Karl Marx wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren. Sein Vater, ein gefragter Rechtsanwalt, war zur protestantischen Konfession übergetreten, da es im katholischen Trier für Juden schwierig war, die oberen Ränge der Gesellschaft zu erklimmen. Marx'Vater war liberal und hing fortschrittlichen Idealen an. Assimilierung an die bürgerliche Ordnung und Aufstieg schwebten ihm vor.
Sein Sohn besuchte den evangelischen Religionsunterricht auf dem Gymnasium und schrieb eine Abiturarbeit über „Die Vereinigung der Gläubigen in Christo nach Johannes 15, 1— 14". Karl Marx'einzige theologische Untersuchung nimmt unbewußt die Sehnsucht seines späteren Denkens vorweg: ein Endreich voller Frieden und Gerechtigkeit, das der Menschheit winke. Die christliche Einkleidung sollte bald fallen. Der junge Marx gerät beim Studium der Rechte in Bonn und Berlin, ohne, wie sein Freund Friedrich Engels, mit einer religiösen Krise ringen zu müssen, ins Fahrwasser der linkshegelianischen Schule.
Zwanzigjährig, im Dezember 1838, verliert er den Vater. In Jena promoviert er in absentia, was damals möglich ist, über „die Differenz der demokritischen und epikureichen Natur-philosophie." Sein Doktorvater und Lehrer, Bruno Bauer, wirkt auf ihn am tiefsten. Bauer, der die christliche Offenbarung radikal kritisiert, steht politisch der konservativen „Kreuzzeitung" nahe, die sogar einen Bismarck als zu „fortschrittlich" bekämpft: Wegen „gottloser" Lehren verliert Bauer die Lehrerlaubnis und der junge Marx die Möglichkeit, sich zu habilitieren.
Dieses Scheitern auf der unteren Stufe der bürgerlichen Karriere frißt sich in dem intelligenten Studenten ein. Er erlebt, wie die „etablierte" Gesellschaft der konservativen preußischen Aristokratie durch Zensur ihre Kritiker ausschaltet. Dies bestärkt ihn — den jungen Mann ohne Prüfung, dem sich keine Staatslaufbahn öffnet — im Plan, durch die Presse zu wirken. Er wird Mitarbeiter und bald Chef der „Rheinischen Zeitung", die er zum schärfsten Oppositionsblatt vor 1848 gestaltet. Am 18. März 1843 wird sie dann auch polizeilich unterdrückt. Marx wandert weiter nach links. Jetzt regen sich erste schöpferische Gedanken. Er setzt sich von Hegel ab und stülpt dessen System von unten nach oben.
Nicht der Geist schaffe die Ordnung der Welt, sondern — umgekehrt — die materiellen Verhältnisse treiben und führen den Geist, behauptet Marx. Dieser gehorche stets nur den wirtschaftlichen Bedürfnissen einer Gesellschaft oder eines einzelnen. Er erfülle die fatale Aufgabe eines „ideologischen Über-baus", der Risse und Krankheiten jeder Ordnung zu rechtfertigen habe. Allein wer die ökonomischen Zustände ändern könne, werde auch Geist und Ideen ändern!
Marx'eigene Lage ändert sich zum schlechten.
In Paris versucht er sich an einer Zeitschrift, die nur zweimal erscheint: „Deutsch-französische Jahrbücher". Immer tiefer taucht er ins Studium von Sozialismus und Kommunismus.
Engels berät ihn, Moses Heß, radikaler demokratischer Kommunist, bestärkt ihn, Gedanken von Fourier imponieren ihm. 1845 rechnet er in der „Heiligen Familie" mit seiner idealistischen Jugend ab. Bruno Bauer „und Consorten"
scheinen ihm jetzt nur törichte Aushängeschilder der bürgerlichen Unredlichkeit und Profitgier.
In Brüssel, wo es ihm nicht besser geht, legt er in „La misre de la Philosophie" 1845— 1848 erste Grundzüge der eigenen Lehre nieder.
Aus einer Skizze von Engels entwirft er 1847 das „Kommunistische Manifest" — eine fulminante Anklage und zugleich die Verheißung der gerechten, humanen Gesellschaft von morgen.
