Kein politischer Denker der letzten hundert Jahre hat die Menschen so fasziniert wie Karl Marx; keiner hat wie er zu gleicher Zeit so viel begeistertes Lob und so scharfe Ablehnung erfahren; keiner hat wie er durch seine Lehren, durch die Verbindung von Theorie und Praxis so bestimmend auf Menschen gewirkt und dadurch den Gang der Geschichte entscheidend beeinflußt und ihre Entwicklung revolutioniert. Uber die geschichtliche Rolle der Marxschen Leistung sind seine Anhänger und Gegner einig. Aber die Kritik an Marx und das Auseinanderfallen im Urteil über sein Lebenswerk trennt nicht etwa zwei festgefügte Gruppen — hie Anhänger und hie Gegner seiner Überzeugung —; es hat auch begeisterte Anhänger in tiefe Zerwürfnisse untereinander verwickelt, wobei die verschiedenen „Interpretationen" zur Orthodoxie, ja zu Orthodoxien mit eisern verteidigter Rechtgläubigkeit führten und ebenso, wie bei Orthodoxien beinahe selbstverständlich, auch zu „Ketzereien", zu Revisionen, wobei man dann einander häufig vorwarf, den Charakter des „Marxistischen" überhaupt aufgegeben, ja die Lehre „verraten" zu haben. Wenn solche Differenzen unter gutwilligen Kritikern mit tiefgründigen Argumenten und großer Gelehrsamkeit möglich sind, dann müssen sie irgendwie in der Lehre selber mitbegründet sein. Das sind schmerzliche, aber nicht ungewöhnliche Erfahrungen. Denn dieses Schicksal teilt Karl Marx mit vielen großen Denkern und Inspiratoren der Geschichte, die ihren Gesamt-verlauf geistig in den Griff zu bekommen, sie wahrhaft zu „begreifen" suchten.
Aus den Notizen des einundzwanzigjährigen Studenten Marx zu seiner Dissertation über Demokrit und Epikur zitiert Ernst Fischer in seinem Buch über den „wirklichen" Marx dessen Urteil über den Sujektivismus der epikureischen und stoischen Philosophie: „So sucht der Nachtschmetterling, wenn die allgemeine Sonne untergegangen, das Lampenlicht des Privaten." Der Individualismus, der das Private mehr schätzt als das öffentliche Wohl, die „allgemeine Sonne", die erst Wärme in die menschlichen Beziehungen bringt, war Marx zeitlebens ein Greuel. Seine spätere Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft basierte auf deren gepflegter individueller Freiheit für die, die sie sich leisten konnten, bei gleichzeitiger Verwahrlosung einer ganzen Klasse, für die es keine belebende Pflege des Gemeinwohls gab. Von dieser Art „Individualismus" schrieb Marx damals: „Wem es nicht mehr Vergnügen macht, aus eigenen Mitteln die ganze Welt zu bauen, Weltschöpfer zu sein, als in seiner eigenen Haut sich ewig herumzutreiben, über den hat der Geist sein Anathema ausgesprochen."
Diesen gigantischen Versuch, aus eigenen Mitteln eine neue Welt zu bauen, finden wir in Marx'Werk angelegt. Ist es erstaunlich, daß es die verschiedensten Geister inspirierte, die alle der „allgemeinen Sonne" huldigten, die aber über die Verteilung von Licht und Schatten verschiedener Auffassung waren?
Es kann hier nicht der Versuch unternommen werden, aus den verschiedenen Deutungen des Marxismus den echten Ring herauszufinden — das ist seit langem zu einer Sisyphusarbeit geworden. Marx hat davon offenbar eine Vorahnung gehabt, als er sich einmal dazu bekannte, kein Marxist zu sein, womit er vielleicht nur vor einer Dogmatisierung bestimmter zeitgeschichtlicher Ansichten aus seinem Werk warnen wollte. Statt dessen soll versucht werden, aus seinen eigenen eindeutigen Äußerungen herauszufinden, was er kritisiert, was er theoretisch gewollt und praktisch getan und was er schließlich erreicht hat. Die Beschränkung dabei auf das Wesentliche gebietet sich schon aus dem Riesenumfang seiner Leistung, aber mehr noch als ein Versuch, vieles Rankenwerk beiseite zu lassen, damit wir dem Leitgedanken dieses Werkes um so eher Gerechtigkeit widerfahren lassen können.
Die radikale Kritik: Es geht um den Menschen
„Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, — Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: , Arme Hunde! Man will Euch wie Menschen behandeln!'"
Diese Worte Marx’ entnehmen wir seiner „Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechts-philosophie", die 1844 in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern" erschien. Sie zeigen eindeutig den philosophischen Gegenstand seines Denkens: es ging ihm um den ganzen Menschen. Dessen Befreiung vom äußeren Druck lag ihm am Herzen. Er sollte die „Verhältnisse" meistern, um seine innere Freiheit, um sich selber zu finden, sich als „Mensch erhobenen Hauptes" zu bewegen, wie Thornton Wilder heute sagt. Diese Philosophie wollte kein Luftschloß, keine neue Illusion sein:
„Wenn ich die gepuderten Zöpfe verneine, habe ich immer noch die ungepuderten Zöpfe", sagt Marx zu solcher Art von Kritik. Seine Philosophie ernst zu nehmen, verlangte revolutionäre Entschlüsse: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß durch materielle Gewalt gestürzt werden, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift." Dazu muß sie „radikal" sein, der „Sache an die Wurzel gehen", das heißt, den Menschen zeigen, daß es um ihre Sache geht.
Was findet die radikale Theorie in den Verhältnissen jener Zeit, in den „deutschen Zuständen", die viele Patrioten zur Verzweiflung treiben? Darüber spricht Marx sehr bitter an der gleichen Stelle:
„Wir (die Deutschen) haben die Restauration der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert erstens, weil andere Völker eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution erlitten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, und das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten. Wir befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit: am Tag ihrer Beerdigung."
