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Aspekte der Wahlrechtsreform in der Bundesrepublik | APuZ 14/1968 | bpb.de

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APuZ 14/1968 Bedarf unser Grundgesetz einer Gesamtrevision? Aspekte der Wahlrechtsreform in der Bundesrepublik

Aspekte der Wahlrechtsreform in der Bundesrepublik

Thomas Ellwein

I.

Die Diskussion über eine Wahlrechtsreform in der Bundesrepublik ist durch die Regierungserklärung der Regierung der Großen Koalition Ende 1966 belebt und aktualisiert worden. Den bekannten, vorwiegend prinzipiellen Überlegungen gesellten sich Umrechnungen von Wahlergebnissen oder Annahmen über das Wählerverhalten hinzu. Das ist ganz natürlich. Da sich nicht nur abstrakt entscheiden läßt, welches Wahlsystem gerechter, einfacher, funktionstüchtiger, edukatorischer usw. ist, muß auch nach dem jeweiligen Bedingungsgefüge gefragt werden, in dem ein Wahlsystem zu sehen ist. Damit ergeben sich höchst unterschiedliche Ansätze zur Beurteilung. Der eine errechnet die Chancen, der Partei, der er sich verbunden fühlt. Der zweite geht von einem allgemeinen Gerechtigkeitsprinzip aus, um von ihm her für das Verhältnis-oder das Mehrheitswahlsystem zu optieren. Für den dritten ist der Gesichtspunkt der Regierungsfähigkeit ausschlaggebend. Der vierte erhebt die Stabilität zum Maßstab, während der fünfte meint, mit mathematischen Methoden ermitteln zu können, wann der einzelne Wähler die größte Chance hat, mit der Stimmabgabe auch etwas zu bewirken. So stehen prinzipielle und aktuelle Überlegungen nebeneinander.

Das Funktionieren der Wahlsysteme unter verschiedenen konkreten Bedingungen kann als Beweis angeführt, aber eben auch unterschiedlich verwandt werden. Teile oder auch das Ganze des Regierungssystems können als Bezugspunkt benutzt werden, auf den hin das Wahlsystem beurteilt, konstruiert oder verworfen wird. All das läßt sich in rationaler Argumentation vollziehen. Dennoch muß zu-letzt eine politische Entscheidung erfolgen, weil weder die Beurteilung der gegenwärtigen Verhältnisse einheitlich sein noch Übereinstimmung über die Konsequenzen einer etwaigen Reform erzielt werden kann. Dies können aüch diejenigen Wahltheoretiker nicht aus der Welt schaffen, die überzeugt davon sind, das „beste" Wahlsystem zu kennen. Ihre Prämissen beruhen auf Bewertungen. Sie entziehen sich zuletzt der umfassenden rationalen Kontrolle.

Aus solchen Gründen sind auch die Gruppen, die für eine Wahlrechtsreform in der Bundesrepublik eintreten oder sie bekämpfen, ganz uneinheitlich. Für SPD-Mitglieder im Industriegebiet oder in Hamburg ist es leicht, für das Mehrheitswahlsystem zu sein; für CDU-Mitglieder ist es dort schwer. In Niederbayern oder in der Eifel liegt es umgekehrt. Wer der FDP nahesteht, ist notwendigerweise gegen die Reform. Wer die NPD ungern im Bundestag sieht, müßte für die Reform sein. Konkrete Interessen können sich mit prinzipiellen Überlegungen verbinden; solche Überlegungen können aber auch zur Verhüllung konkreter Interessen benutzt werden. Und weil dies so ist, darf sich niemand wundern, daß in der Frage der Wahlrechtsreform eine Aktionseinheit von „ganz links" und „ganz rechts" entstanden ist, während die übrigbleibende „Mitte" etwas gespalten erscheint.

