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Bedarf unser Grundgesetz einer Gesamtrevision? | APuZ 14/1968 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 14/1968 Bedarf unser Grundgesetz einer Gesamtrevision? Aspekte der Wahlrechtsreform in der Bundesrepublik

Bedarf unser Grundgesetz einer Gesamtrevision?

Hans Schäfer

Lehren aus der Weimarer Praxis

Thomas Ellwein: Aspekte der Wahlrechtsreform in der Bundesrepublik ....................................... S. 17

Das Grundgesetz, das der Parlamentarische Rat in den wenigen Monaten vom September 1948 bis zum Mai 1949 beraten und beschlossen hat und das nach seiner Präambel der Bundesrepublik für eine Übergangszeit eine neue Ordnung geben sollte, hat fast zwei Jahrzehnte Gültigkeit. Es ist seit seiner Verkündung am 23. Mai 1949 nicht weniger als fünfzehnmal geändert worden. Darunter finden sich neben weniger bedeutsamen Maßnahmen, die sich auf einen einzigen Artikel oder nur einen Absatz eines Artikels beschränken, umfangreiche und bedeutsamste Verfassungsergänzungen, wie z. B. die Novelle vom 19. März 1956, die der Einordnung der Bundeswehr in den verfassungsmäßigen Aufbau des Staates diente und sich auf insgesamt 16 Artikel des Grundgesetzes erstreckte.

Wenn man auf die Weimarer Verfassung zurückblickt und einen Vergleich mit ihr anstellt, dann kann man feststellen, daß die Reichsverfassung von 1919 in den vierzehn Jahren ihrer uneingeschränkten Geltung (von 1919 bis zum 30. Januar 1933) nur zwölf Änderungen bzw. Ergänzungen erfuhr, von denen zudem keine von grundsätzlicher Art war. Doch wäre eine etwaige Folgerung daraus, die Weimarer Verfassung sei qualitativ besser gewesen als unser jetziges Grundgesetz, durchaus verfehlt. Die erste deutsche Republik ist zwar nicht an der mangelnden Güte des damaligen Staatsgrundgesetzes zugrundegegangen, aber ihre Verfassung zeigte doch große Mängel, die mit dazu beigetragen haben, daß der erste Versuch, Deutschland eine parlamentarisch-demokratische Staatsform von Dauer zu geben, so bald zum Scheitern verurteilt war. Zu diesen Mängeln gehörte unter anderem auch, daß Durchbrechungen der Weimarer Verfassung möglich waren, also Abweichungen vom geschriebenen Text, sofern bei der Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der gesetzlichen Mitglieder des Reichstages eine qualifizierte Mehrheit von zwei Dritteln zustimmte.

Willibalt Apelt, ein Praktiker und Lehrer des damaligen Verfassungsrechts, hat in seiner nach 1945 geschriebenen „Geschichte der Weimarer Verfassung" zutreffend bemerkt, diese Praxis der Verfassungsdurchbrechungen habe wesentlich dazu beigetragen, die Autorität der Weimarer Verfassung zu schwächen. Auch die Kommentatoren des Grundgesetzes Maunz/Dürig bemerken, die Verfassungsdurchbrechungen hätten zu einer großen Unübersichtlichkeit des damaligen Verfassungsrechts und zu einer starken Labilität der Verfassung geführt.

Hinsichtlich der Verfassungsdurchbrechungen ohne Änderung des Textes der Verfassung haben die Väter unseres Grundgesetzes Lehren aus der Weimarer Praxis gezogen. Sie haben in Artikel 79 des Grundgesetzes bestimmt, daß die Verfassung nur durch ein Gesetz geändert werden kann, „das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt". Das Grundgesetz huldigt also dem Grundsatz der Vollständigkeit und Einheit der geschriebenen Verlassungsordnung. Die-ser Grundsatz hatte dann freilich auch zur Folge, daß in den zurückliegenden neunzehn Jahren mehr Änderungen des Verfassungstextes notwendig waren, als dies der Fall gewesen wäre, wenn noch wie zur Weimarer Zeit die Möglichkeit bestanden hätte, von der Verfassung ohne Textänderung oder -ergänzung abzuweichen. Diesen Nachteil, wenn es überhaupt einer sein sollte, muß man in Kauf nehmen gegenüber dem großen Vorteil, den das Prinzip der Vollständigkeit und Einheit der Verfassungsordnung darstellt.

Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes

Zu der Fragestellung: „Bedarf unser Grundgesetz einer Gesamtrevision?" besteht deshalb Anlaß, weil oft davon die Rede war, z. B. in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages vom 9. Juni 1967, daß mehr als 80 Änderungen am Grundgesetz vorgenommen werden müßten.

Auch der Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 28. April 1967 zu den Grundgesetzänderungen und -ergänzungen in einer Entschließung Stellung genommen. Darin heißt es u. a.: Die Rücksichtnahme auf den hohen Rang des Grundgesetzes verbiete es nach Auffassung des Bundesrates, das Grundgesetz allzu häufig zu ändern oder zu ergänzen. Außerdem wurde darauf hingewiesen, daß jede derartige gesetzgeberische Maßnahme die vom Grundgesetzgeber gewollte Ausgewogenheit des Verhältnisses zwischen dem Bund und den Ländern sowie zwischen den einzelnen Bundes-organen beeinträchtige. Der Bundesrat meinte schließlich, daß, bevor ihm in Zukunft Gesetze vorgelegt würden, die eine Änderung des Grundgesetzes zum Inhalt hätten, von der Bundesregierung dem Bundesrat zunächst eine „Gesamtkonzeption" über die künftige Gestaltung des Grundgesetzes zugeleitet werden sollte.

Aus Anlaß der Neufassung des Artikels 109 des Grundgesetzes war schon im Herbst 1966 im Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages die Frage einer Gesamtrevision des Grundgesetzes erörtert worden. Noch weiter zurück liegen die Ausführungen des damaligen Geschäftsführers der SPD-Fraktion und heutigen Parlamentarischen Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Gerhard Jahn, der im „Vorwärts" vom 29. Juli 1964 die Frage aufgeworfen hatte, ob nicht in einer großen Kommission unter Beteiligung von Bundestag, Bundesregierung, Bundesrat und Wissenschaft das Konzept einer einmaligen, alle anstehenden und absehbaren Anderungsbedürfnisse erschöpfenden Gesamtrevision des Grundgesetzes zu entwerfen sei, über das dann die gesetzgebenden Körperschaften zu beschließen hätten.

Dem Bundestag liegen zur Zeit umfangreiche Vorschläge vor, das Grundgesetz für etwaige Zustände äußerer oder innerer Gefahr zu ergänzen. Es handelt sich dabei um die Vorlage der gegenwärtigen Großen Koalition, die bereits im Juni 1967 in erster Lesung beraten wurde, sowie um einen Initiativantrag der Fraktion der FDP, der den Namen trägt: „Gesetz zur Sicherung der rechtsstaatlichen Ordnung im Verteidigungsfall."

Ferner gehört zum Regierungsprogramm der Großen Koalition die Finanzreform, über die die Bundesregierung am 13. März 1968 eine Regierungsvorlage beschlossen hat.