Der Frühlingssturm von 1848 drängt Marx nach Köln, wo er zwei Jahre die „Neue Rheinische Zeitung" ganz im sozialistischen Geiste leitet. Aber bald siegt die „Reaktion"; die Träume der Revolution zerstieben. Karl Marx emigriert endgültig nach London. In England ist der industrielle Kapitalismus am weitesten gediehen. Dort studiert Marx seine Entwicklung, seine Moral, seine unwürdigen Schatten. „Die Kritik der politischen Ökonomie" kommt heft-weise ab 1859 heraus. 1867 füllt sie zusammen-gebündelt den ersten Band des „Kapital" — Urquell aller Offenbarungsweisheit des Marxismus.
Inzwischen mit Jenny von Westphalen verehelicht und unglücklicher Familienvater, schlägt sich Marx dürftig und ärmlich durchs Leben. Er weiß um seine immense Begabung und Bedeutung, berät Arbeiterführer und kommentiert Ereignisse der Zeit in mehreren Blättern. Aber seine Einkünfte reichen nicht aus, seiner Familie ein auskömmliches Leben zu sichern. Schroff im Persönlichen, verbittert durch die Verachtung des „Establishments" und besessen von seiner Vision zieht er von einer Wohnung in die andere, ist viel krank und noch öfter zornig. Verkannt, zerfallen mit seiner Umwelt stirbt er am 14. März 1883.
Friedrich Wilhelm Hegel, umfassendster und am tiefsten dringender deutscher Philosoph, baute seine Welt aus Idee und Geist. Unaufhaltsam schreite die Geschichte voran. Sogar durch Rückfälle in die Barbarei wie während der Französischen Revolution bahne der Welt-geist der Menschheit einen Weg zu Frieden und Glück. Karl Marx preist den Fortschritt nicht minder.
Aber dieses Reich kommt nicht von selbst. Man muß es erkämpfen. Und zwar gegen jene Kräfte, die jetzt, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, in Europa herrschen: Aristokratie und Bürgertum. Marx belebt Philosophie und Politik mit unerhörtem Elan. Ähnlich dem Sieg des jungen Christentums, das sich in den versklavten Schichten der antiken Hafenstädte zuerst durchsetzte, ergreift das Programm von Karl Marx im Lauf von fünfzig Jahren die Arbeiterklasse und ruft sie auf, „ihre Ketten zu zerbrechen".
Nicht aus Egoismus und Notwehr, sondern um einer geschichtlichen Erfüllung willen, die nur der geschundene, betrogene Sklave bringen könne, als der sich ein Industriearbeiter vor 1900 mit Recht fühlen durfte. Er sei von der Geschichte berufen, in der Weltrevolution die Bedingungen des Endreiches zu schaffen, das allen Menschen, nicht nur Arbeitern, Glück, Sicherheit, Frieden und Wohlstand garantiere. Der proletarische Arbeiter allein sei dazu fähig, weil nur er Opfer auf sich nehmen könnte, die einem höheren Ziele dienten als dem eigenen Nutzen und Besitz. Er habe nichts zu verlieren. Darum sei er „ehrlich", unverbildet, unverdorben vom „verlogenen" Establishment, das die schönen Worte von Freiheit und Christentum nur im Munde wälze, um ungestört die Armen um Menschenrecht, Würde, Besitzanteil und Lohn zu prellen.
Der Besitz nämlich verderbe den Charakter. Er korrumpiere den Menschen, mache ihn zum Feind seines Nächsten und rufe mörderische Kriege herauf. „Besitz ist Diebstahl" lautet die Parole der Marxisten. Die Erde und ihre Schätze gehörten der gesamten Menschheit, nicht einigen „Expropriateuren", die sich auf Kosten der Mehrheit die Quellen des Reichtums angeeignet hätten.
Karl Marx ist Prophet und Moralist. Wohl nennt er seine Lehre „dialektischer Materialismus", weil er sie dazu verwendet, die Gesetzmäßigkeit zu begreifen, womit sich ausgebeutete Klassen erhoben und ihre Bedrücker vernichteten. Nicht in primitivem Materialismus, als spiele der Geist keine Rolle, sondern aus geschliffener Dialektik der materiellen Ursachen des Geschichtsprozesses schmiedet sich Marx die Waffen.