Die Verwendung solcher Begriffe gilt manchem als suspekt. Dennoch ist sie legitim, zumal sie von den Beteiligten auch zur Selbstdarstellung verwendet wird. Ekkehart Krippendorfs, ein gescheiter Interpret „linker" Theorien, hat unlängst in einem Aufsatz ganz apodiktisch festgestellt: „Recht und Wahrheit in der Politik können in ihrer historischen Relativität nur bestimmt werden mit dem Maßstab von sozialer Selbstbestimmung und politischer Demokratisierung: das geschichtliche Recht und die politische Wahrheit liegen . . . bei den Gruppen und Individuen, Gruppen, Klassen und den ihnen zugehörigen Ideologien, die den 1789 eingeleiteten Prozeß des Abbaus sozio-ökonomischer Privilegien vorantreiben; Unrecht vor der Geschichte und eine fehlgeleitete Politik sind zu konstatieren für diejenigen Individuen, Gruppen, Klassen und die ihnen zugehörigen Ideologien, die diesen Prozeß verzögern, zum Stillstand bringen oder gar ihn rückgängig machen wollen. Die Linke und die Rechte unterscheiden sich eben an diesen Kriterien von Förderung und Retardierung bzw. Revision des trotz temporärer Rückschläge im Weltmaßstab fortschreitenden Demokratisierungs-und Selbstbestimmungsprozesses. Die Linke — und zwar auch noch die extremste Linke — hat darum immer das Element der historischen Wahrheit lür sich, die Rechte — und zwar auch die nur gemäßigte Rechte — das Element der Unwahrheit und des Unrechts."

Für den Autor gibt es diesen Gegensatz von rechts und links allenthalben. In sozialistischen und kommunistischen Ländern wird er an der Einstellung zu den bürokratischen Machtpositionen deutlich; in Ländern mit kapitalistischer Wirtschaftsstruktur kommt es auf die Stellung zu diesem Wirtschaftssystem an. In der Bundesrepublik stehen sich mithin diejenigen gegenüber, die gesamtgesellschaftliche Verantwortung der Wirtschaft, Wirtschaftsplanung, innerbetriebliche Kontrolle und Mitbestimmung oder auch Sozialisierung wünschen, und diejenigen, die die bestehenden Besitzverhältnisse verteidigen, Mitbestimmungs-und Kontrollmechanismen eher beseitigen und womöglich den Staatsapparat privatunternehmerischen Interessen unterordnen In „noch-rechtsstaatlicher" Form wollen. versuche diese Rechte in der Bundesrepublik die „linken" Tendenzen zu verhindern oder zu unterdrücken. Als Beispiele werden genannt:

„Selbstzementierung der Bundestagsparteien durch Staatsfinanzierung, Parteiengesetz und Wahlrechtsreform; Notstandsverfasung; Stabilisierungsgesetz. . .; Große Koalition; polizeistaatliche Unterdrückung protestierend r Minoritäten nach vorheriger systematischer Diffamierung durch Presseöffentlichkeit und Politiker; Disziplinierung der Studentenschaft; Grundgesetzänderungen mit Eingriffsmöglichkeiten in die traditionellen Grundrechte, usw." Die Zuordnung der Wahlrechtsreform ist demnach recht eindeutig. Sie wird als ein Stück der Restauration, als Teil des Versuches, bestehende Machtverhältnisse zu zementieren, hingestellt.

In diesem Punkt befindet sich Krippendorff in guter und großer Gesellschaft. Wenn er unterstellt, daß die Einführung des Mehrheitswahlsystems der Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse dient, die er ablehnt, dann kann er sich auf alle diejenigen berufen, die mit dem Mehrheitswahlsystem ein höheres Maß von Stabilität gewährleistet sehen als mit dem Verhältniswahlsystem. Sie neigen folgerichtig auch dazu, dem Verhältniswahl-system ein gewisses Maß von Instabilität zuzuordnen, die sich wiederum Krippendorf erhofft. Wer so argumentiert, muß mit dem naheliegenden Einwand rechnen, daß die Bundesrepublik doch trotz ihres Verhältniswahl-systems in den vergangenen . Jahren kaum unter Instabilität gelitten habe. Diesem Einwand wird verschieden begegnet. Manche halten ihn für falsch. Sie meinen, schon die gelegentlichen Koalitionsstreitigkeiten und einige Regierungsumbildungen seien Zeichen von Instabilität. Andere akzeptieren den Einwand nicht, weil sie meinen, vorübergehende Zeiten der „Schönwetterdemokratie" hätten keinen Beweiswert. Wie die Dinge wirklich liegen, habe man in der Weimarer Zeit oder in der Zeit der 4. Republik in Frankreich gesehen. So oder so wird vielfach die Gleichung von Mehrheitswahlsystem und Stabilität vollzogen, was dann den einen als Begründung für eine Wahlrechtsreform dient, während es andere zur Ablehnung dieser Reform motiviert, weil sie in der Regel die bestehenden Verhältnisse eben nicht stabilisieren wollen.