Schließlich muß noch erwähnt werden, daß nach dem Programm der gegenwärtigen Bundesregierung eine Wahlrechtsreform erfolgen soll, wobei im Grundgesetz das relative Mehrheitswahlrecht verankert werden soll.

All diese angedeuteten Pläne lassen die Frage nach einer etwaigen Gesamtrevision des Grundgesetzes berechtigt erscheinen.

Im folgenden wird diese Frage in drei Abschnitten abgehandelt, und zwar zunächst in bezug auf den Grundrechtsteil des Grundgesetzes, dann die Organisation des Bundes, d. h. die Ausgestaltung der obersten Bundesorgane und die Verteilung der Aufgaben auf diese Organe, schließlich das Verhältnis zwischen Bund und Ländern.

Eine solche Betrachtung kann nicht nur unter Gesichtspunkten des Verfassungsrechls erfolgen; sie muß sogar ihr Schwergewicht in verfassungspolitischen Überlegungen haben und wird notgedrungen rein politische Gedanken nicht ausschließen können. Denn eine jede Verfassung setzt politisches Recht und ist nur aus der politischen Situation heraus verständlich, in der sie geschaffen wurde und für die sie Geltung beansprucht. Das will unter anderem auch besagen, daß eine wesentliche Änderung der politischen Situation Anlaß zu einer Änderung der Verfassung geben kann. Es kann im übrigen einem Staatswesen auf die Dauer nicht bekommen, wenn Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit zu weit auseinanderklaffen.

Der Grundrechtsteil

Wenn man sich zunächst den Grundrechten (Artikel 1 bis 19) in unserem Grundgesetz zuwendet, so darf man vorweg feststellen, daß sich unsere vorläufige Verfassung gerade in ihrem Grundrechtsabschnitt besonders bewährt hat. Die Grundrechte einer Verfassung zeigen, welches Bild vom Menschen und Bürger ihr zugrunde liegt, und hierzu kann man allgemein feststellen, daß das Menschenbild des Grundgesetzes nicht das eines isolierten souveränen Individuums ist. Das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und vor allem der Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden.

Bei einem Vergleich des verhältnismäßig knappen Grundrechtsabschnitts des Grundgesetzes und seinen nur 19 Artikeln mit dem Zweiten Hauptteil der Weimarer Reichsverfassung „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen", der nicht weniger als 54 Artikel umfaßte, ist unverkennbar, daß den Schöpfern des Grundgesetzes wesentliche Verbesserungen gelungen sind.

An erster Stelle ist das eindeutige Bekenntnis zum Schutz der Menschenwürde zu nennen, das in die Worte des Artikels 1 Abs. 1 des Grundgesetzes gekleidet ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Zu diesem Bekenntnis bestand für eine deutsche Verfassung nach den Erlebnissen von 1933 bis 1945 ganz besondere Veranlassung.

Weiterhin ist die Bestimmung des Grundgesetzes anzuführen, wonach die Grundrechte nicht nur die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung, sondern auch die Gesetzgebung als „unmittelbar geltendes Recht" binden. Gerade in dieser Bestimmung des 3. Absatzes des Artikels 1 unseres Grundgesetzes ist der Bedeutungswandel des Grundrechts-schutzes gegenüber der Weimarer Verfassung besonders deutlich zu Tage getreten. Mit Recht hat der Hamburger Staatsrechtslehrer Herbert Krüger diesen Bedeutungswandel mit den Worten gekennzeichnet: „Früher Grundrechte nur im Rahmen der Gesetze, heute Gesetze nur im Rahmen der Grundrechte."

Als ein weiteres wesentliches Grundprinzip muß man die sogenannte Wesensgehaltsgarantie des Artikels 19 Abs. 2 des Grundgesetzes sehen. Sie besagt, daß — selbst dann, wenn auf Grund eines Vorbehaltes ein Grundrecht durch ein einfaches Gesetz eingeschränkt werden kann — der Wesensgehalt dieses Grundrechts in keinem Fall angetastet werden darf. Es ist zwar in Rechtslehre und Rechtsprechung strittig, was unter dieser Garantie des Wesensgehaltes im Einzelfall zu verstehen ist. Doch bedarf dieses Grundprinzip unserer geltenden Verfassungsordnung weder einer Revision noch einer weiteren Interpretation in der Verfassung selbst. Man kann ihre Auslegung getrost der Rechtsprechung, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts, überlassen. Schließlich muß man als ein weiteres wesentliches Grundprinzip des Grundrechtsteils unserer Verfassung noch die Generalklausel für die Anrufung der Gerichte in Artikel 19 Abs. 4 hervorheben, die in ihrer Auswirkung auf die Stellung der rechtsprechenden Gewalt in unserem Staatswesen sowie auf die Probleme des „Rechtswegstaats" gar nicht zu überschätzen ist. Dieser „Rechtswegstaat" ist zwar manchmal lästig. Sicherlich haben wir in der Ausgestaltung der fünf Gerichtsbarkeiten — nämlich der sogenannten ordentlichen, die sich wieder in die Zivil-und Strafgerichtsbarkeit unterteilt, der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Finanz-, der Sozial-und der Arbeitsgerichtsbarkeit — und vor allem in der Zahl der Instanzen und der Rechtsmittel zu viel getan. Hier könnte im Wege der Gesetzgebung eine Vereinfachung angestrebt werden. Doch darf an der Generalklausel für die Anrufung der Gerichte, die der Sicherung und Durchsetzung des Rechtsstaates dient, nicht gerüttelt werden.

Als ein letztes Prinzip unseres Grundrechts-schutzes ist schließlich noch die in Artikel 18 des Grundgesetzes enthaltene Regelung zu nennen, daß jemand durch Mißbrauch seine Grundrechte verwirken kann. Wenn oben davon die Rede war, daß das Grundgesetz die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft im Sinne der Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden habe, so war dabei erster diese das deutsche in Linie an für Verfassungsrecht ganz neue Möglichkeit gedacht, daß jemandem, der die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit, die Lehrfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, das Brief-, Post-und Fernmeldegeheimnis, das Eigentum oder das Asylrecht „zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht" — wie es in Artikel 18 wörtlich heißt —, diese Grundrechte durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts abgesprochen werden können. Diese Bestimmung ist in eine Reihe zu stellen mit der in Artikel 21 Abs. 2 des Grundgesetzes vorgesehenen Möglichkeit des Parteienverbotes durch das Bundesverfassungsgericht, wenn eine Partei „nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger" darauf ausgeht, „die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden ..."

Nach der letztgenannten Bestimmung sind bekanntlich vor über einem Jahrzehnt je eine rechts-und eine linksradikale Partei für verfassungswidrig erklärt und aufgelöst worden.