Nach den Freiheitskämpfen der amerikanischen und der französischen Revolution und den Erklärungen der Menschenrechte hielten Marx und Engels es in den vierziger Jahren für unmöglich, daß die Deutschen immer weiter hinter der Entwicklung in Frankreich und England nachhinken könnten. Als sie im Februar 1848 ihr „Manifest der Kommunistischen Partei" veröffentlichten, enthielt es die apodiktische, mehr von revolutionärer Ungeduld als von realistischer Einschätzung der Situation zeugende Feststellung:
„Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht, und weil es diese Umwälzung unter fortgeschritteneren Bedingungen der europäischen Zivilisation überhaupt, und mit einem viel weiter entwickelten Proletariat vollbringt als England im 17. und Frankreich im 18. Jahrhundert, die deutsche bürgerliche Revolution also (gegen die Kleinstaaterei und die autokratische Monarchie — d. Vers.) nur das unmittelbare (!) Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann."
Im Jahre 1895, fast 50 Jahre später, kurz vor seinem Tode am 5. August, enthüllt Friedrich Engels in seinem Vorwort zur Neuausgabe der Marxschen Schrift von 1850 „Die Klassenkämpfe in Frankreich" seine und Marx’ „Illusionen" über die Möglichkeit, die soziale Umgestaltung durch einfache Überrumpelung zu erreichen. Der harte, zähe Kampf der Arbeiterschaft „von Position zu Position" hätte sie eines Besseren belehrt.
Freilich hatten sie 1848 mit ihrer Revolutionserwartung nicht völlig unrecht, nur reichte der revolutionäre Geist von 1848 und vor allem die „Kritik der Waffen" bei weitem nicht für einen Sieg der Revolutionäre. Daß die Situation für eine Revolution menschlich „reif" zu sein schien, kann nicht überraschen, denn wie sahen die „Verhältnisse" jener Zeit aus? Die Ungerechtigkeit schrie zum Himmel: Die liberalen Freiheiten hatten dem Bürger die wirtschaftliche Freiheit in der industriellen Entwicklung gebracht und dem Arbeiter die „doppelte Freiheit": die Freiheit von Produktionsmitteln und die Freiheit, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Das hatte zu einer Degradierung des Arbeiters und damit zur Negation alles Menschlichen geführt, wie es höchst anschaulich und alarmierend Friedrich Engels 1845 in seinem Buch „Die Lage der arbeitenden Klassen in England" schildert. Marx selber deckt die „Selbstentfremdung" des Arbeiters auf, indem er ihn in seiner bloßen Funktion als „Ware Arbeitskraft" aufzeigt: „Die Arbeit ist dem Arbeiter äußerlich, das heißt gehört nicht zu seinem Wesen." Das bedeutet, daß „er sich in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, keine freie physische und geistige Energie entwickelt, sondern seinen Körper kasteit und seinen Geist ruiniert. Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außerhalb seiner selbst." Die Arbeit ist Zwangsarbeit. Der Arbeiter fühlt sich „nur mehr in seinen tierischen Funktionen, essen, trinken und zeugen, höchstens noch Wohnung und Schmuck usw. als frei tätig, und in seinen menschlichen Funktionen nur noch als Tier."
Diese Stelle aus dem Kapitel „Die entfremdete Arbeit" in den „ökonomisch-philosophischen Manuskripten" von 1844 zeigt besonders nachdrücklich, wo und in welcher Form Marx die Selbstentfremdung des Menschen in ihrer besonderen Ausprägung und deren Konsequenzen innerhalb der politischen Ökonomie sah. Der Begriff der Arbeit, wie Marx ihn hier verwendet, hängt mit seinem besonderen Freiheitsbegriff zusammen, der ganz offenbar nicht mit einer Arbeit, die aus irgendeiner, noch so einsehbaren „Notwendigkeit" heraus geleistet wird, also nur mittelbar für ihren Träger sinnvoll ist, zusammengedacht werden kann. Das zeigt sich besonders klar, wenn Marx im dritten Band des „Kapital" von dem „Reich der Freiheit" spricht, in dem sich „die menschliche Kraftentwicklung (wohl im Gegensatz zur . notwendigen Arbeit’ — d. Vers.) als Selbstzweck gilt". Natürlich weiß er, daß die notwendige Arbeit nicht abgeschafft werden kann. Seine Kritik an dieser Arbeit gilt ihr innerhalb der kapitalistischen Entwicklung mit ihrer wirtschaftlichen Freiheit, die sie der Bourgeoisie gebracht hatte, und der Ausbeutung, die sie dem Arbeiter gebracht hatte. Aber auch eine vernünftig geordnete und auf sozialer Gerechtigkeit fußende „notwendige" Arbeit gehört für Marx nicht in das Reich der Freiheit.
Im harten Urteil über die „deutschen Zustände" zu Beginn der industriellen Revolution waren sich übrigens die freiheitlichen Denker einig, die den Menschen als Bruchstück seiner selbst wiederfanden. Schiller beklagt, daß der Mensch, „statt die Harmonien seines Wesens zu entwickeln und die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, bloß zum Ausdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft" geworden sei.
Die Interpretation und die Veränderung
In seiner XL These über Feuerbach hatte Marx im Jahre 1845 geschrieben: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Dieses harte Urteil über die Philosophen mag überraschen und auch ungerecht scheinen; denn manche von ihnen haben die Welt sehr wohl verändert, so etwa Rousseau (1712 bis 1778) mit seiner radikalen Untersuchung der Rechte des Volkssouveräns. Deren Wirkung war kaum zu überschätzen; sie hat wahrscheinlich auch Marx erheblich beeinflußt. Aber für ihn standen Theorie und Praxis wirklich in einem besonderen Verhältnis zueinander. Sie bildeten die berühmte „Einheit". Diese ergab sich als Konsequenz seiner Geschichtsphilosophie, in der die „Aufhebung" der Entfremdung des Menschen nicht als ideale Forderung gedacht war, sondern einen historisch „unvermeidlichen" Schritt zur freiheitlichen Entwicklung der ganzen Menschheit bedeutete, den das Proletariat zu tun hatte, um sich selber „aufzuheben".
