Studenten und Politik — damit verbinden sich nach den Auseinandersetzungen des Jahres 1967 mancherlei Assoziationen: Demonstrationen gegen den Schah, Proteste gegen die Notstandsgesetze, die Große Koalition und andere vermeintliche Formen „autoritärer Herrschaft". Wer sein Bild von den Studenten und Hochschulen aus dem vordergründigen Eindruck der Tagesnachrichten bezieht, wird geneigt sein, jene lauten Stimmen radikaler, oppositioneller Proteste als repräsentativ für den deutschen akademischen Nachwuchs anzusehen. Fraglos haben sie das öffentliche Bild studentischer Diskussionen und Aktionen stark bestimmt und innerhalb wie außerhalb der Hochschulen Beachtung gefunden. Aber es gab schon in der erregten Stimmung der Sommermonate 1967 nach den bedauerlichen Berliner Zwischenfällen deutliche Gegenreaktionen. An vielen Hochschulen sprachen sich die Studentenvertretungen oder starke Gruppen der Studentenschaft gleichermaßen gegen Übergriffe der Polizei und den Mißbrauch des Demonstrationsrechts durch linksradikale Aktivisten aus; Unterschriftsaktionen fanden beträchtlichen Widerhall, in denen der Anspruch radikaler sozialistischer Kreise, für die Studenten zu sprechen, zurückgewiesen wurde. Auch die Wahlen zu studentischen Vertretungen brachten an mehreren Universitäten einen deutlichen Rückschlag für die linksradikalen Gruppen. Das zunehmende politische Engage-ment kam auch den gemäßigten Verbänden im Zustrom neuer Mitglieder zugute; vereinzelt gibt es aber auch Ansätze zu einer Belebung der bis jetzt bedeutungslosen rechtsradikalen Vereinigungen.
Aufschlußreiche Meinungsbefragungen
Diese Vielfalt der Kräfte und Auffassungen wird durch jüngste Meinungsbefragungen innerhalb der Studentenschaft eindrucksvoll bestätigt. Besonders aufschlußreich ist eine umfassende, bisher nicht veröffentlichte Untersuchung des Allensbacher Instituts für Demoskopie von Ende Juni 1967. Wer glaubt, jene mit großem publizistischen Aufwand dargestellten Ansichten linksradikaler Studenten zur Notstandsgesetzgebung, Bundeswehr und Anerkennung der Zweistaatlichkeit seien repräsentativ für die Haltung der Studentenschaft, wird einige Überraschungen erleben. So sprachen sich zum Beispiel 58 °/o der Studenten für eine Notstandsgesetzgebung aus, 36 % verneinten ihre Notwendigkeit. Gegenüber dem Jahr 1966 ist die Zahl der Befürworter gestie-gen, die der Gegner geringfügig zurückgegangen. 75 °/o der Befragten bejahen die Notwendigkeit der Bundeswehr, nur 21 °/o verneinen sie. 53 °/o lehnen die Anerkennung der DDR als Staat ab, 38 % bejahen sie. Die Wortführer der Berliner Linksradikalen Dutschke, Teufel usw. begegneten einer überwiegenden Ablehnung. Einer entschiedenen Zustimmung von 4 bis 7 % und einer bedingten Wertschätzung von 14 bis 15 °/o standen negative Voten von 35 bis 55 0/0 gegenüber. Eine sehr große Zahl der Studenten gab kein Urteil wegen „mangelnder Kenntnis" der Personen ab. Von den Programmen der politischen Studentenverbände fanden die Vorstellungen der gemäßigten Linken die relativ stärkste Zustimmung; auch der RCDS schnitt günstiger ab als die radikale Linke. Erstaunlich groß ist hier mit 37 0/0 der Anteil der Meinungslosen oder Unentschiedenen, überraschend wird für viele auch sein, wie positiv die Bewertung einiger führender demo-3 kratischer Politiker im Vergleich zu den bekanntesten Wortführern der publizistischen und literarischen Linksopposition ist. Bundesminister Professor Carlo Schmid und Bundeskanzler Kiesinger fanden zum Beispiel einen wesentlich höheren Grad der Zustimmung als linksorientierte Schriftsteller und Publizisten wie Grass, Enzensberger usw.