Wie aber kann er versprechen, die Kette von Revolutionen werde bald enden und das humanitäre Endreich heranrücken? Zwei Faktoren beflügeln Marx’ Prophetie. Einmal erkennt er im Hochkommen der industriellen Produktionsmethoden eine neuartige, nie gewesene und, wie ihn dünkt, restlos unhumane Arbeitswelt, welche den Abstand zwischen den Besitzenden, für die die Maschine arbeitet, und den Arbeitern, die die Maschine bedienen, ins Unermeßliche weiten wird. Die soziale Kluft, so glaubt Marx auf Grund seiner in England gemachten Erfahrung mit der Textil-und Schwerindustrie, werde sich in wenigen Jahrzehnten unüberbrückbar vertiefen. Die Lage der Arbeiter, die ohne Arbeits-und Rechtsschutz und ohne Versicherung seien, und die Ausbeutung von Frauen und Kindern würde sich so verschärfen, daß unvermeidlich die universale Explosion erfolgen müsse.
Die zweite Ursache des „Sprungs", der die Zukunft ins Paradies des Sozialismus lüpfe, sieht Marx als Folge dieser Entwicklung, überall, wo die Maschine — die er wie die Romantiker als Teufelswerkzeug beurteilt, erfunden zur Erniedrigung des Menschen zum Roboter — siegreich auftrete, schaffe sie das Proletariat. Diese Menschenschicht, rein, vom Besitz unverführt, von parzifalischer Unschuld und christotypischem Opfermut, kenne weder den Neid zwischen Adel und Bürgern noch die stupiden Kriegsgesänge zwischen den Nationen, deren Eifersucht seit 1870 Europa spalte.
Das Proletariat gilt Marx als messianische Gruppe — wie den Nationalisten ihre je eigene Nation oder den Konservativen der führungsbegnadete Adel —, die durch gegenwärtige Leiden die Morgenröte einer gerechten und schöneren Zukunft moralisch heraufzwinge. Dies alles verheißt Marx auf „wissenschaftliche" Art, und als „wissenschaftlich" sehen alle gläubigen Marxisten der Welt nur seine Methode und Ergebnisse an. Er, Marx, allein kennt nämlich das pseudo-religiöse, ethische Endziel der Geschichte.
Soviel bleibt kaum zu bestreiten: Nur Karl Marx besitzt unter allen Sozialisten ein vollständiges, wenn auch nicht umrissenes Bild der Gesellschaft, die kommen soll. Allein er blickt über Lohn-und Versicherungspolitik in ein gelobtes Land universaler Gerechtigkeit und dauernden Friedens voraus. Die Unfehlbarkeit, die er in kommunistischen Ländern genießt und welche die Unfehlbarkeit der Päpste oder gar der Heiligen Schrift für die Kirchen weit übertrifft, datiert daher, daß nur er neben seinem Freunde Engels ihre „wissenschaftlichen" Analysen mit dem diamantenen Ethos einer Prophetie zu verknüpfen weiß, das unverkennbar aus dem Alten Testament stammt. Das ewige Reich, worin „ein Kind am Loche der Otter spielt" (Jesaja 11), das leidende Gottesvolk, das dieses Reich vorbereitet, und der apokalyptische, alle bisherige „Zwangsläufigkeit" durchbrechende Sprung aus der Fron in die Freiheit sind jüdisch-christliches Glaubensgut.
Dennoch unterlaufen Marx bei jener Übertragung der alten Glaubenskategorien auf ökonomische Realitäten seine bedeutendsten Fehler. Im Namen seiner Philosophie scheidet er die Menschheit in Böcke und Schafe.
Ein Krieg für die bürgerliche Freiheit eines Landes hält er für „schlechte" Gewalt, ein Revolutionskrieg im Sinne des Kommunismus ist „gut", weil er das Friedensreich näherbringe. Marx hat gehaßt; seine „wissenschaftlichen" Analysen strotzen von wütenden, schimpfenden, richtenden Attributen. Diesen Flaß hat er weithin der Bewegung eingeimpft, die sich nach ihm nennt. Denn Gewalt bleibt Gewalt, und die davon konkret betroffenen einzelnen spüren den ideologischen Unterschied nicht. Doch dient Marx'pseudoethische Unterscheidung seit hundert Jahren dazu, die im Namen des sozialistischen Paradieses vollbrachten Greuel, Morde, Terror und Brutalität, egal ob unter Lenin, Stalin, Mao Tse-Tung oder sonst-wo, zu rechtfertigen.