Zu einem Urteil über die Verwirkung von Grundrechten einer Einzelperson ist es bisher noch nicht gekommen. Die Bundesregierung hatte vor vielen Jahren einmal einen dahingehenden Antrag gestellt, der vom Bundesverfassungsgericht jedoch nach mehreren Jahren zurückgewiesen wurde, nachdem sich der Betreffende seit der Antragstellung entsprechend „wohlverhalten" hatte. Hier hat also schon die Antragstellung erzieherisch gewirkt. Keine der aufgezeigten fünf Grundprinzipien des Grundrechtsteils unserer vorläufigen Verfassung bietet Anlaß zu einer Revision. Aber auch die Ausgestaltung der einzelnen Grundrechte in den Artikeln 2 bis 17 kann man im wesentlichen als geglückt bezeichnen. Soweit ihre Auslegung im Einzelfall Schwierigkeiten bereitet, haben in den zurückliegenden neunzehn Jahren die Rechtsprechung, vor allem des dazu besonders berufenen Bundesverfassungsgerichts, aber auch die Rechtslehre wesentliche Beiträge zur Interpretation und zur Abgrenzung geleistet. Dabei ist der -Gleich heitsgrundsatz des Artikels 3 des Grundgesetzes vom Bundesverfassungsgericht zu Recht als Willkürverbot gedeutet worden, wenn es auch seine Auffassung in bedeutsamer Weise weiterentwickelt hat. Wenn man die Zahl der Verfassungsbeschwerden und ihre Begründung in Betracht zieht, muß man freilich immer wieder feststellen, daß die Berufung auf eine Verletzung des Gleichheitsprinzips oft. mißbräuchlich erfolgt.

Bei der Auslegung des Artikels 5, der nicht nur die Meinungsfreiheit, sondern ausdrücklich auch — und insoweit über den Artikel 118 der Weimarer Reichsverfassung hinausgehend — die Pressefreiheit und die Freiheit der Be-B richterstattung durch Rundfunk und Film gewährleistet, hat das Bundesverfassungsgericht schon bedeutsame Entscheidungen getroffen. Man braucht nur das sogenannte Lüth-Urteil und das so heftig umstrittene Fernseh-Urteil zu nennen. Nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist die Pressefreiheit mehr als ein Unterfall der Meinungsfreiheit, indem sie darüber hinaus die institutionelle Eigenständigkeit der Presse von der Beschaffung der Information bis zur Verbreitung der Nachricht und Meinung sichert. In diesem Zusammenhang kann das Problem der unverkennbaren Konzentration der Presse in wenigen Händen bedeutsam und Anlaß zu einem Eingreifen des Gesetzgebers werden.

Aber ebensowenig wie bei dem eben erwähnten Artikel 5 des Grundgesetzes besteht bei Artikel 12, der das Grundrecht der Berufsfreiheit garantiert, und bei der Eigentumsgarantie des Artikels 14 die Notwendigkeit, die Fassung aus dem Jahre 1949 zu revidieren. Lediglich im Zusammenhang mit der sogenannten Notstandsgesetzgebung wird es notwendig werden, den Artikel 12 um Bestimmungen zu ergänzen, die es ermöglichen, für Zwecke der Verteidigung die Berufsfreiheit und die Freiheit, den Arbeitsplatz zu wechseln, mehr als in Normalzeiten einzuschränken. Doch werden diese Ergänzungen des Artikels 12 den Grundsatz der Berufsfreiheit ünberührt lassen.

Auch die im Zusammenhang mit der geplanten Notstandsgesetzgebung erörterte und zum Teil heftig umstrittene Frage, ob und auf welche Weise das Brief-, Post-und Fernmeldegeheimnis des Artikels 10 des Grundgesetzes für Zwecke der äußeren und inneren Sicherheit für einschränkbar erklärt werden soll, muß gelöst werden, um die Vorbehaltsrechte der Drei Alliierten aus dem Deutschlandvertrag zum Erlöschen zu bringen.

Wenn man an dieser Stelle und zum Abschluß der Behandlung des Grundrechtsteils ein Fazit zieht, so kann man sagen, daß zwar an dem einen oder anderen Grundrechtsartikel gewisse Änderungen oder Ergänzungen vorzunehmen sein werden, die aber nicht den gewichtigen Ausdruck „Revision" verdienen. An dem geschlossenen Gebäudeteil der Grundrechte wird eine eng begrenzte Zahl von Um-und Ergänzungsbauten notwendig werden, mehr aber nicht.

Im Zusammenhang mit den seit vielen Jahren schwebenden Erörterungen um die sogenannte Notstandsverfassung ist von Sprechern der damaligen Oppositionspartei mehrfach die Forderung erhoben worden, daß die Veriassungsbeschwerde, die seit 1951 in einem einfachen Gesetz, nämlich in den §§ 90 ff.des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht, normiert ist, in das Grundgesetz ausgenommen werden sollte. In der oben erwähnten Regierungsvorlage der Großen Koalition ist'dem meines Erachtens zu Recht nicht Rechnung getragen. Die Verfassungsbeschwerde, mit der sich jeder Bürger mit der Begründung, in einem seiner Grundrechte durch eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt verletzt zu sein, an das Bundesverfassungsgericht wenden kann, hat sich als Institution bewährt und ist praktisch ein Bestandteil unseres materiellen Verfassungsrechts geworden. Es besteht weder Anlaß, sie etwa durch Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes abzuschaffen oder grundlegend zu beschränken, noch Grund dazu, sie durch Aufnahme in das Grundgesetz zum formellen Verfassungsrecht zu erheben. Ähnliches gilt für einen anderen Komplex, nämlich das Recht zu Arbeitskämpfen, das ebenfalls im Zusammenhang mit der geplanten Notstandsgesetzgebung eine Rolle gespielt hat und immer noch spielt. Bekanntlich haben die Schöpfer des Grundgesetzes bewußt davon abgesehen, dieses Recht, ausdrücklich in der Verfassung aufzuführen. Nach der wohl richtigen Meinung ist es durch den Abs. 3 des Artikels 9 des Grundgesetzes, der die soge-nannte Koalitionsfreiheit garantiert, im Kern miterfaßt. Dabei könnte man es bewenden lassen. Es geht aber nicht an, das Streikrecht allein ausdrücklich in der Verfassung zu garantieren und damit das Arbeitskampfmittel der anderen Seite, das gewissermaßen das Pendant zum Streik darstellt, nämlich die Aussperrung, auszuklammern.

Die Organisation des Bundes

Wenn man sich nunmehr dem zweiten Teil zuwendet, der Organisation des Bundes, so handelt es sich dabei um die Frage, ob in unserem Grundgesetz die obersten Bundesorgane richtig, das heißt sachgerecht gestaltet sind, und ob die Aufgaben auf diese Organe zweckgemäß verteilt wurden.

Was die Institution des Bundespräsidenten betrifft, so hat der Publizist Kurt Becker 1959 in einem Leitartikel der „Welt" bemerkt: „Auf den Vätern der Verfassung lastete das Trauma Hindenburg." Theodor Eschenburg hat dies in seinem Buch „Staat und Gesellschaft in Deutschland" so umschrieben: „Unter dem Eindruck, wie stark die autoritären Handlungen des Reichspräsidenten das Schicksal Deutschlands, ja das Weltgeschehen beeinflußt hatten, hat der Parlamentarische Rat die Befugnisse des Bundespräsidenten weitgehend eingeschränkt ..." Hindenburg hatte 1932 den letzten parlamentarischen Reichs-kanzler Brüning entlassen und innerhalb weniger Monate die drei Nachfolger von Papen, von Schleicher und schließlich den Zerstörer des Reichs, Hitler, ernannt. Diese Last der Vergangenheit wird einem noch bewußter, wenn man das bedeutsame Buch des amerikanischen Historikers Andreas Dorpalen von der Staats-universität Ohio „Hindenburg in der Geschichte der Weimarer Republik" liest.