In Marx'Worten: „Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, die den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt .. . Die Emanzipation der Deutschen ist die Emanzipation der Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie." („Einleitung zur Kritik der Hegel-sehen Rechtsphilosophie".) Deutschland war das reifste Land, weil es das politisch rückständigste war; das Proletariat die „einzige" befreiende Klasse, weil es die rechtloseste war und darum mit ihrer Befreiung keine neuen Privilegien anstrebte. Philosophie und Proletariat hoben einander auf „höherer Ebene" auf. Beider Schicksal war in der Tat in Marx'Verständnis identisch. Das Schicksal des einen schloß das Schicksal des anderen ein.
Mit seiner Philosophie hatte Marx „die geistigen Waffen für das Proletariat" geschmiedet. Aus welchem Arsenal stammten sie? Ludwig Feuerbach und Georg Wilhelm Friedrich Hegel stehen wohl an erster Stelle, auch wenn Marx Hegel erst „vom Kopf auf die Füße stellen", dessen Idealismus in philosophischen Materialismus umwandeln mußte. Aber auch Kant und Fichte, diese beiden Großen in der klassischen Philosophie, sind dabei; Kants kategorischer Imperativ aus der Pflichtenlehre in ein Gesellschaftsideal transformiert, das seinen Ursprung in der Aufklärung nicht verleugnet, übrigens hat Engels im Vorwort seiner Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" die Ahnenreihe dieser Entwicklung namentlich genannt: „Wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, daß wir abstammen nicht nur von Saint Simon, Fourier und Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel."
Der Philosoph jener Zeit, mit einem alle anderen in den Schatten stellenden System, war Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 bis 1831). Sein Einfluß auf seine Zeitgenossen war so faszinierend, daß manche seiner Schüler sich fragten, was es nach diesem System mit der Auflösung aller geistigen Probleme noch Denk-„Würdiges" geben könne. Hegel sieht in der Geschichte einen Prozeß, in dessen Verlauf das „Sich-selbst-Denken des Absoluten", des Weltgeistes, in dialektischer Entwicklung der Ideen zu immer vollendeterer Freiheit und Vernunft führt. Der junge Marx hat diese Philosophie zunächst abgelehnt. Aber die Idee der Entwicklung, gestützt durch die naturwissenschaftliche Forschung, insbesondere Charles Darwins, behielt er genauso bei wie das dialektische Prinzip, wonach alles, was entstand, auch seine Negation schuf mit der Tendenz zur Negation auch dieser Negation. Der Auflösung des Entwicklungsschemas, in dem eine bestimmte Position, die These, sich ihre Antithese schuf, und in dem These und Antithese sich in der Synthese „auf höherer Ebene" aufheben und damit den Fortschritt in einer neuen These weitertreiben, blieb die Marxsche Entwicklungsformel der Geschichte treu — mit der oben erwähnten Umkehrung von Kopf und Füßen.
Diese naturgesetzlich formulierte Geschichts-Teleologie ist immer umstritten und mehr ein Glaubensbekenntnis ihrer Adepten geblieben.
Aber sie hat trotzdem ihren Wert gehabt. Denn Marx hat mit seinem Verständnis der Geschichte als eines Prozesses mit der Interdependenz aller gesellschaftlichen Kräfte und Erscheinungen eigentlich erst den Sinn für historische Ereignisse geweckt; er hat im Grunde erst ein Geschichtsbewußtsein herausgebildet, womit er die Fesseln der Aufklärung sprengte, so daß nun in vielen der unzähligen Daten der Geschichte eine Richtungund ein erkennbarer Sinn deutlich wurden. Freilich hat er dabei des „Guten" zuviel getan, und dies forderte mit Recht den Widerspruch heraus: Er hatte die Ökonomie nicht nur — was wichtig war — in ihrer fundamentalen Bedeutung herausgestellt; er hat sie zum Angelpunkt aller Geschichte überhaupt gemacht, indem er den Historischen Materialismus begründete — im Gegensatz zum Hegeischen Weltgeist-Idealismus. Friedrich Engels hat später die zu starke Akzentuierung der ökonomischen Fundierung der Geschichte zwei jungen Studenten, Joseph Bloch und Conrad Schmidt, gegenüber damit begründet, daß er und Marx in der Verteidigung ihrer ökonomischen These manchmal zu sehr vereinfacht hätten und daß von manchen weiteren Vereinfachern die Sache noch schlimmer gemacht worden wäre. Joseph Bloch wurde dann der Herausgeber der „Sozialistischen Monatshefte", der auf hohem Niveau stehenden Plattform der deutschen „Revisionisten", und Conrad Schmidt, der Bruder von Käthe Kollwitz, gehörte zu den bedeutendsten Journalisten der deutschen Sozialdemokratie.
Der Historische Materialismus
Die konzentrierteste Darstellung des Historischen Materialismus enthält Marx'bekanntes Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie" (1859): „Die Gesamtheit (der) Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer überbau erhebt, und welcher bestimmte Bewußtseinsformen entsprechen ... Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktionskräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen, oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein." Für die Geschichte der Revolutionen gilt, daß sie nicht beliebig auslösbar, jedenfalls nicht erfolgreich sein werden, wenn sie nicht in der historisch „reifen" Situation einsetzen. Die „Gesellschaft stellt sich nur Aufgaben, die sie lösen kann", das heißt, „deren Lösung schon im Prozeß ihres Werdens begriffen" ist. „Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses" — antagonistisch nicht individualistisch verstanden, sondern klassenbedingt. „Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab."
