autorität und Würde des obersten Gerichtshofes abträglich sein, eine allgemeine Rechtsunsicherheit fördern und die Unabhängigkeit der Richter gefährden; zudem widerspreche dieses Verfahren aller traditionellen deutschen Gerichtspraxis Wolfgang Heyde hat im einzelnen dargetan, daß keines dieser Argumente wirklich stichhaltig ist

Denn einmal hat es auch in der deutschen Gerichtsgeschichte durchaus die Veröffentlichung von Minderheitsvoten gegeben, so in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beim Württembergischen Gerichtshof und bei den Badischen Gerichten wie in der Gegenwart beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof Zum anderen haben sich in den Ländern, deren Gerichte die Veröffentlichung abweichender Minderheitsvoten kennen — wie beispielsweise die Gerichte aller angelsächsischen Staaten, dazu die Obersten Gerichte in Norwegen, Schweden, der Schweiz (partiell), in Japan und die der meisten mittel-und südamerikanischen Staaten —, die befürchteten Folgen keineswegs eingestellt

Warum sollte auch für den Richter eines Kollegialgerichts nicht dasselbe gelten wie für einen Amtsrichter, der sich bekanntlich stets als Person zu seinem Urteil sowie dessen Begründung bekennen muß und der sich ebenfalls nicht hinter der Anonymität der Institution „Gericht" zu verbergen vermag? In der Bundesrepublik genügte ein entsprechender Beschluß des Verfassungsgerichts, um die Veröffentlichung in der Minderheit verbliebener Richtervoten und deren Begründungen zuzulassen. Weder das Grundgesetz noch das Bun-desverfassungsgerichtsgesetz stehen einer derartigen Praxis entgegen oder verbieten sie gar

In den USA hat der Supreme Court stets danach gestrebt, notfalls durch verfassungskonforme Interpretation von Gesetzen deren Vereinbarkeit mit der Verfassung sicherzustellen und damit die Mehrheitsentscheidungen des demokratisch bestellten Gesetzgebers zu legitimieren Führte dieses Bemühen zu keinem Erfolg, sah sich die Gerichtsmehrheit also genötigt, ein Kongreßgesetz für verfassungswidrig zu erklären (was in der fast 180jährigen Geschichte des amerikanischen Supreme Court bisher nur rund 90 mal geschah), so bezeugten oft genug die Begründungen abweichender Minderheitsvoten, daß die Ansicht des Kongresses, das verabschiedete Gesetz sei verfassungsgemäß, wenn auch nicht von der Mehrheit, so doch von einzelnen Richtern des höchsten Gerichtshofes geteilt wurde. Damit wurden dem Kongreß und — falls er das betreffende Gesetz befürwortet und unterzeichnet hatte — dem Präsidenten immerhin „höchstrichterlich" bestätigt, daß deren Verfassungsinterpretation zwar nicht verbindlich, wohl aber möglich und zumindest respektabel sei. •

Ein unmündiges Volk konfrontiert man mit Ergebnissen, ein mündiges verlangt danach, am politischen Willensbildungsund Entscheidungsprozeß in allen seinen Phasen so weit wie möglich beteiligt zu werden. Einem unmündigen Volk gegenüber mag es aus pädagogischen Gründen gerechtfertigt erscheinen, den Eindruck harmonischer Gerichtseinstimmigkeit selbst dann erwecken zu wollen, wenn diese Einstimmigkeit de facto nicht besteht. Einem mündigen Volk sollte man soviel Einsichtsvermögen zutrauen, daß es den Respekt vor der verbindlichen Entscheidung und der Autorität seines Obersten Verfassungsgerichts auch dann nicht verliert, wenn es mit der tatsächlichen Konfliktslage vertraut gemacht wird. In einer Demokratie sollte die Autorität eines Verfassungsgerichts nicht dadurch potenziert werden, daß dem Bürger wesentliche Tatsachen vorenthalten werden und ihm damit die Aneignung wichtigster Einsichten erschwert, wenn nicht verhindert wird.