Das Stabilitätsargument eröffnet damit einen Zugang zur Wahlrechtsproblematik, weil es in unterschiedlichster Weise verwendet wird und so zur Auseinandersetzung mit unterschied-B liebsten Positionen zwingt. In diesem Sinne soll es im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen, deren Verfasser selbst zu den Befürwortern einer Wahlrechtsreform in der Bundesrepublik gehört, auch wenn seine Motive dabei vielfach andere sind als diejenigen, die seine Streitgenossen haben oder jedenfalls öffentlich vertreten.

II.

Stabilität ist in der Politik kein absoluter, sondern nur ein relativer „Wert". Zunächst ist unbestreitbar, daß jedes gesellschaftliche Gebilde ein zumindest begrenzt zukunftsstabilisiertes System sein muß. Aufgabe der Politik ist es mithin, die auf die Zukunft hin notwendige Sicherung zu bewirken, nach außen Freunde zu gewinnen und Schutz gegen tatsächliche oder mögliche Feinde zu gewähren und nach innen dasjenige Maß an verläßlicher Ordnung zu schaffen, welches notwendig ist, damit der einzelne sein Leben „einrichten" kann. Stabilität ist in diesem Sinne identisch mit Berechenbarkeit oder Zuverlässigkeit, aber auch mit selbstverständlicher Kontinuität und mit Sicherheit. Vom einzelnen aus betrachtet, sind das „Werte", sofern die Verhältnisse einigermaßen erträglich sind. Er kann sinnvoll Berufspläne, Sparpläne, Baupläne usw. nur formulieren, wenn zu unterstellen ist, daß die Verhältnisse einigermaßen so bleiben, wie sie sind. Auch eine Industriefirma kann einen Zweigbetrieb an einer bestimmten Stelle wegen des dort verfügbaren Gleisanschlusses nur errichten, wenn sie unterstellen darf, daß die Bahn nicht bei nächster Gelegenheit die betreffende Strecke stillegt. Stabilität hat es deshalb mit der Zukunft zu tun. Sie bezieht sich auf diejenigen Strukturen, Aufgaben und Verhältnisse, durch die die Zukunft in die Gegenwart hineingenommen wird.

Allerdings wird hierbei ein grundlegender Unterschied sichtbar. Frühere Gesellschaften waren in aller Regel statisch. Für sie war die Zukunft ungefähr gleich mit der Vergangenheit. Die Frage nach der Zukunft hatte für sie keine Dringlichkeit. Das Zeitbewußtsein moderner Gesellschaften ist ganz anders. „Man könnte vielleicht sogar sagen, daß die Modernität als solche dadurch definiert werden kann, daß in ihr der Faktor Zukunft eine tragende Rolle spielt. In der Modernität ist jenes Leben, das zäsurenlos immer weiterläuft, aufgebrochen, indem ein tiefer Schnitt gelegt wird zwischen Zukunft und Vergangenheit. Zwischen beiden steht, genau wie in anderen Gesellschaften, die Gegenwart. Nur aber ist Gegenwart nicht mehr zeitloses Dasein, sondern Aufgeschlossenheit in die Zukunft. Ja, es fällt eigentlich ungeheuer schwer zu sagen, wo die Gegenwart ist, da man sie nicht greifen kann. Sie stürzt an allen Punkten über sich hinaus in die Zukunft, rastlos, ungeduldig, niemals verweilend." (R. König)