Wir haben diese Selbstdarstellung des Historischen Materialismus so ausführlich zitiert, weil in ihr das gesamte politisch-ökonomische Weltbild der Schöpfer des „wissenschaftlichen Sozialismus" erscheint, das sie nach ihrem Selbstverständnis von den Utopisten (z. B. J. P. Proudhon) unterscheidet, da sie nur der „Notwendigkeit" der Geschichte, deren immanenten Gesetzen, nicht aber „aus dem Kopf erfundenen" Systemen mancher Weltverbesserer folgen wollen.
Im Manifest der Kommunisten heißt es noch lapidarer, daß „die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen" sei. Alles andere, der „überbau", ist praktisch historisches Beiwerk, „in letzter Instanz" ökonomisch bedingt. Dazu gehört auch die Selbstentfremdung; sie wird sich erst nach dem Abschluß der Vorgeschichte, innerhalb der Umwälzungen des Überbaus nach der proletarischen Revolution aufheben.
Die bürgerliche Gesellschaft wird seziert
Der Hauptgegenstand seines analytischen Scharfsinns ist für Karl Marx die „Anatomie" der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrer ökonomischen Basis. Diese Analyse finden wir im großangelegten Entwurf in „Das Kapital". Davon ist zu Marx'Lebzeiten allerdings nur der erste Band erschienen (1867). Engels hat in ungeheuren Anstrengungen von Marx den keineswegs abgeschlossenen zweiten und dritten Band fertiggestellt, während Karl Kautsky den vierten unter dem Titel „Theorien über den Mehrwert" veröffentlichte. Die Marxsche Analyse — der Weg der kapitalistischen Produktion, die „ursprüngliche Akkumulation", das Kapital als „gesellschaftliches Verhältnis", die Funktion der Produktionsmittelbesitzer und ihrer unbeschränkten Verfügungsgewalt über diese Mittel, die Ausbeutung des „formell freien" Arbeiters durch seine Umwandlung in einen „Mehrwert" produzierenden Kostenfaktor der Warenproduktion, die Ausdehnung der vergesellschafteten Produktion und der privaten Aneignung der Produkte, die Monopolisierung des Nutzens der technischen Entwicklung durch die Kapitalisten und vieles andere — ist im wesentlichen in der Tendenz richtig, auch wenn etwa die Verelendungstheorie, die Mehrwerttheorie, die Vernichtung der mittelständischen Existenzen und ihre Proletarisierung und vor allem der vorausgesagte Zusammenbruch des Kapitalismus später der Kritik und vor allem der Erfahrung nicht standgehalten haben.
Ein so anerkannter wie weltanschaulich völlig anders als Marx denkender Kritiker wie der Jesuitenpater Professor Dr. Oswald von Nell-Breuning schreibt in dem von ihm herausgegebenen „Wörterbuch der Politik", Marx habe die Tatsachen der kapitalistischen Produktion zwar sehr vereinfacht, aber im ganzen richtig gesehen: „Seine Analyse der Wirtschaftsgesellschaft. . . ist die große und bleibende Leistung von Marx; alle spätere Kapitalismuskritik steht mehr oder weniger auf seinen Schultern. . . . für Jahrzehnte über seinen Tod hinaus hat seine Analyse sich als in der Hauptsache zutreffend erwiesen (nicht allerdings seine Diagnose und noch weniger seine Therapie). Auch die christliche und selbst kirchenamtliche Soziallehre hat schließlich die Marxsche Analyse im wesentlichen übernommen." Die christliche Soziallehre hatte sich „lange Zeit in der Bekämpfung der weltanschaulichen Grundlage des Marxismus erschöpft und darüber verabsäumt, die wertvollen Erkenntnisse, die Marx zutage gefördert hat, sich anzueignen. Allzu lange hat die christliche Soziallehre sich dagegen gewehrt, sich von Marx den Star stechen zu lassen. Zuletzt kam es doch so weit und in (der Enzyklika) Quadragesimo anno (1931) hat Pius XI mit aller Entschlossenheit die Folgerungen gezogen."
Auch im Bereich der evangelischen Theologie haben seit etwa 15 Jahren sorgfältige Auseinandersetzungen um Gehalt und Bedeutung der Marxschen Lehre, insonderheit in ihrer Konfrontation mit dem Christentum, stattgefunden. Die „Studiengemeinschaft der Evangelischen Akademien" hat eine besondere Kommission zum Studium des Marxismus gebildet, die allerdings nicht nur evangelische Mitglieder umfaßt. Sie hat später (von 1954 bis 1962) in vier umfangreichen Bänden über ihre „Marxismus-Studien" berichtet, die ein weites Feld berühren.
Das Ende des Kapitalismus
Der weltanschauliche Charakter der Marx-sehen Lehre hat in ihrer theoretischen Reinheit selbst bei „Marxisten" niemals allgemeine Zustimmung gefunden. Dieser große Wurf der Marxschen Utopie besagt in Kürze: Der Mensch ist der Schöpfer seiner selbst in der Arbeit. Die Geschichte ist ein dialektischer Ablauf von Klassenkämpfen, die sich am Widerspruch entzünden, in den die Eigentumsverhältnisse zur Entwicklung der Produktiv-kräfte geraten:
„Je ein Kapitalist schlägt viele tot . . . Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile des technischen Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch der Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert."
Der Kapitalismus ist die erste Negation des auf eigene Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion „erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses" ihre eigene Negation — die Negation der Negation. Sie „muß" der bestehenden gesellschaftlichen Arbeit die gesellschaftliche Aneignung hinzufügen, das heißt: die Sozialisierung der Produktionsmittel in einer kommunistischen Gesellschaft durchführen („Das Kapital", Band 1, Kapitel 24, Artikel 7: „Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation").
Noch sicherer und politisch aufreizender sagt Marx über diese Entwicklung im Manifest der Kommunisten in seiner beschwörenden und hinreißenden Sprache: „Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch ihre Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst weggezogen, worauf sie produziert. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich."