Trotz aller Beachtung der fundamentalen Unterschiede zwischen amerikanischer und deutscher Rechtsproblematik, Verfassungsstruktur und Tradition scheint mir die Einführung der — rechtlich jederzeit zulässigen — Praxis einer Veröffentlichung abweichender Richtervoten beim Bundesverfassungsgericht dringend notwendig zu sein. Erst wenn sich das Bundesverfassungsgericht als besonders dem Recht verpflichtetes Verfassungsorgan auch der Kritik des Bürgers mit völlig geöffnetem Visier stellt und dennoch seine Autorität zu bewahren, wenn nicht gar zu vermehren vermag, hat es sich als „Hüter der Verfassung" bewährt und seine Stellung und Funktion im politischen Entscheidungsprozeß der Bundesrepublik Deutschland hinreichend demokratisch legitimiert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Einen umfassenden vergleichenden Überblick über den Stand der Verfassungsgerichtsbarkeit in diesen und zahlreichen weiteren Staaten der Gegenwart bietet Band 36 der von Hermann Mosler herausgegebenen Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht des Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Gegenwart — Länderberichte und Rechtsvergleichung, Köln-Berlin 1962 (1047 S.).

  2. Marbury v. Madison, 1 Cranch 137 (U. S. 1803).

  3. Unter den zahlreichen Schriften aus jüngster Zeit sei hier nur verwiesen auf die Abhandlungen von Charles L. Black, The People and the Court — Judicial Review in a Democracy, New York 1960 (Black bezeichnet den Supreme Court als „the people's institutionalized means of self-control", ebd., S. 20); Eugene V. Rostow, The Sovereign Pre-rogative, New York und London 1962 (vor allem Kap. 5 und 6: „The Democratic Character of Judicial Review"); C. Herman Pritchett, Congress versus

  4. Siehe hierzu die informativen, für amerikanische Verhältnisse allerdings erstaunlich kritischen Darlegungen von Bernard Schwartz, The Supreme Court — Constitutional Revolution in Retrospect, New York 1957, S. 354— 362. Schwartz, der — man ist versucht zu sagen: selbstverständlich — prinzipiell die Veröffentlichung abweichender Richtervoten befürwortet, befaßt sich in seinem Buch vor allem mit den Auswüchsen der modernen amerikanischen Dissenting-Praxis unter der bezeichnenden Überschrift „Dissentio ad Absurdum". Zur allgemeinen Praxis und Problematik der Minderheitsvoten mit eingehendem Verweis auf amerikanische Erfahrungen sei besonders auf die Arbeit von Wolfgang Heyde, Das Minderheitsvotum des überstimmten Richters, Jur. Diss., Bonn 1964, hingewiesen.

  5. über diese Gesamtproblematik informiert eingehend die 1967 abgeschlossene Habilitationsschrift von Heinz Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß - Studien zum Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland (München), mit deren Veröffentlichung in Kürze zu rechnen ist.

  6. Mosler, a. a. O., (vgl. Anm. 1), S. IX.

  7. So heißt es in Art. 4, Abs. 3 des „Gesetzes über das Verfassungsgericht von Jugoslawien" vom 24. Dezember 1963 (SL 52/1963; Position 715): „Das Verfassungsgericht kann das Verfahren zur Prüfung der Verfassungsund Gesetzmäßigkeit einer Vorschrift oder eines sonstigen allgemeinen Aktes auch auf Grund eigener Initiative einleiten. Jedes Mitglied des Verfassungsgerichts kann verlangen, daß das Verfahren eingeleitet wird und daß das Verfassungsgericht darüber entscheidet." (Deutsche Übersetzung nach: „Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Jugoslawien — Gesetzestexte", Berichte des Ost-europa-Instituts an der Freien Universität Berlin, Reihe Wirtschaft und Recht, Heft 66.)