Anders ausgedrückt: Seit etwa 200 Jahren beschleunigen sich erkennbare Entwicklungsprozesse immer mehr, ohne daß vorauszusehen ist, wann und wo sie einmal enden. Ein solcher Prozeß ist der der Bevölkerungsvermehrung, ein anderer ist der der technologischen Entwicklung, ein dritter ist der der Änderung unserer Lebensweise, welche mit dem Schlagwort „Verstädterung" ziemlich ungenügend umschrieben ist. Wo immer man diese Prozesse rational reflektiert, wird dies deutlich: Zukunft wird in der Gegenwart vorbestimmt; die Gegenwart kann die Zukunft verlieren. Dem kann man sich intellektuell entziehen, indem man für die „nahe Zukunft" den Moment des großen Wandels, die Revolution, unterstellt, um dann für die gesamte Zukunft doch wieder eine Art zeitloser Stabilität irgendeines Endzustandes anzunehmen. Man kann auch in Schritten denken und etwa angesichts solcher Gegenwartsfragen, die Unbehagen oder Mißstimmung hervorrufen, eine nahe Zukunft annehmen, die eine Art verbesserter Gegenwart ist.

Wie man es in dieser Hinsicht auch hält: Unsere Gegenwart macht die bloße Stabilität zur Farce. „Mehr Sicherheit" oder „keine Experimente" enthüllen sich als politische Formeln, die davon ablenken, daß sich eben doch vieles ändert und es deshalb entscheidend darauf ankommt, welche Richtung man diesen Änderungsprozessen gibt, wie man das verfügbare Instrumentarium einsetzt, ob man Ziele zu formulieren vermag, die innerhalb der Wandlungsprozesse eine Strategie ermöglichen, aus der sich je und je auch dann eine Taktik ergibt, wenn vieles ungewiß ist und die Entscheidungsunterlagen nur unvollständig verfügbar sind. Stabil ist unter diesen Umständen ein gesellschaftliches System nur dann, wenn es nicht einfach das Unmögliche tut und konserviert, was ist, sondern wenn es in der Zeiten Fluß sich selbst im jeweils erforderlichen Maße korrigiert, reformiert und anpaßt, zugleich aber auch das bewahrt, was zu bewahren wert ist.

In diesem Zusammenhang ist die Auffassung weit verbreitet, daß deshalb vor allem die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder Ordnung und Verfahren der pluralistischen Demokratie zu stabilisieren seien, daß also der Rahmen zu festigen sei, innerhalb dessen die unvermeidlichen sozialen und ökonomischen Veränderungen ertragen und bewältigt werden. Das ist zu kurz gedacht. Mit den Inhalten ändern sich auch die Formen. Der englische Parlamentarismus des vorigen Jahrhunderts unterscheidet sich erheblich von dem der Gegenwart, weil sich die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen verändert haben und damit auch die Aufgaben der Politik anders aussehen als früher. Im Wandel der Zeiten stehen auch die Institutionen und Gepflogenheiten zur Disposition, gleichgültig ob sie allmählich umfunktioniert oder durch rationales Verfahren geändert werden. Stabilität eines gesellschaftlichen Systems bezieht sich mithin weder auf seinen Ordnungsrahmen noch auf die Inhalte gesellschaftlichen Tuns allein, sondern auf beides zugleich, da beides durcheinander vermittelt ist. Stabil ist dieses System im Maße seiner „Lernfähigkeit", seiner Wandlungsfähigkeit und seiner Fähigkeit, Ziele zu bestimmen und zu ändern, die „über die Zeiten", das heißt über überschaubare Zeiten hinweg als sinnvolle Handlungsanweisungen zu gelten vermögen.

III.

Wenn wir das hier nur Angedeutete dahin zusammenfassen, daß die Stabilität eines gesellschaftlichen System heute in seiner „Offenheit"

auf die Zukunft hin zu sehen ist, ergeben sich daraus unmittelbare Konsequenzen auch für die parlamentarische Demokratie.