Die Frage, ob man 1949 die Rechte des Staatsoberhauptes nicht allzu sehr beschnitten habe, ist zwar nicht ganz unberechtigt. Nachdem das Grundgesetz nun fast zwei Jahrzehnte Gültigkeit hat, kann man sich aber doch nicht entschließen, dem Vorschlag einer Kompetenzerweiterung das Wort zu reden, mit Ausnahme einer stärkeren Einschaltung des Bundespräsidenten als Legalitätsreserve im Notstandsfall. Man wird auch nicht empfehlen können, zur unmittelbaren Volkswahl des Staatsoberhauptes zurückzukehren, wie dies der Göttinger Staatsrechtslehrer Werner Weber vor einem Jahrzehnt getan hat, ohne in der Zwischenzeit anf diese Frage zurückgekommen zu sein. Man wird aber auch skeptisch sein müssen gegenüber dem Vorschlag des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Lemke, die Amtsperiode des Bundespräsidenten, die jetzt bekanntlich fünf Jahre beträgt und einmal durch Wiederwahl um weitere fünf Jahre verlängert werden kann, auf sieben Jahre auszudehnen und die Wiederwahl auszuschließen. In teilweisem Gegensatz zu Theodor Eschenburgs Äußerung in der Wochenzeitschrift „Die Zeit" wird man der Auffassung sein müssen, daß nicht soviel Gewichtiges für den Vorschlag Lemkes spricht. Diese Angelegenheit wird zu sehr unter dem personen-und zeitbedingten Gesichtspunkt gesehen, daß wir bisher zweimal Verlängerungen der Amtszeit von Bundespräsidenten erlebt haben, und noch mehr darunter, daß es 1969 unter Umständen innerhalb weniger Monate zu einer Wahl des Bundespräsidenten und zu Bundestagswahlen kommt. Es wäre allerdings keine gute Sache, wenn der Kandidat für das Amt des Staatsoberhauptes „ausgehandelt" würde unter Vorwegnahme oder Einbeziehung der späteren Regierungsbildung. Im übrigen ist Eschenburg darin zuzustimmen, daß die Wiederwahl nicht zur Routine, zum Regelfall werden und die Nichtwiederwahl nicht in den Geruch der Abwahl geraten darf.

Im Ergebnis wird man also zur Institution des Staatsoberhauptes, so wie die Dinge zur Zeit liegen, von einer Revision der 1949 im Grundgesetz getroffenen Regelung abraten müssen. Mehr als bei jeder anderen Institution oder Funktion unseres öffentlichen Lebens, ja unserer menschlichen Gemeinschaft überhaupt, kommt es gerade bei dem höchsten Amt, das ein Staat zu vergeben hat, auf die Persönlichkeit an, die zu finden freilich meist ein Glücksfall sein wird.

Was den Bundestag betrifft, so halten sich die Vorschriften des Grundgesetzes im herkömmlichen Rahmen des Verfassungsrechts der liberalen parlamentarisch-repräsentativen Demokratie. Wie nirgends sonst gleichen sich die Abschnitte über den Bundestag im Grundgesetz und über den Reichstag in der Weimarer Verfassung. Es ist andererseits unverkennbar, daß der Bundestag gegenüber dem Reichstag der Weimarer Zeit ganz erheblich an Stabilität gewonnen hat, wozu wesentlich beigetragen hat, daß sich von Anfang an, besonders aber seit zwei Wahlperioden der Wählerwille auf jetzt drei Fraktionen konzentrierte. Während der 3. Wahlperiode von 1957 bis 1961 hatte die CDU/CSU-Fraktion die absolute Mehrheit der Parlamentssitze In anderen Wahlperioden blieb diese Fraktion knapp unter der absoluten Mehrheit. Immer kam es zu stabilen Koalitionsregierungen. Auch 1957, als die CDU/CSU die absolute Mehrheit hatte, schloß sie eine Koalition mit der damals noch im Bundestag vertretenen Deutschen Partei ab.

Die Stabilität in Parlament und Regierung ist vor allem unserem Wahlsystem zu verdanken, das ein personalisiertes Verhältniswahlrecht mit einer Fünf-Prozent-Sperrklausel ist und auf den verschiedenen Wahlgesetzen von 1949, 1953 und 1956 beruht, sie ist aber auch eine Folge der schon erwähnten Konzentrierung des Wählerwillens auf drei Parteien.

Da das Wahlsystem nicht im Grundgesetz vorgeschrieben ist — im Gegensatz zur Weimarer Verfassung, in deren Artikel 22 die Verhältniswahl zwingend vorgeschrieben war —, braucht man sich bei Betrachtung des Grundgesetzes an sich nicht mit dem Wahlrecht zu befassen. Einige Bemerkungen sind jedoch auch hier notwendig, und zwar aus folgendem Grunde:

In der Regierungserklärung der gegenwärtigen Großen Koalition vom 13. Dezember 1966 ist die Absicht ausgesprochen, ein neues Wahlrecht grundgesetzlich zu verankern, das für künftige Wahlen zum Deutschen Bundestag nach 1969 klare Mehrheiten ermöglicht. Dadurch soll, wie es weiter in der Regierungserklärung wörtlich heißt, „ein institutioneller Zwang zur Beendigung der Großen Koalition und eine institutionelle Abwehr der Notwendigkeit zur Bildung von Koalitionen überhaupt geschaffen werden." Die Möglichkeit für ein Übergangswahlrecht für die nächste Bundestagswahl 1969, die in der Regierungserklärung vom Dezember 1966 ebenfalls noch angesprochen war, ist inzwischen aussichtslos geworden. Die Pläne, für die Wahlen 1973 und später ein Mehrheitswahlrecht zu schaffen und im Grundgesetz zu verankern, werden dagegen von der gegenwärtigen Bundesregierung weiter betrieben.

In der Weimarer Zeit hat man mit der Festlegung des Wahlsystems in der Verfassung schlechte Erfahrungen gemacht. Mehrfache Versuche, besonders in den Jahren 1928 und 1930, das damalige uneingeschränkte Verhältniswahlrecht zu verbessern, scheiterten mit an der Tatsache der verfassungsmäßigen Verankerung der Verhältniswahl. Würde man jetzt die relative Mehrheitswahl in der Verfassung zementieren, dann würde man den Fehler von damals mit umgekehrtem Vorzeichen wiederholen.