Diese Beispiele mögen genügen. Sie sind geeignet, die Vielfalt studentischer Auffassungen und Haltungen gegenüber den beliebten vereinfachenden Gleichungen deutlich zu machen. Ihr Aussagewert ist allerdings begrenzt. Geringfügige Abwandlungen in den Fragestellungen können andere Ergebnisse bringen; die Antworten sind auch nicht frei von Widersprüchen. Die sehr große Zahl von ausweichenden Stellungnahmen zeigt eine weitverbreitete Unsicherheit des politischen Urteils, für das es auch sonst zahlreiche Belege gibt.
Wandlung des Gesellschaftsbildes
Will man die zunehmende Aktivität der extremen Linken und das komplexe Bild der Auffassungen der Studentenschaft insgesamt verstehen, so muß man sich die gegenwärtige politische und gesellschaftliche Lage verdeutlichen. Die Situation der deutschen Studenten in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ist in mancherlei Hinsicht grundlegend von den Gegebenheiten der fünfziger Jahre unterschieden. Die Periode des politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaues der Bundesrepublik ist seit einiger Zeit abgeschlossen. Eine persönliche Erinnerung an die Kriegs-und Nachkriegsjahre gibt es für die heute Zwanzig-bis Fünfundzwanzigjährigen nicht mehr. Damit fehlt ein auf Erfahrung begründeter Vergleichsmaßstab für die gesellschaftliche und politische Struktur'der Bundesrepublik Deutschland, die Leistungen, die es erforderte, sie zu einem von Wohlstand und Stabilität bestimmten demokratischen Staatswesen zu machen. Deutschlands Stellung in der Welt erscheint fixiert, mehr statisch als dynamisch. Der Weg von dem Besatzungsgebiet zum Mitglied der politischen und wirtschaftlichen Vertragssysteme der westlichen Welt war schon um 1960 abgeschlossen. Seitdem haben die Ost-West-Gegensätze und die neu auftretenden Spannungen im Atlantischen Bündnis wichtige Fortschritte und sichtbare Erfolge unmöglich gemacht. In der deutschen Frage zeichnet sich seit langem keine Chance zur wirklichen Überwindung des Status quo ab. Dies alles ergibt für die junge Generation kein sehr begeisterndes, faszinierendes Bild. Es ist der Alltag einer Demokratie mit begrenzten I landlungsmöglichkeiten und doch stark bestimmt durch die weltpolitischen Gegensätze und die besonderen Spannungen, die aus der Teilung erwachsen. Nach dem schnellen wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau sind jetzt verständlicherweise Strukturfragen der inneren Ordnung in den Vordergrund des Interesses getreten: Sind unsere Wirtschaftsverfassung und Sozialordnung gerecht und genügend ausgewogen? Gibt es starke Disharmonien und die Benachteiligung bestimmter Gruppen? Wie verhalten sich privater Wohlstand und die Finanzierung öffentlicher Aufgaben zueinander? In welchem Umfang und mit welchen Methoden müssen jetzt die großen Gemeinschaltsaufgaben verstärkt gefördert werden: Bildung und Wissenschaft, Gesundheit, Verkehr, Städtebau und Raum-ordnung? Wieweit entspricht die Verfassungswirklichkeit voll dem Grundgesetz und den Prinzipien des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates?
Diese großen Fragen der deutschen Innenpolitik sind ein zentrales Thema der Diskussionen, kritischer Betrachtungen und konstruktiver Vorschläge geworden. Es ist ein Fortschritt, daß sich ein großer Teil der Studenten-schalt ihnen in den letzten Jahren stärker als zuvor zugewandt hat. Wir Politiker haben in den letzten fünfzehn Jahren oft genug das relativ geringe öffentliche Interesse der Jugend beklagt. Deshalb sollten wir jedes ernsthafte Engagement begrüßen, auch wenn viele Aussagen uns inhaltlich nicht zu überzeugen vermögen.
Hochschulpolitik und Studienreform
Einen besonders starken Impuls haben die Fragen der Hochschulpolitik und der Studienreform den studentischen Diskussionen gegeben. Sie sind naturgemäß seit langem das Hauptthema, die eigentliche Aufgabe der studentischen Vertretungen. Aber das Interesse der großen Mehrzahl der Studierenden an diesen Fragen und der Arbeit ihrer Repräsentanten blieb gering, wie vor allem die sehr niedrige Beteiligung bei den meisten Wahlen für die studentischen Parlamente zeigt.