Sie können hier nicht in der notwendigen Ausführlichkeit dargelegt, es kann nur an sie erinnert werden. Zukunftsorientierung einer politischen Apparatur erfordert zunächst deren Stärkung. Die politische Führung muß stark genug sein, um am Wissen der Zeit teilzuhaben und es für die politische Willensbildung fruchtbar zu machen. Sie muß gleichzeitig stark genug sein, Ziele zu benennen und alles Erforderliche zu tun, um diese Ziele auch der realen Politik vorzuordnen. Sie muß dazu weiter über einen genügend großen, praktisch längerhin noch wachsenden Apparat verfügen, der die politischen Grundentscheidungen verwirklicht. Auf diese Weise wird die „Herrschaft" gestärkt, es entsteht immer mehr verfügbares Herrschaftswissen, was natürlich mit der Gefahr verbunden ist, daß ein kleiner Kreis von Herrschaftsexperten darüber in seinem Sinne verfügt. Umgekehrt ist angesichts der raschen Wandlungsprozesse der einzelne darauf angewiesen, daß die politische Führung alles tut, was zu tun möglich ist, weil sonst die Möglichkeit humaner Existenz immer mehr bedroht wird. Indem die politische Führung das tut, bedroht sie aber auch die Freiheit des einzelnen, der — so scheint es aufs erste — zur Teilnahme am politischen Geschehen immer unfähiger wird, je umfassender dieses Geschehen notwendigerweise sein muß.

Was sich hier abzeichnet, ist schon in verschiedene Formeln gebracht worden. Sie drükken gemeinhin Furcht vor der Technokratie oder den unkontrollierbaren Experten aus und unterstellen vielfach, daß unter den vorhersehbaren Bedingungen nicht nur der Wähler als Auftraggeber kaum mehr eine Funktion hat, sondern auch die politische Führung als Auftragnehmer gar nicht mehr in der Lage ist, diesen Auftrag wirklich wahrzunehmen. Politiker und Wähler können tatsächlich durch den sogenannten Sachverstand bedroht werden. Weniger deutlich ist bisher eine andere Folge der Entwicklung: Politik, wie sie hier verstanden wird, muß notgedrungen langfristig sein. Und wenn auch bisher eine neue Regierung weithin unter den Bedingungen arbeiten mußte, die vor ihrem Amtsantritt geschaffen wurden, so wird doch zukünftig vieles intensiver „festgelegt" sein. Grundlegende Alternativen bleiben mithin denkbar, sie sind aber kaum realisierbar. Zukunftsorientierte Politik trägt gerade darin ein statisches Element in sich, daß sie eben sichert, auf längere Sicht hin verläßlich ist, für die Betroffenen berechenbar wird.

Angesichts solcher Probleme ist in der Demokratie-und in der Wahltheorie davon die Rede, daß Wahl nur Auswahl zwischen konkurrierenden Führungsgruppen sei, der Wähler an den Sachentscheidungen nicht beteiligt werden und ein Parteiwechsel nur noch Korrekturen im einzelnen bewirken könne oder aber die Politik ohnehin auf den schmalen Bereich puren Dezisionismus beschränkt sei, den der wissenschaftlich angeleitete Sachverstand mit seinen in der Regel unstrittigen Entscheidungen übriglasse. Angesichts solcher Fragen und Behauptungen ergibt sich das Bezugssystem, innerhalb .dessen — so meine ich — heute über das Wahlrecht reflektiert werden muß oder auf das die bisher üblichen Argumente für und gegen die beiden wichtigsten Wahlformen projiziert werden müssen.

IV.

In Wahlen konstituiert sich die politische Gesellschaft; in Wahlen wird die politische Führung beauftragt; in jeder Wahl wird sichtbar, daß sich der Wähler einer Macht entäußert, auf die er angewiesen ist. Unter dem ersten Aspekt ist zu fragen, wie groß unter den Bedingungen der Zukunft die Solidarität in der Gesellschaft sein muß. Unter dem zweiten Aspekt erschließt sich der funktionale Bezug. Unter dem dritten wird die uralte Problematik des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und einzelnem sichtbar, geht es um Anpassung und Widerstand, um Abhängigkeit und Freiheit. Da sich all dies gegenseitig bedingt, muß das Wahlsystem alles berücksichtigen. In diesem Sinne muß das Wahlergebnis die Einheit mehr betonen als die Vielfalt, muß es zugleich handlungsfähige Mehrheiten erbringen und muß es doch dem einzelnen die Chance wirklicher Teilhabe und von ihm gewünschter Repräsentation geben. Fraglos gibt es dabei viele gute Argumente für die Verhältniswahl. Sie sind bekannt und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Es gibt auch gute Argumente gegen die Mehrheitswahl. Eines davon ist die offenkundige Scheinbarkeit des mit ihm verbundenen Solidarisierungseffektes. Die amerikanische Gesellschaft ist nicht so solidarisch wie es das Zweiparteiensystem zum Ausdruck bringen könnte. Was der Solidarität entgegensteht, vermag sich lediglich nicht eigenständig zu äußern; es muß in den Parteien virulent werden. Auch die dem Mehrheitswahlsystem adäquate Philosophie des „entweder — oder" ist höchst problematisch.