Im Zusammenhang mit einer möglichen Reform des Bundestagswahlrechts ist neuerdings auch zur Erwägung gestellt worden, ob nicht die Wahlperiode von vier auf fünf Jahre verlängert werden sollte. Dafür lassen sich einige gewichtige Gründe anführen. Durch verschiedene Umstände verkürzt sich die Zeit, die dem Parlament in einer Wahlperiode für seine eigentliche Arbeit zur Verfügung steht, ganz erheblich. So nehmen im ersten Parlamentsjahr die Konstituierung des Bundestages, das heißt die Bildung seiner Organe und Unterorgane, ferner die Regierungsbildung mit Erstellung einer Regierungserklärung nebst Debatte darüber eine beträchtliche Zeit in Anspruch. Da im letzten Jahr einer Legislaturperiode schon frühzeitig Wahlkampfstimmung herrscht, leidet darunter natürlich auch die Parlaments-arbeit in diesem vierten Jahr. Hinzu kommen pro Jahr Parlamentspausen (drei Monate im Sommer, je zwei bis vier Wochen über Weihnachten/Neujahr, über Ostern und Pfingsten), so daß in der Tat durch eine einjährige Verlängerung der Wahlperiode eine größere Kontinuität der Parlamentsarbeit erzielt werden könnte. Freilich ist auch zu bedenken, daß eine längere Fernhaltung des Bundestags-wählers von der Wahl zwischenzeitlichen Verschiebungen des Wählerwillens nicht Rechnung tragen würde, zumal nach unserem Verfassungsrecht eine ausnahmsweise vorzeitige Auflösung des Parlaments nur im äußersten Fall beim Scheitern der Kanzlerwahl und beim verweigerten Vertrauensvotum möglich ist. Eine Erweiterung der Auflösungsmöglichkeiten hat vor einiger Zeit der Staatssekretär im Bundesratsministerium, Friedrich Schäfer, in seinem Buch „Der Bundestag" vorgeschlagen. Er möchte einem Drittel des Bundestages das Recht geben, beim Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages binnen 21 Tagen zu beantragen. Dieser Vorschlag, der im Oktober 1966 gemacht wurde, ist kaum diskutabel. Friedrich Schäfer hat übrigens im Vorwort zu seinem Buch, das er erst im Dezember 1966 niederschrieb, von der'gegenwärtigen Großen Koalition gesagt, eine solche Konstellation widerspreche dem Grundprinzip der parlamentarischen Demokratie; es könne sich hierbei nur um eine Übergangslösung handeln.

Eine Verlängerung der vierjährigen Wahlperiode des Bundestages — um darauf zurückzukommen — könnte man jedoch ins Auge fassen.

Sonstige Änderungen des Abschnitts über den Bundestag kommen kaum in Frage. Die häufig verlangte Parlamentsreform, wie sie besonders auch Friedrich Schäfer in dem eben erwähnten Buch eingehend erörtert, läßt sich im wesentlichen durch Maßnahmen der Geschäftsordnung betreiben. Zu billigen sind die Beschlüsse der öffentlich-rechtlichen Abteilung des 45. Deutschen Juristentages von Karlsruhe aus dem Jahre 1964, die eine Reform des Rechts der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zum Ziele haben.

Die Betrachtung der Institution des Bundestages wäre unvollständig, wenn nicht die neuerlichen Erörterungen erwähnt würden, die die eventuelle Einführung des sogenannten Ombudsman betreffen. Man versteht darunter eine parlamentarische Beschwerdeinstanz über der Verwaltung nach dem Muster der skandinavischen Staaten und in einer gewissen Parallele zu dem in Artikel 45 b des Grundgesetzes verankerten Wehrbeauftragten. Diese letztgenannte Einrichtung hat alles andere als eine glückliche Entwicklung genommen, was allerdings vorwiegend seine Ursache in personellen Schwierigkeiten hatte. Man konnte erst in letzter Zeit von einer Wende zum Positiven sprechen, vor allem, wenn man den letzten Bericht des derzeitigen Wehrbeauftragten an den Bundestag und die Debatte darüber in der Plenarsitzung vom Juni 1967 in Betracht zieht. Es geht jedenfalls nicht an, die personellen Schwierigkeiten der Dienststelle zum Anlaß zu nehmen, die Institution des Wehrbeauftragten überhaupt wieder abzuschaffen.

Was den zivilen „Ombudsman" betrifft, so werden die Erörterungen darüber zur Zeit auf Länderebene geführt. Am 28. September 1967 haben sich die Präsidenten der deutschen Länderparlamente auf ihrer Tagung in Hamburg mit dem Problem befaßt und einen Bericht des Wehrbeauftragten über die Erfahrungen in seinem Amt gehört. Die Mehrheit der Parlamentspräsidenten hat sich gegenüber der Frage eines Ombudsman im zivilen Bereich unentschlossen gezeigt; hier war die Absicht stärker, die Tätigkeit und Wirksamkeit der Petitionsausschüsse zu verbessern.

Bei dem oben schon erwähnten weitgehenden Ausbau der Gerichtsbarkeit mit ihrem eher überdehnten Rechtsmittelsystem, das die skandinavischen Länder so nicht haben, und auch bei Berücksichtigung der eventuell noch zu aktivierenden Tätigkeit der Petitionsausschüsse besteht für die Schaffung von „Bürgerbeauftragten" kein gerechtfertigter Anlaß, am wenigsten beim Bund.

Was das Verfassungsorgan Bundesrat betrifft, entschied der Parlamentarische Rat, für die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes nicht einen Senat nach dem Muster der USA vorzusehen, sondern die spezifisch deutsche Tradition eines Organs, bestehend aus Vertretern der Landes-B regierungen, beizubehalten. Diese Entscheidung war richtig. Mit Konrad Hesse („Der unitarische Bundesstaat") kann man nach neunzehnjähriger Tätigkeit des Bundesrates feststellen, daß die Wirkfähigkeit des heutigen föderativen Organs die des Bundesrates des Bismarckschen Reichs und erst recht die des Reichsrates der Weimarer Republik bei weitem übertrifft.

Nach Artikel 51 Abs. 2 des Grundgesetzes ist die Stimmenverteilung im Bundesrat in der Weise geregelt, daß jedes Land mindestens drei Stimmen hat; Länder mit mehr als zwei Millionen Einwohner haben vier, Länder mit mehr als sechs Millionen Einwohner haben fünf Stimmen. Diese geringe Staffelung ist mißlich, wenn man bedenkt, daß Bremen mit nur 733 000 Einwohnern drei Stimmen hat und Nordrhein-Westfalen mit mehr als zwanzigmal soviel Einwohnern, nämlich 16, 5 Millionen, nur fünf Stimmen zustehen. Eine Staffelung, die den Bevölkerungszahlen etwas mehr Rechnung trägt, wäre sinnvoller. Doch ist eine solche Revision kaum durchsetzbar.

Hinsichtlich der Organisation der Bundesregierung sind keine Ansätze für etwaige Änderungen gegeben. Man kann als wesentlichste Neuerung gegenüber der Weimarer Verfassung das Institut des sogenannten konstruktiven Mißtrauensvotums bezeichnen. Es besagt, daß ein Bundeskanzler nur dann gestürzt werden kann, wenn der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt, den der Bundespräsident dann ernennen muß. Dieses Institut hat sich bisher noch nicht auswirken können. In allen Wahlperioden haben die Regierungskoalitionen über gesicherte Mehrheiten im Parlament verfügt. Auch bei der Regierungskrise des Herbstes 1966 kam es nicht zu einem konstruktiven Mißtrauensvotum, weil der damalige Bundeskanzler von sich aus die Konsequenzen des Rücktritts zog.