Eine Berge versetzende Vision
Was bleibt nach dieser Diagnose von Marx für das Proletariat zu tun? „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!", ruft Marx ihnen zu, damit sie ihre durch die Industrialisierung erleichterte Organisation im Kampf gegen die bestehende Gesellschaft einsetzen können. In diesem Kampf muß sich das Proletariat bewußt zur Klasse vereinigen, sich in einer Revolution zur herrschenden Klasse erheben und danach durch die Sozialisierung der Produktionsmittel alle Klassenherrschaft, also auch die Herrschaft der eigenen Klasse, aufheben. Die am Ende dieses Prozesses erwartete Gesellschaft sieht Marx als eine „freie Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist". Das heißt, an die Stelle der bürgerlichen Gesellschaft tritt die kommunistische. Für orthodoxe Marxisten gilt dabei, daß der Staat in diesem Zustand der Gesellschaft „abgestorben" sein wird, da er immer nur ein Instrument der Klassenherrschaft gewesen sei.
An dieser Stelle scheint es möglich, sich das Marxsche Lebenswerk zusammenfassend vor Augen zu führen. Sein Ausgangspunkt aus der Erfahrung ist der erniedrigte Mensch. Thornton Wilder hat dessen Haltung charakterisiert: „Man nenne Menschen viertausend Jahre lang Hunde, und sie werden kriechen!" Die Philosophie proklamiert den kategorischen Imperativ: Alle Verhältnisse revolutionär umzustürB zen, in denen der Mensch als erniedrigtes Wesen gilt. Marx'wissenschaftliche Analyse zeigt ihm den Mechanismus der Ausbeutung. Er sieht aber auch deren sicheres Ende im Kommunismus — der übrigens für Marx nicht als letztes Stadium aller Geschichte gilt, wohl aber als das für absehbare Zeit zeitgemäße. Die Proletarier, die einzige Klasse, die schon nach Lassalle „keinerlei selbstische Interessen hat", die sie mit dem kapitalistischen System verbindet, und die nach Marx „nichts zu verlieren hat als ihre Ketten", müssen ihr Schicksal in ihre eigenen Hände nehmen, müssen sich zum Subjekt der Geschichte erheben. Sie haben dabei den mächtigsten Verbündeten, den es überhaupt gibt: das Gesetz der Geschichte! „Die Letzten werden die Ersten sein" — sie sind der Fels, auf dem die Zukunft gebaut wird. Humanistisches Pathos, revolutionärer Geist, analytische Schärfe und visionäre Gesamtschau vereinigten sich in Marx zu einer Gestalt von bezwingender Bewegungskraft. Diese Wirkung auf die Arbeiterschaft hat niemand meisterhafter beschrieben als Joseph A. Schumpeter:
„Einfach das Ziel zu predigen, wäre wirkungslos geblieben; eine Analyse des sozialen Prozesses hätte nur ein paar hundert Spezialisten interessiert. Aber im Kleid des Analytikers zu predigen und mit einem Blick auf die Bedürfnisse des Herzens zu analysieren, dies schuf eine leidenschaftliche Anhängerschaft und gab den Marxisten das größte Geschenk, das in der Überzeugung besteht, daß das, was man ist und wofür man einsteht, niemals unterliegen, sondern am Ende siegreich sein wird."
Diese Berge versetzende Vision, dieser Impuls hat in der Tat die Arbeiterbewegung zu ihrer großen solidarischen Leistung angespornt — auch wenn der Geist der Geschichte gelegentlich sehr andere Wege ging und die Analyse sich in vielen Daten als irrig erwies, schon weil auch der Gegner aus den Zeichen der Zeit gelernt hat, auf die Marx ihn hinwies.
Die Auseinandersetzung um das „Endziel"
Der mit revolutionärer Ungeduld erwartete Weg dieser Arbeiterbewegung ist unendlich viel länger gewesen als der „wissenschaftliche Sozialismus" prophezeit hatte. Die Revolution von 1848 scheiterte in Frankreich und in Deutschland. Die Reaktion feierte Triumphe. Im Mai 1863 hat Lassalle die Arbeiterbewegung „nach fünfzehnjährigem Schlummer wieder wachgerufen — das war sein unsterbliches Verdienst", sagt Marx. Im Jahre 1864 wird die Internationale Arbeiter-Assoziation, die erste Internationale,, in London gegründet. Marx schreibt ihr mit gewohntem Pathos die „Inauguraladresse" urd die Statuten. Die Arbeiterbewegung geht voran: Sie verstärkt ihre Zugkraft durch solidarischen Zusammenschluß über die Grenzen hinaus und proklamiert für die verrottete internationale Staaten-politik die gleichen moralischen Prinzipien, die für jede Gesellschaft gelten; sie erweist sich damit aufs neue als Vorposten der Humanität. Die Internationale scheitert im Jahre 1872 am Streit zwischen Marx und Bakunin, zwischen Marxisten und Anarchisten, sowie am Urteil über die „Kommune", den Bürgerkrieg in Frankreich von 1871.
Auf alle Fälle hatte sich gezeigt, daß der gradlinige Weg von der Aufdeckung der Selbst-entfremdung bis zum Kommunismus, der sie überwinden sollte, nicht möglich war, daß mindestens viele Umwege sich andeuteten. Und bei den tagespolitischen Kämpfen um die schrittweisen Verbesserungen des Loses der Arbeiterschaft — Hebung des Reallohnes, Arbeiss-und Arbeitszeitschutz, Koalitionsrecht, Presse-und andere politische Freiheiten, wie das Wahlrecht und viele sonstige Kampfobjekte — stellte sich schließlich unvermeidlich die Frage, ob das „Endziel", so weit aller politischen und natürlichen Realität entrückt und als allgemeines Ideal unanschaulich genug, für die Arbeiterschaft und ihren Kampf überhaupt noch relevant war. „Reformismus" und „Marxismus" standen einander gegenüber — wobei nicht das Trennende war, daß Marx selber Reformen etwa für falsch gehalten hätte. Aber er hielt sie, wie er im Kommunistischen Manifest sagte, bestenfalls für Anzahlungen: „Aber damit kann die Sache nicht für uns bereinigt sein", meinte und sang man später. Die Reformisten erwarteten in ihrer „Revision" des Marxschen Endzielweges von einer sozialistischen Reformpartei, als die Eduard Bernstein die Sozialdemokratische Partei ansah, den schrittweisen Weg in eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft mit einer öffentlich kontrollierten oder sozialisierten Produktion und einer allgemeinen Bildung und Kultur, wobei hinzukam, daß die verheißene kommunistische Gesellschaft im einzelnen völlig Undefiniert in weiter Ferne lag.