Trotz der beengten, eingeschränkten Studien-bedingungen der Nachkriegszeit wurden Stimmen der Kritik und des Protestes nur selten und nur durchweg gedämpft laut. Parallel zu der starken Steigerung der öffentlichen Aufwendungen für die Hochschulen seit 1959 und ihre Modernisierung wuchs in letzter Zeit jedoch die Unzufriedenheit mit den Studien-bedingungen. Dieser paradoxe Tatbestand hat mehrere Ursachen. Die Studentenzahlen haben sich auf Grund der Expansion des weiterführenden Schulwesens und des Heranwachsens geburtenstarker Jahrgänge in wenig mehr als zehn Jahren verdoppelt. Heute haben wir an den wissenschaftlichen Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland 270 000 Studenten gegenüber 140 000 im Jahre 1952. In der gleichen Zeit hat sich die Dauer des Studiums im Durchschnitt um mehr als zwei Semester verlängert. Allein hierdurch werden im Vergleich zu 1952 rund 40 000 Studienplätze zusätzlich ohne eine entsprechende höhere Absolventenzahl beansprucht; die Studenten empfinden ihren sozialen Sonderstatus einer „festgehaltenen Kindersituation" dadurch noch schärfer als zuvor.
Zu den höheren Studentenzahlen kommen die gestiegenen Erwartungen. Im zerstörten Nachkriegs-Deutschland und in den Jahren des Wiederaufbaues wurde es durchweg als große Chance angesehen, eine akademische Ausbildung erhalten zu können, auch unter bescheidenen und beengten Voraussetzungen. In der Wohlstandsgesellschaft von heute besteht allgemein die Neigung, stärker in Ansprüchen und Berechtigungen zu denken und auf dem Hintergrund der allgemein verbesserten Lebensbedingungen auch eine modern ausgestattete, allen Erwartungen entsprechende Universität als „gesellschaftliche Dienstleistung" zu verlangen.
In den Nachkriegs-und Aufbaujahren konnte bei kleineren Studentenzahlen das persönliche Bemühen von Professoren und Dozenten in einer unmittelbaren Wirkung manche Unzuträgiichkeiten ausgleichen. Heute sind viele Fakultäten im Massenbetrieb durch Anonymität bestimmt, die oft Verwirrung, Enttäuschung und Opposition hervorruft. Hier besteht die Gefahr von wechselseitigen Mißverständnissen und Spannungen, überlastete Professoren fühlen sich zu unrecht kritisiert; die Parlamente und ein Großteil der Öffentlichkeit verstehen nicht, daß die neuen hohen Aufwendungen zu keiner grundlegenden Verbesserung und Entspannung führen. Bund und Länder gaben 1967 rund 3, 5 Milliarden DM für die wissenschaftlichen Hochschulen aus, gegenüber rund 1 Milliarde DM im Jahre 1960. Das bedeutet in sieben Jahren eine Steigerung auf 350 Prozent.
So reden Politiker, Professoren und Studenten in diesen Fragen häufig aneinander vorbei. Objektive Daten stehen gegen subjektiv sehr unterschiedliche Erfahrungen und Argumente. Sicher ist, daß eine rein numerische Steigerung der Leistungen nicht ausreicht, die tiefer greifenden Probleme zu lösen. Innere Struktur-reformen der Hochschulen sind notwendig, die in den Gesamtzusammenhang unseres Bildungswesens einzuordnen sind; die Ausbildungs-und Studienzeiten müssen verkürzt, die Bedingungen für ein effektives Studium verbessert werden.
Zum Engagement der Studenten
Die kontroversen Fragen der deutschen Politik, vor allem aber ihre objektiven Begrenzungen und Spannungen und der Alltag der Hochschulen bieten somit manche Motive für ein stärkeres Engagement der Studenten und die besondere Betonung kritischer, oppositio-neller Tendenzen. Es ist in einer Demokratie notwendig, daß diese Differenzen sichtbar und frei erörtert werden. Regierung, Parlament und alle, die dabei zur Mäßigung mahnen, sehen sich seit einiger Zeit dem Vorwurf ausgesetzt, sie wollten Konflikte verdecken, Anta5 gonismen unterdrücken und so eine trügerische Harmonie bewahren.