Solange der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, regierte — von 1949 bis 1963 —, bezeichnete man das Regierungssystem häufig als „Kanzlerdemokratie''. Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, daß innerhalb der obersten Organe des Bundes dem Kanzler eine herausragende Position zukomme. Diese Stellung ergibt sich nur zum Teil aus den Normen der Verfassung. Nach den Erfahrungen seit dem Ausscheiden Konrad Adenauers wird man vielleicht noch deutlicher sagen können, daß mehr die Persönlichkeit des jeweiligen Kanzlers von Bedeutung ist als die Macht, die ihm die Verfassung verleiht.

Bei der Bildung der gegenwärigen Bundesregierung der Großen Koalition wurde bekanntlich die Institution der Parlamentarischen Staatssekretäre eingeführt. Man verankerte diese neue Institution nicht im Grundgesetz, wie dies z. B. in Bayern mit den dortigen Staatssekretären und in Baden-Württemberg mit den Staatssekretären und Staatsräten geschehen ist. Anstatt die Zahl der zur Zeit 19 Bundesministerien auf 13 bis höchstens 14 Ressorts zu verringern, hat man sechs Bundesministern und dem Bundeskanzler je einen Parlamentarischen Staatssekretär beigegeben und deren Status gesetzlich geregelt. Wenn die Institution der Parlamentarischen Staatssekretäre über die gegenwärtige Regierung und diese Wahlperiode hinaus beibehalten werden sollte und wenn man sie sinnvoll ausgestalten will, dann müßte man sie durch eine Grundgesetzergänzung in unser Verfassungssystem einbauen. Dann wäre es sinnvoll, daß unter Verkleinerung des Bundeskabinetts innerhalb der dann größeren Bundesministerien für genau umgrenzte Arbeitsgebiete Parlamentarische Staatssekretäre eingesetzt würden, die unter Oberleitung des Bundesministers für ihren Sachbereich verantwortlich wären und demgemäß auch Weisungsrechte innerhalb dieses ihres Bereiches haben müßten.

Letzteres ist aber allein durch eine Ergänzung des Grundgesetzes möglich. In England kennt man die Institution der Parlamentarischen Staatssekretäre und Staatsminister unter den eigentlichen Ministern als Kabinettsmitgliedern schon länger; dort hat übrigens zur Zeit ein volles Drittel der Labour-Fraktion irgend-11 ein Amt in der Regierung. Dafür ist dort aber der gesamte Civil Service parteipolitisch neutral. Oberstes Bundesorgan ist bekanntlich auch das Bundesverfassungsgericht. Hier ist im Grundgesetz keine Revision erforderlich.

Zum Problem der Notstandsverfassung ist noch einiges zu sagen. Sowohl die Regierungsvorlage einer Notstandsverfassung als auch der Gesetzentwurf der derzeitigen Oppositionspartei, der FDP, zur Sicherung der rechtsstaatlichen Ordnung im Verteidigungsfall sehen einen neuen Abschnitt X a für das Grundgesetz vor, den die Regierungsvorlage mit „Zustand der äußeren Gefahr", der FDP-Entwurf mit „Verteidigungsfall" überschreiben will. Die Regierungsvorlage will zehn, der FDP-Entwurf will neun neue Artikel in das Grundgesetz einfügen.

Sicherlich bedarf unser Grundgesetz — und darin sind sich alle im Bundestag vertretenen Parteien einig — für Fall den der Gefährdung unseres Staates von außen einer Ergänzung. Dazu reichen die sogenannten Wehr-ergänzungen vom 19. März 1956 nicht aus, weil sie sich allein auf Bestimmungen beschränkten, die für die Aufstellung von Streitkräften notwendig sind. Es sind vor allem Regelungen erforderlich, die bei äußerer Gefahr bzw. im Verteidigungsfall das komplizierte Gesetzgebungsverfahren des Bundes vereinfachen, um den in einem solchen Zustand erweiterten Normenbedarf der Exekutive zu befriedigen. Beide Entwürfe, die in Einzelheiten stark voneinander abweichen, sehen ein neues Verfassungsorgan vor, das im Regierungsentwurf als „Gemeinsamer Auschuß", in dem FDP-Entwurf als „Notparlament" bezeichnet wird und sich zu zwei Dritteln aus Bundestagsabgeordneten, zu einem Drittel aus Vertretern des Bundesrates zusammensetzen soll. Dieses Kernstück der Konzeption beider Vorlagen soll gewährleisten, daß unter allen Umständen ein arbeitsfähiges Organ der Volksvertretung vorhanden ist, dem die parlamentarische Konirolle der Exekutive obliegen und die Befugnis zur Gesetzgebung vorbehalten bleiben soll. Daneben sehen beide Entwürfe geringfügige Möglichkeiten zu Grundrechtseinschränkungen für den Zustand äußerer Gefahr bzw.des Verteidigungsfalls vor. Die Regierungsvorlage enthält darüber hinaus noch eine wesentliche Erweiterung des Artikels 91 des Grundgesetzes für Fälle innerer Gefahren einschließlich Naturkatastrophen und besonders schwerer Unglücksfälle.

Der Umfang beider Entwürfe könnte den Eindruck erwecken, als ob es sich hierbei um eine echte Revision unseres Grundgesetzes handeln würde. Das ist jedoch nicht der Fall. Die vorgesehenen Ergänzungen sollen lediglich Lücken schließen, die unsere vorläufige Verfassung, bedingt durch die Umstände bei ihrer Entstehung 1949, bisher enthält. Es bleibt zu hoffen, daß in der gegenwärtigen Legislativ-periode diese Lücken in einer Art und Weise geschlossen werden, daß unsere Verfassung für den Ernstfall, von dem wir alle hoffen, daß er nie eintreten wird, auch wirklich gerüstet ist. Nur dann würden endlich auch die Vorbehaltsrechte, die sich die Drei Mächte im Deutschland-Vertrag des Jahres 1955 gesichert haben, erlöschen, nur dann würde der Souveränitätsdefekt der Bundesrepublik verschwinden.

Das Bund-Länder-Verhältnis

Seit der Verkündung des Grundgesetzes ist das Prinzip des Föderalismus nicht unbestritten gewesen, obgleich die bundesstaatliche Ordnung, ein folgerichtiges Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung unseres Volkes ist. Man konnte schon sehr früh feststellen, daß die Entscheidung des Parlamentarischen Rates für eine bundesstaatliche Ordnung des deutschen Staatswesens von allen verantwortlichen politischen Kräften in unserem Lande bejaht wird. Dies gilt auch heute noch. Doch läßt sich nicht bestreiten, daß in der Bevölkerung die notwendige Kompliziertheit unseres Verfassungsgefüges auf manchen Widerspruch und vielfach auf Unverständnis stößt. Die ernst zu nehmenden kritischen Einwände richten sich aber nicht gegen den Föderalismus überhaupt. Kritisiert wird vielmehr — und das mit mehr oder minder großer Berechtigung — die Art und Weise der Aufgabenabgrenzung zwischen Bund und Ländern, wie sie das Grundgesetz vorgenommen hat. Es wird gesagt, diese Abgrenzung werde den Erfordernissen der gegenwärtigen Entwicklung nicht mehr gerecht.