Wir werden in Zukunft viel mehr des „sowohl — als auch" bedürfen — auch in der Bipolarität zweier mehrheitsfähiger Parteien.

Die Entscheidung für das Mehrheitswahlrecht erfolgt mithin trotz solcher Argumente und stützt sich auf Erwägungen, die ihnen gegenüber als wichtiger oder vorrangiger angenommen werden. Mir scheint dabei das zunächst wichtigste Argument zu sein, daß eine zukunftsorientierte Gesellschaft ihren Weg in die Zukunft nur mit Hilfe gesamtgesellschaftlicher Konzeption finden kann, diese ihrerseits aber nur von potentiellen Mehrheitsparteien zu formulieren sind. Jenes Repräsentationsdenken, das zur Spiegelbildtheorie führt, hat demgegenüber eine fatale Nähe zum Status quo. Das mit Brechungen die Wählerschaft spiegelbildlich repräsentierende Parlament kann ausgleichen und eine Politik des do ut des betreiben, nur schwer aber koordinieren und nach für alle zumutbaren Wegen suchen. Die mehrheitsfähige Partei ist dazu gezwun21 gen; das Mehrheitswahlrecht zwingt alle etwaigen Parteien, sich als mehrheitsfähig zu verstehen. Hier liegt sein edukatorischer und vor allem sein politischer Effekt.

So verstanden liegt das Mehrheitswahlsystem in größerer Nähe zur unmittelbaren Demokratie, weil Wahlentscheidung und Auftrag sich näher sind als im Verhältniswahlsystem, das viel konsequenter der repräsentativen Demokratie allein zugeordnet ist: Die Repräsentanten werden als solche ausgewählt; es ist dann ihre Sache, den politischen Entscheid darüber zu fällen, wer regieren soll. Die größere Unmittelbarkeit ergibt sich im Mehrheitswahlsystem auch daraus, daß die jeweilige Verantwortung ungeteilt ist und sich kein Koalitionspartner auf die Bremswirkung des anderen Partners herausreden kann. Das gilt ebenso für die Opposition. Da ihr die Koalitionshoffnung genommen ist, kann sie nur durch eigenen Sieg an die Regierung gelangen. Sie ist mithin zur Unterscheidbarkeit von der bisherigen Mehrheit gezwungen, was um so wichtiger wird, wenn sich der Trend zur langfristigen Politik durchsetzt.

V.

Da hier Stabilität als Wandlungsfähigkeit verstanden wird und Instabilität als Erstarrung, als Beharren auf dem Status quo, der doch zum Untergang verurteilt ist, ist mir die Argumentation von „links" nicht verständlich. Sie wäre nur verständlich, wenn das Ziel jener Linken nicht die Veränderung des Gegebenen zur Ermöglichung humaner Existenz ist, sondern die radikale Beseitigung alles dessen, was ist, zugunsten eines rational nicht faßbaren aliud. In jener Argumentation steckt offenkundig ein recht statischer Kern. Krippendorff bringt das zum Ausdruck, indem er die geplante Wahlrechtsreform als ein Element der Zementierung der derzeitigen Parteien behandelt. Statisch verstanden, ist das so. Innerhalb der Wandlungsprozesse, deren Zeugen und Zeitgenossen wir sind, ist es aber nicht so. Man kann im Rahmen eines Regierungssystems nicht einen wichtigen Teil ändern, ohne daß sich das auf alle anderen Teile auswirkt. Wird das Mehrheitswahlsystem eingeführt, werden sehr bald die CDU und die SPD anders aussehen als heute. Rein äußerlich ergibt sich das daraus, daß die in den kleineren Parteien vorhandenen politischen Kräfte in die größeren drängen und dort Mitwirkungsrechte in Anspruch nehmen werden. Wichtiger ist der notwendige innere Wandlungsprozeß. Er wird dadurch eingeleitet, daß unter dem neuen Wahlsystem alle Kandidaten von den örtlichen Mitgliedern oder auf der ersten Delegationsstufe gewählt werden müssen.