Lie „Politische Ökonomie" der Arbeiterklasse
Die orthodoxen Marxisten hielten an der Revolution und dem kommunistischen Endziel fest. Uber die Notwendigkeit der Revolution — im Sinne einer grundlegenden Änderung des bestehenden kapitalistischen Systems — waren sich eigentlich alle Sozialisten einig. Aber viele wollten sie auf dem Wege der Evolution mit Zustimmung der Mehrheit erreichen, während andere sie sich nur als einen gewaltsamen Umsturz — allerdings auch durch die Mehrheit — vorstellen konnten. Der Begriff der Revolution ist ebenso wie der des Staates und der Klasse weder von Marx noch von den Marxisten eindeutig definiert und unzweideutig verwandt worden. Deshalb kam es darüber zu den schwersten — zunächst theoretischen, dann unmittelbar politischen — Auseinandersetzungen innerhalb der sozialistischen Reihen. Was die Bevorzugung der Evolution anging, so konnten sich die Revisionisten in vielen Dingen durchaus auf Marx stützen. Er selber hatte zum Beispiel schon in der Inauguraladresse ein bestimmtes Ereignis begeistert kommentiert, ohne daß er es jemals diesem Kommentar entsprechend theoretisch verarbeitet hätte: Er spricht dort über die Zehnstunden-Bill, eine Beschränkung der Arbeitszeit durch das britische Parlament, und nennt sie „einen wunderbaren Erfolg", weil sie „ein direkter Eingriff in den großen Kampf zwischen der blinden Regel der Gesetze von Angebot und Nachfrage war, welche die politische Ökonomie der Bourgeoisie ausmachen, und der durch soziale Fürsorge geregelten Produktion, dem Inbegriff der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse". Und deshalb „war die Zehnstunden-Bill der Sieg eines Prinzips", schließt Marx diese Betrachtung.
Auf dieses Urteil von Marx über die grundsätzliche Bedeutung der tiefgehenden Reform haben sich die Revisionisten innerhalb der marxistischen Bewegung immer wieder berufen. Wenn die orthodoxen Marxisten unter den Sozialdemokraten es ablehnten, den Begriff der Revolution preiszugeben, so verbanden sie mit ihm nicht die Propagierung von Gewalttätigkeit in der Eroberung der politischen Macht, sondern die Vorstellung vom „Endziel", in dem die Nöte und Ungerechtigkeiten des Kapitalismus überwunden sein würden. Wie Susanne Miller in ihrer Untersuchung über „Das Problem der Freiheit im Sozi lismus" nachweist, umfaßte der Revolutionsbegriff der linken Sozialdemokraten die Elemente der Marxschen Lehren, die auch ihre besondere Faszination für die Arbeiterschaft erklären: „Die radikale Verurteilung des Bestehenden; die Erwartung einer künftigen Ordnung der Freiheit, Gerechtigkeit und Harmonie, deren Vision religiöse oder pseudoreligiöse Sehnsüchte erfüllte; die Befriedigung des zeitgenössischen Interesses an exakter Forschung und wissenschaftlicher Vorherbestimmbarkeit; und schließlich den Appell an das Proletariat, seine historische Mission zu erfüllen, einen Appell, der sowohl an das Eigeninteresse der Arbeiter als auch an ihr sittliches Bewußtsein gerichtet war."
Ihrer Alternative zur „Freiheit" der Wirtschaft und den ungleichen, ungerechten Startbedingungen, von denen Nell-Breuning sagt, daß die Unternehmer zum Ruderboot, das alle haben, einen „Außenbordmotor" besitzen, ist praktisch die sozialistische Arbeiterbewegung bis 1914 gefolgt. Sie hatte inzwischen viele Siege ihrer „politischen Ökonomie" und sozialen Voraussicht über das „Prinzip der Bourgeoisie" erfochten — und nicht wenige Niederlagen erlitten. Diese evolutionäre Revolution beschreibt Gerhard A. Ritter in seinem Buch „Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich": „Wenn auch die sozialistische Arbeiterbewegung die von ihr Jahrzehnte lang erwartete große sozialistische Revolution nicht herbeiführte, so wird man doch in der von ihr bewirkten Erweckung der schlummernden Kräfte der Arbeiter und der damit verbundenen Dynamisierung der Politik im Reich . . . sowie in der Umwandlung der gesellschaftlichen Struktur Deutschlands durch die Einbeziehung der Arbeiterschaft einen Prozeß von tief revolutionierender Wirkung sehen müssen."