In engem Zusammenhang damit steht die Kritik an der Regelung der Finanzveriassung, innerhalb des Grundgesetzes. Nicht vom Bund allein, sondern auch von den Ländern wird eine Finanzreform gefordert, also eine Änderung wesentlicher Bestimmungen des X. Abschnittes „Das Finanzwesen". Schon am 30. Oktober 1963 haben der Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten der Länder die Bildung einer Sachverständigen-Kommission für die Finanzreform vereinbart, die dann unter Vorsitz des früheren hessischen Finanzministers und jetzigen Vizepräsidenten der Deutschen Bundesbank, Dr. Troeger, vom März 1964 bis Januar 1966 nicht weniger als 45 Sitzungen abgehalten und am 10. Februar 1966 ein umfangreiches Gutachten vorgelegt hat.

Im Bereich der Gesetzgebung kann nur in geringem Umfang davon gesprochen werden, daß die Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern unzulänglich sei. Der Katalog der ausschließlichen und der konkurrierenden Gesetzgebung ist im großen und ganzen ausreichend. Die letztgenannte Zuständigkeitsart der konkurrierenden Gesetzgebung hat der Bund in der Vergangenheit ohne Widerspruch der Länder in einem Ausmaß ausgeschöpft, daß man im Ergebnis auch hier von einer ausschließlichen Zuständigkeit sprechen könnte. Dies entsprach zweifellos dem rechtspolitischen Bedürfnis, in unserem Lande die Rechts-und Wirtschaftseinheit nicht nur zu bewahren, sondern weiter zu festigen. Von einigen Schwächen der Zuständigkeitsverteilung im Bereich der Gesetzgebung ist die eine zu erwähnen, daß es dringend erforderlich ist, die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes auf dem Gebiet der Beamtenbesoldung zu erweitern. Denn die Uneinheitlichkeit der Besoldungsregelungen hat in den letzten Jahren zu großen Unzuträglichkeiten geführt. Die Länder haben sich wegen des Fehlens einer ausreichenden Bindung dem Druck nach Besserstellung ihrer Beamten oder einzelner Beamtengruppen nicht entziehen können oder wenigstens geglaubt, dies nicht zu können. In der letzten Zeit ist zwar unter einem anderen Druck, nämlich dem der „leeren Kassen", nicht nur ein Stillstand zu verzeichnen, die Länder möchten jetzt sogar den Bund in seiner Besoldungspolitik im Rahmen der sogenannten mittelfristigen Finanzplanung bremsen. Diese etwas veränderte Situation darf nicht davon abhalten, den Gesetzentwurf zur Ergänzung des Artikels 75 Nr. 1 des Grundgesetzes, der schon seit November 1966 beim Bundestag liegt, noch in dieser Wahlperiode zu verabschieden. Dieser Entwurf entspricht übrigens auch einem Vorschlag im Gutachten der Troeger-Kommission und ist im Bundesrat nicht auf Widerspruch gestoßen.

In der Regierungserklärung vom 10. November 1965 waren Wünsche der damaligen Bundesregierung Erhard nach Erweiterung der Gesetzgebungskompetenz auf den Gebieten des Gesundheitswesens, der Luft-und Wasserreinhaltung sowie der Lärmbekämpfung angemeldet worden, die der Vollständigkeit halber zu erwähnen sind.

Im Bereich der Verwaltung haben sich die vier Verwaltungstypen der bundeseigenen Verwaltung, der Bundesauftragsverwaltung sowie der landeseigenen Ausführung von Bundesgesetzen einerseits und von Landesgesetzen andererseits bewährt. Dabei kann man den „verfassungsrechtlichen Grabenkrieg" beiseite lassen, den sich die Bundes-und Länderbürokratien um die Begriffe „Einrichtung der Behörden" und „Verwaltungsverfahren", um die Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen und die Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen, die frühere Zustimmungsgesetze ändern, schon seit vielen Jahren liefern. Die Frage, ob ein Bundesgesetz der förmlichen Zustimmung des Bundesrates bedarf oder nicht, ist gar nicht von so entscheidender Bedeutung, wie diese langjährige und immer noch anhaltende Auseinandersetzung zwischen Bund und Ländern es erscheinen lassen könnte. Denn auch bei den Gesetzen, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, hat dieser über den Vermittlungsausschuß die Möglichkeit des Einspruchs, so daß er auch hier meist seine Wünsche durchsetzen kann. Deshalb scheint auch der Vorschlag, den der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Robert Lemke, in seiner Antrittsrede als Präsident des Bundesrates am 11. November 1966 gemacht hat, schlechthin alle Bundesgesetze der Zustimmung des Bundesrates zu unterwerfen, über das Ziel hinauszuschießen. In einem der Streitpunkte hat übrigens das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 1967 über das Bundessozialhilfegesetz und über die Novelle zum Jugendwohlfahrtsgesetz, beide aus dem Jahre 1961, eine wichtige Klärung gebracht: Danach kann der Bund — was die Länder seit Jahr und Tag bestritten h-atten — im Rahmen seiner materiellen Gesetzgebungszuständigkeit die Einrichtung und das Verfahren kommunaler Behörden regeln, sofern dies für die Gewährleistung eines wirksamen Gesetzesvollzuges notwendig ist. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei von „punktuellen Annexregelungen" gesprochen.

Zur Finanzreform ist abschließend noch einiges zu sagen.

Der oben schon erwähnten Regierungsvorlage vom 13. März 1968 liegt das Finanzreformprogramm der Bundesregierung zugrunde, das diese in der Kabinettsitzung vom 19. Juli 1967 verabschiedet und anschließend der Öffentlichkeit bekanntgegeben hat. Dieses Reformprogramm fußt weitgehend auf dem schon mehrfach erwähnten Gutachten der Troeger-Kommission von Anfang 1966. Verwirklicht ist aus dem Fragenbereich des Gutachtens bereits die Novellierung des Artikels 109 des Grundgesetzes und das darauf beruhende Gesetz zur Förderung der wirtschaftlichen Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft.

Es handelt sich bei dem Finanzreformprogramm um verschiedene Dinge: Einmal soll eine Klärung der Aufgabenabgrenzung zwischen Bund und Ländern erfolgen, die soge-nannte Flurbereinigung. Dabei soll nicht eine Grundgesetzänderung oder -ergänzung vorgenommen werden — sie ist insoweit auch nicht erforderlich —, sondern es soll eine Verwaltungsvereinbarung über das Zusammenwirken von Bund und Ländern bei der Finanzierung öffentlicher Aufgaben abgeschlossen werden. Es handelt sich hierbei um eine Angelegenheit, die auch verfassungspolitisch interessant ist. Die im Entwurf der Verwaltungsvereinbarung erfaßten Zuständigkeiten des Bundes stellen Konkretisierungen der Begriffe des „Sachzusammenhangs" und der „Natur der Sache" dar, die in der Rechtslehre und Rechtsprechung entwickelt worden sind. Gegen den Entwurf der Verwaltungsvereinbarung bestehen seitens der Ministerpräsidenten der Länder keine grundsätzlichen Einwendungen.