  8. Rene Marcic, Verfassung und Verfassungsgericht, Wien 1963, S. 212. Bereits in seinem grundlegenden Werk „Vom Gesetzesstaat zum Richter-staat" (Wien 1957) hat Marcic sein zeitweilig etwas peinlich anmutendes Loblied vieltönig angestimmt — so z. B. Verfassungsgericht als „Hort der Freiheit", ebd., S. 347 ff.

  9. Der volle Wortlaut des bekannten Gladstone-Zitats kann in Emst Fraenkels Buch: Das amerikanische Regierungssystem — Eine politische Analyse, Köln und Opladen 1960, S. 21, Anmerkung 1, nachgelesen werden: „As the British Constitution is the most subtle organism which has proceeded from the womb and long gestation of progressive history, so the American Constitution, so far as I can see, the most wonderful work ever struk off at a given time by the brain and purpose of man."

  10. Hierzu Heinz Laufer, Das demokratische Regime in der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Nr. 30/65 vom 8. Juli 1965, S. 15— 20; die „Formel" ebd., S. 20.

  11. Friedrich Giese, Mehr Verfassungstreue!, in: Zeitschrift für Politik, 3. Jg. NF (1956), S. 124.

  12. In diesem Zusammenhang sei besonders verwiesen auf das Buch von Austin Ranney und Will-moore Kendall: Democracy and the American Party System, New York 1956, Kap. 2: „Basic Prin-ciples for a Model of Democracy", S. 18— 39, bes. S. 29— 39. Vgl. auch Heinrich Höpker, Grundlagen, Entwicklung und Problematik des Mehrheitsprinzips und seine Stellung in der Demokratie, Jur. Diss., Köln 1957.

  13. Shapiro (a. a. O., S. 220) argumentiert im Rahmen des „unending dialogue over majority rule and minority rights": „Some scholars have insisted that talk of minority rights is a deviation from the logic of democracy They are incorrect, and they are incorrect because they have confused a working and imperfect expedient (majority decision) with a fundamental principle The principle is political equality. Majority rule is the only expedient available to turn this principle into practice, but it is a democratically faulty device because it de-prives the minority of political equality. That is why the tension between majority rule and minority rights is an inherent feature of democratic thought itself."

  14. Zu dieser Unterscheidung siehe Oskar Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1945, S. 152, sowie Rolf-Richard Grauhan, Gibt es in der Bundesrepublik einen » pouvoir neutre«?, Jur. Diss., Heidelberg 1959, S. 47 f. und 50 ff.

  15. Oskar Werner Kägi, Rechtsstaat und Demokratie, in: Demokratie und Rechtsstaat — Festgabe für Z. Giacometti, Zürich 1953, S. 107— 142; Richard Bäumlin, Die rechtsstaatliche Demokratie, Zürich 1954.

  16. § 52 des Bundesbamtengesetzes vom 14. 7. 1953 verpflichtet jeden Beamten zum „Verfassungshüter" mit den Worten: „Der Beamte muß sich durch sein gesamtes Verhalten zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekennen und für deren Erhaltung eintreten."

  17. Entscheidung An vom 15. 10. 1927, RGZ 118, -hang 4. Heinrich Triepel hatte bereits 1923 in seiner Abhandlung: Streitigkeiten zwischen Reich und Ländern, in: Festgabe für Wilhelm Kahl (Tübingen 1923, S. 48, 93 und 118), den Staatsgerichtshof als „Hüter der Freiheit" und „Hüter der Verfassung" bezeichnet.

  18. Zitiert nach Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 22.

  19. Ebd., S. 35 Mit diesem Guizot-Zitat (allerdings in anderer Wortstellung) schließt auch Schmitts im August 1928 abgeschlossener Aufsatz: Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (abgedruckt in: C. Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924— 1954, Berlin 1958, S. 63— 100).