Wir sind im Laufe dieses Prozesses heute bei einem demokratischen Staat und einem erheblich modifizierten Kapitalismus angelangt, wie er sich im modernen Wohlfahrtsstaat darstellt und wenig Familienähnlichkeit mit seinem Urahn von 1844 hat, den Marx damals richtig analysierte. Was in diesem Kapitalismus völlig anders aussieht als in dem von Marx betrachteten, das ist erstens: die völlig freie Organisation der Gewerkschaften, die als Gegenmacht zu der der Unternehmer wirkt, so daß man heute von beiden Kräften als von „Partnern" spricht, die ihre tariflich zu regelnden Streitigkeiten „autonom" austragen;
zweitens: eine Entwicklung der Wissenschaft und eines darauf fußenden Instrumentariums, das es erlaubt, den Krisen der Wirtschaft weitsichtiger vorzubeugen, als das bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts möglich schien;
drittens: darauf gründend eine Politik der Vollbeschäftigung, die bei einer vernünftigen Wirtschaftspolitik die „industrielle Reservearmee", die nach Marx zu einer der konstitutiven Bedingungen des Kapitalismus überhaupt gehört, vollständig demobilisiert; viertens: eine gesellschaftspolitisch und wirtschaftspolitisch gleichermaßen bedeutsame Konzeption der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Betrieb und überbetrieblichen Organen der Wirtschaft, die aus dem „Wirtschaftsuntertan den Wirtschaftsbürger machen" soll und in erheblichen Ansätzen schon vorhanden ist; und schließlich fünftens: eine Bildungspolitik, die den Menschen ganz andere Chancen eröffnet als in der Mitte des vorigen Jahrhunderts — die allerdings noch schwerwiegende Mängel aufweist.
Diese Evolution hat Marx zum Teil mit verursacht, denn seine soziologische Aufklärung und seine historische Einsicht sind zum guten Teil Bestandteil der Wissenschaft, ja, wie wir bei Nell-Breuning gelesen haben, sogar der enzyklikalischen Soziallehre geworden, ohne daß man sich dabei besonders auf Marx beruft. Das muß keineswegs ein betontes Unrecht an ihm sein; denn auch sonst enthält zwar die Geschichte der Wissenschaften die Namen der an ihrer Entwicklung beteiligten Forscher, aber im täglichen Umgang mit wissenschaftlichen Resultaten ist es gar nicht möglich, sie ständig zu erwähnen. Man wird dem polnischen Marxisten Leszek Kolakowski zustimmen, der voraussieht, daß es in der Sozialwissenschaft bald ebenso wenig einen Marxismus geben wird wie in der Physik einen Newtonismus, in der Botanik einen Linneismus und in der Mathematik einen Gaußismus.
Das Privateigentum und die Selbstentfremdung
Zum Schluß soll die Frage behandelt werden, von der Marx ausging: die Selbstentfremdung des Menschen. Deren Aufhebung war sein Hauptanliegen als Philosoph und Humanist. Seine ökonomischen Studien dienten demselben Zweck. Sie sind trotz des Versuchs, es zu leugnen, mit dem ethischen Rigorismus eines Moralisten durchsetzt, der einmal von sich bekannte: „Ideen, die unsere Intelligenz besiegt, und die unsere Gesinnung erobert, an die der Verstand unser Gewissen geschmiedet hat, das sind Ketten, denen man sich nicht entreißt, ohne sein Herz zu zerreißen, das sind Dämonen, welche der Mensch nur besiegen kann, indem er sich ihnen unterwirft."
Wir haben gefunden, daß Marx die Aufhebung der Entfremdung nur bei einer Übernahme der Macht durch das Proletariat und den Aufbau einer kommunistischen Welt für möglich hielt. Was er von dieser Umstellung hielt, ohne besondere „Rezepte für die Gar-küche der Zukunft" auszustellen, das zeigt seine Schrift „Privateigentum und Kommunismus" von 1844:
„Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbst-entfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen ist als vollendeter Humanismus = Naturalismus. Er ist die wahrhafte
Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen." Der nicht-entfremdete Mensch, wie Marx ihn hier vorauszusehen scheint, ist also ein Mensch, der den anderen Menschen als seinesgleichen ansieht und behandelt, der für sich und den anderen in Gemeinschaft ohne Habsucht, Gier und Egoismus lebt und damit seiner „Natur" gerecht wird. Wie sollte der Mensch zu dieser Haltung kommen? In seiner III. These über Feuerbach sagt Marx am Ende, das „Andern der Umstände und des menschlichen Verhaltens (könne) nur als umwälzende Praxis verstanden werden". Das besagt eindeutig, daß der Mensch, indem er die Umstände verändert, sich selbst verändere, daß er also mit der Beseitigung des Privateigentums zum „vollendeten Humanisten" werden würde. Ähnlich hat übrigens Kant über die Französische Revolution und ihre Menschen gedacht, wobei es sich ofonbar um eine überkommene Vorstellung aus der Aufklärungszeit über den unaufhaltsamen Sieg der aufgeklärten Vernunft handelt.
Orthodoxe und Revisionisten des Marxismus trennten sich endgültig, als Lenin im Oktober 1917 eine Chance für die kommunistische Revolution nutzte, deren Notwendigkeit er als immanentes Gebot der Geschichte emp11 fand. Der Kommunismus ist seitdem über ein riesiges Gebiet unseres Planeten verbreitet, in der Sowjetunion seit einem halben Jahrhundert. Seit dieser Zeit gibt es dort kein Privateigentum an Produktionsmitteln. Aber die menschliche Natur hat sich trotz dieser einschneidenden Änderung der Umstände nicht geändert, weshalb die kommunistischen Machthaber ständig auf der Suche nach dem prophezeiten „neuen Menschen" sind, der dem Marxschen Ideal entsprechend den „Widerstreit zwischen Mensch und Mensch überwunden" hat. Damit sind wir bei einer geradezu tragischen Konsequenz der Marxschen Lehre angelangt, die dem Menschen die Aufhebung der Entfremdung versprach und ihm, wie Moses seinen Gläubigen, das gelobte Land verhieß: das kommunistische Reich, in dem der Fluch des Privateigentums, die säkularisierte Erbsünde, von ihm genommen sein würde. Wenn Marx im Proletarier des vorigen Jahrhunderts einen entfremdeten Menschen sah, so sah er recht. Aber er sah nicht voraus, daß auch nach weitgehender Über-windung der unmenschlichen Produktionsund Verteilungsweise im Frühkapitalismus der Mensch voller Schwächen sein könne. Dabei hat er selber in seiner bildhaft überzeugenden Eindringlichkeit davor gewarnt, von dem gepuderten Zopf nur den Puder zu entfernen. So hat er viele Ungerechtigkeiten überwinden helfen, die die Menschen bedrückten, er hat geholfen, aus dem rechtlosen Proletarier einen gleichberechtigten Bürger zu machen; aber den Menschen mit seinen Schwächen und seiner Unvollkommenheit hat er nicht ändern können — denn nur die Hybris könnte sich das vornehmen, und auch sie müßte daran scheitern.