Um eine echte und auch durchaus neuartige Ergänzung des Grundgesetzes wird es sich dagegen bei den Gemeinschaftsauigaben handeln, deren Normierung nach den Vorstellungen der Bundesregierung in einem eigenen Abschnitt VIII a des Grundgesetzes mit den Artikeln 91 a und 91 b erfolgen soll. Der Katalog der Gemeinschaftsaufgaben, die im Grundgesetz in Artikel 91 a abschließend aufgezählt werden sollen, umfaßte ursprünglich neun Ziffern, von denen in den langwierigen Verhandlungen mit den Ländern ganze drei übrig-geblieben sind, nämlich der Aufbau und Ausbau von wissenschaftlichen Hochschulen, die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, der Agrarstruktur und des Küstenschutzes.

Zeitweise war von Länderseite — insbesondere aus Bayern — zu hören, die verfassungsmäßige Festlegung von Gemeinschaftsaufgaben sei mit Artikel 79 Abs. 3 des Grundge-B setzes nicht vereinbar, wonach die „Gliederung des Bundes in Länder" unantastbar ist; die Länder würden durch die verfassungsmäßige Festlegung von Gemeinschaftsaufgaben ihres Staatscharakters beraubt und zu Provinzen degradiert. Um diese Behauptung, die nicht stichhaltig war, ist es wieder still geworden. Dann hieß es, die Frage der Gemeinschaftsaufgaben sei eine reine Frage der Finanzierungen. Aber darum allein geht es nicht, sondern auch um die überländermäßige und bundesweite Planung. Mit Recht heißt es im Troeger-Gutachten, es müsse eine Form des Föderalismus entwickelt werden, die ein ausgewogenes und bewegliches System der Zusammenordnung und der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern und unter den Ländern ermögliche. Vergleicht man die Fassung, die die Troeger-Kommission als Artikel 85 a vorgeschlagen Artikels hatte, mit der des 91 a, wie ihn die Bundesregierung vorsieht, muß man feststellen, daß die Kommission dem Charakter der Gemeinschaftsaufgaben besser gerecht wurde als die Bundesregierung. Auf Einzelheiten einzugehen, würde hier zu weit führen.

Zu dem Katalog der Gemeinschaftsaufgaben sei noch gesagt, daß die Bundesregierung mit ihren ursprünglich neun Ziffern sicherlich etwas über das Ziel hinausgeschossen war. So scheint beispielsweise die Förderung des Wohnungsbaues heute keine Angelegenheit mehr zu sein, die unbedingt noch einer gemeinsamen Planung von Bund und Ländern bedarf. Hingegen möchte man meinen, daß beispielsweise die Förderung des Baues von Turn-und Sportstätten, von denen es immer noch viel zu wenige gibt, durchaus eine Gemeinschaftsaufgabe sein sollte, wie sie es bisher auf Grund des sogenannten Goldenen Planes schon praktisch war, den der Präsident der Deutschen Olympischen Gesellschaft, Georg von Opel, ins Leben gerufen hat. Die Ministerpräsidenten haben übrigens schon am 3. Mai 1962 gerade die Verwirklichung des Goldenen Planes als eine wichtige Gemeinschaftsaufgabe deklariert und dazu noch erklärt, die Bemühungen der Gemeinden, der Länder und des Bundes auf dem Gebiet des Sportstättenbaues sollten stärker koordiniert werden. Am 26. Oktober 1964 sahen die Ministerpräsidenten in der Mitwirkung des Bundes bei der Erfüllung des Goldenen Planes „einen bedeutsamen ideellen und materiellen Faktor und einen notwendigen Beitrag zur Sicherung der Volksgesundheit". Das muß auch heute noch Gültigkeit haben, weshalb diese Angelegenheit in den Katalog der grundgesetzlichen Gemeinschaftsaufgaben ausgenommen werden sollte.

Zur Finanzreform gehören jedoch noch andere Aufgaben. Es sind dies die Neuordnung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs, unterteilt in die verfassungsrechtliche Klärung der Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern mit einem neuen Artikel 104 a und einer erleichterten Einführung der Bundesauftragsverwaltung in einem neuen Artikel 87 b bei Bundesgesetzen über die Gewährung von Geldleistungen, deren Empfänger, Voraussetzungen und Höhe eindeutig festgelegt sind, wie z. B. beim Sparprämien-und beim Wohnungsprämiengesetz sowie beim Wohngeldgesetz. Ferner gehört zum Finanzreformprogramm die Neuregelung der Steuergesetzgebungszuständigkeiten und der Steuerverteilung durch Neufassung der Artikel 105 und 106, die Ergänzung des Länderfinanzausgleichs durch Neufassung des Artikels 107 und schließlich die Anpassung der Steuerverwaltung in Artikel 108 an die Neufassung der Steuerverteilung.

Bedauerlicherweise hat die Bundesregierung die Gemeindefinanzreform, obgleich sie ein wesentlicher Bestandteil der Gesamtreform ist, noch ausgeklammert. Hoffentlich kann dieser Teil der Gesamtreform, so wie die Bundesregierung es vorhat, noch rechtzeitig eingefügt werden.

Zur Regelung des Bund-Länder-Verhältnisses ist in der Tat eine echte Revision des Grundgesetz-Abschnittes über das Finanzwesen erforderlich, aber eben auch nur eines Teiles des Grundgesetzes.

Schlußbetrachtung

Abschließend kann festgestellt werden, daß unser Grundgesetz — siebt man von dem revisionsbedürftigen Finanzabschnitt ab — sich bewährt hat. Es nimmt zudem, wie der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Gebhard Müller, im Jahre 1965 geschrieben hat, „einen besonderen Rang in den Verfassungsordnungen der Welt" ein. An diesem günstigen Gesamturteil ändert der Umstand nichts, daß an einzelnen Stellen Verbesserungen notwendig sind, daß Vorschriften für Fälle äußerer und innerer Gefährdungen eingefügt werden müssen und daß eine Finanzreform erforderlich ist. Dies alles sind aber punktuelle Ergänzungen, die keine Gesamtrevision rechtfertigen. Deshalb bedarf es keiner großen Kommission von Bundestag, Bundesregierung, Bundesrat und Rechtswissenschaft, um das Konzept einer solchen Gesamtrevision zu entwerfen.

Es sollte nicht vergessen werden, daß unser Grundgesetz vom Parlamentarischen Rat als eine vorläufige Verfassungsordnung für nur einen Teil unseres Vaterlandes verstanden wurde und daß nach der Präambel das gesamte Deutsche Volk aufgefordert bleibt, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Wir können darauf vertrauen, daß eine Gesamtdeutsche Verfassung uns nicht einen sozialistischen Einheitsstaat bringen, sondern den Grundsätzen eines liberalen, demokratischen, föderativen und sozialen Rechtsstaates entsprechen wird.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hans Schäfer, Dr. jur., geb. 26. Januar 1910 in Rhodt unter Rietburg (Pfalz), Leiter der Verfassungsabteilung von 1955 bis 1962 und Staatssekretär im Bundesministerium des Innern von 1962 bis 1966, seitdem im einstweiligen Ruhestand. Veröffentlichungen: Kommentar zur Verfassung von Rheinland-Pfalz (zus. mit Adolf Süsterhenn), Koblenz 1950; Bundesaufsicht und Bundeszwang (AöR. Bd. 78) 1952; Der Bundesrat, Köln 1955; Probleme einer Neugliederung des Bundesgebietes, Berlin 1963; zahlreiche Aufsätze zum Verfassungs-und Staatsrecht in verschiedenen Zeitschriften.