Welche Konsequenzen das haben wird, kann mit Bestimmtheit niemand voraussagen. In den Parteien wird mit dem Blick auf die jetzigen Verhältnisse vielfach die Befürchtung laut, die örtliche Wahl berücksichtige vermutlich die Parlamentsbedürfnisse nicht, Fachleute und notwendige Gruppenvertreter hätten keine große Chance mehr. Das Element unmittelbarer Demokratie, welches im Mehrheitswahlsystem steckt, wird damit zugunsten elitärer oder doch zumindest einseitig repräsentativer Gesichtspunkte negativ bewertet. Jenes Element wird die Parteien aber zwingen, sich selbst umzustrukturieren, das heißt zum Beispiel einen besseren Kontakt zwischen Parteiführung und Mitgliedern herzustellen, die letzteren direkter und verantwortlicher zu informieren, sie also so mit der Partei zu verbinden, daß örtliche Bedürfnisse und solche der Partei auch von den Mitgliedern miteinander verbunden werden können. Dennoch wird es mutmaßlich dazu kommen, daß sich örtliche Schwerpunkte bilden und über sie ein Teil der jetzigen außerparlamentarischen Opposition in die Parteien hinein und über sie ins Parlament kommt. Wegen der örtlichen Bindung, die zugleich eine Sicherung ist, werden solche oppositionellen Kräfte im Parlament auch aktiv sein, wobei eben offen ist, ob sie sprengende Wirkung oder reformatorische Kraft ausüben.

Für den Wähler sind all das Vorteile, solange er nicht zuletzt ein funktionsunfähiges Parlament auswählt. Das zu unterstellen, gibt es in der Bundesrepublik keinen Anlaß. Im übrigen wird entscheidend sein, daß politische Führung und lokale Ebene unmittelbarer miteinander verknüpft sind. Das eröffnet Einflußund Aufklärungsmöglichkeiten nach beiden Seiten. Es wird den Oligarchisierungstrend in den Parteien vermindern und damit etwas den „Verödungseffekt''der Mehrheitswahl in den sicheren Wahlkreisen neutralisieren. Daß es ihn gibt und daß er die Parteien vor Probleme stellt, ist unstrittig. Daß er in weiten, vorwiegend ländlichen Landesteilen zu einer völligen Erstarrung führen muß, ist dagegen unbewiesen. Dieses Argument geht ebenso an der raschen Veränderung der Sozialstruktur wie an der Möglichkeit lokalen Eigengepräges einer Partei vorbei. Es läßt auch unberücksichtigt, daß sich lokale und zentrale Repräsentation gegenseitig ergänzen.

Unbestreitbar sind dagegen die Konsequenzen der Wahlrechtsreform für das Parlament. Seine Informations-und Aufklärungsfunktion wird verstärkt. Die leidige Gewichtsverlagerung in die nichtöffentliche Ausschußarbeit wird mindestens zum Teil rückgängig gemacht. Der einzelne Abgeordnete wird mehr als bisher gezwungen sein, sich die Tribüne des Parlaments zu erobern, um sich auch so seinen Wählern gegenüber zu rechtfertigen. Dies alles kann man sagen, ohne englische oder amerikanische Verhältnisse als Beweis anzuführen. Unter unseren eigenen Bedingungen wird es so sein, daß die Wiederwahl nicht nur von der örtlichen Parteistärke und der örtlichen Parteioligarchie abhängig ist, sondern der Abgeordnete auch in der eigenen Partei um diese Wiederwahl kämpfen muß. Sein Rivale kann dabei seine Kraft ganz auf die örtliche Arbeit konzentrieren. Er selbst muß die Möglichkeiten ins Spiel bringen, die er in Parlament und Öffentlichkeit hat. Er ist deshalb daran interessiert, nicht ganz in der nichtöffentlichen Ausschußarbeit aufzugehen. Ganz von selbst wird dadurch das Parlament die Beratung des Details beschränken und die Diskussion der Grundsatzfragen erweitern. Da zugleich die Opposition eindeutig Opposition ist und nur bedingt bereit sein kann, am Gesetzgebungsprogramm der Regierung mitzuwirken, wird dieser Effekt noch einmal verstärkt. Mit ihm ist dann verbunden, daß der Wähler vor eindeutigen Gegebenheiten steht. Was geschieht, ist Sache der Mehrheit. Es zu kritisieren und auf das hinzuweisen, was nicht geschieht, ist Sache der Minderheit, die damit zwangsläufig auch der außerparlamentarischen Opposition viel mehr verbunden sein wird als unter den jetzigen Bedingungen.