  20. Zur These des Bundesverfassungsgerichts als „oberstem Hüter und Garanten der Verfassung" siehe Gerhard Leibholz, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat, in: Zeitschrift für Politik, 3. Jg., NF (1956), S. 1— 17, bes. S. 8. Diese Abhandlung von Leibholz bietet sich ebenso wie der pädagogischen Intentionen -gleichfalls mit ver faßte Aufsatz von Ernst Friesenhahn, Aufgabe und Funktion des Bundesverfassungsgerichts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochen-zeitung Das Parlament, Nr. 6/65 vom 10. 2. 1965, S. 3— 20, vorzüglich für eine ideologiekritische Analyse der Argumentationsweise dieser zwei ehemaligen Bundesverfassungsrichter an. Einen bemerkenswerten ersten Vorstoß in diese Richtung unternimmt Otwin Massing mit seiner Abhandlung: Recht als Korrelat der Macht? Überlegungen zu Status und Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Gert Schäfer und Carl Nedeimann (Herausgeber), Der CDU-Staat — Studien zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, München 1967, S. 123— 150.

  21. Für Einzelheiten siehe Ernst Friesenhahn, Die Verfassun jsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland, Köln und Berlin 1963.

  22. Zitiert nach Dreher, Glanz und Elend der Staats-gerichtsbarkeit, in: NJW, Bd. 41 (1951) S. 379.

  23. Höpker-Aschoffs „Ansprache bei der Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts am 28. September 1951" ist abgedruckt in der vom Bundesverfassungsgericht besorgten Publikation anläßlich seines zehnjährigen Bestehens „Das Bundesverfassungsgericht", Karlsruhe 1963, S. 1— 4. Zitat ebd., S 4.

  24. „Das Bundesverfassungsgericht", S. 20.

  25. Siehe hierzu Art. 93 Abs 5 (2) GG und §§ 90- 96 des Bundesverfassunysgerichtsgesetzes vom 12. März 1951 (mit Änderungen vom 21. 7. 1956).

  26. Äußerst skeptisch hinsichtlich der de facto Wirksamkeit derartiger demokratischer Kontrollen gibt sich - wenn auch unter Verzicht auf überzeugende empirische Belege - Massing in seinem oben (Anm. 20) angeführten Aufsatz.

  27. Sehr aufschlußreich hierfür das Werk von Leib-holz und Rinck: Grundgesetz — Kommentar an Hand der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts, Köln 1966.

  28. 347 U. S. 483 (1954) und 349 U. S. 294 (1955).

  29. Es handelt sich hierbei um die Grundentscheidungen in den Fällen Baker v. Carr, 369 U. S. 182 (1962); Wesberry v. Sanders, 376 U. S. 1 (17. Febr. 1964) und Reynolds v. Sims, 377 U. S. 533 (15. Juni 1964). Zum Falle Baker v. Carr siehe Karl Loewenstein: Baker v. Carr: Policy Decision und der Supreme Court, in: Gerhard A. Ritter und Gilbert Ziebura (Herausgeber), Faktoren der politischen Entscheidung — Festgabe für Ernst Fraenkel, Berlin 1963, S. 237— 272. Zum Ganzen jetzt Robert B. McKay, Reapportionment: The Law and Politics of Equal Representation, The Twentieth Century Fund, New York 1965.

  30. Plessy v. Ferguson, 163 U. S. 537 (1896).

  31. Zu dieser Problematik jetzt Fritz Wilhelm Scharpf, Grenzen der richterlichen Verantwortung — Die political question Doctrine in der Rechtssprechung des amerikanischen Supreme Court, Karlsruhe 1965.

  32. Flierzu immer noch grundlegend die Studie von Robert H. Jackson, The Struggle For Judicial Supremacy — A Study of a Crisis in American Power Politics, New York 1941.

  33. Giese, a. a. O., S. 125.

  34. Selbst anläßlich der Wahl von Bundesverfassungsrichtern wird den gewählten Kandidaten in der führenden Presse allenfalls eine flüchtige Randnotiz gewidmet. Siehe z. B. „Die Welt" vom 13. Juli 1967, S. 3, unter „Kurz berichtet": „Vier neue Verfassungsrichter" (13 einspaltige Zeilen); „Die Welt" vom 15. Juli 1967, S. 3, Notiz: „Bundesrat wählte Verfassungsrichter" (11 einspaltige Zeilen).