Marx glaubt allen Ernstes, die Diktatur des Proletariats, die das Endreich einleiten muß, sei kraft der „ehrlichen" Arbeiterführer nur gegen die wenigen Reichen hart, die ihren Besitz verlieren. Daß sich unter sozialistischen Verhältnissen, wo das Eigentum an Produktionsmitteln verschwindet, immer noch Egoismus, Eigensucht, Rachgier, Neid oder Geiz regen könnten, kommt ihm nicht in den Sinn. Ist der Mensch nicht gut, sobald der Besitz als Instrument der Ausbeutung beseitigt ist? Die Geschichte des Kommunismus hat seinen Begründer in diesem Belang millionenfach widerlegt. Der „Sprung" der kommunistischen Revolution konnte, wo er gewagt wurde, den konkreten Menschen nicht bessern. So wenig, wie die nicht-marxistische Welt „zwangsläufig" zum bösen Untergang steuert, so wenig „zwangsläufig" führt eine sozialistische Ordnung die Menschen zum Guten.
Die erhoffte „Veränderung des Bewußtseins"
gelingt dem Kommunismus nur partiell und problematisch. Denn persönliche Initiative, Leistungsstreben und besseres Wissen und Können fallen als Stimulantia des einzelnen fort.
Längst hat sich der Marxismus in den sozialistischen Staaten entsprechend korrigiert. Die niedrige Effektivität der sozialistischen Planwirtschaft läßt sogar gläubige Marxisten der älteren Generation argwöhnisch werden.
Sollte also alles Böse doch nicht allein, wie Marx vermutet, vom Besitz herrühren? Sein Fundamentalfehler ist von Hegel übernommen:
Der Idealist in Berlin wie der Materialist in London setzen voraus, alle Geschichte verlaufe nach einfachen Ursachen und Regeln und sei restlos durchschaubar. Mit der gleichen „wissenschaftlichen"'Methode ließen sich Gegenwart und Zukunft analog planen und bestimmen; man müsse nur den „richtigen" Schlüssel benutzen: für Hegel den Geist, für Marx die ökonomischen Verhältnisse. Diese Einseitigkeit, womit Marx die komplexe Wirklichkeit des Menschen und der Gesellschaft nur aus einem Faktor, so wichtig er ist, erklären möchte, begründet seine Irrtümer.
Unbeirrbar glaubt er an die Akkumulation des Großkapitals, bis in jedem Wirtschaftszweig nur die größte Firma übrigbleibe. Trotz gewisser Ansätze ist dieser Zustand nirgends wahrscheinlich. Marx glaubt an die Unaufhaltsamkeit immer neuer Weltkriege zwischen kapitalistischen Staaten. Trotz böser Erfahrungen in zwei Weltkatastrophen, deren wahre Ursachen man mit marxistischen Mitteln nur unvollständig erkennt, droht kein Weltkrieg zwischen kapitalistischen Ländern für die absehbare Zukunft. Marx glaubt, die „Dritte Welt" könne nur von kommunistischen Ideen aus dem Elend des Kolonialismus gerissen werden. Die Praxis zeigt auch hier Marx'Schiefheiten. Er glaubt ferner, aller Gottesglaube sterbe mit dem Sieg des Sozialismus ab. Auch dies ist nicht der Fall, obwohl der Kommunismus im Kampf gegen Kirche und Glaube zweifellos seine augenscheinlichsten Erfolge errang.
Marx'Verdienste beruhen im Glauben an eine humane Zukunft. Den Wahnsinn des Nationalismus widerlegt er mit mutiger Konsequenz. Die Ungerechtigkeiten des frühen Kapitalismus geißelt er mit prophetischer Unbestechlichkeit. Er glaubt an eine integre Gemeinschaft ethisch geläuterter Menschen und ringt mit dem Egoismus als ärgstem Feind der Gesellschaft. Er will die von allem Zwang befreite Menschheit bessern und beglücken. Aber eben dazu brauchten viele seiner Schüler mehr Zwang, Blut und Terror als die Gesellschaft vor-und nachher, die Marx'Einseitigkeiten nicht bejahen kann.