VI.

Im Gegensatz zu solchen Befürwortern der Wahlrechtsreform und im Gegensatz zu solchen Kritikern dieser Reform, die gemeinsam annehmen, die Reform würde die jetzigen Verhältnisse stabilisieren, bin ich dezidiert der Auffassung, daß mit dieser Reform ein Stück Revolution geleistet wird, daß zumindest Voraussetzungen dafür geschaffen werden, im Strom der Veränderungen eindeutiger zu bestimmen, was diese Gesellschaft will und was nicht. Für Wähler und Gewählte wird es freilich schwieriger. Sie sind dann enger aufeinander bezogen, und auch der traditionell parteitreue Wähler wird die Konsequenzen dieses Bezuges erkennen müssen.

Die verbreitete Grundannahme des „irgendwie wird es schon weitergehen" wird sich dann bald als das herausstellen, was sie tatsächlich ist, als eine ursprünglich irrationale, ja furchtsame Haltung. Und da die Zukunftsorientierung des Systems nicht nur in Programmen und organisatorischen Maßnahmen ihren Ausdruck finden kann, sondern sich auch und gerade in der täglichen Arbeit ausdrücken muß, werden hier neue Maßstäbe gesetzt. Sie sind in der Zeit des Wiederaufbaus weniger notwendig gewesen; jetzt drängen sie sich auf. Die politische Führung muß sagen, wie die Stadt um 1980 aussehen soll und welche Konsequenzen mit der möglichen, erwünschten und unerläßlichen Verkürzung der Arbeitszeit verbunden sein werden. Damit muß aber auch Klarheit darüber verbunden sein, wer nun zu handeln hat und wer die Versäumnisse verantwortet. Gewiß wäre das auch unter den Bedingungen des jetzigen Wahlsystems denkbar, aber diese Bedingungen erweisen sich vielfach als retardierende Elemente.

Im ganzen muß man schon von der Glaubwürdigkeit der jetzigen Verhältnisse und der Zukunftsträchtigkeit des jetzigen Systems überzeugt sein, wenn man das Verhältniswahl-system beibehalten will. Die Einführung des Mehrheitswahlsystems wäre demgegenüber der Beginn einer Reform, die gewiß nicht allein Wahlen und Parlament betreffen wird, die aber — so meine ich — unerläßlich ist, wenn wir den Weg in die Zukunft so begehen wollen, daß alles geschieht, was notwendig ist, um zukünftig ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Thomas Ellwein, Dr. jur., Professor füi Politische Bildung und Direktor des Seminars für politische Bildung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M., von 1955 bis 1958 Leiter der Bayerischen Landeszentrale für Heimatdienst, geb. 16. Juli 1927 in Hof/Saale. Veröffentlichungen u. a.: Das Erbe der Monarchie in der deutschen Staatskrise, München 1954; Pflegt die deutsche Schule Bürgerbewußtsein?, 1955; Klerikalismus in der deutschen Politik, München 1955; Bücherkunde zur Politik, München 19665; Vernunft und Glaube in der politischen Bildung, Berlin 1958; Was geschieht in der Volksschule?, Berlin 1960; Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 19652; Politische Verhaltens-lehre, Stuttgart 1 9675; Einführung in die Regierungs- und Verwaltungslehre, Stuttgart 1966; Parlament und Verwaltung, Teil 1: Gesetzgebung und politische Kontrolle, Stuttgart 1967.