Es mag in der Politik und Öffentlichkeit solche Tendenzen geben. Sie verdienen Kritik, soweit diese auf wirklich schlüssigen Argumenten und nicht bloß unbewiesenen Verdächtigungen gründet. Aber in der undifferenzierten, manchmal schon militanten Forderung nach dem „offenen Austragen von gesellschaftlichen Konflikten" wird auch ein erstaunlicher Wandel in den Argumenten der linksliberalen und radikal-demokratischen Opposition sichtbar. Die pädagogische und staatsbürgerliche Diskussion der fünfziger Jahre wurde von den Begriffen der Partnerschaft, des Dialogs und der Toleranz bestimmt, nachdem man die einseitige Betonung des Kampfcharakters der Politik und des Freund-Feind-Denkens in der politischen Philosophie eines Carl Schmitt in ihren verhängnisvollen Folgen erlebt hatte. Insbesondere die liberale intellektuelle Kritik wurde damals nicht müde, Bundeskanzler Dr. Adenauer eine zu rücksichtslose Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner vorzuwerfen und den Verlust an Gemeinsamkeit in der harten Auseinandersetzung um die Prinzipien der Außen-und Wirtschaftspolitik zu beklagen. Gegenwärtig gibt es keine vergleichbaren grundlegenden Alternativen für das konkrete politische Handeln in Deutschland. Dennoch hören wir von vielen einstigen Kritikern Adenauers heute ausdrückliche Zustimmung zu einem wesentlich schärferen Stil der Aktionen einer sogenannten „außerparlamentarischen Opposition", zu Demonstrationen, die nicht in allen Fällen als „friedlich" bezeichnet werden können, und dem Versuch, die Hochschulstruktur durch systematische Störaktionen „umzufunktionieren".
In diesem radikalen Wandel grundsätzlicher Auffassungen wird eine typische Schwäche vieler intellektueller Beiträge zur deutschen Politik deutlich. Es gibt eine beträchtliche Labilität in Prinzipienfragen; die oppositionelle Grundstimmung bleibt, aber ihre Motivationen und Argumente erscheinen oft beliebig auswechselbar. Weitverbreitete Schlagworte wie das vom „offenen Austragen von Konflikten" sind ambivalent. Sie entziehen sich einer verbindlichen Bewertung. Hier kann ein demokratisches Prinzip gemeint sein, die freimütige, von taktischen Erwägungen unbeeinflußte Konfrontation von Meinungs-und Interessen-unterschieden als Entscheidungsbasis in einer parlamentarischen Demokratie. Zugleich ist aber die Vorstellung der „direkten Aktionen" zumindest als Unterton erkennbar, eine fragwürdige Interpretation von Politik als nacktem Gruppen-oder Klassenkampf unter Mißachtung „formaljuristischer" und „reaktionärer" Normen.
Das studentische Engagement entfaltet sich heute in den verschiedenen skizzierten Möglichkeiten. Nur eine Minderheit arbeitet aktiv in den politischen Parteien mit. Aber es ist eine wichtige Minorität, die auch auf die hochschulpolitischen Debatten und die studentischen Wahlen einen beträchtlichen Einfluß nimmt. Sie steht gegenwärtig auf der „Linken" in einer deutlichen Spannung zu der Politik ihrer Partei, versucht aber doch, von innen auf ihre Entwicklung demokratisch einzuwirken. Die Parteien müssen ernsthaft bestrebt sein, ihre Basis angesichts des zunehmenden politischen Interesses in der akademischen Jugend zu verbreitern. Dazu bedarf es vor allem bei ihren örtlichen Organisationen in den Universitätsstädten weithin einer stärkeren geistigen und organisatorischen Öffnung für neue, großenteils kritische und unbequeme Kräfte. Eine größere Zahl von Studenten will an den Hochschulfragen und der allgemeinen Politik aktiver Anteil nehmen, ohne sich fester oder endgültig politisch zu binden. Dies ist eine demokratisch legitime Position. Es gibt auch außerhalb der Parteien manche Möglichkeiten der Mitwirkung in öffentlichen Angelegenheiten.