  35. Rudolf Smend sprach in seinem „Festvortrag zur Feier des zehnjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts am 26. Jan. 1962" davon, daß „die Publizität der Bundesverfassungsjustiz heute ein Weg der Werbung und der Inanspruchnahme, kurz gesagt der politischen Erziehung (!) des Bürgers in der Bundesrepublik" sei („Das Bundesverfassungsgericht", S. 29).

  36. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Dr. Gebhard Müller, vertrat in der 119. Sitzung des Rechtsausschusses des Bundestages vom 3. 11. 1960 (3. Wahlperiode, Stenographisches Protokoll, S. 45) u. a. die Ansicht, daß die Praxis abweichender Richtervoten mit der „deutschen Mentalität" kaum vereinbar sei, da sie hierzulande die zwei höchsten Zwecke der Rechtssprechung — Streitentscheidung mit Autorität und Herstellung des Rechtsfriedens — gefährden würde.

  37. Auf das in Anm. 4 genannte Buch, das reichhaltiges Material verarbeitet, sei in diesem Zusammenhang besonders verwiesen.

  38. Heyde, a. a. O„ bes. S. 120— 138, 143— 148 u. 180 1s. § 8 Abs. 6 der GO des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 24. Mai 1948 lautet: „Wichtige Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes sind zu veröffehtlichen. Die Entscheidung darüber trifft der erkennende Senat. In solchen Fällen sind die abweichenden Ansichten von Mitgliedern des Verfassungsgerichtshofes mit zu veröffentlichen." Zur Praxis in Bayern: Heyde, a. a. O., S. 144 f.

  39. Bekommt ein mit knapper Mehrheit im Parlament angenommenes Gesetz erst dadurch „Würde und Respekt" eingeblasen, wenn es von einer sich als Behörde gebenden, anonymen Gerichtsbarkeit mit Einstimmigkeit interpretiert wird? Uber die Problematik der Möglichkeiten des Mißbrauchs und die damit verbundenen Gefahren einer Veröffentlichung abweichender Richtervoten in den USA siehe vor allem Schwartz (Anm. 4), S. 354 bis 362, sowie allgemein Heyde, a. a. O., S. 68 ff. und 215 f. Zahlreiche deutsche Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart, die die Veröffentlichung abweichender Richtervoten befürworten, zitiert Heyde, a. a. O., S. 173— 178, dazu S. 199— 213. Siehe auch die bei Mosler (Anm. 1) besonders S. 853— 870 wiedergegebene Diskussion des 1961 in Heidelberg absolvierten Internationalen Kolloquiums.

  40. Heyde, a. a. O., Kap. VIII, S. 148— 172, 215.

  41. Die sehr ähnliche deutsche Gerichtspraxis diskutiert Joachim Burmeister, Die Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung — Verfassungskonforme Auslegung oder vertikale Normendurchdringung?, Berlin — Frankfurt/M. 1966.

Weitere Inhalte

Winfried Steffani, Diplom-Politologe, Dr. phil., o. Prof, für Politische Wissenschaft und Direktor des Seminars für Sozialwissenschaften der Universität Hamburg, geb. 1927 in Znin (Posen). Veröffentlichungen u. a.: Die Untersuchungsausschüsse-des Preußischen Landtages zur Zeit der Weimarer Republik, Düsseldorf 1960; Gewaltenteilung im demokratisch-pluralistischen Rechtsstaat, in: Politische Vierteljahresschrift (PVS) 1962; Cannon ist tot, lange lebe Mahon — Seniorität im amerikanischen Kongreß, in: Der Monat 1964; Amerikanischer Kongreß und Deutscher Bundestag, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 43/65 v. 27. 10. 1965; Zur Kritik am Parteienstaat und zur Rolle der Opposition, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 45/65, v. 10. 11. 1965; Das , Rules Committee'des amerikanischen Repräsentantenhauses: Eine Machtbastion, in: PVS 1967; Martin Luther King: Theorie und Praxis gewaltfreier Aktion, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 13/68 v. 27. 3. 1968.