Der „Widerstreit zwischen dem Menschen und dem Menschen", den Marx überwinden wollte, liegt in der Natur des Menschen. Dieser Widerstreit ist eben nicht eine Schwäche der Menschheit, sondern, was gerade Marx in seiner dialektischen Auffassung vom Menschen in der Geschichte hätte einleuchten sollen, die Grundlage einer lebendigen Kultur, in der die Menschen sich in der Pflege ihrer schöpferischen Anlagen erst als frei erweisen können. Wenn Marx also mit gutem Grund der Entfremdung in der frühkapitalistischen Epoche entgegentrat und in der wahren Erkenntnis der Schattenseiten einer freien Verfüfügungsgewalt über die „Lebensmittel" der Gesellschaft, der Produktionsmittel nämlich, die Aufhebung alles Privateigentums an den Produktionsmitteln, also den Kommunismus forderte, so übersah er dabei, daß im Kommunismus zwar kein privater Eigentümer von Produktionsmitteln den Menschen ausbeuten kann, daß dafür aber im Kommunismus die Fiktion, den „Widerstreit zwischen Mensch und Mensch" zugunsten eines kommunistischen Verhaltens aufheben zu können, eine Vergewaltigung mit sich bringen mußte, die das Gegenteil dessen ist, was Marx'Zukunftshoffnung war.
Marx sah, wie wir wissen, diese Gesellschaft als eine „freie Assoziation" an, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist". Daß die Sorge um die Entfremdung der Menschen in jeder Gesellschaftsform berechtigt ist, hat uns die Erfahrung gelehrt. Marx hat durch die von ihm geforderte, durch seine Lebensarbeit geförderte und in entwickelten Ländern erfolgte Umwälzung der Verhältnisse erreicht, daß wir das Problem der Entfremdung und der Gefährdung der Freiheit eigentlich erst, heute richtig sehen. Nachdem die entwickelten Länder halbwegs einen Wohlfahrtsstaat erreicht haben, sind sie heute dank der „technischen Revolution" in der Lage, dem zu entsprechen, was Marx an der bereits zitierten Stelle des „Kapital" als Grundbedingung seines „Reichs der Freiheit"
erkannt hatte, die ständige Verkürzung der „notwendigen Arbeitszeit" zugunsten einer „menschlichen Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt" und, so möchten wir hinzufügen, vollkommen frei durch den Tätigen bestimmt sein muß. Die Chance dieser „Kraftentwicklung" ist gegeben. Marx’ optimistische Vorstellung, es genüge, diese Chance offenzulegen, damit sich unvermeidlich eine reiche menschliche Kultur entfalten werde, war ein schöner, aber verhängnisvoller Traum. Auch im gelobten Land fließen nicht nur Milch und Honig.
Erst heute beginnt man in allen entwickelten Ländern dem sogenannten „Problem der Freizeit"
mehr Aufmerksamkeit zu schenken, nachdem die mannigfache Manipulierung der Geister durch politische und kulturelle Vor-münder erneut zur Entfremdung zu führen droht. Wie sehr das Problem noch vor gar nicht langer Zeit völlig verkannt wurde, das zeigt eine Bemerkung Rudolf Hilferdings in seiner Begründung des neuen Programms der SPD auf ihrem Parteitag 1925 in Heidelberg.
Nach einer kleinen Kontroverse mit den Gewerkschaften sagte er in schwerwiegender Verkennung der menschlichen Natur: „Um die Erfüllung der Massen mit sozialistischem Geist brauchen sich die Organisationen nicht zu streiten, dafür sorgt die ökonomische Situation und die geschichtliche Entwicklung selbst." Damit stand Hilferding nicht allein — der Parteitag stimmte ihm mit einem „Sehr richtig!" zu. Es war trotzdem falsch! Die Erfahrungen mit totalitären und autokratischen Diktaturen haben uns die Bedeutung der politischen Bildung und Erziehung klargemacht. Erziehung und Bildung sind als menschliche Eingriffe in den natürlichen Ablauf der Umstände geradezu zu existenziellen Voraussetzungen unserer Gesellschaft geworden: Der „überbau" muß helfen, den „Unterbau", die Basis, zu sichern. Der notwendige Freiheitsraum in dieser Gesellschaft mit ihrem Widerstreit von Mensch zu Mensch und ihren komplizierten Abhängigkeiten technischer, bürokratischer und politischer Natur kann nur in der Demokratie offengehalten werden. Rein-holdNiebuhr hat dazu gesagt, das Gefühl des Menschen für Gerechtigkeit mache die Demokratie möglich, sein Hang zur Ungerechtigkeit mache sie nötig. Die Demokratie sichert, uns nicht automatisch vor Entfremdungen. Es gibt überhaupt keinen Automatismus dagegen, es gibt nur den Behauptungswillen der gebildeten Persönlichkeit, ihrer Selbstachtung im Kampf um ihre Freiheit zu genügen. Die Auseinandersetzungen um Recht und Freiheit werden niemals beendet sein. Die Menschen stehen vor der dauernden Aufgabe, sich in der Nutzung ihrer Freiheitsrechte zu bewähren und solidarisch für gerechte Zustände zu sorgen, um die Würde des Menschen gegen jeden Entfremdungsversuch zu verteidigen.
Literaturhinweise
Nur als einige Hinweise aus der Fülle der Marx-Literatur seien genannt:
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