Außeiparlamentarische Opposition
Schließlich begegnen wir vor allem auf der äußersten Linken dem schon erwähnten Anspruch kleiner aktiver Gruppen, als „außerparlamentarische Opposition" durch Diskussionen, Demonstrationen und direkte Aktionen den Kurs der Politik, die Hochschule und die Gesellschaft grundlegend zu verändern.
Sicher sind hier auch radikaldemokratische Motive und Forderungen erkennbar. Aber sie gehen fast unvermittelt in Vorstellungen und Handlungen über, die dem liberalen Verständnis unseres Grundgesetzes von Demokratie nicht mehr entsprechen, teilweise sogar schroff entgegengesetzt sind. Wenn zum Beispiel der Sozialistische Deutsche Studentenbund programmatisch die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland als „formaldemokratisch" ablehnt, das Konzept der pluralistischen Gesellschaft bekämpft und die Revolution als legitimes Ziel entschlossener Minderheiten verkündet, so vertritt er eine antiliberale und antidemokratische Konzeption, auch wenn dies manchen seiner Mitglieder, Mitläufer und Lobredner nicht bewußt ist.
Diese Ideologisierung und Fanatisierung auf der extremen Linken gehört zu den erstaunlichsten und bedrückendsten Phänomenen im vielfältigen Bild der Studentenschaft. Fast zwei Jahrzehnte nach 1945 war das Denken der akademischen Jugend durch betonten Pragmatismus und Nüchternheit bestimmt. Man sprach von der „skeptischen Generation". Die deutschen Intellektuellen sahen es als einen großen und bleibenden Gewinn der schrecklichen Desillusionisierung von 1945 an, daß politische Ideologien ihre einstmals verführerische Kraft eingebüßt hatten. „Sachbezogenheit", „Sachgerechtigkeit" und „wissenschaftliche Exaktheit" galten als Schlüsselbegriffe für eine überzeugende politische Argumentation — im liberalen ebenso wie im evangelisch-kirchlichen Verständnis. Um so mehr muß der relativ starke Einbruch einer emotionalen, durch Ressentiments und schwärmerische Züge bestimmten politischen Heilslehre in die studentische und intellektuelle Diskussion überraschen. Ihre Formeln sind nicht neu; diskreditierte oder längst überwundene Motive des Marxismus und sozialer Utopien leben in Verbindung mit Parolen der Tagespolitik wieder auf. Diskreditiert ist nach den letzten vierzig Jahren deutscher und russischer Geschichte die naive Verherrlichung von totalitären Gewaltsystemen und ihrer Exponenten, unabhängig von der ideologischen Etikettierung und Selbstrechtfertigung. Noch leben die enttäuschten und mißbrauchten intellektuellen Wortführer des europäischen Kommunismus der zwanziger und dreißiger Jahre unter uns, die weiter fest an ihr System und seine Ideologie glaubten, als Stalins Blutherrschaft nicht nur die Gegner der Partei, sondern auch ihre eigenen Kader dezimierte. Ihre erschütternden Zeugnisse „über den Gott, der keiner war", verdienten eher Neuauflagen in deutschen Taschenbuchreihen als die verstaubten Ideen eines Herbert Marcuse und anderer Epigonen des neunzehnten Jahrhunderts.
Wenn einige deutsche Professoren, Studenten und Schriftsteller nach diesen furchtbaren Lektionen immer noch kritiklos eine „Diktatur der Guten" für erstrebenswert halten und totalitäre Staaten mit ihren Advokaten der Gewalt — wie Mao Tse-tung, Castro und Guervera — bewundern, dann zeugt dies von einer völligen Verkümmerung des historischen Bewußtseins und des Sinnes für die Wirklichkeit. Ideologisierung, Realitätsverlust und parteilicher, sektoraler Moralismus gehören eng zusammen. So kommt es heute zu erstaunlichen Widersprüchen, etwa der schonungslosen Verurteilung der amerikanischen Kriegs-führung in Vietnam und der gleichzeitigen Verherrlichung der chinesischen Kulturrevolution, ungeachtet ihrer Blutopfer und inhumanen Züge.
Auch in der innerdeutschen Auseinandersetzung wird dies sichtbar. Der Slogan des Berliner Sozialistischen Studentenbundes „Alle Macht den Räten, brecht dem Schütz die Gräten" zeigt exemplarisch die Verbindung einer verrohten Sprache, die an das „Wörterbuch des Unmenschen" erinnert, mit politischem Sektierertum.
In der heutigen studentischen Generation finden wir beide entgegengesetzte Haltungen unmittelbar nebeneinander, den Pragmatismus der Nachkriegszeit und die neuen Formen in der Ideologisierung und Fanatisierung. Es spricht einiges dafür, daß man in Deutschland in der an sich notwendigen heilsamen Ernüchterung und in ihrer Verbindung mit einer neuen, teilweise unkritischen Wissenschaftsgläubigkeit zu weit gegangen ist. Die bestimmenden intellektuellen und publizistischen Tendenzen haben nicht nur Mythen und Vorurteile aufgelöst, was notwendig war, sondern im radikalen Zweifel (manchmal auch im Zynismus) in der politischen Philosophie „tabula rasa" gemacht und dabei auch tragende Prinzipien unserer freiheitlichen Staats-und Gesellschaftsordnung in Mitleidenschaft gezogen. Ich halte die Auffassung für völlig falsch, daß man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne und nach Hitler nicht mehr von Vaterland, Nation und Staatsbewußtsein sprechen dürfe. Ich stimme allerdings denen zu, die meinen, daß nach dem schrecklichen Geschehen diese Begriffe anders verstanden und gebraucht werden müssen als zuvor und auch die Literatur von dem neuen Erfahrungshorizont zeugen sollte.
Die Jugend muß ihren Standort gewinnen
Der Jugend ist das Jahr 2000 näher als 1933. Sie muß, wie jede Generation, ihren Standort in der kritischen Auseinandersetzung mit dem überkommenen und der eigenen Zeit gewinnen. Auseinandersetzung heißt nicht bloß Verwerfung oder gleichgültige Abkehr. Wer die Begriffe Nation und Vaterland völlig negiert, wird den nach 1945 geborenen jungen Menschen nicht mehr lange deutlich machen können, warum sie als Deutsche Hitler und Auschwitz mehr angeht als ihre Altersgenossen in anderen Ländern Europas, in Asien und Afrika. Dieser völlige Verlust an Tradition im Guten und Bösen wäre für Deutschland ein Unglück. Denn wir haben nach 1945 zum zweiten Male den Versuch gemacht, aus Trümmern einen freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat zu schaffen und unser Volk in feste, übernationale Ordnungen zu integrieren. Dies ist alles noch unfertig und von Mängeln bestimmt, im eigenen Lande ebenso wie in Europa. Aber jede unvoreingenommene Bilanz wird davon ausgehen können, daß die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in unserem Staat sehr große Chancen für eine dynamische innere Fortentwicklung, reformerische Konzepte und Alternativen bieten. Im legitimen Widerstreit der Meinungen und Kräfte sollte es jedoch für die Älteren und Jungen bestimmte, feste Konstanten geben: das Bekenntnis zum freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat und seinen legalen Formen politischer Entscheidung, zu Toleranz, Selbstbestimmung und Frieden.
In geschichtlichen Bewegungen sind Gut und Böse selten ganz scharf geschieden. Die Unruhe und das Engagement eines Großteils der studentischen Jugend birgt Chancen und Gefahren in sich. Sie haben vor allem in der Hochschulpolitik die Notwendigkeit von Reformen schärfer aufgewiesen als je zuvor und für ihre Verwirklichung Impulse gegeben. Aber aus der radikalen Ideologisierung einer lautstarken Minderheit und ihrem Übergang zu „direkten Aktionen" können sehr schwere Konflikte für den Staat und die Gesellschaft erwachsen. Es ist jetzt die Aufgabe der Politiker, der qualifizierten Publizisten und der demokratischen Gesellschaft, konstruktive Herausforderung und Ideen aufzunehmen und durch die eigene Aktion zu überzeugen, zugleich aber die freiheitliche Staats-und Rechtsordnung gegenüber allen antidemokratischen Tendenzen entschieden zu vertreten.